Eine unbestimmte Ahnung - Petra Weise - E-Book

Eine unbestimmte Ahnung E-Book

Petra Weise

4,8

Beschreibung

Ein Vater rast überstürzt nach Hause, weil er das Gefühl hat, sein Haus brennt ab. Gibt es eine unbestimmte Ahnung, die vor Gefahr warnt? In einer anderen Geschichte wird Ralf zum ersten Treffen mit seiner neuen Freundin an einen Nackt-Badestrand gelockt; unheimliches Klopfen irritiert die gesamte Nachbarschaft; ein Bruder wird seiner Familie plötzlich fremd; vier Schwestern schmieden einen gruseligen Plan - und viele weitere spannende Begebenheiten. Ungewöhnlich, seltsam, verrückt, sinnlich wie das Leben, das die besten Geschichten schreibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 170

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die ganze Mannigfaltigkeit, der ganze Reiz und die ganze Schönheit des Lebens setzen sich aus Licht und Schatten zusammen.

Leo Tolstoi

Inhalt

Das erste Treffen

Ein unheimliches Klopfen

Mein fremder Bruder

Schwestern

Warten

Wo ist Stefan?

Die englische Krankheit

Die bunte Wiese

Der schöne Fremde

Smartphones

Im Biergarten

Die Sinne des Menschen

Ein Fest für die Sinne

Das Haus gegenüber

Der Ton im Ohr

Schnüffeln

Der Unfall

Eine unbestimmte Ahnung

So ein Unsinn!

Eigensinn

Der Schwachkopf

Leichtsinn

Was genau ist sinnlich?

Die Zahl 15 und das Glück

Was bedeutet dein Name?

Ein besonderes Abendessen

Die Zeit heilt Wunden

Ein ungewöhnlicher Geburtstag

Sex im Alter

Das Altern

Ein perfekter Abgang

Das Alphabet

Das erste Treffen

„Du hörst mir nie zu! Nie!“, schrie meine Frau. Das stimmte so nicht. Ich hörte sehr wohl zu und gab ihr sogar kluge Ratschläge, die ihr helfen sollten. Doch die halfen ihr nicht, sie machten sie nur wütend. Wütend auf mich, auf ihren Mann. So wütend, dass sie plötzlich fort war und mich allein zurück ließ. Ich sank in einen tiefen Abgrund. Ich vermisste sie, doch ich wollte sie nicht zurück. Sie war besudelt, beschmutzt von den Händen eines anderen Mannes. Ich ekelte mich vor ihr.

Ich war nur einen Augenblick unachtsam. Vielleicht putzte ich mein Auto oder war mit meinen Freunden im See schwimmen. Als ich aus dem Wasser kam, war sie fort. Fort mit ihrem Therapeuten. Warum sie eine Therapie machte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls sagte sie, dass dieser Mann ihr zuhörte. Wusste sie nicht, dass Zuhören die Arbeit eines Therapeuten ist? Er hörte ihr genau 45 Minuten zu, nicht kürzer und nicht länger. Was war da passiert? Ich wollte es gar nicht wissen. Doch ich wollte auch nicht allein bleiben, kein einsamer Mann sein, der keine Frau hat.

Deshalb schrieb ich eine Anzeige: „Einsamer Mann (42) sucht nach großer Enttäuschung treue Lebensgefährtin (38-44).“ In der Zeitung sah es dann so aus: Eins.Mann 42 s.n.gr.Ent. treue Leb.gef.38-44.

Es meldeten sich zwölf Frauen zwischen 19 und 53 Jahren. Zwischen 38 und 44 gab es vier. Eine war blond, hatte kurze Haare und kleine Augen – die interessierte mich nicht. Ich schrieb die drei anderen an.

Die Frau, die mir am besten gefiel mit langen schwarzen Haaren, antwortete nicht. Vielleicht störte sie, dass ich zwei Kinder hatte, die bei ihrer Mutter, meiner Ex, lebten.

Die zweite wollte immer ausgehen, am liebsten in teure Bars. Ich trank gern ein Bier, doch das am liebsten daheim. Das war ihr zu langweilig. Die dritte wiederum war mir zu langweilig. Sie redete kaum ein Wort und schaute ständig auf ihre Hände. Sie hatte sehr schöne Hände, doch ich konnte nicht ständig ihre schönen Hände ansehen.

