Ein Urlaub für's Leben - Holger Niederhausen - E-Book

Ein Urlaub für's Leben E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Die 15-jährige Cindy sieht schlimmen Sommerferien entgegen. Während ihre Freundin Alina mit ihren Eltern nach New York fliegt, haben ihre Eltern wie immer ein Wellnesshotel in den Bergen gebucht. Langeweile und Streit scheinen vorprogrammiert zu sein. Doch ihre Verzweiflung findet schlagartig ein Ende, als sie den alten Holzschnitzer Johannes kennenlernt. Tag für Tag taucht sie nun ein in die tiefen Fragen und Geheimnisse des Lebens…

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

für Bianca

„Wohl kaum!“, antwortete Cindy. Mit halb gespielt und halb ehrlich saurer Miene sah sie ihre Freundin Alina an.

„Kannst du mir mal verraten, wie das gehen soll?“

„Na“, grinste Alina. „Wenn du da ’n Jungen kennenlernst?“

„Wie bitte?“, empörte Cindy sich. „Wie muss ich das denn jetzt verstehen? ‚Treib’s nicht zu wild’ – und jetzt bezieht sich das noch auf ’nen Jungen? Den ich noch nicht mal kenne!?“

„Tschuldigung. Aber könnte ja eben noch kommen.“ Cindy sah sie entgeistert an und sagte langsam und betont:

„In den – Bergen!“

„Na ja gut – dann also nicht. War doch auch nur ein Scherz. Dann eben ernsthaft: Herzliches Beileid. Aber das hast du ja von mir sowieso ständig. Ich hoffe, du kommst gut über die Runden. Wir sehen uns ja in spätestens vier Wochen wieder.“

„Tolle Aussichten!“, grummelte Cindy.

„Hm, tja, in den Bergen hast du definitiv bessere...“

„Ach, jetzt hör’ doch endlich mit diesen dämlichen Bergen auf!“, schimpfte Cindy nun wirklich wütend.

„Sorry, ist schon gut. Komm her –“

Alina schloss ihre Freundin in den Arm, legte ihr dann beide Arme auf die Schultern und sagte:

„Ich schreibe dir jede Woche. Versprochen. Und lass dich nicht entmutigen. Selbst das Schlimmste geht vorbei. Wir sehen uns bald wieder – und dann liegen die Berge schon lange hinter dir, du wirst sehen!“

Getröstet drückte Cindy Alina nochmals an sich.

„Ich hoffe es. Bis bald. Und schreib mir viel. Ich will alles über New York wissen!“

„Klar.“

Seufzend blickte Cindy ihrer Freundin hinterher. Ein letztes Winken, dann war sie um die Ecke gebogen.

Unzufrieden mit sich und der Welt schlenderte sie nach Hause.

Wie ungerecht doch alles war! Alina durfte nach New York – und sie? Auf sie warteten zwei langweilige Wochen in den Bergen. Und warum? Weil ihre Eltern ‚die Berge nun einmal lieben’. Dabei kamen sie aus ihrem Wellness-Hotel doch fast nur auf die Terrasse, zwei, drei Seilbahn-Ausflüge mit kleinen Spaziergängen im Anschluss ausgenommen. Cindy begriff nicht, was sie in den Bergen sollte. Mit fünfzehn! Aber ihre Eltern bestanden darauf, dass sie mitkam.

Das Hotel war sicher eines der besten, doch Fernsehen konnte sie auch zuhause, Sauna und Whirlpool interessierten sie nicht, die Fitness-Angebote ebensowenig, die Panorama-Aussicht noch weniger und das schleimige Personal am allerwenigsten. Was also sollte sie dort? Lieber würde sie die ganzen sechs Wochen zuhause bleiben.

Sie beschloss, einen letzten Versuch zu machen.

Ihre Mutter war gerade damit beschäftigt, Kleider und Kostüme für ihren riesigen Koffer auszuwählen.

„Hallo“, grüßte Cindy kurz.

„Hallo, Schatz. Na, wie ist dein Zeugnis ausgefallen?“

„Wie immer.“

„Na, zeig’ schon her. Ich platze vor Neugierde!“

„Wieso denn bloß. Ist doch wie immer.“

„Was heißt, wie immer! Nichts ist wie immer. Du bist ein Jahr älter geworden. Das ist doch nicht ‚wie immer’! Na, zeig her.“

Cindy fischte das Zeugnis aus ihrer Schultasche und reichte es ihrer Mutter.

Die Mutter studierte es interessiert und rief plötzlich:

„Hey, in Deutsch hast du eine Eins? Wie hast du das denn gemacht?“

„Keine Ahnung. Hat mir halt Spaß gemacht, dieses Jahr.“

„Ist doch toll, Schatz!“

Sie studierte weiter.

„Hm, Geschichte noch immer Drei. Das ändert sich wohl nicht mehr, wie?“

„Nee. Sag ich doch.“

„Und Sport Drei auch nicht.“

„Nee. Liegt am Lehrer.“

„Und der Rest so gut wie immer – toll!“

„Sag ich doch. Wieso macht Ihr darum immer so einen Rummel? Zweien und paar Einsen sind doch die Standardzensur in der Schule...“

„Was heißt Rummel? Zeugnisse sind nun mal was Besonderes. Und Standardzensuren gibt es nicht. Zweien und Einsen bekommt man nur, wenn man lernt und mitmacht – so wie du.“

„Toll!“, kommentierte Cindy ironisch.

„Und jetzt geht’s in die Ferien! Hast du schon gepackt?“

„Mama...“, begann Cindy.

„Was?“

„Kann ich nicht doch einfach – hierbleiben?“

„Ach, Cindy, was soll denn das? Das haben wir doch alles schon besprochen. Wir wollen, dass du mitkommst, und du kommst mit. Soll ich dir nochmal aufzählen, was wir da alles machen können? Fitness, Sauna, Erlebnistouren –“

„Hör auf, Mama!“, unterbrach Cindy ärgerlich. „Ich kann damit nichts anfangen! Was soll das? Das ist vielleicht für euch was, aber nicht für mich!“

„Aber du könntest doch wenigstens versuchen –“

„Nein, keine Lust! Ich habe einfach keine Lust! Fitness, Sauna und so weiter – das ist alles was für Leute ab dreißig oder vierzig. Was soll ich damit? Und hast du schon einmal Teenager gesehen, die in die Berge fahren? Alina fährt mit ihren Eltern nach New York! Warum machen wir das nicht?“

„Du weißt, dass dein Vater sich im Urlaub erholen will. New York ist eine Stadt, die – na ja, lassen wir das. Ich könnte es mir auch nicht vorstellen. Cindy ... versteh’ doch. Das ist ein wunderbarer Ort, ein wunderbares Hotel und ein wunderbares Angebot in diesen zwei Wochen. Ich freue mich immer riesig darauf. Du bist doch in der Schule so gut – lern’ doch auch da mal ein wenig, zu genießen!“

„Ich kann das aber nicht. Und ich will es auch nicht!“ Verzweifelt ging sie in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Sie ließ sich kopfüber auf das Bett fallen und schlug wütend mit der Faust auf das Kissen.

‚Warum nur habe ich so blöde, einfallslose Eltern?’, dachte sie.

Dann tastete sie nach der Stereoanlage, fand den Power-Knopf, und hörte, wie ihre Lieblings-CD zu laufen begann. Sie schloss die Augen und versuchte, an nichts mehr zu denken.

Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Als sie aufwachte, schnappte sie sich lustlos ein Buch aus ihrem Bücherregal und begann zu lesen – nur, um irgendetwas zu tun.

Schließlich hörte sie, wie ihr Vater nach Hause kam. In etwa zehn Minuten würde es Abendessen geben. Sie hatte keinen Appetit.

„Cindy – Essen!“

„Hallo, Papa“, grüßte sie, als sie in die Küche kam.

