Die sanfte Spur des Schmetterlings - Oliver Grudke - E-Book

Die sanfte Spur des Schmetterlings E-Book

Oliver Grudke

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Beschreibung

Eine mystische Liebesgeschichte über Verrat, Rache und großer Liebe. Der Leser selber wird Teil der Geschichte und wird beginnen sein eigenes Leben neu zu sehen. Starke Gefühle und spannende Wendungen, die unbekannte Ereignisse zu Tage fördern.

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OLIVER GRUDKE

***

DIE SANFTE SPUR DES SCHMETTERLINGS

© 2020 Oliver Grudke

Lektorat, Korrektorat: Nadine Senger

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-08877-1

Hardcover:

978-3-347-08878-8

e-Book:

978-3-347-08879-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Veronika,

ein kleiner Dank

für Deine Hilfe, Nähe und Liebe

an jedem dunklen und einsamen Tag

„Ich habe das Böse immer gespürt, wie es nach meiner Seele trachtet. Doch nun bin ich zurück, um für das Gute Rache zu üben!“

Es ist dunkel, feucht und kalt. Mir ist kalt und ich zittere am ganzen Körper. Das Gehen fällt mir schwer und doch fühlt sich die Last, die ich trage, mit jedem Schritt, den ich vorwärtskomme, leichter an. Auch wenn es schwerfällt, so will ich weiter. Wohin, das weiß ich nicht, will ich nicht wissen. Nur weg!

Von was oder wem?

Von allem, von denen, die mir Schmerzen bereitet haben. Und es gibt keinen, der es nicht getan hat. Keinen Unschuldigen, keinen, der eine reine Seele hat.

Doch nun ist es mir egal und ich setze meinen linken Fuß noch ein Stück nach vorne. Die Luft ist dünn, doch ich bilde mir ein, den Duft von blühenden Wiesen zu riechen. Ich stelle mir eine solche Wiese vor. Der Wind weht leicht darüber und die großen Blüten nicken leicht dazu. Es ist still. Nur die fleißigen Bienen gehen sanft summend ihrem Tagwerk nach. Ich bilde mir ein, den Nektar, den diese Tierchen sammeln, riechen zu können.

Wäre das möglich? Gibt es eine Zukunft für mich? Eine, wo der Frieden und die Liebe wohnen? Das wäre so schön. Doch meine Seele kann nicht mehr daran glauben. Die Verletzungen sind zu tief.

Ich setze meinen rechten Fuß ein Stück nach vorne.

Es kostet enorm viel Kraft. Wieviel werde ich noch davon haben? Wieviel kann ich noch davon aufbringen? Ich könnte ja auch einfach hierbleiben. Hier in der Dunkelheit und der Leere.

„Nein“, rufe ich aus. Noch ist das Feuer in mir, welches an das Gute und die Liebe glaubt, noch nicht erloschen. Auch wenn es keine Flamme mehr hat und eher einer dünnen Glut ähnelt. Noch kann ich die Wärme spüren und möchte weiter.

Ich setze meinen linken Fuß nach vorne.

Wieder habe ich ein Stück geschafft. Habe ich das? Ich weiß es nicht, aber ich versuche es. Versuche vorwärts zu kommen. Weg von all dem Dunkel, welches mich zu lange erdrückt hat. So lange, bis alles Leben aus mir entwichen war. Doch es war gut so. Dort gibt es nichts, was meine Seele nähren würde. Fast denke ich, es wäre besser, wenn es doch ein höheres Wesen gäbe, an das so viele glauben wollen. Dann könnte dieses Wesen seinen Fehler einsehen und all die Menschen vernichten.

Alle?

Nein, nur die schlechten! Allerdings habe ich nie einen anderen kennengelernt. Mit jedem Schritt, den ich mich nach vorne schleppe, wird mir dies klarer.

Ich ziehe nun meinen rechten Fuß nach vorne. Dazu muss ich diesen schon mit beiden Händen unterstützen.

Meine Kraft lässt nach. „Ach was soll es!“, rufe ich in die Dunkelheit und lache. Wie dumm sind die Menschen und glauben an eine höhere Macht! Es gibt nichts. Nichts erwartet uns. Niemand wird uns helfen. Warum auch? Keiner war auf der Seite des Guten. Alle sind dem Bösen und dem Egoismus verfallen. Der Mensch ist ein Fehler. Doch was kümmert dies mich.

Ich bleibe stehen, denn auch ich bin ein Mensch.

Nicht besser, denn auch ich habe Fehler begangen. Keine schlimmen und doch war der Weg, den ich ging, oft krumm. Ich denke an meine Träume, die ich hatte, sie sind vergangen, so wie ich nun vergehen werde. Ich lehne mich an die glitschige Wand. Die Nässe durchdringt mein dünnes Hemd. Ich fühle mich müde und möchte schlafen.

Für immer.

Denn dann gäbe es keine Schmerzen mehr. Keine, die der Seele schaden können, denn dies sind die schlimmsten Schmerzen, die man erleiden muss.

Die ich erlitten habe.

Ich schmecke das Salz einer Träne auf meiner Zunge.

Es wird das Letzte sein, was ich schmecke. Ich möchte die Tränen, die folgen, wegwischen. Doch plötzlich spüre ich, dass etwas auf meiner Hand sitzt. Ich hebe es hoch, obwohl es sehr anstrengend für mich ist. Auch ist es nicht mehr so dunkel und ich erkenne etwas. Meinen Augen fällt es schwer, doch ich strenge mich an. Und ich erkenne es! Es ist ein dunkelblauer Schmetterling. Er schaut mich an, als wenn er mich ermuntern möchte, weiterzugehen. Mit ihm weiterzugehen.

Ich möchte das. Ich möchte ihm folgen in sein Land, wo alles so schön ist wie er. Ich strecke meinen Arm aus und er fliegt los. Langsam, aber konstant und es gelingt mir, ihm zu folgen. Meine Beine werden stärker. Es wird leichter und ich rieche den Duft einer Wiese.