Also schrieb ich doch noch die kurzhaarige Blonde mit den kleinen Augen an und teilte ihr meine Telefonnummer mit. Sie wollte sich sofort mit mir treffen und zwar am Bad. Das gefiel mir. Es war Sommer und nahezu unerträglich heiß. Das beschriebene Bad kannte ich nicht, irgendein See außerhalb der Stadt. Ich fuhr mit dem Motorrad hin. Motorräder imponierten den Frauen. Allerdings hatte ich nicht bedacht, dass der Parkplatz außerhalb des Geländes ist. Eingezäunt war es zwar nicht, doch ich konnte schlecht mit meiner Kawasaki zwischen die Massen kurven. Es lagen viele Leute auf der Wiese. Ich stellte das Motorrad an den Rand unter einen Baum und ging langsam auf die Massen zu. Mir war plötzlich klar, dass ich diese Frau nicht finden würde. Woran sollte ich sie erkennen?

Plötzlich streckte sich ein Arm in die Höhe und winkte. Er winkte eindeutig mir zu. Also steuerte ich diese Richtung an. Doch fast wäre ich vor Schreck im gleichen Moment stehen geblieben. Denn die Leute waren allesamt nackt, splitternackt. In meinem Kopf pochte es. Sicher war mein Gesicht knallrot. Nicht vor Scham, schließlich habe ich schon viele nackte Leute gesehen. Schnell zog ich den Reißverschluss meiner Lederjacke runter und zerrte sie mir vom Leib. Es war wirklich unbeschreiblich heiß hier.

Die Frau war inzwischen aufgestanden und winkte mir immer noch zu. Ich musste zurück winken und versuchte zu lächeln. Sie hatte unglaublich schöne Brüste, sicher lagen sie schwer in meiner Hand. O Gott! Ich konnte doch jetzt beim ersten Date nicht auf ihre Brüste starren. Doch wo schaut ein Mann hin, wenn vor ihm eine Frau steht, die einen Kopf kleiner ist als er und große Brüste hat. Rasiert war sie auch noch, denn ich konnte kein Dreieck in ihrem Dreieck erkennen. Ralf, nimm dich zusammen, mahnte ich mich selbst.

„He! Ich bin die Ramona“, lachte sie mir entgegen und streckte ihre Hand in meine Richtung.

„Ralf, angenehm.“

„Das ist meine Schwiegermutter von meinem Ex.“

Ramona wies mit der Hand auf eine ältere Dame, die ebenfalls splitternackt auf einer Decke saß und mir ihre Hand entgegen hielt. Ich schüttelte die Hand und nickte ihr zu. Schwiegermutter? Ich dachte, die Tussi wäre geschieden wie ich? Läuft hier so etwas wie versteckte Kamera?

„Die Jungs sind im Wasser.“ Ramona streckte ihren Arm in Richtung See. „Sie werden gleich hier sein. Setz dich!“, forderte sie ungeniert.

Ich merkte, dass ich wohl ein ziemlich dummes Gesicht zog. Man sieht mir immer an, wenn ich nicht weiß, was ich machen soll. Also schmiss ich lässig meine Jacke ins Gras und legte vorsichtig den Helm obendrauf.

„Motorrad“, erklärte ich.

„Klar.“ Ramona lachte.

Ich zuckte mit der Schulter und nestelte an meiner Hose. So eine blöde Situation! Ich hasste die Frau. Und noch mehr hasste ich die alte Schwiegermutter, die ungeniert zu mir herauf schaute. Offensichtlich wartete sie auf den Moment, in dem ich ohne Sachen schutzlos vor ihr stand. Hoffentlich kriege ich nicht auch noch eine Erektion! Das fehlte noch! Eigentlich bestand keine Gefahr bei der Wut, die ich im Bauch hatte. Weglaufen ging jedenfalls nicht. Also stieg ich gekonnt lässig aus meinen Stiefeln, der Hose und streifte den Slip ab, den ich unauffällig mit den Zehen unter die Jacke schob.

„Setz dich!“ Die Alte klopfte mit ihrer Hand neben sich auf die Decke. „Ich bin die Marlies.“

„Svehen! Nihils!“, schrie Ramona und winkte Richtung See. Dabei hüpften ihre Brüste lustig hin und her.

Schnell kramte ich meine Zigaretten aus der Jacke und hielt sie der Alten hin. Die schüttelte den Kopf.