„Hallo, Schatz! Was machst du denn für ein Gesicht? Hast du etwa eine Vier in Sport, oder was ist passiert?“

„Schlimmer.“

„Nein, jetzt ernsthaft?“

Ihr Vater setzte sich auf und schaute sie an. Er hatte die Ironie offenbar nicht herausgehört. Sie versuchte sie dennoch anzubringen:

„Zwei Wochen Urlaub in den Bergen.“

Das war ein Fehler. Bevor ihre Stimme verklungen war, sah sie es am Gesicht ihres Vaters.

„Ach Cindy, hör auf!“, sagte er wütend. „Ich hatte heute einen Scheißtag! Viel zu viel zu tun vor dem Urlaub. Dennoch irgendwie hingekriegt. Hab mich jetzt auf den Urlaub und auf dich gefreut – und nun das! Mir reicht’s jetzt!“

Während seine Stimme immer lauter auf ihren wütenden Höhepunkt zulief, bereute sie, dass es immer wieder so laufen musste und dass sie von niemandem verstanden wurde. Am liebsten hätte sie gerufen: ‚Mir aber auch!’ oder: ‚Warum denkt ihr nicht einmal an mich?’

Irgendetwas trieb ihr aber immer eine Art Kloß in den Magen, wenn ihr Vater laut wurde, und dieser Kloß verhinderte, dass sie selbst auch so laut wurde. Sie bereute, was sie gesagt hatte, fühlte sich aber gleichzeitig zutiefst verletzt. Mit einem Gefühl von Trauer und Ohnmacht ging sie wieder in ihr Zimmer und schlug erneut die Tür hinter sich zu. Wenigstens die Tür sollte laut sein...

Sie konnte sich vorstellen, wie ihre Eltern jetzt am Tisch saßen: Entweder missmutig essend oder nun selbst auch noch einen Streit anfangend – wovon sie jedoch zum Glück nichts hörte. Und jetzt war sie auch noch an allem Schuld.

Warum war das Leben so? Warum war es so ungerecht?

Sie hatte nicht nur einen schlechten Tag gehabt – er war sogar bis jetzt ganz gut gewesen, bis jetzt! –, sondern sie hatte ganze zwei schlechte Wochen vor sich und sagte nichts, wollte nur einen kleinen Scherz machen. Und selbst das durfte sie nicht. Selbst das wurde ihr verboten, zurückgeschlagen, nicht verstanden, verurteilt. Nichts durfte sie – nicht einmal leiden! Die größte Ungerechtigkeit des Lebens vereinigte sich, alles war gegen sie.

Sie dachte daran, dass sie nur noch drei Sommerferien durchhalten müsste. Dann war sie achtzehn – und spätestens dann konnte sie doch machen, was sie wollte. Sie atmete aus und fühlte sich von diesem Gedanken erleichtert.

Keinesfalls würde sie in diesem elenden Vier-Sterne-Hotel bleiben, lieber würde sie den ganzen Tag wandern, egal wohin. Aber allein, nicht etwa mit irgendeiner geführten Gruppe! Und wenn sie dann abends mit wunden, blutenden Füßen zurückkam, dann würden ihre Eltern schon sehen...

Dieser Gedanke tröstete sie. Sie baute ihn zu einer ganzen Geschichte aus.

Als sie hörte, dass ihre Eltern ins Wohnzimmer gegangen waren, schlich sie sich ins Bad, putzte sich die Zähne und ließ sich den ganzen Abend nicht mehr blicken.

„Cindy, Frühstück!“

Früher oder später musste dieser Ruf kommen. Sie erhob sich vom Bett, in dem sie schon einige Zeit wach gelegen hatte – genauer gesagt: auch schon angezogen –, und ging in Richtung Frühstückstisch. Sie wusste nicht recht, wie sie an den gestrigen Abend anknüpfen sollte – oder vielmehr nicht anknüpfen –, und wiederum formte sich ein etwas unbehagliches Gefühl in ihrer Magengegend.

„Na, Cindy? Bist du gestern einfach so eingeschlafen?“

Erleichtert stellte sie fest, dass ihr Vater die Sache von gestern offenbar nicht fortsetzen wollte. Anscheinend hatte er heute sogar wieder gute Laune.

„Hm.“

Missmut und Verletzung wagten sich wieder etwas hervor und nahmen versuchsweise mit Platz.

„Komm schon, wir wollen uns heute nicht die Stimmung verderben lassen!“, sagte ihr Vater in einem Ton, der freundlich war, aber auch keinen Widerspruch erlaubte – es sei denn, man wollte Gefahr laufen, wiederum genau da zu landen, wo man gestern geendet hatte.

Die eigenen Gefühle waren aber gar nicht in Stimmung, wie auch? Also begann Cindy schweigend, sich ein Brötchen aufzuschneiden und es mit Butter zu bestreichen. Sie versuchte, fröhlich genug zu gucken, dass sie ihren Vater nicht reizte, trotzdem aber noch immer so verletzt zu sein, wie es ging.

„Cindy“, sagte ihr Vater in bestimmtem Ton. „Wir fahren heute in den Urlaub. Also verdirb uns nicht schon jetzt die Laune. Wir werden jetzt nichts mehr ändern. Aber –“, fuhr er in etwas gemäßigterem Tonfall fort, „nächstes Jahr bist du sechzehn. Da werden wir einmal sehen, ob wir für dich etwas organisieren können, was dir besser gefällt.“

Halb versöhnt mit dieser Aussage, der zumindest den Ferien- Leidensweg von drei auf ein Jahr zu verkürzen schien, sagte sie nochmals „Hm“ und bemühte sich, hier wirklich ein halbes Entgegenkommen anzudeuten.

Es schien beim Vater angekommen zu sein, denn er sagte nun zufrieden:

„Okay.“

Dann nahm er sich ebenfalls ein Brötchen, schnitt es auf, schaute dann seine Frau an, die noch immer abwartete, und sagte:

„Was ist? Guten Appetit!“

Es war seltsam. Das weitere Frühstück verlief ohne größere Zwischenfälle. Wie leicht man sich doch in sein Schicksal fügen konnte. Manchmal wünschte sie sich, dass sie größere Zwischenfälle verursachen könnte – so wie andere Teenager. Davon hörte man doch immer – oder sah es doch auch in manchen Filmen? Laute Streits, Türenknallen, fliegende Gegenstände, weglaufende Töchter und Söhne, Szenen, Tränen und vielleicht auch wieder lautstarke Versöhnung...

Sie konnte das alles nicht. Manchmal, nein eigentlich oft, fühlte sie sich zu normal, zu still, zu brav, zu wenig ... sie selbst. Aber das Laute war sie eben auch nicht. Wer war sie eigentlich?

Fragen über Fragen, wenn man erst einmal anfing, darüber nachzudenken. Aber sie hatte ja nun zwei Wochen Zeit...

Wenigstens ihre Ironie war ihr treu.

Als sie im Flieger saßen, fragte ihr Vater sie leutselig:

„Na, Cindy, was wirst du als erstes machen, wenn wir angekommen sind?“

„Wandern.“

„Wie bitte?“

„Wandern.“

„Das ist wieder ein Scherz, oder?“

„Ihr wollt doch immer, dass ich was mache – und jetzt glaubt ihr es nicht mal?“

„Also kein Scherz. Gut. Ja, gut, prima. Großartig. Aber heute wirst du nicht mehr wandern können. Wir kommen gegen vier Uhr im Hotel an. Das reicht gerade noch für einen Spaziergang.“

„Gut, dann eben Spaziergang. Und dann schaue ich mir auf der Karte an, wo ich die nächsten zwei Wochen wandern gehe.“

„Ähm, yep.“ Einen Moment lang schien ihr Vater die Sprache verloren zu haben, dann sagte er:

„Aber willst du nicht –“

„Nein, will ich nicht“, unterbrach sie ihn entschieden.