Nun sehe ich das warme Licht. Dort möchte ich hin. Gleich werde ich da sein und alles hinter mir lassen. All die Schmerzen und die Enttäuschung. Gleich werde ich im Licht sein und meine Seele wird sich entfalten und frei sein.

Ich lächle und freue mich. Mein Herz macht einen Sprung. Ein frischer lauer Wind erfasst mich und mein Körper kommt zur Ruhe.

Plötzlich höre ich eine Stimme.

Sie ruft meinen Namen, doch ich möchte nicht zuhören. Nicht mehr! Zu lange habe ich getan, was man von mir erwartet hat. Das war gut, so lange ich diese Dinge geschafft habe. Als es nicht mehr ging, war ich der Versager.

Deshalb möchte ich nicht mehr zuhören! Nie mehr! Ich werde weitergehen mit dem Schmetterling in das Licht!

„Komm zurück!“, sagt die Stimme, die ich schön finde.

Wem gehört sie? Eine so schöne Stimme habe ich noch nie gehört. Ich beginne zu träumen.

Doch das ist zu einfach. Ich gehe weiter.

„Bitte, komm zurück! Du wirst gebraucht!“, flüstert die Stimme und ich stelle mir das Gesicht einer Frau dazu vor. Eine, die mich liebt, so wie ich bin.

Doch das gab es nicht, und wird es nie geben!

„Nein!“, rufe ich barsch und fast tut es mir leid, denn die Stimme ist sanft und ich möchte niemanden verletzen. Doch ich werde nicht zurückkommen.

Nie!

Der Schmetterling möchte, dass ich ihm folge.

„Ich komme!“, rufe ich ihm zu, als könnte er meine Worte verstehen.

Vielleicht kann er es ja! Das wäre schön, doch so ist es nicht.

„Ich weiß von deinem Schmerz und dem Unrecht, das dir angetan wurde!“ Die Stimme klingt mitleidig. Ich mag kein Mitleid. Ich möchte nicht, dass man mit mir Mitleid hat. Ich möchte weitergehen. Es ist nur noch ein kurzes Stück.

„Lass mich gehen!“, rufe ich und schaue nicht zurück.

„Du wirst gebraucht!“ Die Stimme klingt besorgt.

„Ha!“, rufe ich überheblich. „Niemand hat mich je gebraucht, und niemand wird mich brauchen. Ich bin ein Versager!“

„Nein, deine Seele ist rein. Reiner als alle Seelen und dir wird die Aufgabe zuteil!“

Ich höre schon fast nicht mehr zu. Ich werde keine Aufgaben mehr übernehmen. Dann werde ich auch nicht mehr verletzt.

Nun ist es nur noch ein Schritt. Ich sehe blauen Himmel und sanfte Hügel. Der Schmetterling lächelt einladend. Und doch zögere ich! Warum? Es ist meine Seele, die noch nicht bereit ist.

Doch warum? Was gäbe es, das noch nicht getan ist. Wer würde mich brauchen?

Eine warme Hand greift nach der meinen. Es fühlt sich gut an. Lebendig.

„Komm zurück, du wirst gebraucht!“

Ich sage nichts. Kann nicht. Vielleicht möchte ich ja doch gebraucht werden. Aber vielleicht möchte ich die Augen kennenlernen, die zu der warmen Hand gehören. Das wäre schön.

Doch die kalte Hand der Erinnerung packt plötzlich mein Herz, das gerade versucht hat, sich zu öffnen. Ich reiße mich los und drehe mich um. Es ist nur noch ein kleiner Schritt.

„Dein Sohn braucht dich! Er ist in Gefahr! Ihm droht große Gefahr!“ Die Stimme ist nun verzweifelt.

Ich drehe mich um und folge der Stimme. Zurück in das Unbekannte.

Zurück zu den Bösen.

Zurück zu meinem Sohn!

Doch ich habe keinen Sohn.

Nie gehabt!

Ich habe die Augen fest geschlossen. Warum? Weil da die Angst ist vor dem, was mich erwartet? Weil ich nicht bereit dazu bin, mich der Wahrheit und der mit ihr verbundenen Schmerzen zu stellen? Weil ich feige bin? Nicht besser als all die anderen?

Vielleicht!

Doch vielleicht ist es auch, weil man mit geschlossenen Augen die Dinge besser spüren kann. Alle anderen Sinne werden intensiviert.

So spüre ich den leichten und warmen Wind, wie er sanft über meine Haut streicht. Ich rieche den Duft von frischem Heu, den er bei sich trägt. Ich höre das Rascheln der Blätter, mit denen er spielt.

All das ist schön.

Friedlich und schön.

Ich weiß nicht, wo ich bin, auch weiß ich nicht, wer ich bin.

Ich bin ich! Oder?

Vielleicht, und vielleicht ist es anders. Bin ich anders.

Doch der Duft, welcher der Wind mit sich trägt, ist der Duft des Sommers. Eines nicht zu heißen, angenehmen Sommers. Es ist mein Duft. Der Duft nach den Dingen, die ich mag. Nach einer Zeit, die schön war.

War sie das?

Ich bilde es mir ein, aber ich habe noch immer die Augen fest geschlossen. So kann ich mir Dinge vorstellen, die es vielleicht nie gegeben hat.

Warum bin ich hier?

Möchte ich überhaupt hier sein?

Dinge sehen und erkennen, die mir weh tun?

Sicher nicht und doch spüre ich, dass es wichtig ist, hier zu sein. Hier zu sein und Dinge so zu sehen, wie sie sind, wie sie waren. Die Erkenntnis wird nicht leicht sein. Sogar sehr schmerzhaft. Doch wenigstens bin ich nicht allein hier. Du bist bei mir.

Ja, dich meine ich. Jetzt hast du das Buch und die Geschichte noch immer nicht weggelegt. Du bist noch immer bei mir. Das ist schön!

Natürlich kenne ich dich nicht und noch kennts du mich nicht. Das können wir ändern. Es wäre ein Versuch wert. Ein Experiment. Möchtest du dich darauf einlassen? Antworte nicht zu schnell, denn wenn du mutig bist und mir folgen möchtest, musst auch du genau wie ich die Augen öffnen.

