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Er wollte für immer in diese Augen schauen. „Mir kann aber keiner mehr helfen...“, sagte er mit tiefer, trauriger Müdigkeit. Auch ihre Augen wichen nicht von den seinen, noch immer sanft forschend, als sie erwiderte: „Doch. Es gibt immer Hilfe. Immer.“ „Wer sind Sie?“, fragte er wie im Traum. Noch immer sah das Mädchen ihn an. Dann sagte es: „Ich bin Ihre Hilfe...“ Christian Färber ist gerade erst vierundfünfzig, als er eine unheilbare Diagnose bekommt. Allenfalls wenige Monate bleiben ihm noch. In dieser Situation begegnet ihm eine junge Frau, die ihm fast wie ein Engel erscheint. Drei Wochen werden nun für ihn die wesentlichsten seines ganzen Lebens, weil ihre Frucht bis in die Ewigkeit reicht...
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Seitenzahl: 291
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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.
Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...
Memento mori
...
in Christo
„Wir sollten den Essigbaum endlich einmal entfernen lassen! Er ruiniert mit seinen Ausläufern den ganzen Garten und macht ständig nur Arbeit.“
„Ja.“
Christian Färber mochte dieses Thema nicht. Ihn quälten solche Fragen einfach nur. Es bedeutete für ihn unendlich viel mehr Aufwand, sich um das Finden einer Gartenfirma zu kümmern, deren Einsatz zu organisieren, sich Sorgen über den möglicherweise hohen Preis zu machen und überhaupt dafür verantwortlich zu sein, als alle paar Monate die Ausläufer auszustechen. Möglicherweise hatte sich der Essigbaum sowieso schon den ganzen Erdboden unterhalb der Oberfläche zueigen gemacht. Dann müsste man mit Schaufelladern das gesamte Erdreich abtragen.
Von solchen Themen fühlte er sich einfach überfordert. Mit einem einfachen ,Ja’ fühlte er sich davon ebenfalls wieder für ein paar Monate befreit...
Seine Frau las weiter in der Apothekenzeitung. Sie hatte die Beine auf dem Sofa hochgelegt und hatte dann immer den Ausblick auf den Garten.
Er saß lieber in seinem Sessel und las gerade die Wochenendzeitung. Um die Aufmerksamkeit endgültig von dem Sumach im Garten abzulenken, erwähnte er, was er gerade gelesen hatte.
„Mit der ISIS wird es immer schlimmer. Jetzt haben Sie schon wieder einen furchtbaren Anschlag gemacht, Dutzende von Toten! Man ist nirgendwo mehr sicher. Sie können überall zuschlagen!“
„Ach, Christian, hör doch auf damit! Lass uns doch mit der ISIS in Ruhe.“
„Die lassen uns doch nicht in Ruhe! Und dann kommen die ganzen Flüchtlinge – und lassen uns erst recht nicht mehr in Ruhe!“
„Ja, aber das ist doch nicht unsere Sache. Man muss sich doch nicht sogar noch das Wochenende damit verderben. Es kommt, wie es kommt, und der Staat muss sich drum kümmern. Wir wollen hoffen, dass es alles nicht zu schlimm wird.“
„Nicht zu schlimm! Natürlich wird es immer schlimmer!“
„Na gut, dann will ich hoffen, dass ich es nicht mehr erlebe.“
„Das wirst du sehr wohl noch erleben. Was meinst du, wie schnell alles schlimmer wird. Hunderttausende von Flüchtlingen – wer soll die denn alle aufnehmen? Und was werden die dann hier alles anstellen? Das wirst du schön noch alles erleben!“
„Na ja, und die Kinder... Und Linus und Rosa...“
Linus und Rosa waren ihre Enkel, vier und zwei Jahre alt. Ihre ,Kinder’ waren längst Ende zwanzig. Er selbst würde Ende dieses Jahres seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag feiern, seine Frau würde es nächstes Jahr tun.
„Ja, Emma, Elias und Dorit und die beiden Kleinen, die werden das alles abkriegen – und wir auch noch. Dreißig Jahre haben auch wir sicher noch vor uns.“
„Trotzdem“, sagte sie, „jetzt ist Wochenende. Das lass ich mir von ISIS und Flüchtlingen und auch sonst nichts verderben. Lies doch nicht immer die Zeitung!“
Er schwieg und las weiter. Es störte ihn, dass seine Frau selbst nur diese albernen Apothekenzeitungen las, die zwar alle möglichen Gesundheitstipps gaben, die seine Frau auch fast hysterisch befolgte, aber ansonsten keinerlei tieferen Inhalt hatten.
Er fand diesen ganzen Gesundheitsfanatismus reichlich überflüssig. Entweder man wurde in einem der reichsten Länder der Erde in der heutigen Zeit achtzig Jahre und älter, oder man wurde es nicht. Aber warum sollte man die Zeit, die man durch unendliche Gesundheitssorgen vielleicht gewann, von vornherein erst einmal verlieren, indem man ganze Wochenenden lang immer wieder diese dummen kleinen Zeitschriften las? Vielleicht würde er ein paar Jahre weniger leben als seine Frau, aber dafür hätte er sich zumindest immer über die Welt informiert und etwas Sinnvolles getan.
Dass seine Frau dann auch regelmäßig ein-, zweimal im Jahr zu Kuren fahren wollte, machte er auch nur notgedrungen mit. Für ihn war dieser Kurort-Tourismus, den seine Frau veranstaltete, etwas, woran er sich zwar gewöhnt hatte, was ihn aber in keinster Weise tiefer befriedigte. Dennoch hatte er es ihr zuliebe stets mitgemacht – und würde etwas anderes wohl auch die nächsten dreißig Jahre nicht mehr tun.