„Okay. Gut. Alles klar. Aber du machst keine Hochgebirgstouren oder so. Alles, was gefährlich ist oder werden könnte, geht nur zu zweit. ... Aber ohne mich.“

„Nein, keine Hochgebirgstouren.“

Etwas verunsichert schaute der Vater sie an. Dann entschloss er sich offenbar, es bei diesem unerklärlichen Rätsel bewenden zu lassen.

„Gut. Okay. Großartig. Na dann... Dann steht unserem gemeinsamen Urlaub ja nichts mehr im Wege!“

Mit einer seltsamen Mischung aus Spott und einer rätselhaften Spur von Mitleid wandte Cindy sich dem Fenster zu und betrachtete die Wolken, an denen sie vorüberflog...

Nach einer Minute sagte sie:

„Abends können wir ja dann zusammen Canasta spielen.“

„Ja, das machen wir!“, sagte ihre Mutter.

Mit einem kurzen Blick sah sie, dass auch ihr Vater sich zu freuen schien.

*

Als sie sich in ihrem eigenen Hotelzimmer zehn Minuten auf dem bequemen Bett ausgeruht hatte, klopfte sie bei ihren Eltern, öffnete die Tür und sagte: „Ich geh’ dann mal.“

„Und wann bist du wieder da?“, fragte ihre Mutter.

„Weiß nicht. In ein, zwei Stunden?“

„Okay. Hast du dein Handy mit?“

„Natürlich.“

„Na dann – bis später, also. Wenn wir nicht hier sind, sind wir unten in der Sauna.“

„Alles klar.“

„Viel Spaß!“, rief ihr Vater noch schnell, bevor sie die Tür schloss.

„Danke!“

Als sie am Empfang vorbeiging, nickte der Mann ihr zu. Wie hieß er noch gleich? Sie vergaß den Namen jedes Jahr. War ja auch nicht wichtig. Nur seine Art, die ihr schleimig vorkam, störte sie jedes Jahr wieder neu.

Sie trat ins Freie und atmete einmal tief ein.

Wohin sollte sie gehen?

Sie ging zuerst durch das Örtchen hindurch und schlug dann einen Weg ein, der nach einigen Stunden zu einem größeren Wasserfall führte. Vor vier Jahren etwa waren sie einmal gemeinsam dort gewesen – damals waren sie alle noch ein paar Mal wirklich gewandert. Sie erinnerte sich, dass es sehr anstrengend gewesen war, doch der Wasserfall war tief eindrücklich gewesen. Ja, sie würde als erstes noch einmal dorthin wandern! Natürlich nicht mehr heute, aber jetzt freute sie sich auf einmal richtig auf morgen. Und was die nächsten Tage dann brachten, nun ja, das würde man sehen...

Ein kleiner Abzweig führte jetzt zu einer Hütte, wo es Dinge aus Holz zu kaufen gab. Auf ihren kleineren Spaziergängen waren sie hier mehrmals vorbeigegangen – immer nur vorbei. Sie hatten zuhause alles, was sie brauchten. Holz kam nur als Dielenfußboden vor. Wozu brauchte man heute noch Holz?

Irgendetwas zog sie heute jedoch dorthin. Sie war ja alleine und brauchte sich nach niemandem zu richten. Warum sollte sie sich die Hütte und die Dinge, die es dort gab, nicht wenigstens einmal anschauen?

Mit einem Gefühl der Neugier und der ungebundenen Freiheit betrat sie den kleinen Weg und ging auf die Hütte zu. Vor dem Eingang standen einige größere Figuren. Was sie wohl darstellten?

Auf halbem Wege erkannte sie sie. Es waren Engel. Enttäuscht fühlte sie ihre Neugier abflauen. Was wollte sie mit Engeln? Das war ja wieder typisch! Berglandschaft, Engel, alles schön kitschig, altmodisch und so weiter...

Sie überlegte kurz, ob sie umkehren sollte. Aber das Gefühl der Freiheit war noch da, offenbar auch noch ein Rest Neugierde, also einmal kurz ansehen und schauen, ob drinnen noch etwas anderes zu finden war.

Sie wollte geradewegs hineingehen, da fiel ihr Blick wenige Meter vor der Tür noch einmal auf einen Engel – und ließ ihre Schritte anhalten.

Verwundert ruhte ihr Blick auf diesem Engel. Kurz fühlte sie den Impuls, auch die anderen Engel genauer zu betrachten, doch sie konnte, nein, wollte den Blick von diesem nicht abwenden. Dies war überhaupt kein kitschiger Engel! Dies war – wie sollte man sagen – ein ... wirklicher Engel. In menschlichen Worten hätte man sagen müssen, er habe so etwas wie Charakter, aber es war ein Engel, es war mehr als Charakter. Es war unbeschreiblich. War es das, was man ‚Erhabenheit’ nannte? Jedenfalls hatte sie sich so immer einen Engel vorgestellt, genau so. Man brauchte keine Worte, um zu wissen, wie ein Engel aussehen musste, der ein wirklicher Engel war. Man wusste es entweder oder wusste es nicht. Noch nie hatte sie einen Engel wie diesen gesehen...

Sie wusste nicht, wie lange sie so dagestanden war. Als sie ihren Blick endlich von dem Engel löste, trafen ihre Augen auf ein anderes Augenpaar.

Sie erschrak heftig, und ihr Herz schlug bis zum Hals – bis sie begriff, dass sie einem alten Mann gegenüberstand, der in die Tür getreten war und sie weiß ich wie lange angeschaut hatte. Doch das Begreifen war eines, die Wirkung auch dieses Blickes ein anderes. Während ihr Schrecken sich legte, fühlte sie auch jetzt eine seltsame Sehnsucht, nicht irgendwoanders hinzuschauen. Sie fühlte sich von diesem Blick eingehüllt, aufgenommen, Wärme, Geborgenheit...

Dann begann wieder ihr Kopf zu denken, und sie realisierte, dass sie schon seit ewigen Sekunden einen alten Mann anstarrte – sie schlug die Augen nieder und fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss.

„Äh ... ich...“

„Guten Abend“, hörte sie die warme Stimme des alten Mannes. „Du hast also den Engel betrachtet, hm?“

In dieser Frage lag nichts, was zu einer Antwort zwang. Die Geborgenheit erstreckte sich bis in die Worte hinein...

„Ja...“

Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie kam sich dumm und klein vor – und zugleich auch nicht.

„Warum...?“, hörte sie wieder diese wunderschöne Stimme.

„Hast du etwas gesehen...?“

Sie schaute den alten Mann an, dann blickte sie kurz auf den Engel und wandte ihren Blick wiederum dem Mann zu, unsicher und geborgen zugleich...

„Ich... Er sieht aus ... wie ein Engel...“

Eine Sekunde später wurde ihr der Sinn ihrer Worte bewusst.

Sie wollte aufgrund dieses Unsinns schon im Erdboden versinken, als ihr auffiel, dass der Mann sie weder auslachte, noch sein Blick sich verändert hatte.

„Das ist gut...“, sagte er jetzt stattdessen.

„Ich wollte das nicht beurteilen –“, fügte sie hastig hinzu.

„Ich weiß“, erwiderte der Mann ruhig. „Ich meinte, es ist gut, dass du es siehst.“

Erstaunt sah sie den Mann an.

„Dass ich es sehe?“

„Ja. Du hast einen Unterschied empfunden. Einen Unterschied zu anderen Schnitzereien oder Figuren. Das war es doch, was du sagen wolltest?“

„Ja“, sagte sie verunsichert. „Aber woher wissen Sie das?“

„Du hast es doch selbst gesagt“, lächelte der Mann. Und indem sich sein warmes Lächeln noch vertiefte, fügte er hinzu: „Die Frage ist eher: Woher weißt du es?“.