Du wirst Dinge sehen, die du nicht für möglich gehalten hättest. Du wirst Schmerzen in deiner Seele spüren, die du nicht für möglich gehalten hättest. Du wirst dich einsam und allein fühlen.

Doch nicht ganz allein, denn ich werde den Weg mit dir gehen. Wir können ihn gemeinsam gehen. Gemeinsam die Augen öffnen, gemeinsam unser Leben neu entdecken. Doch sei gewarnt: Am Ende wird dein Leben ein anderes sein. Du wirst erkennen, wie und wer deine Freunde sind. Und ob es überhaupt welche gibt. Du wirst dich gemeinsam mit mir auf die Suche nach der Liebe machen. Und ich kann dir nicht versprechen, dass wir sie finden werden.

Du hast diese schon gefunden?

Vielleicht! Vielleicht denkst du das auch nur, so wie ich es dachte. Und deshalb ist es auch vielleicht besser, die Augen nicht zu öffnen. Gehe den Weg, den du eingeschlagen hast, einfach weiter. Er könnte im Glück enden. Doch viel wahrscheinlicher ist es, dass eines Tages jemand dich zwingt, die Augen zu öffnen, und dann wird es noch mehr weh tun. Aber das ist nicht sicher und mit etwas Glück wirst du nie die Dinge sehen und spüren, wie sie wirklich sind.

Es ist allein deine Entscheidung. Ich kann verstehen, wenn du das Buch weglegst und dein Leben so weiterlebst, wie du denkst, dass es ist.

Es aber nicht ist.

Auch ich würde am liebsten meine Augen ganz fest geschlossen halten und mir die Welt so vorstellen, wie ich es möchte.

Wäre das nicht schön?

Aber es wäre eine Lüge. Und ich mag keine Lügen. Du etwa?

Also sind wir beide einfach mutig und öffnen nun die Augen. Bist Du bereit? Bereit, den Schmerz zu ertragen? Aber vielleicht auch die wahre Liebe und Freundschaft zu finden und zu spüren?

Sind wir bereit für ein Experiment? Wir beide? Jetzt?

Dann lass uns die Augen öffnen auf drei … zwei … eins …

-----------------

Die Sonne blendet mich. Mit meiner rechten Hand versuche ich meinen Augen etwas Schutz zu geben. Doch vielleicht möchte ich ja auch nur meine Hand wieder vor die Augen halten und mich so nicht den Dingen stellen, denen ich mich stellen muss.

Muss ich?

Habe ich eine Wahl?

Hatte ich je eine?

Ich möchte, dass es dieses Mal anders wird. Anders als es war und anders als man es von mir verlangt hatte.

Einfach so, wie ich möchte.

Wie ich bin.

Doch bin ich hier auch so?

Wo ist hier?

Wer bin ich?

Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht. Ich schaue nach oben, dort ist der Himmel so blau wie das Meer im Süden.

Ist das so?

Ich war noch nie im Süden. Ich habe es nur schon so gesehen. In Magazinen und Fernsehsendungen.

Und es ist nicht der Himmel im Süden. Es ist kein fremder Himmel, der gemeinsam mit der Sonne versucht, sich immer wieder zwischen den im Wind spielenden Blättern eine Lücke zu suchen, sodass ich ihn erblicken kann. Nein! Ich kenne den Himmel und das Grün der kleinen herzförmigen Blätter der mächtigen Birken. Hier bin ich aufgewachsen, zur Schule gegangen und habe geheiratet. Hier war ich gerne und eigentlich war ich nie weg.

Nie, bis zu jenem Tag.

Der Tag, an dem sich so vieles geändert hatte.

Ich senke meinen Kopf und mein Blick fällt auf eine schwarze Teerfläche. Schwarz und leer. Dahinter steht etwas erhöht ein graues Gebäude mit bunten Fenstern aus Glas.

Ich kenne das Gebäude, in dem sich nur Leid und Schmerzen widerspiegeln, und das Unausweichliche und Vergängliche.

Ob auch ich dort war?

An jenem Tag, an dem sich alles verändert hatte?

Gemeinsam mit all jenen, die mich vermissen.

Ob sie Tränen vergossen haben? Wegen mir? Weil ich gegangen bin?

Mein Blick schweift weiter und trifft das schwarze Kreuz aus Metall, das alles überschattet. Überschattet mit seinen geschwungenen Formen, mit denen ein unbekannter Künstler versucht hatte, die harten und realen Dinge sanft erscheinen zu lassen. Doch das ist ihm nicht gelungen. Im Gegenteil, das dunkle, schwarze und kalte Kreuz strahlt ein Gefühl der Angst und der Bedrohung aus.

Ein Geräusch lässt mich aus den Tiefen meiner Gedanken zurückkehren. Gerade noch rechtzeitig, bevor diese mich noch tiefer in den Abgrund gezogen hätten.

Ein kleines silbernes Auto fährt auf den Parkplatz vor dem Friedhof meines Heimatdorfes. Es wirkt fremd, runder als ich die Autos in Erinnerung hatte.

Eine große alte Frau steigt aus. Sie trägt einen dunklen Rock und eine dunkle Strumpfhose. Dazu eine ordentliche Bluse. Ihr Haar ist grau mit einem Stich violett. Sie wackelt angestrengt mit dem Kopf.

Ich kenne die Frau.

Sie trägt immer Röcke und ordentliche Blusen. Ihr Haar ist immer ordentlich, so wie ihr Haus und ihr ganzes Wesen. Sie ist eine der wenigen, die nie über jemanden schlecht geredet hätte und nie jemanden verurteilt hatte.

Ich kannte sogar ihre Mutter.

Alle hatten ihrer Mutter immer nur Schlechtes hinter hergesagt. Warum? Weil sie sie nicht kannten. Nie kennenlernen wollten. Weil sie oberflächlich und egoistisch sind. Eines Tages, ich mag so sieben oder acht gewesen sein, habe ich sie beobachtet, wie die alte Frau sich mit ihrer Einkaufstasche abmühte. Da beschloss ich ihr zu helfen und habe die Tasche bis nach Hause getragen. Die Frau war so dankbar, dass ich 5 Mark und eine Tafel Schokolade bekommen habe.