Beruflich hatte er Glück gehabt. Er war die letzten dreißig Jahre kaufmännischer Angestellter einer größeren Firma gewesen, die im Gegensatz zu vielen anderen Firmen in den letzten Jahrzehnten eine gute Entwicklung gemacht hatte. Längst war ihm klar, dass eine gute Ausbildung heute nicht mehr vor Arbeitslosigkeit schützte – und dass man längst dankbar sein musste, wenn die eigene Firma nicht eines Tages überraschend pleite machte. Die Zeiten waren einfach prinzipiell unsicher geworden.
Er hatte das Gefühl, dass seine Kindheit in den sechziger und siebziger Jahren das reine Paradies gewesen war im Vergleich zu heute. Die jungen Menschen, die heute erwachsen wurden, konnten sich auf nichts mehr verlassen. Nicht einmal mehr darauf, dass nicht am nächsten Tag in unmittelbarer Nähe eine Bombe hochgehen würde. Und das in Europa! Aber wenn nun auch die ganze Welt nach Europa kam... Konnten die Flüchtlinge nicht woandershin flüchten...?
„Christian, dieses Jahr musst du dich wirklich mal um den Essigbaum kümmern!“, nahm seine Frau ihr Thema wieder auf.
„Emma, lass mich doch bitte damit jetzt mal in Ruhe. Ich will in Ruhe meine Zeitung lesen!“
„Ja, du liest immer nur Zeitung – wie oft habe ich dich schon gebeten, den Baum entfernen zu lassen?“
„Irgendwann werde ich es auch mal tun – aber nicht jetzt!“
Seine Frau las weiter ihre Apothekenzeitung. Er sah von seinem Sessel aus die Abbildungen. Wie er dies alles verachtete! Diese zurechtgemachten Grafiken, diese Bilder und Fotos, die den Text auflockern sollten, diese einfältigen Bildunterschriften. Man wurde zwar gesundheitlich auf die Höhe gebracht, aber die Texte hatten das Niveau von Demenzkranken.
Vielleicht war er in diesem Urteil etwas ungerecht, aber er hasste es einfach. Sterben musste man sowieso irgendwann. Aber wieso verbrachten manche Menschen ihr ganzes Leben damit, sich und andere über Gesundheitsthemen zu informieren, deren Erkenntnisse sich sowieso jedes Jahr änderten und deren Ratschläge oft wie die Moden wechselten? Das Wichtigste wusste man doch sowieso schon. Die Apothekenzeitschriften kamen daher, als wollten sie aus jedem Normalbürger einen halben Facharzt machen!
Und obwohl seine Frau ständig diese Zeitschriften las, wenn sie sie bekam, tat sie nichts für ihre Figur. Sie fuhr auf Kuren, nahm Vitaminpräparate, machte aber keinerlei Sport – und hatte in den letzten dreißig Jahren sicher dreißig Pfund zugenommen. Weder ihre Figur noch ihren körperlichen oder geistigen Lebensstil fand er mehr anziehend. Es gab zwischen ihnen eigentlich nur noch die auf der gemeinsamen Vergangenheit beruhende Vertrautheit, aber das war manchmal schmerzlich wenig. Wenn sie Apothekenzeitschriften las oder den Essigbaum erwähnte, war es extrem wenig.
Drei Tage später rief er ihre Tochter an. Es war ihr neunundzwanzigster Geburtstag.
Sie hatte während ihres Studiums ihren Freund kennengelernt, und die beiden waren dann an ihrem ehemaligen Studienort geblieben, wo ihr Freund und jetziger Mann eine Stelle an der Universität gefunden hatte. Dorit war sein Lieblingskind. Bei seiner Frau war es fast umgekehrt. Er hatte mit Elias seit dessen Pubertät einige heftige Auseinandersetzungen gehabt, und ihr Verhältnis hatte sich erst wieder angenähert, als Elias längst erwachsen geworden war – und weiter, als auch er ein kleines Töchterchen bekommen hatte. Dennoch dauerten die ,Gespräche’ zwischen Vater und Sohn meist nicht länger als ein paar wenige Minuten, während er mit seiner Tochter oft lange, lange sprechen konnte. Das lag allerdings auch an ihr – sie erzählte sehr gerne aus ihrem Leben, und dafür war er jedes Mal sehr dankbar.
Er freute sich schon, als er ihre Stimme hörte.
„Ja, hier Dorit Lehmann?“, sagte sie erwartungsfroh.
Sie hatte noch ein Telefon, an dem man die Nummer des Anrufers nicht sah – und er auch. Es störte ihn nicht.
„Hallo, Dorit, hier ist Papa.“
„Hallo, Papa!“, hörte er ihre freudige Stimme, und er lächelte.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Dorit! Ich wünsche dir ein schönes neues Lebensjahr.“
„Danke, Papa! Hast du schon einmal versucht anzurufen?“
„Nein, wieso?“
„Wir haben gerade einen langen Spaziergang gemacht. Es ist so ein wunderschönes Wetter! Bei euch auch?“
„Ja.“
„Linus hat solche Freude am Laufen. Man kommt nicht so weit vorwärts...“, sie lachte, „aber das macht ja nichts!“
„Das ist schön“, sagte er.
Er könnte ihr stundenlang zuhören. Es tat so gut, sie glücklich zu sehen – und dies auch an ihrer Stimme zu hören.