„Woher weiß ich was?“

„Dass du das Bild eines wirklichen Engels gesehen hast?“

Verwirrt blickte Cindy den alten Mann an und versuchte nachzudenken. Woher wusste sie es?

„Das weiß ich nicht. ... Ich habe mir einen Engel immer so vorgestellt.“

„Genau so, wie er dasteht?“

„So, wie er ist. Nicht, ob er so oder anders dasteht, sondern wie er ist. So ist ein Engel, habe ich mir immer vorgestellt.“

Der alte Mann nickte langsam.

Sie sah ihn an und wartete auf eine nächste Frage, bereit, ihm alle Fragen zu beantworten...

„Und ... hast du sie dir nur vorgestellt?“

Völlig unvorbereitet wurde sie von dieser Frage getroffen. Wiederum musste sie nachdenken. Hatte sie sich Engel überhaupt richtig, wirklich vorgestellt? Oder trug sie in sich einfach irgendwo eine Vorstellung, ohne sonst jemals an Engel zu denken? Sie hatte das Gefühl, den alten Mann zu enttäuschen – mit einer Antwort, die sogar noch hinter diesem ‚nur’ zurückblieb...

„Ich ... wie meinen Sie das?“

„Ach nichts. Ich dachte nur ... manchmal gibt es Menschen, die sich Engel nicht nur vorstellen, sondern auch eine Verbindung zu den realen Engeln fühlen oder suchen. Zumindest manchmal... Bei fünfzehnjährigen Mädchen ist das zugegebenermaßen recht selten.“

Der letzte Satz war von einem verschmitzten Lächeln durchzogen, dennoch fühlte Cindy eine seltsame Trauer, zu diesen fünfzehnjährigen Mädchen zu gehören.

„Woher wissen Sie, wie alt ich bin?“

„Das kann man doch sehen.“

In ihrem Kopf kreiste alles.

„Und Sie?“

„Wie alt ich bin?“

„Nein, ich meine ... fühlen Sie eine Verbindung zu den realen Engeln?“

In dem Moment, wo sie die Frage aussprach, wusste sie schon die Antwort. Sie hatte die Antwort schließlich selbst gesehen.

Der alte Mann sah, dass sie ihre Frage selbst beantwortet hatte und nickte bedächtig...

„Möchtest du hereinkommen?“

„Ja, gerne.“

Sie folgte der einladenden Geste seines Armes und betrat einen größeren Raum, der offenbar als Ausstellungs- und Verkaufsraum diente. Trat man in diese Häuschen und Hütten in den Bergen ein, hatte man immer ein wenig das Gefühl, in ein Dämmerlicht zu kommen, aber irgendwie mochte sie das, und ihre Augen gewöhnten sich schnell daran. Nun sah sie, dass auf Regalen, Tischen und Standflächen der unterschiedlichsten Art zahlreiche weitere Werke des alten Mannes standen.

Staunend ging sie langsam umher und betrachtete die Stücke. Es gab Tiere aller Art; große, kleine, Gemsen, Murmeltiere, Kühe, Schafe, Wölfe, Hunde, Rehe, kleine Mäuse... Es gab eine große Krippe und einige Madonnen. Vorsichtig nahm sie eine kleine Eidechse in die Hand, die aussah, als ob sie gleich unter den nächsten Stein schlüpfen wollte. Sanft und vorsichtig streichelte sie ihr über den Rücken und stellte sich vor, dass sie echt wäre.

Voller Bewunderung fragte sie:

„Haben Sie ... das alles selber gemacht?“

Wieder blickte sie in ein lächelndes Antlitz.

„Ja, das habe ich.“

„Und Sie verkaufen das alles? Ich meine – Sie leben davon?“

Ihr fiel auf, dass sie noch keinen anderen Menschen gesehen hatte, auch auf dem Weg nicht.

„Ich brauche nicht viel Geld. Aber, ja, zum Teil bekomme ich es für die Dinge, die du hier siehst.“

Fast tat ihr die mangelnde Aufmerksamkeit für diese wunderschöne Hütte leid. Andererseits passte es auch dazu...

„Aber es kommt doch fast niemand hierher?“

„Einige Menschen kommen schon jeden Tag. Es gibt aber auch welche, die nur einmal im Jahr kommen und mit sehr vielen dieser Werke wieder gehen... Und es gibt welche, die gar nicht kommen, aber einen großen Auftrag haben. Mach dir um die Zahl der Menschen, die kommen oder nicht kommen, keine Sorgen.“

Dass der alte Mann keine Geldsorgen hatte, beruhigte sie, dennoch war das Gefühl noch immer da.

„Ich meine nur ... Sie haben so viele schöne Sachen gemacht ... das müssten doch alle Menschen, die hierherkommen, wissen, das sollten doch alle sehen...“

Fragend blickte sie ihn an.

Leicht schüttelte er den Kopf und sagte:

„Es sehen nicht alle, was du siehst. Die meisten sehen es nicht.“

Sie spürte, dass sie etwas rot wurde.

„Was sehe ich denn?“

Ruhig lächelte der alte Mann. Nach einer kleinen Pause sagte er schlicht:

„Du siehst sehr viel.“

Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich. Sie hatte das Gefühl, ein solches Lob gar nicht zu verdienen. Aus dem Munde des alten Mannes hatte es nicht so geklungen wie das Lob von Lehrern, Müttern oder Vätern. Er hatte es einfach so gesagt, wie man eine Beobachtung aussprach. Aber trotzdem – sie wollte nicht im Mittelpunkt stehen...

Sie versuchte, das Thema zu wechseln.

„Wir sind gerade vorhin angekommen.“

Fragend blickte ihr Gegenüber sie schweigend an. Plötzlich kam ihr ihre Bemerkung äußerst blöd vor. Schnell fügte sie hinzu:

„Also ich meine, ich und meine Eltern. Wir machen hier zwei Wochen Urlaub.“

„Ich verstehe. Seid ihr zum ersten Mal hier?“

Beschämt wurde ihr wiederum klar, dass sie noch nie zuvor diese Hütte besucht hatten – auch sie nicht. Erneut fühlte sie die Hitze in sich aufsteigen und stotterte:

„Nein, wir, äh, wir kommen fast jedes Jahr her, ich meine, seit vier, fünf Jahren...“

Fast unmerklich schüttelte der alte Mann den Kopf, nahm sich einen Stuhl, der in der Nähe stand, und sah ihr, nachdem er sich hingesetzt hatte, fest in die Augen.

„Wie heißt du denn?“

„Cindy.“

„Gut, Cindy. Schau mal. Mit meiner Frage wollte ich gar nichts weiter sagen. Ich wollte einfach nur fragen, was ich gefragt habe. Ihr könntet auch schon zehn Jahre hierherkommen, und du könntest heute zum ersten Mal hierhergekommen sein – oder auch heute nicht. Das ist doch deine freie Entscheidung.“

Sie fühlte sich von diesem Blick und dem Ton seiner Stimme wie getragen, natürlich auch von dem Inhalt seiner Worte. Verwirrt wurde sie sich klar darüber, dass sie alles Mögliche dachte, was er nicht gesagt hatte. Eigentlich kam ihr das sehr oft vor – wie oft eigentlich? Während die Gedanken in ihrem Kopf kreisten, hörte sie wieder die Stimme des Gesichtes, in dessen Augen sie noch immer blickte:

„Vorhin hast du doch noch empfunden, wie schade es ist, dass nicht mehr Menschen hierherkommen. Das war doch etwas Wunderbares! Wie könnte ich dann gerade dir je angedeutet haben, dass du häufiger hierherkommen solltest? Ich würde das niemals tun. Bei niemandem.“

Beschämt wurde ihr aus allem, was sie wahrnahm, klar, dass das wirklich völlig unmöglich war. Dieser Mann hatte etwas, was sie nicht kannte, was sie bisher bei keinem Menschen so wahrgenommen hatte. Selbst die Scham, die gerade in ihr aufgestiegen war, fühlte sich schon wie in Watte gehüllt an...