Und dann hat sie mir erzählt, wie hart es die Leute in unserm engen Tal früher hatten. Das Futter für die Tiere hat oft nicht gereicht. Also sind die Leute in die Wälder und haben das Laub der Bäume geholt. Und trotzdem hat es nicht gereicht. Dann sind sie oft tagelang auf Reisen gegangen, um selbstgeschnitzte Ware zu verkaufen.

All das können wir uns nicht mehr vorstellen. Wir wollen es uns nicht mehr vorstellen, da wir ein Recht auf Überfluss haben.

Das haben wir nicht!

Ich schaue zurück zu Frau Rietmann. So heißt die große Frau mit den violetten Haaren. Sie ist älter geworden und wirkt zerbrechlich. Jetzt hat sie sich eine Karre geholt und stellt diese hinter das silberne Auto. Sie öffnet den Kofferraum und versucht, einen Sack mit Erde auszuladen.

Ich stehe auf und gehe über den dunklen und schwarzen Teer zum silbernen Auto.

„Hallo!“, sage ich und sie erschrickt und hält sich die Hand an die Brust.

„Oh, jetzt haben Sie mich aber erschreckt. Meine Güte! Ich habe Sie gar nicht gesehen.“

„Das wollte ich nicht, aber es sah so aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen!“ Ich lächle. Frau Rietmann lächelt auch. Anders. Etwas verlegen.

„Das würden Sie tun? Also, das wäre wirklich nett von Ihnen. Wissen Sie, in meinem Alter fallen die Dinge einem immer schwerer.“

Genau das waren die Worte ihrer Mutter vor einer langen Zeit in einer anderen Zeit, die längst nicht mehr ist. Ich hebe den Sack aus dem silbernen Auto und lege ihn auf den Karren. Frau Rietmann kramt umständlich in ihrer Geldbörse.

„Nein, kommt nicht in Frage. Ich nehme nichts. Das habe ich gerne getan!“, höre ich mich sagen.

„Vielen Dank, das findet man heute nicht mehr so oft, dass einem die Leute helfen. Jetzt nehmen Sie doch etwas, bitte. Kaufen Sie sich einen Kaffee damit.“ Sie drückt mir fünf silberne Münzen, auf denen Euro steht und die ich nicht kenne, in die Hand.

„Danke!“, sage ich schüchtern.

„Nein, ich bin es, der sich bedanken muss. Sie sind nicht von hier? Oder?“, sagt sie und wackelt wieder mit dem Kopf.

„Nein, nur auf Besuch!“, lüge ich, doch was hätte ich sagen sollen.

„Das dachte ich mir. Wissen Sie, ich kenne all die Leute von hier, wobei das ja so auch nicht mehr stimmt. Die vielen Fremden, die nun hier wohnen und die ganzen junge Leute. Nein, ich denke, ich kenne doch nicht mehr alle. Nein, nein!“ Sie schiebt die Karre hoch zum Eingang und zum dunklen und schwarzen Kreuz. Ich drehe mich um und möchte zurück zu meiner Bank, auf der ich gesessen bin. Doch mein Blick streift das dunkle Dach eines Hauses, welches etwas unterhalb des Parkplatzes steht.

Plötzlich verkrampft sich alles in mir. Angst steigt auf und steigert sich zur Panik. Zielstrebig gehe ich auf das Haus zu, das ich kenne. Unzählige Gedanken tauchen auf und verbinden sich mit der Panik.

Was wird mich an jenem Ort erwarten?

Was erwarte ich?

Nach so langer Zeit.

Ich sollte nicht dorthin gehen, und doch bin ich zurück und kann tun, was ich will.

Will ich den Ort und das Haus aufsuchen?

Nein, eigentlich nicht. Doch möchte ich Gewissheit haben. Gewissheit, welche Schatten das Kreuz bereits gesehen hat. Oder Gewissheit, dass es so noch nicht ist. Dass noch alles gut ist.

War es je gut? Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein, und es war noch nie gut? Vielleicht wird es dieses Mal gut. Anders!

Ich renne und eine Träne sucht ihren Weg über meine Wange. Ich spüre ihr Salz auf meiner Lippe, wie es brennt und ich spüre den Schmerz, wie er brennt in meiner Seele.

-------------------

Der Wind ist heißer geworden und verbindet sich mit den Strahlen der Sonne zu einer schweißtreibenden Mischung. Ich stehe am Tor des Grundstückes und gehe nicht weiter.

Warum?

Weil ich Angst habe?

Angst vor der Gewissheit und Angst vor den Schmerzen.

Ja, aber auch, weil an der Klingel ein fremder Name steht.

Es ist nicht mein Name und der Name meiner Familie.

Er stand immer an dem Holzbrett neben dem Briefkasten. Geschwungene Schrift aus Messing.

Doch dort ist kein Schild aus Messing mehr und kein Brett aus Holz. Eine neue Mauer aus Beton steht an dieser Stelle. Kalt und grau.

Und mit schwarzer Schrift steht dort eine anderer Name einer anderen Familie. Die Farbe der Schrift verbindet sich mit dem Schwarz und der Kälte des Kreuzes. Es nimmt meine Seele mehr und mehr gefangen.

„Achtung, Achtung!“, ruft eine sanfte Stimme. Ich schaue auf. Weg von der Mauer und weg von dem fremden Namen. Ein kleiner blonder Junge schiebt einen Trettraktor mit Anhänger die steile Auffahrt hoch. Auf dem Anhänger steht eine gelbe Gießkanne aus Kunststoff.

„Hallo!“, sage ich mit belegter Stimme.

„Hallo!“, sagt der Junge und hält an. Mühevoll entlädt er die Kanne, die bis oben hin mit Wasser gefüllt ist.

„Soll ich dir helfen?“, frage ich tollpatschig.

„Nein, das schaffe ich mit links! Sieh mal, wie stark ich schon bin!“ Der Junge zeigt mir seine Muskeln am Oberarm.