„Feiert ihr auch noch ein wenig?“
„Ja, ein ganz klein wenig. Nachher kommen noch drei, vier Freunde zu uns, einer hat auch schon ein kleines Kind fast im gleichen Alter.“
„Na schön, dann habt ihr ja wirklich einen besondern Tag.“
„Ja, das haben wir, Papa.“
„Und sonst, Dorit? Was machst du sonst? Und geht es Samuel an der Uni gut?“
„Ja, ihm geht’s gut. Er hat viel zu tun, aber es macht ihm Spaß. Und ich? Ich spiele mit Linus, wenn er aus dem Kindergarten kommt, stricke ihm Socken und mache den Haushalt.“
„Wolltest du nicht ursprünglich auch wieder arbeiten, wenn er im Kindergarten ist? Das ist er jetzt doch schon über ein Jahr. Bald kommt er doch schon in die Schule...“
„So bald noch nicht, Papa!“, lachte sie. „Ja, ursprünglich wollte ich das. Aber Linus ist jetzt noch so klein... Und im Moment geht es doch. Ich bin wirklich froh, dass wir nicht beide berufstätig sein müssen. Im Moment kann ich mir nichts Schöneres vorstellen. So kann ich nicht nur Linus verwöhnen, sondern auch Samuel!“
Sie lachte wieder.
Er machte sich immer Sorgen um ihre Zukunft. Aber wenn sie so vertrauensvoll erzählte, konnte man ebenfalls nur Vertrauen bekommen. Er ließ es also dabei bewenden.
„Und du, Papa – wie geht es dir?“
„Ach, mir geht es auch gut. Ab und zu habe ich ein bisschen Bauchschmerzen, aber sonst geht es mir eigentlich prima.“
„Bauchschmerzen? Was für Bauchschmerzen, Papa?“
„Weiß nicht, ganz normale Bauchschmerzen eben.“
„Papa! Bauchschmerzen sind nicht normal. Du musst dich mal untersuchen lassen.“
Er bereute es, es überhaupt erwähnt zu haben...
„Ja, irgendwann mache ich das mal.“
„Nein, nicht ,irgendwann’, Papa! Mach es sofort! Wenn was ist, soll man nicht warten.“
„Aber es ist doch nichts, Dorit. Bauchschmerzen hat doch jeder mal.“
„Aber du sagst ‚ab und zu’! Das klingt nicht wie ‚mal’. Du musst dich mal untersuchen lassen, ja?“
„Ja, ja, mache ich.“
„Nein, Papa – das kenne ich. Versprichst du es? Du musst es versprechen!“
Wieder so etwas Unangenehmes. Aber was tat er nicht alles ihr zuliebe.
„Ja, ich verspreche es.“
„Gut... Aber wirklich, ja, Papa?“
„Ja, versprochen.“
„Gut. Dann bin ich beruhigt. Und Mama? Wie geht es Mama?“
„Ihr geht’s auch gut. Soll ich sie dir mal geben?“
„Ja, bitte, Papa!“
„Gut, mache ich.“
„Dann bis bald, Papa! Und bitte sag Bescheid, wenn du beim Arzt warst, ja?“
„Ja, gut.“
Er gab das Telefon an seine Frau weiter.
Während er mit einem halben Ohr auch ihrem Gespräch zuhörte, dachte er an die Sorgen seiner Tochter. Es rührte ihn, dass sie sich so viel Sorgen um ihn machte – aber es war doch gar nicht nötig. Bei den Ärzten wurde man höchstens krank... Dennoch würde er ihr zuliebe einmal zu seinem Hausarzt gehen, und dann wäre wieder einmal für ein paar Jahre alles in Ordnung.
Nach dem Telefonat sagte seine Frau:
„Du hast ab und zu Bauchschmerzen? Das hast du ja gar nicht gesagt!“
„Ich hätte es am liebsten auch lieber nicht gesagt. Wenn ihr jetzt alle darauf herumreitet!“
„Dorit hat schon Recht. So was muss man untersuchen lassen.“
„Ach, ihr immer mit eurem ‚untersuchen’!“
Es tat ihm leid, dass er seine Tochter da jetzt mit hineinzog, aber von seiner Frau wollte er es nun wirklich nicht auch noch einmal hören.
„Euch Frauen“, erläuterte er nun gereizt, „tut der Bauch doch oft jeden Monat weh. Warum kann er nicht auch einem Mann mal weh tun? Mit über fünfzig darf man doch wohl mal ab und zu Bauchschmerzen haben!“
„Nein, als Mann eben nicht. Rückenschmerzen oder Gelenkschmerzen oder was weiß ich schon, aber Bauchschmerzen nicht. Es ist doch kein Aufwand, das einmal abklären zu lassen!“
Ihm war diese Diskussion so zuwider, dass er es vorzog, ganz zu schweigen, statt sich noch den restlichen Abend davon verderben zu lassen.
Er hatte nicht nur mit seiner Firma Glück gehabt, in der er im Bereich Einkauf arbeitete. Sie hatten damals, nachdem er einige Jahre gearbeitet hatte und sich das erste Kind ankündigte, ganz in der Nähe auch ein schönes Einfamilienhäuschen gefunden. Auch seine Frau hatte in diesen ersten Jahren in einer Firma gearbeitet, aber dann war es möglich gewesen, mit Hilfe eines langfristigen Kredites das Häuschen zu erwerben und diesen allein mit seinem relativ guten Gehalt zurückzuzahlen. Auch Emma hatte vorgehabt, nach fünf bis zehn Jahren langsam wieder zu arbeiten, aber es war dann nicht sofort nötig gewesen – und später hatte es sich nicht mehr ergeben.