„Und – was werdet ihr in diesen zwei Wochen unternehmen?“, fragte der alte Mann nun und erhob sich wieder, um den Stuhl an seinen früheren Platz zurückzustellen.

„Ach...“, seufzte Cindy und nahm ein kleines Reh aus dem Regal neben ihr, das sie anschaute, während sie ihrer Enttäuschung Luft machte.

„Wir unternehmen gar nichts. Meine Eltern werden sicher wieder achtzig oder mehr Prozent ihrer Zeit im ‚Alpenzauber’ verbringen. Sauna, Wellness, Fitness, Panorama-Terrasse, ‚Abendangebote’, alles drum und dran. Und ich – ich weiß nicht. Vielleicht werde ich einfach nur zwei Wochen lang herumwandern.“

Als sie aufsah, sah sie, dass der alte Mann ihr vollkommen ernst zugehört hatte und nun leise nickte.

„Ich verstehe... Aber ‚herumwandern’ – das ist doch großartig!“

„Na jaa“, begann Cindy gedehnt. „Ich meine, etwas Besseres fällt mir nicht ein. Um nicht zu sagen: Etwas anderes kann man hier ja gar nicht machen!“

Verschmitzt lachten die Augen des alten Mannes:

„Man kann schon! Sauna, Wellness, Fitness... ‚alles drum und dran’...”

Sie lachte nun ebenfalls.

„Ach – damit kann man mich jagen!“

„Soll ich dir ein wenig die Berge zeigen?“

Diese Frage traf sie völlig unerwartet.

„Wie – wie meinen Sie das?“

„Zeigen. Wir könnten einmal zusammen wandern – wenn du willst.“

Während sie noch über das Angebot staunte, überlegte sie fieberhaft, was sie eigentlich wollte, um ihre Antwort nicht auf sich warten zu lassen. Während ihr noch durch den Kopf schoss, dass sie dann ja wieder nicht frei und unabhängig sein würde, erschien schon der andere Gedanke, dass sie doch noch gar nicht wusste, wie es werden würde, aber stattdessen schon wieder allerlei Befürchtungen hatte. Und dann war da noch das Gefühl, diesen alten Mann unbedingt näher kennenlernen zu wollen – und das Gefühl, sich durch seinen Vorschlag eigentlich tief geehrt zu fühlen.

Indem diese beiden Gefühlsnuancen nun allein zurückblieben, strahlte sie ihn freudig an und sagte fest entschlossen:

„Ja! Ja, das will ich.“

Sie stellte das Reh zurück ins Regal und sah ihren künftigen Bergführer erwartungsvoll an.

„Und wann?“, fragte dieser freundlich.

„Na – morgen!“

Auf einmal dachte sie an seine Hütte, die ja schließlich zugleich sein Geschäft war. Er musste doch hier sein!

„Geht das überhaupt?“, fragte sie zögernd.

„Natürlich geht das“, sagte er schlicht. „Das heißt – wenn deine Eltern nichts dagegen haben.“

„Die? Ach so, nein bestimmt nicht.“

Verstimmt stellte sie fest, dass sie auch hierin wieder nicht frei war... Sie musste ihren Urlaub zwar ganz allein gestalten, weil ihre Eltern ganz andere Dinge machten, aber wenn sie mit einem alten Holzschnitzer in die Berge ging, brauchte sie selbstverständlich wieder eine Zustimmung! Einfach ärgerlich, noch nicht erwachsen zu sein...

Verschmitzt beobachtete sie der Alte. Er schien Gedanken lesen zu können.

„Wann soll ich hier sein?“, fragte sie voller Vorfreude.

„Hmm. Das hängt von dir ab. Ich würde sagen, um fünf...?“

„Was? So spät erst? Das ist ja so wie jetzt!“

Der alte Mann lachte laut und herzlich. Verwirrt schaute sie seinem Lachen zu. Noch immer lachend antwortete er:

„Ich meinte fünf Uhr morgens!“

„Oh...“

Sie war noch nie so früh aufgestanden und fragte sich gleichzeitig, ob sie das schaffen würde und warum es denn so früh sein musste.

„Warum denn fünf Uhr morgens?“

„Ich sagte ja, das hängt von dir ab. Aber wenn du einverstanden bist, wirst du es morgen schon sehen.“

„Also gut – dann um fünf.“

„Gut. Geh dann nur auch früher schlafen heute.“

„Ja, mache ich. Also ... dann auf Wiedersehen, äh, ich meine, bis morgen!“

Etwas unbeholfen drehte sie sich um und wollte zur Tür hinausgehen.

Lächelnd kam der alte Mann mit, klopfte ihr draußen freundlich auf die Schulter und sagte:

„Ja, bis morgen!“

Sie ging den Weg wieder zurück, nicht ohne sich noch einige Male umzudrehen. Der alte Mann stand in aller Ruhe in seiner Tür und blickte ihr nach. Als sie sich das dritte Mal umdrehte, war er in der Hütte verschwunden...

Die unterschiedlichsten Gefühle begleiteten sie auf dem Rückweg. Alle aber waren durchklungen von dem Gefühl des Unbekannten, des Abenteuers. Angenehm aufregend breitete es sich in ihrem Bauch aus.

*

Als sie wieder ins Hotel kam, hatte sie keine Lust, ihre Eltern irgendwo zu suchen. Die Sauna würde sie sowieso nicht betreten, und im Zimmer würden sie sicher nicht sein.

Dann fiel ihr ein, dass es Zeit für das Abendessen war. Sie bemerkte jetzt auch, dass sie hungrig war. Sie hatten für heute keine Zeit vereinbart – sicher hatten ihre Eltern es vergessen, als sie so unerwartet noch einen Spaziergang angekündigt hatte. Vieles war diesmal unerwartet...

Sie ging also in den großen Speiseraum, blickte eine Weile herum und entdeckte ihre Eltern schließlich an einem der Tische in der Nähe der Terrasse.

„Hallo, da bin ich wieder.“

„Hallo, Schatz“, sagte ihre Mutter. „Schön, dass du gerade jetzt kommst. Wir sitzen auch erst seit fünf Minuten. Wir haben gerade bestellt. Was möchtest du essen?“

„Was habt ihr bestellt?“

„Lammbraten.“

Sie konnte es nicht verstehen, wie man Fleisch essen konnte. Seit einem Referat über Massentierhaltung war sie Vegetarierin. Das war jetzt drei Jahre her. Und dann noch Lamm! Ohne dass sie es wollte, stieg in ihr die Vorstellung eines kleinen, unschuldigen Lammes auf. Sie unterdrückte ein angewidertes Gefühl und sagte:

„Ich nehme wohl wieder einmal einen großen Salat mit Schafskäse.“

Während sie auf das Essen warteten, fragte ihr Vater:

„Und wie war dein Spaziergang?“

‚Wie soll er schon gewesen sein?’, hätte sie wahrscheinlich geantwortet, wenn sie vor zwei Stunden das Hotel in eine andere Richtung verlassen hätte. Nun aber sagte sie:

„Schön...“

Sie brauchte einige Sekunden, um die Worte für die Fortsetzung des Satzes zu finden.

„...morgen früh gehe ich richtig wandern!“

Ihr Vater lächelte.

„Ich verstehe zwar immer noch nicht, wie diese unerklärliche Wanderfreude in dir entstanden ist, aber dass du fest entschlossen bist, zu wandern, das haben wir inzwischen schon verstanden. Ich bin gespannt, ob es dabei bleibt!“

„Nein, noch richtiger. Ich wandere zu zweit!“

Ihre beiden Eltern schauten sich sprachlos an.