„Wow! Echt stark.“ Ich spiele den Überraschten.

„Ich muss meine Bäume gießen. Sonst verdursten die“, sagt er und gießt das Wasser an kleine Pflanzen.

„Du hast Bäume gepflanzt?“, sage ich und bin wirklich interessiert.

„Ja, ganz, ganz viele. Schau mal! Das wird einmal der größte Wald der ganzen Welt!“, sagt der Junge stolz.

„Bestimmt!“, lüge ich. „Wohnst du hier?“

„Ja, mit Papa und Mama! Ach, und mit meinem kleinen Bruder, den kann ich aber nicht so leiden!“

„Ihr habt es schön hier. Wohnt ihr schon lange in dem Haus?“ Meine Stimme wird zittrig.

„Was denkst du denn? Schon immer, mein ganzes Leben! Jetzt habe ich aber keine Zeit mehr, ich muss noch meine Kaninchen füttern. Möchtest du die mal sehen?“

„Ein anderes Mal!“, sage ich.

„Tschüss!“, sagt der Junge und fährt mit seinem Trettraktor die Auffahrt hinunter zu dem Haus.

Zu seinem Haus.

Zu meinem Haus!

Zu unserem Haus.

Ich drehe mich um und sehe das schwarze kalte Kreuz. Jetzt hat es seine Schatten auf mich geworfen und brennt sich in meine Seele.

Ich renne zurück.

Mir kommt der dunkle schwarze Teer des Parkplatzes wie ein See der Verzweiflung vor. Alles in mir möchte ihn nicht überqueren.

Die Sonne brennt heiß und es ist still, als ich das Kreuz erreicht habe.

Totenstill!

In meiner Erinnerung standen alte Bäume auf dem Friedhof. Doch sie sind weg und gegangen, so wie ich. Verzweifelt renne ich die Reihen entlang und lese die Namen auf den Kreuzen und den Steinen. Fast alle kenne ich.

Kannte ich.

Sie sind fort.

Nur ich bin zurück!

Warum ich?

Ich verstehe es nicht.

Ich will es nicht verstehen.

Ich sollte nicht hier sein.

„Suchen Sie jemanden?“, sagt plötzlich Frau Rietmann und ich erschrecke, da ich sie nicht kommen gesehen habe.

„Nein, ja, doch ja!“ Ich stottere und nenne den Namen meiner Eltern. Noch ist ein Funke Hoffnung über, dass ich sie hier nicht finde. Noch nicht!

Frau Rietmann nickt bedrückt und erstickt den Keim der Hoffnung in mir.

„Das letzte Grab in der zweiten Reihe rechts neben dem Brunnen! Sind Sie verwandt?“

„Weitläufig!“, lüge ich.

„Schrecklich, so schrecklich. Nach dem Tod des ältesten Sohnes und dem Schlaganfall haben sie es nicht mehr geschafft. Und niemand hat ihnen geholfen. Sogar das Haus wurde von der Bank versteigert. Schrecklich und dabei hatte sie ja noch zwei andere Kinder. Einfach schrecklich. Ja schrecklich …“ Frau Rietmann geht zurück zu dem Grab, wo der Karren mit dem Sack Erde steht.

Ich schwitze und zittere. Langsam gehe ich den Kiesweg entlang, vorbei an hölzernen Kreuzen und dunklen Steinen mit Schriften aus Messing. Ich kenne alle Namen. Doch ich finde unseren Namen, den Namen meiner Eltern nicht. Ich gehe zurück, und das noch einmal.

Nichts!

Euphorie steigt auf. Sie hat sich geirrt, sie musss sich geirrt haben. Ich möchte tanzen und hüpfen. Sicher sind meine Eltern noch irgendwo, bei meiner Schwester oder bei meinem Bruder. Wohlbehütet.

Doch so ist es nicht!

Plötzlich sehe ich unter einem wilden Gestrüpp ein Stück Holz.

Ein Stück vergammeltes Holz mit schwarzer Schrift. Als ich mich bücke, fällt mein Blick auf das schwarze Kreuz aus Metall. Es hat mit seinen Schatten nun meine Seele gefangen. Ich knie mich hin und ziehe das Stück Holz unter dem Gestrüpp hervor. Es ist ein Stück eines billigen Holzkreuzes. Und darauf kann ich die Namen meiner Mutter und meines Vater erkennen. Ein Bach an Tränen rinnt meine Wange herab und tropft auf den trockenen Boden.

„Warum haben meine Geschwister sich nicht um die Grabstelle gekümmert?“, sage ich zu mir selbst und beginne mit meinen bloßen Händen, das Gestrüpp herauszureißen.

Wut steigt in mir auf und möchte sich mit aller Kraft auf das Gestrüpp werfen, um es zu bestrafen.

Doch für was?

Für die Untätigkeit meiner Geschwister?

Sicher gibt es dafür einen Grund!

„Es muss einen geben“, sage ich zu mir selbst und werde ruhiger.

„Hier, nehmen Sie die Hacke! Damit geht es doch besser!“, sagt Frau Rietmann, die ich wieder nicht kommen sehen habe.

„Danke!“, stottere ich. Frau Rietmann geht zurück und ich frage mich, wessen Grab sie wohl pflegt. Das Grab ihrer Mutter, der netten alten Frau? Oder schon das ihres Mannes? Das Gestrüpp ist dornig und ich habe mich verletzt. Blut läuft über meine Hand. Als ich aufblicke, ist Frau Rietmann gegangen. Und die Neugierde siegt über meine Angst vor der Gewissheit. Ich gehe zu dem Grab, wo Frau Rietmann dunkle, schwarz gefärbte Erde verteilt hat. So dunkel und schwarz wie das eiserne Kreuz mit seinen geschwungenen Formen.

Ich erschrecke. Denn es ist nicht der Name ihrer Mutter und nicht der Name ihres Mannes, der auf dem grauen Stein steht. Und doch kenne ich den Namen.

Es ist der Name ihres Sohnes, meines Freundes, seit ich zurückdenken kann. Er ist auch schon lange gegangen, so wie ich.

Das sollte nicht sein.