Die nah gelegene Arbeit machte es ihm möglich, den Weg täglich zu Fuß zurückzulegen. Es gab zwei Möglichkeiten – der eine Weg führte durch die Fußgängerzone, der andere durch einen Park mit einem größeren Kinderspielplatz.
Er hatte in den letzten Jahren fast immer den letzteren Weg vorgezogen, obwohl dieser etwas länger war. Und in den letzten ein, zwei Jahren hatte er sich immer öfter auf dem Heimweg auf eine Bank gesetzt und dem Treiben der Kinder zugeschaut. Nun hatte er bereits Enkel, die in diesem Alter waren...
Es war ein wunderschöner Sonnentag in der zweiten Aprilhälfte, und so setzte er sich auch an diesem Spätnachmittag auf die Bank und sah den Kindern beim Spielen und Toben zu.
Das ausgelassene Spiel der Kinder konnte einen fast sentimental werden lassen. Ja, wenn man auch noch einmal so jung wäre... Man konnte es sich eigentlich gar nicht mehr vorstellen, dass man es auch mal gewesen war. Wie lange war das jetzt her? Nun ja – ziemlich genau fünfzig Jahre. Ein halbes Jahrhundert... Es war das vorherige Jahrhundert gewesen. Mitte der sechziger Jahre. Jetzt schrieb man das einundzwanzigste Jahrhundert, und selbst dieses war schon in der Mitte seines zweiten Jahrzehnts. Es war unglaublich, wie die Zeit verging. Ein halbes Jahrhundert! Man wurde wirklich wehmütig davon...
Ihm fiel auf einmal ein weinendes Mädchen ins Auge. Sei es, dass die Kleine etwas verloren hatte, sei es, dass sie ihre Mutter suchte – sie stand da und weinte herzerweichend. Er saß auf seiner Bank viel zu weit weg, und sicher würde gleich ihre Mutter kommen. Dennoch schaute er sich um, wo diese sein könnte. Die Kleine tat ihm leid...
Aber dann sah er bereits eine junge Frau auf das Kind zugehen. Er war beruhigt. Er sah, wie die junge Frau sich in ihrem hellblauen Kleid anmutig vor dem Kind hinkniete. Es war eine Bewegung, die ihn unmittelbar gefangen nahm.
Sie nahm die beiden Hände des Kindes und sprach mit ihm.
Warum nahm sie es nicht in den Arm – oder warum fiel das Kind ihr nicht um den Hals? Jetzt lief das Kind weg – und er sah, dass es nun seiner richtigen Mutter entgegenlief, die schnell aus der anderen Richtung kam. Nun war es bei ihr, nun nahm sie es hoch ... und glücklich vereint gingen sie wieder in die Richtung, wo die Mutter auf der Bank gesessen haben mochte, auf der gegenüberliegenden Seite...
Auch die junge Frau in dem hellblauen Kleid befand sich noch immer unmittelbar in seiner Blickrichtung. Sie sah dem Kind hinterher, noch immer im Sand kniend. Nun erhob sie sich langsam, auch diesmal berührte ihn ihre Anmut. Langsam ging auch sie zurück an den Platz, wo sie gesessen haben mochte – schräg rechts von ihm an den Rand des Sandbereiches, der von abgeschnittenen Holzpfählen gebildet wurde, die breit genug waren, um in Kniehöhe darauf zu sitzen.
Auf halbem Wege sah sie zu ihm hinüber, und als sie seinen Blick bemerkte, lächelte sie ihm zu. Verwirrt konnte er nichts anderes tun, als schnell ein wenig auf den Spielplatz zu schauen, zu der Stelle, wo das Kind gestanden hatte. Er war erleichtert, dass sie einfach weiterging, und doch tat es ihm sehr leid, nicht einmal ihr Lächeln erwidert zu haben... Nun setzte sie sich auf die Holzumrandung. Wieder besaß auch diese Bewegung eine Anmut, die er noch nie gesehen hatte...
Er blickte auf ihre schöne Gestalt, die er nun nur von hinten sah, und so mochte sie gar nicht außergewöhnlich aussehen. Aber weder ihre Bewegungen noch ihr Gesicht gingen ihm aus dem Sinn. Sie hatte gut schulterlanges, etwas ins Rötliche gehendes braunes Haar, das glatt und seidig auf ihre vom Hellblau des Kleides bedeckten Schultern herabfiel, einen schönen Mund, der wie zum Lächeln und zur Freude geschaffen schien, und Augen, deren Braun ebenfalls voller Freude in die Welt leuchtete, umrahmt von wunderschön geschwungenen Augenbrauen, die scheinbar die Anmut verewigen wollten...
Je weniger ihm all dies aus dem Sinn ging, desto mehr tat es ihm leid, dass er ihr wunderschönes Lächeln, das ihn einen Augenblick lang getroffen hatte, nicht erwidert hatte. Fast wollte er hingehen und es ihr sagen ... aber das würde er natürlich nie tun.
Und doch hatte dieses Lächeln nun noch eine andere Wehmut in ihm geweckt. Nein, eigentlich war diese schon bei ihrer allerersten Bewegung geweckt worden – in dem Moment, als sie sich vor dem Mädchen hingekniet hatte...