Ihr Vater gewann als erstes die Fassung wieder und fragte:

„Wie, zu zweit – mit wem denn?“

„Erinnert ihr euch an die Hütte auf dem Weg zum großen

Wasserfall? Ziemlich am Anfang?“

Sie musste noch eine Weile erklären und die Erinnerung an frühere Wanderungen erwecken, bis die beiden sich dunkel besinnen konnten.

„Ja, und?“, fragte ihre Mutter dann.

„Da war ich heute. Es gibt dort wunderschöne Holzsachen.

Und der alte Mann, dem die Hütte gehört, hat mir angeboten, mir die Berge zu zeigen.“

Wieder schauten die beiden Eltern sich mit vieldeutigen Blicken an.

Dann sagte der Vater:

„Ähm, sollte man sich nicht vielleicht erstmal kennenlernen?“

„Papa!“, empörte Cindy sich über so viel Kompliziertheit oder gar Argwohn.

„Nein, wirklich –“, sprang seine Frau ihm bei. „Wer ist dieser alte Mann denn, und wie kommt er dazu, mit dir gleich und sofort wandern gehen zu wollen?“

Der Ober kam mit dem Essen, und Cindy verkniff sich ihre Antwort zunächst einmal.

Als die zwei Lammbraten und der große Salat auf dem Tisch standen und der Ober sich außer Hörweite befand, zögerte sie jedoch nicht länger:

„Mama!“, setzte sie ihre Empörung fort. „Dieser ‚alte Mann’ ist ein wunderbarer Holzschnitzer; er hat mir ein wunderbares Angebot gemacht – und er hat sogar an euch gedacht und gesagt: wenn ihr nichts dagegen habt!“

Hörbar atmete sie aus und sah ihre beide Eltern nun herausfordernd an.

Hörbar atmete nun auch ihr Vater aus, und Cindy erkannte am Ton, dass es ein Einlenken-Ausatmen war. Mit übertrieben resignierender Miene sagte er zu seiner Frau:

„Hast du gehört? Unsere Tochter bekommt am ersten Nachmittag schon gleich die ersten Angebote!“

„Papa!“, wiederholte Cindy. „Was soll das!?“

Nachdem sie mit ihren Blicken unterstrichen hatte, dass sie diese letzte Bemerkung wirklich schlimm fand, sagte sie:

„Könnt ihr nicht einmal ernst sein? Ihr kennt diesen Mann noch überhaupt nicht und macht schon Witze über ihn!“

„Schatz!“, beeilte sich ihre Mutter nun, die Wogen zu glätten, „so war das nicht gemeint. Versteh doch, dass wir uns natürlich Sorgen machen, wenn du kurz spazieren gehst, zurückkommst, und dann schon gleich jemand mit dir wandern gehen will, jemand, den wir noch gar nicht –“

„Ja, aber dann muss man nicht gleich alles Mögliche denken! Ich habe doch gesagt: Ihr kennt ihn doch noch gar nicht!“

„Eben drum“, sagte nun ihr Vater in dem Versuch, wieder das Berechtigte ihrer Bedenken hervorzukehren.

„Eben drum!“, antwortete Cindy störrisch. „Und wenn ihr es mir nicht erlaubt, dann müsst ihr ihn eben erst kennenlernen – aber ich bin schon morgen früh um fünf verabredet. So!“

Zum dritten Mal tauschten ihre Eltern sprachlose Blicke.

Die Mutter schob einen fragenden Blick nach, und ihr Vater atmete erneut resignierend aus und sagte:

„Also mir geht das alles ein wenig schnell. Aber wenn du meinst, dass du dir sicher bist, ich meine, wenn du dir sicher bist, dass –“

„Ja, bin ich“, machte Cindy sämtlichen Zweifeln ein Ende und bescheinigte ihrem Vater jede beliebige Sicherheit.

Ein letzter Blick zur Mutter, dann sagte er:

„Gut – meinetwegen. Aber das will ich sehen, wie du morgen um kurz nach vier Uhr aufstehst.“

Auch diesen Sieg gönnte Cindy ihrem Vater nicht. Sie erwiderte:

„Wetten, dass du nicht dabei sein wirst?“

Ihr Vater gab auf:

„Ja, da hast du einmal völlig recht.“

Von da an verlief das Abendessen ohne weitere Zwischenfälle.

Als sie hinterher noch am Tisch zusammen saßen und Cindy einen Eisbecher genoss, lenkte ihr Vater das Gespräch erneut auf das Thema.

„Erzähl doch mal, Cindy. Was ist das für ein alter Mann?

Was macht er da für Holzsachen und so?“

Normalerweise hätte sie auf Fragen relativ bereitwillig Auskunft gegeben. Nun aber fühlte sie sich erstens ausgefragt, und zweitens – und darauf reagierte sie regelrecht allergisch, was sie selbst insgeheim erstaunte – empfand sie jede Spur von immer noch mitschwingenden Bedenken als große Ungerechtigkeit gegenüber dem alten Mann. Ja, sogar jedes bloß halbherzige oder neugierige Interesse an ihm fand sie äußerst unpassend.

„Was soll ich ‚erzählen’?“, entgegnete sie ärgerlich und hilflos. „Er ist nicht zum Erzählen da!“

Cindy spürte, dass es gleich einen großen Knall geben könnte. Möglicherweise war ihr Vater schon sehr geduldig gewesen, sie konnte es im Moment nicht mehr genau beurteilen.

„Cindy“, schaltete sich die Mutter ein, und Cindy wusste, dass es wohl am besten war, die Wogen wieder zu glätten – was die Mutter sicher gerade versuchte. „Dein Vater wollte nur wissen, was es für ein Mann ist und was er für Sachen schnitzt. Das war reines Interesse. Das ist doch wohl normal? Du solltest dich freuen, dass dein Vater sich für deine Erlebnisse so interessiert, ich meine –“

„Ja, ja“, unterbrach Cindy. Vermutlich hatte ihre Mutter recht. Sie wollte auch keinen Streit. Außerdem wollte sie nicht noch das Risiko eingehen, sich zuletzt doch ein Verbot einzuhandeln. „Ist schon gut. Trotzdem ist mir jetzt die Lust am Erzählen vergangen.“

Voller Gedanken schob sie sich ein Stück Schokoeis in den Mund.

„Ich weiß einfach nicht, was ich erzählen soll. Es ist nichts zum Erzählen. Was ich sagen kann, habe ich doch schon gesagt: Er macht wunderschöne Holzsachen. Er ist ein alter Mann. Ich habe eine Eidechse gestreichelt. Zufrieden?“

Wiederum seufzte ihr Vater – wieder der gleiche Tonfall.

„Ja, Cindy, zufrieden. Wenn du weiter nichts erzählen willst, kann man nichts machen. Was für eine Eidechse denn?“

Auf einmal tat ihr Vater ihr leid. Eine heiße Welle der Dankbarkeit und auch des Mitleides über dieses hilflose Einlenken stieg in ihr auf. Voller versöhnlicher Gefühle sagte sie:

„Eine Holzeidechse. Sie sah aus wie echt. Alles, was er schnitzt, sieht aus wie echt!“

„Wirklich?“, fragte ihre Mutter mit aufrichtigem Erstaunen.

„Ich meine, nicht echt echt; wie soll ich sagen? Lebendig eben. Irgendwie lebendig.“

„Gut gemacht, also“, fasste ihr Vater zusammen.

„Ja“, sagte Cindy gedankenverloren. „Mehr als gut...“

In ihrem Zimmer warf sie sich erst einmal wieder aufs Bett. Ihr gingen so viele Gedanken durch den Kopf.

Sie zwang sich, wieder aufzustehen. Sie putzte sich die Zähne, zog ihren Schlafanzug an und legte sich ins Bett. Dann stellte sie den Wecker auf zehn nach vier, machte die Nachttischlampe aus, legte sich hin und schaute zur Decke.