Das darf nicht sein.

Unsere Zukunft wurde uns genommen.

Warum?

Von wem?

Noch mehr Tränen finden ihren Weg. Mein Körper beginnt zu zittern und möchte mir nicht mehr gehorchen. Ich gehe zurück, vorbei an dem schwarzen Kreuz und überquere den schwarzen und dunklen Parkplatz.

Ich gehe zurück zu meiner Bank, als wäre dieser Ort ein anderer und nicht im Hier und Jetzt.

Mit letzter Kraft erreiche ich sie und die Tränen wollen nun nicht mehr versiegen. Nur kurze Zeit ist vergangen, seit ich die Bank verlassen habe und schon möchte ich die Augen wieder schließen, denn der Schmerz ist schlimmer, als ich es mir vorstellen konnte. Und dies wird erst der Anfang sein, dessen bin ich mir bewusst.

Wäre es nicht besser, wir schließen die Augen wieder?

Was denkst du?

Ich sitze zitternd auf der Bank aus grauem Sandstein. Diesen gibt es hier nicht und die Bank wirkt fremd und vertraut zugleich. Vielleicht weil ich mir einbilde, wenn ich hier sitze und die Augen wieder schließe, wird die Erkenntnis sich wieder mit meinen Wünschen vereinen.

Doch das wird nicht geschehen.

Ich zittere und weine wie ein Kind. Nur kurze Zeit ist vergangen, seit ich die Augen geöffnet habe und schon ist alles schlimmer, als ich es mir je erträumt habe.

Die Schmerzen und die Erkenntnis.

Mir fällt eine einzelne Margarite auf, die in der Wüste des korrekt geschnittenen Grases wie ein Mahnmal der Schönheit sich trotzig dem Irrsinn der Korrektheit widersetzt hat. Sie wippt leicht im Wind und ein wunderschöner Schmetterling nippt an ihrem Nektar.

Er schaut mich an oder ich bilde mir dies nur ein.

Möchte es mir einbilden. Einen Freund in ihm sehen, den ich nun schon so lange suche. Vielleicht wenn wir uns länger kennen, können wir Freunde sein.

Was denkst du?

Wäre das nicht schön?

Aber noch kennst du mich nicht und ich dich nicht.

Ich blicke zurück zum Schmetterling. Er möchte mir Mut machen, die Augen nicht schließen. Denn genau wie die Margarite, ohne die er nicht überleben könnte und die er in der Wüste der Korrektheit gefunden hat, so finde ich auch einen Freund.

Vielleicht. Bestimmt. Oder?

Und die Liebe!

Habe ich diese nicht schon gefunden?

In meiner Frau?

Bestimmt hat sie immer an mich gedacht.

Bestimmt hat sie mein Grab gepflegt.

Gerade als ich aufstehen will, um nachzusehen, fährt ein kleines weißes Auto in das Schwarz des Asphalts. Fast erscheint es mir, als versuche das Weiß die Dunkelheit und Bedrohung schwächer zu machen.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich noch immer die Gartenhacke von Frau Rietmann in der Hand halte. Doch ihr Auto ist weg.

Ich muss sie ihr zurückgeben.

Meine Schnittwunde hat nun meine ganze Hose durchtränkt.

Vielleicht sollte ich zu einem Arzt gehen.

Doch was soll schon passieren.

Ich könnte sterben.

Vielleicht!

Ein Lächeln huscht mir über das Gesicht und es fühlt sich gut an. Wie Balsam auf der Haut umspielt das Lächeln den Schmerz in meiner Seele.

Noch ist niemand aus dem winzigen Auto ausgestiegen. Ich denke, derjenige muss auch klein sein, sonst hat er keinen Platz in dem Wagen.

Dann steigt eine große Frau aus. Doch diese ist jünger als Frau Rietmann, viel jünger. Ich schätze diese auf Mitte dreißig. Vielleicht ist sie auch jünger. Sie wirkt blass und hat blonde Haare, die sie hochgesteckt hat. Ihr Gesicht wirkt kantig mit hohen Wangenknochen und sie blickt ernst. Sie trägt eine graue Leinenhose, die zu kurz ist, silberne flache Schuhe und eine weiße korrekte Bluse. Fast denke ich, es ist dieselbe wie die von Frau Rietmann.

Ich finde die Frau hübsch!

Sie holt eine braune Mappe aus dem Kofferraum und kommt zielstrebig auf mich zu.

Doch sie kann nicht zu mir kommen, da mich hier ja niemand kennt.

Wer auch, ich bin doch tot.

Oder nicht?

Zumindest blute ich schon recht stark.

Als sie fast bei mir ist, kneift sie die Augen zusammen und wirkt angespannt, ja fast nervös.

„Hallo! Ich bin Frau von Kö…, also Frau König!“, sagt sie mit einer festen und doch sehr zarten Stimme.

Mir gefällt ihre Stimme.

„Hallo!“, sage ich, da ich nicht weiß, wie ich mich vorstellen soll. Habe ich noch meinen Namen? Oder einen anderen? Bin ich der, der ich war oder jemand anderer.

Ich denke, ich sollte in einen Spiegel sehen.

„Gute Güte! Was haben Sie getan?“, sagt sie erschrocken, doch ihr Gesicht zeigt keine Regung. Sie setzt sich neben mich und nimmt ein kleines Seidentuch aus ihrer Tasche. Vorsichtig tupft sie meine Wunde ab

„Das muss versorgt werden!“, sagt Frau König und steht wieder auf.

„Ja, sicher!“, sage ich wie ein Junge, der bei etwas Unerlaubtem ertappt wurde. Sie geht ein paar Schritte zurück zum weißen kleinen Wagen.

„Kommen Sie?“ Und man könnte dies schon eher als Aufforderung und weniger als Frage empfinden.

„Wohin?“, sage ich, als ich aufstehe und ihr folge. Dabei drücke ich das Seidentuch ganz fest auf die Wunde und vermeide es, das dunkle, kalte, schwarze Kreuz noch einmal anzusehen.