Jetzt erst fragte er sich, warum sie das getan hatte. Sie war einfach zu dem Kind gegangen und hatte sich vor ihm niedergekniet... Wieder erinnerte er sich daran, wie sie die Hände des Mädchens genommen hatte. Sie hatte es trösten wollen. Es war ihr auch gelungen. Jetzt erinnerte er sich, dass das Mädchen tatsächlich aufgehört hatte zu weinen – bevor es dann seine Mutter gesehen hatte.
Er sah wieder auf den Rücken der jungen Frau. Wie alt mochte sie überhaupt sein? In dem Moment, in dem ihn ihr Lächeln traf, wirkte sie wie ... ja, man konnte an einen Engel denken. Merkwürdigerweise kamen ihm jetzt auch französische Filme in den Sinn. Gab es da nicht immer wieder solche jungen Frauen voller Leichtigkeit, voller Lebensfreude? Vielleicht war sie ja sogar Französin?
Aber wie alt war sie nun? Sie wirkte wie ein junges Mädchen. Vielleicht vierundzwanzig? Oder vielleicht sogar erst Anfang zwanzig? Neunzehn? Im Grunde war er ganz schlecht im Schätzen... Sie würde eine geborene Erzieherin sein können. Also vielleicht doch Anfang, Mitte zwanzig... Und doch noch ein junges Mädchen...
Ja, wenn man noch einmal so jung sein könnte. Nicht so jung wie das Mädchen, das sie getröstet hatte, sondern so jung wie sie. Dann könnte man ... dann könnte man sie kennenlernen.
Dies war es eigentlich, was die andere Wehmut war. Die einzige Wehmut eigentlich. Noch einmal Kind sein, das wollte er gar nicht. Aber noch einmal ... ein solches Mädchen kennenlernen.
Wehmütig blickte er auf ihre schönen Haare, in denen die Frühlingssonne jetzt sogar ein wenig spielte, mit Hilfe der hinter ihnen beginnenden Parkbäume und Sträucher, die sich in einem milden Wind für einen Moment leicht bewegten.
Noch einmal? Er hatte ein solches Mädchen überhaupt nie kennengelernt. Ja, er hatte sich damals in Emma schon auch verliebt, ziemlich sogar. Und doch war sie in gewisser Weise ganz das Gegenteil von diesem Mädchen gewesen. Sie hatte nie eine solche Lebensfreude gehabt, eine solche Fröhlichkeit, eine solche Leichtigkeit. Sie wäre auch nie zu einem Mädchen hingegangen, das weinte, weil es gerade seine Mutter nicht sah...
Auf einmal bedauerte er es unendlich, dass er schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt war. Es wurde ihm bewusst, dass er mehr als doppelt so alt war wie dieses wunderschöne Mädchen dort...
Er wusste nicht, wie lange er dort gesessen hatte, um sie heimlich anzuschauen. Erschrocken bemerkte er schließlich, wie sie aufstand, um sich umzuwenden und auf den Weg zu gehen. Sie wandte sich dann in seine Richtung, und als sie ihn noch immer auf der Bank sitzen sah, lächelte sie ihm noch einmal zu – und er schaffte es, unbeholfen ein halbes Lächeln zu erwidern. Ein Drittel wahrscheinlich nur...
Betroffen sah er ihr nach, nachdem sie an ihm vorbeigegangen war ... und bis sie aus seinem Blickfeld verschwand. Minutenlang blieb er noch sitzen. Und jetzt fiel ihm auf einmal wieder ein, dass er hatte schauen wollen, ob auch ihr Kind irgendwo spielte. Die Frage erübrigte sich nun. Sie hatte hier gar kein Kind gehabt! Sie hatte einfach nur lange hier gesessen, sogar viel länger als er selbst, und wie er den Kindern zugeschaut... Nein, nicht wie er, nur sie hatte den Kindern zugeschaut, er hatte es auf einmal völlig vergessen...
Langsam erhob er sich. Er fühlte sich auf einmal sehr müde. Voller Wehmut ging er langsam nach Hause. Die Gedanken an das Mädchen begleiteten ihn.
*
„Wo warst du so lange?“, fragte ihn seine Frau, als er schließlich zuhause war.
„Ich sitze doch oft noch ein wenig im Park...“
„Es kam mir heute länger vor.“
„Ja, heute war sehr schönes Wetter.“
Mit dieser Antwort war seine Frau zufrieden.
Später, beim Abendessen, fragte sie ihn dann:
„Wann ist dein Arzttermin?“
„Nächste Woche Donnerstag.“
„Ich habe jetzt auch einen Termin für einen Gesundheitscheck gemacht."
„Aha.“
„Ich muss nochmal in meine Unterlagen schauen. Ich glaube, man bekommt dafür sogar Bonuspunkte. Wenn man genug davon hat, gibt es eine kleine Erstattung.“
„Aha.“
Er hatte nicht die Kraft, auszudrücken, wie wenig ihm dies bedeutete. Es war so unwesentlich wie die Apothekenzeitschriften. Aber manche Leute verbrachten ihr halbes Leben mit diesen kleinen Zeitschriften – und die andere Hälfte mit Gedanken an Bonuspunkte und kleine Erstattungen...
Es tat ihm weh, so zu denken, aber er konnte nicht anders. Er war nicht so wie Emma. Und irgendwie hatten sie sich in vielem auseinanderentwickelt. Wie lange eigentlich schon? Hatte auch das wirklich schon vor drei Jahrzehnten begonnen? Ein halbes Jahrhundert, drei Jahrzehnte... Alles Zeiträume, die über das gesamte Lebensalter jenes schönen Mädchens hinausgingen. Wehmut...