In dem Moment stürmten zwei Jungs auf uns zu und schmissen sich so nass wie sie waren auf die Decke. Ramona und die Alte lachten.

Die beiden Frauen packten belegte Brote aus und reichten Saftflaschen herum. Auch ich bekam ein doppelt mit Schinken und Käse belegtes Brot in die Hand gedrückt. Schnell biss ich hinein. So musste ich wenigstens nicht reden. Die Situation war mir dermaßen unangenehm, dass ich überhaupt nicht darüber nachdenken musste, ob mir diese Ramona gefiel oder nicht. Schöne Brüste hin oder her, es war einfach keine Art, mich derart vorzuführen.

„Ich bin gar nicht geschieden.“

Dachte ich mir´s doch! Die Weiber machen sich einen Spaß draus und ich sitze wie ein Depp hier.

„Mein Sohn lebt nicht mehr“, erklärte plötzlich die Alte und zeigte auf meinen Sturzhelm. „Motorrad. Unfall vor fast zwei Jahren. Der Kleine ist acht, der Große zehn. Ramona sollte nicht allein bleiben.“

Ich schaute zur Seite. Wie guckt man, wenn man solch eine Geschichte hört? Und vor allem, was sollte ich sagen? Tut es mir leid? Blöd ist jedenfalls, dass ich ausgerechnet mit dem Motorrad hierher gekommen bin und den Helm so dekorativ oben auf meine Sachen gepackt hatte.

„Tut mir leid“, nuschelte ich und zeigte mit der Hand auf meine Kleider.

Ramona zuckte mit der Schulter. Plötzlich fing sie an zu weinen. Du lieber Himmel! Was soll ich jetzt tun? Ich kann sie doch schlecht in den Arm nehmen und trösten, so nackt wie wir sind. Außerdem, wie sieht das aus vor ihrer Schwiegermutter?

Die ganze Geschichte ist nun schon vier Jahre her. Wir wohnen inzwischen mit den Jungs in einer schönen Vier-Raum-Wohnung und fühlen uns absolut wohl. Meine beiden Mädchen verbringen jedes zweite Wochenende bei uns und sind ganz begeistert von ihren neuen Brüdern. Und ich bin ganz begeistert von meiner Ramona. Ich liebe sie sehr.

Ein unheimliches Klopfen

Es klopft. Es klopft immer lauter. Ich renne zur Tür, doch nun klopft es hinten am Balkon. Ein Mann schaut zum Fenster herein. Wir wohnen im vierten Stock! Er lacht mich an und klopft immer weiter.

Schweißgebadet werde ich wach und schaue auf die Uhr. 6:50 Uhr. Eine volle Stunde könnte ich noch schlafen, doch es klopft immer noch. Wenn es um diese Uhrzeit klopft, muss etwas passiert sein. Ich schlage die Decke zurück und laufe zur Tür. An der Tür steht niemand. Jetzt höre ich auch das Klopfen nicht mehr. Vermutlich habe ich das alles nur geträumt.

Ich gehe ins Bad und wasche mein Gesicht. Bei dieser Hitze kann kein Mensch schlafen. Den Ventilator mag ich nicht anschalten, der summt so laut und weckt vielleicht noch Gerhard, meinen Mann. 21 Grad zeigt das Thermometer. Für Griechenland oder Süditalien wäre das normal, aber nicht für Deutschland.

Was soll ich jetzt machen? Es ist zu früh, um aufzubleiben. Es hat keinen Sinn, mich in der Küche zu beschäftigen. Eigentlich hat es auch keinen Sinn, mich wieder hinzulegen. Ich krieche trotzdem wieder ins Bett.

Der Hund schaut mich erstaunt an und schüttelt sich. Dieses Schütteln hört mein Mann. Verschlafen schaut er auf die Uhr und brummt: „Was ist?“

„Es klopft. Hast du das Klopfen nicht gehört?“

„Wer war´s?“

„Niemand. Es war niemand an der Tür.“

„Leg dich hin und schlaf!“

Ich strample meine Decke zur Seite und lege mich auf den Bauch. Es ist zu warm.

Und es klopft. Zwischen den Häusern schallt das Klopfen um ein Vielfaches verstärkt. Ich bekomme Kopfweh. Jetzt stehe ich auf und schließe das Fenster. Das Klopfen kommt eindeutig von draußen. Es klopft zwar immer noch, doch jetzt leiser. Um diese Zeit zu hämmern ist unverschämt. Weiß der Geier, welche Handwerker jetzt schon arbeiten.