-------------------------

Ich habe keine Antwort erhalten und doch habe ich mich in den kleinen weißen Wagen gezwängt, der keine Geräusche macht. Warum? Vielleicht weil ich neugierig bin, wo mich Frau König hinbringt.

Vielleicht.

Aber wahrscheinlicher ist es, dass ich wegwollte. Weg von dem Schwarz des Kreuzes und dem Schwarz, das nun auf meiner Seele lastet. Wir rollen fast lautlos auf das kleine Dorf zu, in dem ich gewohnt habe.

Ob ich hier wieder wohne? Doch dieser Gedanke ist nicht wichtig. Nicht im Moment. Ich atme den Duft von Frau König ein. Es ist ein herber und doch blumiger Duft. Ich mag diesen Duft, der einen mystischen Hauch mit sich führt. So wie Frau König. Sie starrt konzentriert auf die Straße.

Doch ich habe bemerkt, dass ihre Wangen leicht gerötet sind. Etwas macht sie nervös.

Vielleicht bin ich es?

Doch meine Gedanken kehren immer wieder zum Schwarz des Kreuzes und des Friedhofes zurück. Zurück zu meinen Eltern, die jetzt tot sind.

Tot und vergessen.

Ob ich auch vergessen bin?

Es waren gute Eltern. Wir hatten eine gute Kindheit. Nie hat es uns an etwas gefehlt. Nie. Unbemerkt verkrampft sich meine Hand zu einer Faust.

Warum haben meine Geschwister sich nicht gekümmert? Warum sorgen sie nicht für das Grab. Es sollte ordentlich aussehen, denn ordentlich waren meine Eltern.

Unsere Eltern.

Meine Geschwister haben sie im Stich gelassen. Ich kann dies nicht verstehen und auch nicht glauben.

Hast du Geschwister? Vielleicht einen Bruder und eine Schwester, so wie ich? Was denkst du? Würden diese sich um deine Eltern kümmern?

Denkst du das wirklich? Auch ich habe dies geglaubt.

Doch so ist es nicht!

Vielleicht ist es auch bei dir nicht so. Doch vielleicht sind deine Geschwister einfach anders, ehrlich und nicht egoistisch.

Vielleicht!

Das Dorf hat sich nicht großartig verändert. Einige Häuser sind neu, einige heruntergekommen. Ich werde plötzlich nervös und beginne zu schwitzen. Denn ich weiß, dass gleich rechts mein Haus kommen wird.

Es ist das Haus meines Großvaters, das ich mit viel Liebe renoviert und zu einem schönen Heim für uns gemacht habe.

Für mich und meine Frau.

Ich vermisse sie.

„Anhalten! Sofort anhalten!“, schreie ich und Frau König bremst scharf. Ich steige aus, obwohl der Wagen noch nicht ganz zum Stillstand gekommen ist. Tränen rinnen wie Sturzbäche über meine Wangen. Ich zittere und möchte über die Straße rennen. Fast erfasst mich ein großer schwarzer Wagen. Dieser ist so groß und schwarz wie das Loch, das sich mehr und mehr in meiner Seele ausbreitet.

Nun stehe ich vor meinem Haus.

Vor unserem Haus.

Allein.

Bretter hängen von den Wänden. Der Anbau ist eingestürzt. Fenster wurden eingeschlagen und überall sprießt das Unkraut.

All das, für das ich gearbeitet habe, wurde vergessen und ist nun verkommen. Es tut weh. Es fühlt sich an, als würde jemand einen Teil von mir herausreißen. Vor der Haustür steht ein Schild der Genossenschaftsbank. „Zu Verkaufen“ steht dort.

Wut steigt in mir auf. Unheimlich Wut, genährt von den Schatten und der Schwärze der Erkenntnis. Ich trete gegen das Schild, immer stärker und immer mehr. Die Wut nährt meine Kraft. Ich möchte das Schild zerstören, ja es herausreißen wie einen Stachel, den man sich tief in die Haut sticht.

Etwas bricht ab und ich bleibe mit meinem Bein an einem Nagel hängen. Der Nagel bohrt sich in mein Fleisch und reißt eine tiefe Wunde in mein Bein. Blut spritzt. Diese Wunde ist nichts im Vergleich zu der Wunde, die die Erkenntnis in meine Seele gerissen hat.

Doch das ist mir egal, ich trete weiter und immer weiter. Ich höre eine Stimme.

Es ist mir egal. Ich will die Dinge nicht akzeptieren. Nicht akzeptieren, dass alles vergessen wurde. Vergessen und verraten.

Warum?

„Hören Sie auf. Bitte hören Sie auf!“, sagt Frau König und kniet sich zu mir. Ihre schlanken Arme legen sich um die meinen. Sie versucht mich zu beruhigen. Ich weine wie ein kleines Kind. Sie steht auf und versucht mich hochzuziehen. Doch es strengt sie zu sehr an. Das möchte ich nicht. Ich möchte keine Last sein. Nicht für Frau König, nicht für jemand anderes.

Meine Gedanken kreisen und ich versuche sie zu ordnen. Versuche Ordnung in das Chaos zu bekommen. Irgendwo in der Tiefe und Schwärze muss es eine Erklärung für alles geben. Eine, die plausibel ist und mir die Dunkelheit und die Schmerzen nimmt.

„Setzen Sie sich. Ich muss Verbandsmaterial aus dem Wagen holen.“ Ihre Stimme ist besorgt und doch denke ich, dass ich dabei etwas Gleichgültigkeit verspüre. Ich nicke zustimmend, da ich keinen Ton hervorbringe. Noch immer rinnen die Tränen gleich eines Wildbaches über meine Wangen. Das Shirt, das ich trage, ist schon durchtränkt.

Ich setze mich auf eine alte, halb verfaulte Bank.

Meine Bank, die ich gebaut habe.

Einfach so, um darauf unter der großen alten Linde zu sitzen. Einfach zu sitzen. Doch dazu kam es nie, bis heute.

Der Wind ist zurück und spielt mit den Blättern. Gemeinsam mit dem Baum versucht er mich zu beruhigen.