Dem Arzt, den er nur alle paar Jahre sah, erklärte er die Bauchschmerzen mit einem Hinweis auf seine Tochter. Sie hätte ihn hergeschickt, er wäre gar nicht gekommen, um ihn damit zu belästigen. Der Arzt tastete ihn ab und stellte ihm noch einige Fragen. Ob die Beschwerden abhängig von den Mahlzeiten seien, ob er sich öfter als sonst müde fühle und so weiter. Er war froh, dass er die meisten Fragen auf Anhieb verneinen konnte. Dass er schon etwas müder war als früher, musste er zugeben, aber wer war das nicht, wenn er älter wurde?
Es traf ihn völlig überraschend, als der Arzt am Ende dennoch sagte, dass er ihn gerne zu einem Internisten schicken würde. Erst wollte er dies ablehnen, aber dann dachte er an Dorit. Wenn sie erfahren würde, dass der Arzt ihn überweisen wollte, dann hätte er keine Ruhe mehr. Ihr zuliebe musste er also auch den zweiten Arztbesuch noch über sich ergehen lassen... Er bedankte sich bei seinem Hausarzt und wünschte ihm wieder alles Gute für die nächsten drei, vier Jahre...
*
Drei Tage später telefonierte er wieder mit Dorit – sie hatte angerufen. Vor zwei Wochen hatten sie zuletzt telefoniert.
Am Ende kam sie dann auch auf den Arztbesuch zu sprechen.
„Und, Papa, warst du beim Arzt?“
„Ja, alles in Ordnung.“
Er wusste nicht, warum er das sagte. Aber er hatte nicht das geringste Bedürfnis, seiner Tochter schon jetzt von der Überweisung zu erzählen. Emma gegenüber hatte er sich deswegen beklagt – aber Dorit brauchte es erst zu wissen, wenn auch der Internist Entwarnung gegeben hätte, und eigentlich auch dann nicht. Er wollte sie nicht beunruhigen – und er wollte erst recht nicht, dass sie irgendwann so gesundheitsbesessen wie Emma werden würde. Deswegen musste sie einfach von Anfang an beruhigt werden.
„Wirklich?“
„Ja.“
„Das freut mich, Papa! Der Arzt hat gesagt, alles in Ordnung?“
„Ja.“
„Und du hast es beim Erzählen nicht schon heruntergespielt?“
„Nein.“
„Danke, Papa. Und danke, dass du hingegangen bist!“
Die Art, wie sie die Worte betonte, rührte ihn sehr. Ach, seine liebe Tochter...
Er hatte jetzt fast ein schlechtes Gewissen. Dennoch blieb er bei seinem Entschluss, dass das Wichtigste war, sie nicht zu beunruhigen. Sie, der so an seinem Wohl lag, sollte wissen, dass es ihm gut ging...
„Gut, Papa, dann kannst du ja hundert Jahre alt werden?“
Sie lachte, und er liebte ihr Lachen.
Auf einmal fiel ihr noch etwas ein.
„Aber“, fragte sie nun wieder ernst, „was hat der Arzt dir denn gesagt, was gegen die Bauchschmerzen hilft?“
Er wollte schon sagen ,nichts’, aber das hätte sie wiederum beunruhigt. Also sagte er:
„Ach, Dorit – gibt es da nicht ganz viele Hausmittel?“
„Du meinst, Kümmel, Anis, Fenchel und so?“
„Ja – genau, die meinte ich.“
Er hatte keine Ahnung gehabt, aber jetzt erinnerte er sich, dass diese Gewürze dagegen helfen sollten.
„Und, Papa, hast du das schon versucht?“
„Nein, noch nicht...“
„Mach es doch bitte! Du sollst doch keine Bauchschmerzen haben...“
„Ja, Liebes. Ich werde mir schöne Tees machen, und dann werde ich hundert Jahre alt.“
Sie lachte wieder.
„Ja, Papa! Genau! Und sag mir, wenn es wieder besser ist.
Hoffentlich bald!“
„Ja, Liebes. Keine Sorge. Jetzt erstmal auch für dich alles Gute, ja? Bis bald, Dorit. Bis zum nächsten Mal...“
„Ja, Papa, bis bald. Kann ich auch Mama noch haben?“
„Ja, ich gebe sie dir. Tschüss, Dorit...“
„Tschüss, Papa!“
Noch immer war er gerührt...
Im letzten Moment fiel ihm ein, dass Emma noch immer alles erzählen konnte. Nachdem er ihr den Hörer bereits gegeben hatte, wies er gestikulierend darauf hin, dass sie definitiv nichts über die Überweisung sagen sollte. Flüsternd erklärte er es ihr dann auch noch. Seine Frau fragte mit wilder Gesichtsmimik zurück, warum nicht, aber er verbot es ihr kategorisch.
Als auch sie aufgelegt hatte, entwickelte sich dadurch regelrecht ein kleiner Streit.
„Warum durfte ich ihr nichts von der Überweisung erzählen?“, fragte seine Frau heftig.
„Weil es völlig übertrieben ist!“
„Es ist doch nicht übertrieben, von einer Überweisung zu erzählen? Es ist übrigens die Wahrheit!“
„Wahrheit hin oder her – sie muss sich doch nicht unnötig Sorgen machen!“
„Sie macht sich doch keine Sorgen, wenn sie weiß, dass ein Internist das Ganze nochmal abklären soll.“
„Natürlich macht sie sich Sorgen! Du kennst sie doch!“
„Und deswegen lügst du sie jetzt sogar an?“
„Das ist keine Lüge. Das ist...“
Er wusste auch nicht, was es war.