Es war noch hell. Wann war sie das letzte Mal ins Bett gegangen, wenn es noch hell war? Mit dreizehn? Sie lächelte belustigt. Das waren noch Zeiten gewesen, die kleine Cindy! Nun war sie groß und ging wieder im Hellen ins Bett...

Nein, Spaß beiseite. Sie wollte ihren Gedanken jetzt freien Lauf lassen – und vor allem erst einmal wissen, was sie eigentlich dachte und fühlte. Das war ihr nämlich keineswegs klar.

Die Vorfreude oder Spannung in Bezug auf den morgigen Tag ließ sie ganz außer Betracht. Ihre Gedanken kreisten um den alten Mann und sein Geheimnis. Noch nie war sie einem solchen Menschen begegnet, soviel war klar. Aber was machte ihn so besonders? Oder anders gesagt: Wie machte er das?

Sie schloss die Augen und erinnerte sich an die Begegnung vor wenigen Stunden.

Noch nie hatte sie sich so aufgehoben gefühlt, so akzeptiert, so – angenommen. Ja, bei Alina natürlich schon. Das war schließlich ihre beste Freundin. Und trotzdem war es ganz anders. Ihr kam eine ganz frühe Kindheitserinnerung in den Sinn. Sie war vielleicht vier Jahre alt gewesen. Sie hatte Geburtstag, sie tanzte mit ihrer Mutter, und die Mutter hatte ein ganz glückliches Gesicht, sie lachte sie mit leuchtenden Augen an und hob sie dann hoch in die Luft und drückte sie an sich... Grenzenlose gemeinsame Freude und völlige Geborgenheit. Sie lächelte...

Dann erinnerte sie sich an den Alm-Öhi bei Heidi. Wie alt mochte sie gewesen sein, als sie diese Serie geschaut hatte? Sieben? Acht? Sie erinnerte sich, wie sehr sie den Alm-Öhi gemocht hatte und wie sehr sie sich abends heimlich empört hatte, dass die Leute im Dorf so schlecht über ihn redeten. Aber der alte Holzschnitzer hier war doch ganz anders. In mancher Hinsicht geradezu genau das Gegenteil, na ja, irgendwie jedenfalls. Obwohl er auch einen langen, weißen Bart hatte. Das Gesicht war gar nicht so unähnlich. Aber der Alm-Öhi war mürrisch zu den Leuten – und der alte Holzschnitzer ja überhaupt nicht. Nun, der Alm-Öhi war zu Heidi auch so unglaublich lieb – gerade deshalb mochte man ihn ja. Ob der alte Mann auch nur zu ihr so war?

Nein, das war ausgeschlossen. Sie wusste, dass er nicht nur zu ihr so war. Aber wieso war er so? Und wie machte er das...? Warum konnten nicht alle Menschen so sein...?

Ein Piepen weckte sie. Seltsamerweise hatte sie trotz des Piepens zuerst den Gedanken, ob sie vielleicht verschlafen hatte. Wieso war sie gestern eigentlich eingeschlafen? Sie war doch noch gar nicht wirklich müde gewesen? Sie versuchte sich zu erinnern, bis wohin sie mit ihren Gedanken gekommen war, aber sie konnte es nicht mehr genau sagen. Dann fiel ihr ein, dass sie sich nur fünf Minuten zum Anziehen gegeben hatte. Sie tat dies so schnell wie möglich. Als nächstes fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, welches Wetter es heute geben würde. Außerdem hatte sie ihren Koffer noch gar nicht ganz ausgepackt. Verflixt, wo war nur das Regencape? Sie durchwühlte den Koffer – ohne Ergebnis. Egal, es würde heute nicht regnen, beschloss sie. Was brauchte man noch? Einen Pullover, wenn es kälter wurde? Wie kalt konnte es in den Bergen eigentlich werden? Ach, und zu essen brauchte sie auch noch! Nochmal verflixt. Wieso hatte sie eigentlich an nichts gedacht? Sie packte eine Rolle Kekse ein, die sie noch hatte, und schaute unentschlossen auf ihren kleinen Rucksack: Ein Pullover, eine Rolle Kekse – das sollte alles sein?

‚Denk nach!’, befahl sie sich selbst, aber das war um viertel nach Vier gar nicht so einfach. Trinken! schoss es ihr durch den Kopf. Zum Glück hatte sie noch eine Plastikflasche, die sie nachfüllen konnte. Aber das Waschbecken im Zimmer war zu eng für die große Flasche. Mit dem Duschkopf konnte sie sie jetzt auch schlecht auffüllen. Sie verwünschte ihre fehlende Vorbereitung und die Hektik, packte die Flasche halbleer in den Rucksack und beeilte sich, das noch tief schlafende Hotel zu verlassen...

Draußen empfing sie in tiefer Stille die frische Luft der zuende gehenden Nacht. Cindy schloss die Augen und atmete einmal tief ein. Ein Glücksgefühl stieg in ihr auf, während die kühle Luft nach unten in die Lunge strömte. Worauf sie sich heute wohl einließ? Mit beschleunigtem Schritt machte sie sich auf den Weg. Sie hatte eine Dreiviertelstunde eingeplant, aber daraus waren jetzt nur noch fünfunddreißig Minuten geworden.

Schnell hatte sie den Ort fast durchquert, als sie innehielt. Was war das? Sie lauschte. Da – wieder! Tatsächlich – irgendwo über ihr erklang das erste zarte Vogelzwitschern. Das hatte sie noch nie erlebt. Kurz hatte sie den abwegigen Gedanken, ob der Vogel vielleicht im Schlaf sprach? Aber da ertönte das Zwitschern ein drittes Mal, eindeutig wach... Gegen vier Uhr fingen die Vögel also an zu zwitschern. Dabei war es noch nicht einmal hell! Was machten sie so früh? Nun ja, das konnte sie sich auch fragen...

Schließlich war sie an dem Abzweig angekommen. Auf dem kleinen Schild, das auf den Holzverkauf hinwies, sah sie einen Zettel geklebt, auf dem stand: ‚Heute geschlossen’. Gespannt ging sie auf die Hütte zu. Vor ihr begrüßten sie wieder die Engel, die sie gestern so bewundert hatte. Sie standen also auch nachts im Freien, der Witterung ausgeliefert. Aber vielleicht machte es ihnen gar nichts aus. Vielleicht regnete es sogar an ihnen vorbei...

Sie klopfte.

„Herein!“

Sie öffnete die Tür.

„Guten Morgen!“, sagte sie zögernd.

Wie seltsam, sich morgens um fünf Uhr unter diesen Umständen zu begrüßen, ging es ihr durch den Kopf.

„Guten Morgen“, erwiderte ihr Gastgeber lächelnd. „Wollen wir noch einen Tee trinken?“

„Ähm – joa“, sagte sie unsicher. Eigentlich war sie keine Teetrinkerin. Sie trank morgens eigentlich überhaupt nichts.

„Gut, dann komm“, sagte der alte Holzschnitzer und ging in den hinteren Bereich der Hütte voraus.

Sie betrat eine kleine, aber sehr gemütliche Küche. Auf dem Herd kochte ein Teekessel, den der Mann nun herunterhob, um in einer bereitstehenden schlichten rundbauchigen Kanne einen Tee aufzugießen. Die Kanne stellte er dann auf den Tisch und lud sie mit einer Geste ein, sich ihm gegenüber zu setzen.

In der Kanne sah man einige Kräuterstengel ragen. Sie mochte ein etwas skeptisches Gesicht gemacht haben, denn ihr Gegenüber fragte nun:

„Du trinkst doch Kräutertee?“

„Äh, ja?“

„Oder willst du vorher wissen, was drin ist?“

„Nein, geht schon. ... Was ist denn drin?“

Der alte Mann lachte herzlich, so wie gestern. Dann sagte er:

„Ein wenig Herrlichkeit der Berge. Frauenmantel, Salbei, Meisterwurz...“

Die Kräuter klangen ja wie im Märchen. Und jetzt drang auch der frische Kräuterduft bis zu ihrer Nase. Um nicht ganz unwissend dazustehen, sagte sie:

„Salbei ist doch in Hustenbonbons, oder?“

Wieder lachte der Mann. Sie mochte seine Herzlichkeit.