Ich kann nicht schlafen. Es hat keinen Zweck, es zu versuchen. Nun bin ich wach und könnte gleich mit dem Hund draußen laufen. Später wird es noch wärmer sein, jetzt geht es noch.

Ich ziehe meine Jeans über und meine Sportschuhe an. Das Nacht-Oberteil geht locker als Shirt durch. Und wenn nicht, soll es mir gleichgültig sein. Um diese frühe Stunde ist sowieso noch kein Mensch unterwegs. Der Hund zieht nach links über die Straße. Wenn er glaubt, ich gehe jetzt mit ihm in den Wald, irrt er sich. Kurz vor dem Abzweig zum Wald straffe ich die Leine und zeige ihm an, dass ich weiter geradeaus laufen will. Er folgt und lässt den Kopf hängen.

„Mach dein Scheißerchen!“, befehle ich ihm.

Doch er schnüffelt nur und pinkelt an jede Ecke. Eigentlich ist das eine Sauerei. Bei Mauern sollte ich besser aufpassen, bei Bäumen darf er das. Einen Block gehe ich noch weiter, dann reicht es mir und ich schwenke auf den Rückweg.

Daheim bereite ich das Frühstück zu. Es ist acht Uhr, also fast unsere normale Frühstückszeit. Ich stelle die Kaffeemaschine an. Heute gibt es wieder Müsli. Ich schneide noch Apfelstücke hinein. Früher aßen wir Schinken- und Käsebrötchen, doch seit einiger Zeit vertrage ich das nicht mehr.

Mein Mann hört nun auch das Klopfen. Er geht hinaus. Er muss wissen, wo die Baustelle ist. Baustellen sind für ihn immer sehr interessant. Er erklärt mir immer, was und warum gebaut wird. Mich interessiert das nicht, aber ich höre ihm zu.

Er bleibt lange weg. Als er endlich zurück kommt, lacht er. „Ich habe Roland getroffen.“

Na und? Was ist daran so lustig?

„Habt ihr euch gut unterhalten?“, frage ich höflich, obwohl ich es gar nicht wissen will.

Gerhard lacht wieder. „Roland weiß, wer da so klopft.“

Na schön. Dann weiß es Roland eben. Und Gerhard weiß es auch. Soll ich jetzt nachfragen oder erzählt er von selbst, wer da klopft?

Gerhard schaut mich bedeutungsvoll an. Ich muss mich beherrschen und darf jetzt nicht ungeduldig werden. Sonst steht mir ein Vortrag bevor über mein hektisches Temperament oder mein missmutiges Gesicht und es endet mit der Bemerkung, dass ich so unmöglich wie meine Mutter sei. Also halte ich meinen Mund und versuche ein Lächeln.

„Soll ich dir sagen, wer da so klopft?“

Ich nicke und beiße mir auf die Lippe. Sonst rutscht noch ein Wort aus meinem Mund oder ein ganzer Satz, ein ganz sicher unfreundlicher Satz. Will er mich auf die Folter spannen? Er weiß genau, dass ich das nicht leiden kann. Sicherheitshalber nicke ich noch einmal.

„Ein Specht! Ein Specht klopft.“

Das kann ich mir nun gar nicht vorstellen. Außerdem klingt es ganz anders, wenn ein Specht in einen Baum hackt.

„Der Specht hackt in den Putz.“

„Wozu das?“, frage ich ungläubig.

„Roland sagt, dass Spechte gern den Putz und das Gebälk verlassener Häuser aufhacken.“

„Woher weiß der Specht, dass das Haus leer ist?“

Vor einem halben Jahr zog der letzte Mieter aus, nachdem das Haus zwangsversteigert wurde.

Gerhard zuckt mit der Schulter und greift nach der Zeitung. Für ihn ist das Thema beendet.

Es klopft wieder. Ich gehe hinaus und schaue mir die Hausecke an, die mir Gerhard beschrieben hat. Da hockt tatsächlich ein Specht unter dem Dachfirst und hackt in den Putz. Ein Buntspecht.