Es gelingt ihnen und ich werde ruhiger. Ich möchte die Augen schließen, doch das würde nichts ändern. Es würde nur die Dinge, die geschehen sind, verschleiern und verleugnen. Das mag ich nicht und werde ich nicht zulassen.

Denn ich bin zurück. Ein neuer Gedanke schenkt mir neue Kraft. Ich stehe auf und humpele durch die Brennnesseln zum Eingang der Scheune.

Ob sie noch da ist?

An der Stelle, wo sie immer hing?

Seit er gegangen ist?

Was wird sein, wenn sie nicht mehr da ist? Werde ich noch mehr Schmerzen haben? Ich habe Angst. Angst davor nachzusehen. Angst vor noch mehr Schmerzen.

Doch die Neugier siegt über die Angst. Ich öffne das Tor, das nur durch den alten Riegel gesichert ist.

So wie schon immer.

Dann gehe ich hinein. Zaghaft, als wenn ich etwas Verbotenes tun würde. Doch das tue ich nicht, denn es ist meine Scheune.

Überall liegt Müll und Dreck. Im Fachwerk fehlen Riegel und in den Ecken stehen alte stinkende Fässer.

Doch sie ist noch da. Genau, wo sie sein sollte.

Die Arbeitshose meines Großvaters hängt noch immer an dem alten rostigen Nagel. Dort hat er diese immer aufgehängt, wenn er mit der Arbeit fertig war. Dann zog er eine bessere an und ging ins Haus. So hat er es immer gemacht, bis an jenem Tag, an dem er einfach gegangen war. Ich war noch klein, aber er fehlt mir so sehr. Deshalb habe ich damals beschlossen, wenn er doch zurückkommen würde, dann könnte er jederzeit wieder seine Arbeitshose anziehen. Ich war der Ansicht, ohne seine Arbeitshose müsste er einfach zurückkommen. Die benötigte er doch jeden Tag.

Doch er kam nicht zurück.

Jetzt schließe ich doch die Augen und sehe ihn vor mir. Er lächelt so freundlich, so wie ich ihn immer noch in Erinnerung habe.

„Sie sind unvernünftig! Warum sind Sie nicht sitzen geblieben. Hier kommt nur noch Schmutz in die Wunde und sie entzündet sich!“ Frau König wirkt hektisch und sprüht mir etwas auf die Wunde. Es brennt.

„Und dann? Sterbe ich dann etwa?“, sage ich ironisch, doch Frau König antwortet nicht und schaut mich nicht einmal an.

„Kommen Sie, gehen wir!“, sagt sie und dieses Mal nimmt sie mich wie ein kleines Kind an die Hand. Ihre Hand ist schlank und ihre Haut weich.

„Wohin?“, frage ich, da ich ja eigentlich hier zu Hause bin.

„Auf jeden Fall weg von diesem garstigen Ort!“, sagt sie barsch.

„Für mich ist dies der schönste Ort der Welt!“, sage ich sehr leise. Als sie mich aus der Scheune zieht, drehe ich mich noch einmal um und sehe einen weiteren alten rostigen Nagel neben dem, an der die Hose hängt.

Dieser ist für dich eines Tages, denke ich und folge Frau König hinaus aus der Scheune und weg von all den dunklen Gedanken.

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Fast lautlos sind wir durch das Dorf und dann weiter talabwärts gefahren. Dies sei ein E-Auto und würde mit Strom fahren, hatte Frau König mir erklärt. Jedoch wo wir hinfahren, hatte sie nicht gesagt. Ich frage nun auch nicht mehr, sondern werde es ja bald erfahren. Plötzlich biegen wir von der Hauptstraße ab und folgen dann einem kleinen Feldweg, welcher dann in einen tiefen Wald führt. In Serpentinen geht es immer höher. Nun muss ich nicht mehr fragen, denn ich kenne diesen Wald und die Wege, die ihn durchqueren. Mehr sogar, ich kenne alle Pfade hier, denn hier haben wir immer gespielt.

Ich und meine Freunde.

Freunde seit der Kinderzeit bis …

Ja bis heute, oder? Ich möchte den Gedanken nicht weiterdenken. Denn plötzlich hat sich wie ein Nebel ein dunkler und kalter Schatten auf meine Gedanken gelegt.

Hast du Freunde?

Gute Freunde?

Ja! Schön!

Und die würden alles für dich tun?

Warum zögerst du jetzt? Haben sich meine Schatten auch auf deine Gedanken gelegt?

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Als wir aus dem Wald fahren, liegt es vor uns. Das Schloss. Das Schloss Königseck. Schon lange stand es leer. Ein gotischer Bau mit angehängter Kapelle, die fast größer wirkt als das eigentliche Schloss. In U-Form stehen dort noch landwirtschaftliche Gebäude. Und im Gegensatz zu früher ist heute alles wunderschön renoviert und fast schon etwas modern. Für uns Kinder war dies der schönste Abenteuerspielplatz der Welt. Wir waren Könige und Prinzen. Ritter und Kämpfer. Fast täglich waren wir hier.

Eine schöne Zeit und eine glückliche Zeit.

Damals war alles noch in Ordnung.

Doch war es das wirklich oder bilde ich mir das nur ein. Vielleicht sehe ich die Dinge nur wie ich es möchte und nicht so, wie es wirklich war. All diese Gedanken machen mir Angst. Fürchterliche Angst. Was wird mich noch erwarten?

Warum bin ich hier?

Frau König hält direkt vor dem Haupteingang. Alles wirkt neu und frisch. Jemand muss es gekauft und für ein Vermögen renoviert haben. Sie steigt aus und muss sich dabei auch anstrengen. Ihre Beine fast zu lang für dieses kleine Auto. Sie geht auf den Eingang zu, ohne sich nach mir umzudrehen. Ich steige umständlich aus dem Wagen aus. Dabei schmerzen mein Bein und meine Hand. Doch noch mehr schmerzt meine Seele. Ich hätte nicht umdrehen sollen. Ich hätte einfach die Augen geschlossen halten und die Wahrheit im Verborgenen lassen sollen.

Doch das habe ich nicht.

Denn so bin ich nicht.