„Ja, das stimmt.“

Er nahm die Kanne und goss erst ihr und dann sich selbst die bereitstehenden großen Tassen halbvoll.

Dann nahm er seine Tasse, trank vorsichtig einen kleinen Schluck und sagte:

„Dann bist du heute also gut wach geworden?“

Sie erinnerte sich an das Chaos von vorhin und sagte:

„Ja, wachgeworden schon. Aber ich habe vielleicht nicht sehr gut gepackt.“

„Warum nicht?“

„Ich habe mein Regencape nicht gefunden, nur eine Keksrolle zum Essen und meine Wasserflasche noch nicht aufgefüllt.“

Wieder lachte der Holzschnitzer sein herzliches Lachen.

„Na, dann müssen wir hier wohl alles Weitere veranlassen.“

Er nahm noch einen Schluck, dann stand er auf und machte sich an einem größeren Rucksack zu schaffen. Er packte verschiedene Dinge hinein, schnürte ihn dann zu und sagte am Schluss:

„Dann gib mir mal deine Flasche.“

Er füllte diese voll, gab sie zurück und setzte sich wieder.

„So, jetzt brauchen wir nur noch in Ruhe unseren Tee zu trinken.“

„Der schmeckt wirklich gut“, sagte sie. „Irgendwie anders als normaler Tee.“

„Das freut mich.“

„Heute scheint ja wieder sehr schönes Wetter zu werden.“

„Ja. Das habe ich gestern schon gesehen.“

„Wie – gesehen?“

„Man sieht es am Abend vorher.“

Sie erinnerte sich, dass es da irgendwelche Regeln gab. Aber ihr war nie in den Sinn gekommen, dass jemand wirklich darauf achtete – oder sogar einfach ‚sah’.

Dann erinnerte sie sich an ihr kleines Erlebnis von vorhin.

„Vorhin im Ort habe ich schon den ersten Vogel gehört. Singen die immer so früh?“

„Das war wahrscheinlich ein Rotschwanz. Die anderen fangen erst etwas oder viel später zu singen an.“

„Wie – alle unterschiedlich?“, fragte sie erstaunt.

Der alte Holzschnitzer lächelte.

„Ja, alle unterschiedlich. Dachtest du, Vogel ist Vogel?“

„Na ja...“

„Nein. Man spricht sogar von der ‚Vogeluhr’. Der Hausrotschwanz, der wirklich fast nur in der Nähe von Häusern vorkommt, singt schon weit über eine Stunde vor Sonnenaufgang. Dann kommen die Singdrossel und die Amsel, danach das Rotkehlchen und der Buchfink. Und kurz bevor die Sonne aufgeht, beginnen dann auch Zilpzalp und Kohlmeise, den neuen Tag zu begrüßen...“

Sie staunte, und eine Art Wehmut stieg in ihr auf. Warum lernte man so etwas nicht in der Schule? Wann die Vögel zu singen begannen; aus welchen Kräutern man Tee machen konnte; wie man wissen konnte, wie das Wetter am nächsten Tag würde...

„Warum lernt man so etwas nicht in der Schule?“

Der alte Holzschnitzer sah sie an.

„Ja...“, sagte er langsam. „Das weiß ich auch nicht.“

Er nahm einen Schluck Tee und schaute nachdenklich vor sich hin.

„Wahrscheinlich, weil die Lehrer es auch erst auswendig lernen müssten, um es euch beizubringen“, sagte er dann.

Dieser Satz traf sie tief, ohne dass sie genau wusste, warum. Auch sie trank nun nachdenklich einige Schluck und ließ, die heiße Tasse in beiden Händen, ihre Gedanken schweifen.

Der alte Mann nahm noch einen großen Schluck, stellte die Tasse wieder hin und sagte nun:

„So, Cindy, dann wollen wir mal. Willst du den Tee noch austrinken?“

„Ja“, sagte sie, leerte auch ihre Tasse und stand dann mit ihm gemeinsam auf.

Er setzte sich den großen Rucksack auf, wartete, bis sie das Gleiche getan hatte, und ging ihr dann voraus.

Nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, sagte er:

„Also, wir gehen jetzt los. Nach etwa einer Stunde machen wir die erste Pause. Bis dahin wollen wir einmal nichts sprechen, sondern in vollem Schweigen wandern, einverstanden?“

Obwohl sie jetzt noch etwas hätte sagen können, nickte sie unwillkürlich nur.

„Gut“, lächelte der alte Mann ihr zu. „Dann los!“

Er ging das Wegstück wieder zurück, sie lief an seiner Seite. Dann bogen sie auf den Hauptweg ein, der weiter in die Berge führte...

*

Zunächst suchte Cindy noch mehrmals den Blick des alten Holzschnitzers, um sich zu überzeugen, dass alles mit rechten Dingen zuging. Immer wandte dann auch dieser sich ihr lächelnd zu, während sie schweigend nebeneinander liefen. Nach und nach wurde dieser frühe Morgen dann eine Realität für sie, und nun trat mehr die ganze Umgebung in ihren Blick.

Sie sah, wie der Tau auf den Gräsern lag, an denen sie entlanggingen. Gerade stieg die Bergwiese zu ihrer linken Seite steil an, und begann neben dem Weg bereits auf Augenhöhe. An den geneigten Halmen reihte sich Tropfen an Tropfen, wie wirkliche Perlen.

Bewundernd sah sie sich diese Perlenketten aus nächster Nähe an – und stellte fest, dass alles noch schöner wurde, wenn man es von ganz nah anschaute. Sie hätte noch eine ganze Weile so stehen und schauen können, aber sie wollte den alten Holzschnitzer nicht warten lassen. Sie lächelte ihn etwas verlegen an und kam wieder zu ihm. Er erwiderte das Lächeln und setzte sich ganz ruhig wieder in Bewegung.

Vor ihnen saßen auf zwei benachbarten Zaunpfählen zwei Krähen. Diese schienen mit so frühen Wanderern nicht gerechnet zu haben. Als sie sich näherten, trat die vordere Krähe unentschlossen auf ihrem Pfahl hin und her. Schließlich erhob sie sich in die Luft, und die zweite folgte...

Cindy atmete wiederum tief durch. Was für ein schöner Tag! Sie sah den Krähen nach und stellte sich vor, eine von ihnen zu sein. So frei, so leicht! Hinfliegen können, wohin man will – über die tautropfenfrischen, duftenden Wiesen und weiter, hoch über allem, auf den nächsten Gipfel! Aber auch sie fühlte sich frei und ungebunden. Auch sie flog einfach diesem lieben Holzschnitzer hinterher...

Schließlich verließen sie den Hauptweg und stiegen relativ steil bergan. Der alte Holzschnitzer schien mit dem Anstieg keine Schwierigkeiten zu haben. Ruhigen Schrittes und dennoch keineswegs langsam stieg er den Pfad hoch, während Cindy nach einer Weile merkte, dass sie nicht unbedingt die beste Kondition hatte. Es ging zwar, auch war es so früh morgens noch angenehm kühl, aber sie kam sich auf einmal doch wie eine etwas flügellahme Krähe vor.

Unmerklich gewöhnte sie sich dann doch immer mehr an die neue Belastung und begann, unter dem Rhythmus ihres Atems ihren Gedanken nachzuhängen. Wo wir wohl hingehen? Wo er mich wohl hinführt? Vielleicht entführt er mich auf einen märchenhaften Berggipfel, unendlich weit weg von zuhause...