Ich hole meine Kamera und zoome den Vogel ganz nahe heran. Das Bild lade ich sofort in meinen Computer. Auf dem Foto sind deutlich die Löcher im Putz zu sehen, eines davon ist größer als der Vogel. Sogar das Dachgebälk ist voller Löcher. Was will ein Specht mit Putz? Gibt es darunter Nahrung für ihn wie in einem Baum?

Ich befrage Google und erfahre, dass es vermutlich Jungspechte sind, die ein eigenes Revier suchen. Offenbar erwecken die Fassaden bei den Tieren den Eindruck eines Baumes. Die raue Struktur des Verputz ähnelt der Baumrinde und das Klopfen hört sich an wie beim Trommeln auf hohlem Holz. Findet der Specht Insekten, fühlt er sich heimisch und untersucht die tieferen Schichten. Ärgerlich für den Hausbesitzer ist, dass er derartige Zufluchtsstätten nicht zerstören darf, weil sie unter dem Schutz des Bundesnaturschutzgesetzes stehen.

Den Hausbesitzer kann ich nicht informieren, weil ich ihn nicht kenne. Er hat sich ohnehin noch nicht um das Objekt gekümmert.

Doch seit ich nun weiß, wer da so klopft, stört es mich nicht mehr – ganz im Gegenteil, ich finde die Geschichte sogar amüsant.

Mein fremder Bruder

„Hallo, Heinz!“

Ich winke meinem Bruder zu, der genau in dem Moment den Supermarkt betritt, als ich diesen gerade verlasse. Ich sehe meinen Bruder sehr selten, obwohl er nur zwei Häuser von mir entfernt wohnt.

„Kommst du heute Abend?“

„Warum?“

Na?“, lache ich. „Ich habe Geburtstag.“

„Du weißt, dass ich keinen Geburtstag feiere.“

Trotzdem hätte er mir gratulieren können, denke ich und sage laut: „Ich weiß. Die große Party ist erst am Samstag.“

Heinz kneift die Augen zusammen. Ich sehe, wie sein Kinn zittert.

„Schabbat“, beeile ich mich zu sagen. „Ich weiß, dass du Freitags und Samstags nicht aus dem Haus gehst. Aber heute ist Donnerstag.“

Ich lege meine Hand auf seinen Arm, aber er schiebt sie grob weg.

„Du begreifst es nie!“, schreit er mich an. „Dumm wie Brot. Genau deshalb taugst du nur für die Küche, du blöde Kuh.“

„Harry sent you a lot of links“, mischt sich seine Frau Uma ein. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich inzwischen zu uns gesellte. Sie spricht seinen Namen immer Englisch aus. „Do you remember?“

„Das stimmt“, gebe ich zu. „Die meisten Artikel sind allerdings auf Englisch verfasst. So gut kenne ich die Sprache nicht.“

„Sag ich doch“, fühlt sich mein Bruder bestätigt. „Sogar zu dumm für Englisch.“

Ich schlucke meine Antwort hinunter, dass sich seine Frau nach zwei Jahren in Deutschland nach wie vor weigert, unsere Sprache zu lernen. Wenn ich mich mit ihr unterhalten will, dann geht das nur in Englisch. Selbst in Gegenwart meines Bruders. Uma ist Tamilin, eine auffallend hübsche und sehr junge Frau. Ich weiß nicht, ob sie der Grund ist, weshalb mein Bruder plötzlich so streng nach den Regeln des Alten Testaments leben muss. Anfangs verfolgte ich seine Links, um ihn besser verstehen zu können. Ich stellte ihm viele Fragen, die leider nie Antworten brachten, sondern immer neuen Ärger. Heinz glaubt, dass seine Meinung die einzig richtige ist, denn so steht es bereits in der Bibel. Mein Einwand, dass man die Bibel heute nicht einfach eins zu eins auf die heutige Situation übertragen kann, ärgert ihn noch mehr als meine Fragen, die für ihn nur ein Zeichen von Misstrauen und Respektlosigkeit sind.

„Ich respektiere euren Glauben“, lenke ich ein. „Und ich gehe davon aus, dass ihr meinen ebenso respektiert. Deshalb bitte ich euch, kommt heute Abend zum Essen zu uns. Wir sehen uns viel zu selten, obwohl wir Nachbarn sind.“

„Und da soll ich Schwein essen?“

„Aber nein. Ich habe extra für euch Fisch und Lamm gekauft.“ Dabei mögen weder mein Mann noch ich Lamm.