„Siehst du? Natürlich ist es eine Lüge!“
„Und wenn schon – sie soll sich keine Sorgen machen. Das ist viel wichtiger.“
„Wenn es Grund gibt, sich Sorgen zu machen, darf man sich doch wohl Sorgen machen?“
„Wie kommst du denn darauf, dass es Grund dazu gibt?“
„Ich meine nur, solange es noch nicht endgültig abgeklärt ist.
Das ist doch eine bloße Information.“
„Für sie aber nicht.“
„Dann kann man sie dann beruhigen. Man kann sagen: Hör mal, Liebes, ich muss noch zum Internisten, aber mach dir keine Sorgen.“
„Du hast keine Ahnung, Emma. Oder vielmehr: Du weißt es doch! Das funktioniert bei Dorit einfach nicht. Wenn sie gewusst hätte, dass ich noch einen zweiten Termin habe, hätte sie nicht einmal mehr schlafen können! Jetzt hör doch endlich auf damit!“
Leise, aber deutlich spürbar beleidigt hörte seine Frau auf, etwas zu entgegnen, und doch nahm sie es ihm übel. Ihm war es egal. Es ging ihm um Dorit – und sie machte sich jetzt keine Sorgen. Alles andere war unwichtig...
Die junge Frau begegnete ihm nun immer wieder. Fast jeden Nachmittag saß sie an der Umrandung des Spielplatzes und schaute dem Spiel der Kinder zu. Und er setzte sich immer wieder auf die Bank und schaute ihr zu...
Sein eigenes Tun kam ihm allerdings so unzulässig vor, dass er jedes Mal, wenn sie dann aufstand – und meistens blieb auch er so lange –, so tat, als beobachte er intensiv die Kinder. Nur so konnte er ihrem Blick entgehen. Hätte er ihn noch einmal getroffen, hätte er sich in Grund und Boden geschämt. Sie sollte, nein, sie durfte nicht wissen, dass er vor allem sie beobachtete. Und es war doch eigentlich auch gar kein Beobachten. Es war einfach nur schön. Schön, sie einfach nur anzusehen...
Manchmal sah er wieder, wie sie zu einem Kind hinging, das von anderer Seite keine Hilfe fand. Nicht immer konnte sie sich vor dem Kind hinknien, aber wenn sie dies tat, tat sie es wieder mit derselben anmutigen Bewegung, die ihn jedes Mal wieder zum Staunen brachte und tief berührte...
Er fragte sich, warum er sie nie zuvor gesehen hatte.
*
Längst waren ihm diese langen Pausen auf dem Weg nach Hause um des Mädchens willen so ans Herz gewachsen, dass er eine tiefe Abneigung gegen jenen Nachmittag fühlte, an dem er den Termin beim Internisten hatte. Doch als dieser kam, musste er ihn auch wahrnehmen.
Während der Wartezeit dachte er an das Mädchen – daran, wie sie jetzt dort sitzen würde. Daran, wie sie vielleicht zu einem Kind gehen würde, sich hinknien... Daran, wie sie irgendwann nach Hause gehen würde.
Als er bei diesem Gedanken angekommen war, stellte er sich vor, wie sie die leere Bank sehen würde – und es bedauern, dass sie ihn heute nicht sehen würde. Dieser Gedanke berührte ihn... Es war ihm egal, ob es seine eigene Phantasie war. Ohne Phantasie war das Leben wirklich sinnlos geworden. Ohne Phantasie konnte man wirklich nur noch wehmütig werden.
Nur wurde man es mit ihr sogar noch mehr...
Als er endlich aufgerufen wurde und dem Arzt, den er noch nie gesehen hatte, die Hand geschüttelt hatte, erklärte er ihm, dass nur sein Hausarzt ihn hergeschickt hätte und dass er ganz einfache Bauchschmerzen durch einen Spezialisten abklären lassen wollte, was an sich doch schon völlig überflüssig wäre. Aber der Arzt ließ ihn sich freimachen, um ihn auf einer Liege zu untersuchen.
Als er angesichts der Apparate leicht furchtsam fragte, was für eine Untersuchung das sei, beruhigte ihn der Arzt – es sei nur Ultraschall und dies sei absolut schmerzfrei. So beruhigt legte er sich hin und beobachtete die in verschiedenen Grau- und Weißtönen flimmernden Bilder, die der Arzt auf einem Monitor anschaute.
Immer wieder fuhr der Arzt nach einer weiträumigeren Untersuchung über bestimmte Stellen seines Bauches, gab mehrmals neues Gel auf die Sonde und studierte die Bilder, auf denen man als Laie nichts erkennen konnte.
„Kann man bei dem ganzen Flimmern überhaupt etwas sehen?“, fragte er scherzhaft.
„Na ja“, erwiderte der Arzt mehr abwesend und auf den Monitor konzentriert als wirklich an ihn gerichtet, „es ist nicht immer ganz einfach.“
„Nein, wenn nichts da ist, dann wird man ja auch nichts sehen...“
Der Arzt sagte nichts, sondern schaute weiter konzentriert auf den Monitor, nahm Maße, nahm Standbilder, veränderte wieder den Ausschnitt und die Perspektive, nahm neue Bilder...
Schließlich, nach einer ganzen Weile, wischte er die Sonde ab, wischte auch seinen Bauch ab und bat ihn, sich wieder anzukleiden.