„Und das brätst du in deiner Schweinepfanne“, zischt mein Bruder verärgert.

„Your kitchen is not clean“, erklärt Uma.

„Aha, aber als ihr die vielen Monate bei uns gewohnt habt, da war das kein Problem“, verliere ich die Beherrschung. Dabei weiß ich, dass sich mein Bruder damals in einer schwierigen Situation befand. Er wohnte vorher mit seiner Frau in Malaysia und erhielt nach einem Rechtsstreit Morddrohungen. Deshalb musste er seine große Villa quasi über Nacht verlassen und aus dem Land fliehen. Bei mir erholten sich die Beiden. Sie wohnten in unserem Gästezimmer, wuschen ihre Wäsche in meiner Waschmaschine und setzten sich täglich an den von mir gedeckten Tisch. Mein Mann besorgte neue Handynummern, einen Internetanschluss und vermittelte ihnen eine Wohnung. Ich weiß bis heute nicht, womit mein Bruder sein Geld verdient, er wollte nie darüber sprechen. Manchmal steht eine riesige schwarze Limousine mit einem fremden Nummernschild auf seinem Hof. Manchmal besucht er unsere Schwester in Dortmund, wenn er von Geschäften aus Holland zurück fährt. Aber er kündigt seinen Besuch niemals an und fährt meist spät in der Nacht die 600 Kilometer bis nach Hause. Ihn stört es nicht, dass sich unsere Schwester sorgt, weil er Alkohol getrunken hat und obendrein ganz sicher übermüdet ist.

Melissa kommt aus dem Supermarkt. Ich lache sie an und grüße sie freundlich.

„She is Moslem, isn´t she?“, empört sich Uma.

„Möglich. Sie stammt aus Syrien. Ihr Mann ...“

„So jemanden grüßt du?“, faucht Heinz. „Wer meine Feinde grüßt, der ist auch mein Feind.“

„Sei nicht albern!“, versuche ich zu vermitteln.

„Es sind Nachbarn wie ihr auch.“

„No!“, schreit Uma. „Cut for ever!“ Mit ihrer rechten Hand fährt sie quer durch die Luft. Dann dreht sie sich um und stampft grußlos davon. Heinz schaut wie durch mich hindurch und folgt seiner Frau.

Inzwischen sind vier Jahre vergangen. Manchmal sehe ich meinen Bruder auf der Straße und winke ihm zu, aber er sieht mich nie. Zur Beerdigung unserer Mutter kamen Heinz und Uma, allerdings ohne einen Blick oder Gruß für mich.

Mein Bruder ist mir fremd geworden.

Schwestern

„Rede!“, schrie Birgit.

Doch Lina hockte bewegungslos in ihrem Sessel und reagierte nicht. Wie immer. Sie stierte aus dem Seitenfenster hinaus in den Garten, aber ihre Augen sahen die Blumen nicht. Sie saß nie wie ihre Schwestern am großen Panoramafenster mit Blick zum Meer. Lina hasste das Meer. Das unendlich viele Wasser machte ihr Angst. Schon als Kind hatte sie dem Meer immer den Rücken gekehrt, während ihre drei Schwestern im Wasser planschten und wie die Fische darin herum schwammen.

„Sag endlich was!“, forderte Birgit. Dabei beugte sie ihren Oberkörper vor, als wolle sie Lina packen und schütteln.

„Lass sie in Ruhe!“, bat Marlies. Sie war die älteste der vier Schwestern und hatte das ständige Bedürfnis zu vermitteln und für Frieden zu sorgen.

„Du mit deinem blöden Verständnis“, giftete Birgit. „Linas Tochter ist vor 15 Jahren gestorben, also nicht erst gestern oder letzte Woche. Irgendwann muss mal Schluss sein mit dem Trauergetue.“

„Lina tut nicht traurig, sie ist traurig“, korrigierte Marlies. „Wie lange dauert es deiner Meinung nach, bis man über den Tod eines wirklich geliebten Menschen hinwegkommt? Ich bin nicht sicher, ob man jemals darüber hinwegkommt.“

„Und wenn schon. Wir haben alle unser Päckchen zu tragen. Deshalb sind wir schließlich hier.“

Marlies nickte. Jede von ihnen war alt und einsam, alle vier Schwestern hatten die Lust am Leben verloren. Es war kein wirkliches Leben mehr.