Als er wieder vollständig bekleidet vor ihm saß, sagte der Arzt:
„Man sieht leider schon vieles. Nur ist es nicht immer einfach, eine klare Diagnose zu treffen. Aber was man sehen konnte, gibt doch Grund zur Besorgnis. Ich möchte noch nichts Endgültiges sagen. Wir müssen zunächst eine Endosonografie machen.
„Wie bitte? Was ist das denn? Worum geht es denn überhaupt? Was haben Sie gesehen?“
Die Stimme des Arztes schien noch ernster zu werden, als er sagte:
„Es ist leider so, dass der Pankreas – also die Bauchspeicheldrüse – im Ultraschall ein Bild zeigt, das, leider, eine deutliche Übereinstimmung mit dem, nun ja, typischen Bild eines Tumors zeigt. Ich möchte gleich sagen, dass es differentialdiagnostisch noch andere Möglichkeiten geben könnte, aber der Befund muss unbedingt abgeklärt werden. Wir werden in den nächsten Tagen eine Endosonografie und auch ein CT machen...“
*
Die Worte des Arztes ließen seine bisherige Welt völlig zerbrechen. Es war, als wenn nach dem Wort ,Tumor’ die weiteren Sätze des Arztes wie in Watte gehüllt waren, nur noch wie aus einer durch Watte von ihm getrennten Welt zu ihm drangen.
Auf seine Nachfragen hatte ihm der Arzt erklärt, was eine Endosonografie, was eine Computertomografie war. Er hatte ihm erklärt, was die Diagnose eines Tumors bedeuten würde. Er hatte erfahren, dass Bauchspeicheldrüsenkrebs eine sehr seltene Erkrankung war, die aber zu den unheilbarsten Krankheiten überhaupt gehörte. Es käme ganz auf das Stadium an... Aber noch sei nichts sicher...
Wie im Traum hatte er den Arzt gebeten, alle folgenden Untersuchungen in seine Arbeitszeit zu legen. Er hatte sich vergewissert, dass der Arzt eine Schweigepflicht hatte und dass er es seiner Frau und seinen Kindern zunächst nicht sagen musste. Er hatte nicht gewusst, warum er so reagiert hatte, aber er hatte gefühlt, dass es richtig war – niemand außer ihm sollte es zunächst wissen...
Bestürzt hatte er die Praxis mit zwei neuen Terminen verlassen. Bestürzt, voller Unsicherheit und noch immer wie im Traum.
Was war das für eine Welt, die weiterlief, obwohl man eventuell an einer tödlichen Krankheit litt... Eventuell? Es hatte doch schon sehr bedenklich, sehr besorgt geklungen. Selbst schon die Möglichkeit fühlte sich schlimm an. Er trug eine Möglichkeit im Körper... Eine Möglichkeit, die entweder schon wirklich war – oder aber nicht. Aber er hatte doch immer wieder diese merkwürdigen Bauchschmerzen... Die Möglichkeit schien sich zu verdichten.
Und die Welt lief weiter, als wenn nichts geschehen wäre. Keiner achtete auf ihn, keiner sah ihm eine tödliche Krankheit an – und selbst wenn er auf der Stelle zusammenbrechen würde, würde die Welt weiterlaufen... Starben nicht täglich Menschen, wurden begraben, wurden nach und nach vergessen...
Man konnte also sterben. Und jeder starb irgendwann. Aber nun würde er vielleicht sehr bald sterben. Er hatte den Arzt auch gefragt, was ein Krebs dieser Art im späten Stadium schlimmstenfalls bedeuten würde. Und der Arzt hatte gesagt, schlimmstenfalls wenige Monate oder sogar nur Wochen...
Er war also fast schon ein Gestorbener, wenn dies stimmte. Er würde kein halbes Jahrhundert mehr erleben. Er würde vielleicht nicht einmal mehr ein halbes Jahr leben. Nicht einmal mehr bis zu seinem nächsten Geburtstag...
Ihm wurde, bevor er wieder bei dem Park ankam, so merkwürdig zumute, dass er das Gefühl hatte, ihm würde bald schwarz vor Augen. Fast erreichte er nicht die nächste Bank.
Als er sich auf diese stützte, sich schließlich auf sie fallen ließ und versuchte, tief und ruhig einzuatmen, bemerkte er die Blicke einzelner vorbeigehender Menschen – aber niemand sprach ihn an, niemand fragte ihn, wie es ihm gehe...
Als es ihm schließlich wieder besser ging, war er ein gezeichneter Mensch. Er war von einer Möglichkeit gezeichnet, die bald Gewissheit werden würde, wenn es sich um eine Realität handelte – worauf alle Bilder hindeuteten.
Seine bisherige Welt war zerbrochen. Vielleicht würde er in wenigen Monaten oder sogar Wochen sterben. Vielleicht würde er operiert werden. Vielleicht würde man Chemotherapien machen. Vielleicht würde er nach und nach starke und dann sehr starke Schmerzen bekommen. Vielleicht würde er dagegen Schmerzmittel bekommen. Schließlich an Schläuche angeschlossen werden...
Noch einmal wurde ihm fast schwarz vor Augen. Er wollte das alles nicht. Er wollte weder sterben, noch eine Tortur durchmachen, die einen retten sollte... Dass das oft gar nicht half, einem allenfalls ein paar Jahre schenkte, dass auch das oft nichts anderes als ein Sterben auf Raten war, das wusste selbst er – sogar ganz ohne Apothekenzeitschriften, die einem ohnehin nicht helfen konnten. Man konnte sein Leben lang solche Zeitschriften lesen – und dann trotzdem innerhalb von Wochen sterben müssen...