Ein ganz anderes Leben - Petra Weise - E-Book

Ein ganz anderes Leben E-Book

Petra Weise

4,8

Beschreibung

Susi hat aus ihrem alten Leben nur die Kleider, die sie am Körper trägt und einige Erinnerungen, die sie rigoros beiseite schiebt. Und sie hat Manfred, ihren Mann. Mit ihm zusammen will sie die Vergangenheit hinter sich lassen und ein ganz anderes Leben beginnen. "Ein ganz neues Leben" ist die Fortsetzung von "Ein halbes Leben" und beginnt mit dem Jahr 1981, in dem die Heldin Susi zusammen mit ihrem Mann aus einem DDR-Gefängnis freigekauft wird. Der Leser erfährt, ob Susi ihre Kinder wiedersieht, wie sie sich in ihrer neuen Wahlheimat zurechtfindet und wie sie lebt, bis zum Fall der Mauer im November 1989.

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Juli 1981.

„Was ist passiert?“ Erschrocken fährt Susi hoch und setzt sich im Bett auf. Sie war wohl doch eingeschlafen, obwohl sie stundenlang keine Ruhe finden konnte. Neben dem Bett steht Manfred, seine nackten Beine leuchten gespenstisch im Licht. Manfred hat sehr dünne Beine und wenn er sich nach vorn beugt, stehen seine Hüftknochen deutlich hervor. Kaum siebzig Kilogramm wiegt er, ist aber größer als 1,90 Meter. Während der letzten Monate muss er mehr als zehn Kilogramm abgenommen haben. Sein Gesicht wirkt verhärmt und passt nicht zu einem jungen Mann von 28 Jahren. Das letzte Jahr, das Manfred im Gefängnis verbrachte, hat deutliche Spuren hinterlassen. Auch Susi verbrachte ein volles Jahr hinter Gittern.

Susi erinnert sich an die fast sieben Stunden lange Busfahrt direkt aus der Transportzelle der Haftanstalt Chemnitz hierher nach Gießen ins Notaufnahmelager. Sie hatten ihre Hände während der ganzen Zeit so fest ineinander gekrallt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Aber sie wären nicht in der Lage gewesen, sich loszulassen. Keiner wusste, was er sagen sollte. Von der harten Zeit im Gefängnis mochten sie nicht reden, dazu waren sie im Moment viel zu glücklich. Unbeschreiblich glücklich, nach einem Jahr Trennung unter grausigen Umständen wieder zusammen zu sein. Und gleichzeitig fast ängstlich, denn keiner wusste so genau, was ihn jetzt erwartet. 17 Uhr passierten sie die deutsch-deutsche Grenze. Der Bus fuhr einfach so durch, als ob dies ganz normal wäre. Dabei war es alles andere als normal, denn es gab weltweit keine so streng bewachte Grenze wie die innerhalb Deutschlands. Jeder wusste, dass schon der Gedanke an einen heimlichen Grenzübertritt strafbar war und ein Versuch möglicherweise mit dem Tod endete. Das wollten Susi und Manfred auf keinen Fall riskieren. Deshalb versuchten sie vor einem Jahr, mit ihren beiden Kindern und Susis Bruder die Grenze zwischen Bulgarien und Jugoslawien zu überwinden. Sie hofften, so weit im Süden unbemerkt hindurch schlüpfen zu können. Doch sogar an dieser Grenze wurde scharf geschossen.

Susi schiebt die Gedanken an die Verhaftung und vor allem an die Kinder weit von sich. Sie hatte sich im Gefängnis abgewöhnt zu denken. Sie sagte sich, dass die Kinder bei den Großeltern lebten und gut versorgt waren. Sie ließ keinerlei weitere Gedanken oder gar Gefühle zu, sie wäre sonst vor Sehnsucht nach ihren Kindern wahnsinnig geworden. Außerdem verbot sie sich jegliche Sorge um die Zukunft. Manfred hatte ihr in einem Brief geschrieben: Wir müssen das jetzt durchstehen, sonst war alles umsonst. An diesen Satz klammerte sie sich, wenn es ihr schlecht ging, die Angst sie erdrücken wollte. Sie weinte nie, sprach nicht mehr und reagierte nur noch, wenn es nötig war. Später wurde ihr klar, dass dies reiner Selbsterhaltungstrieb war.

Im Aufnahmelager Gießen wurden sie sehr freundlich begrüßt. Man führte sie in einen großen Speisesaal, wo es angenehm roch. Es gab frisches Brot, Wurst und sogar Käse und richtige Butter. Susi gingen die Augen über. Sie wollte alles probieren, war aber schon nach der ersten Schnitte satt. Auch Manfred brachte keinen Bissen mehr hinunter. Heimlich steckten sie die Reste vom Teller in ihre Taschen. Sie hätten es nicht fertiggebracht, diese zurückzubringen oder gar wegzuwerfen.

Schließlich wies man Manfred und Susi ein gemeinsames Zimmer zu mit zwei Betten, einem schmalen Spind, einem kleinen Tisch, zwei Stühlen und einem Waschbecken. Sie schoben die Betten sofort zusammen und fielen wie die Tiere übereinander her. Sie liebten sich bis zur Erschöpfung. Zur Toilette am Ende des Ganges gingen sie Hand in Hand. Sie hätten es nicht fertiggebracht, sich auch nur für einen einzigen Moment zu trennen.

„Nichts. Nichts ist passiert.“ Manfred bespritzt sein Gesicht mit kaltem Wasser aus dem Hahn und schnauft dabei, als hätte er soeben eine schwere Arbeit verrichtet. Dann legt er sich zu Susi ins Bett. Sofort kuschelt sie sich eng an seine Schulter und merkt, dass er zittert.

„Ist dir kalt?“

Manfred schüttelt den Kopf, setzt sich ruckartig auf. „Weißt du, ich finde einfach keine Ruhe. Als das Licht im Flur anging und durch die Scheibe über der Tür leuchtete, bin ich aus dem Bett gesprungen und habe mich daneben aufgestellt. Ich glaubte, dass gleich die Zelle aufgeschlossen wird.“

Susi weiß aus eigener Erfahrung, dass dann kein Häftling mehr im Bett liegen bleiben durfte.

„Komm, Liebster, leg dich wieder hin!“ Susi zieht sanft an Manfreds Arm. „Der Knast ist Vergangenheit. Wir sind frei.“

„Wir sind frei“, wiederholt Manfred. „Du hast recht. Ich hoffe, dass ich nicht mein Leben lang an dieses Jahr im Knast denken muss.“

„Oder davon träumst in der Nacht“, ergänzt Susi.

Sie streicht ihrem Mann zärtlich über den Kopf. „Haben sie euch regelmäßig die Haare geschoren?“

„Es gab einen richtigen Friseur.“

Susi lacht. „Nobel, nobel. Wir haben uns gegenseitig die Frisur gestutzt.“

Manfred vergräbt seine Hand in Susis dicke Wuschelmähne. „Mir gefällt das besser als die kurzen Fransen, die du vorher hattest.“ Dann kuschelt er sich eng an Susi und schlingt seine Arme fest um sie.

Am nächsten Morgen werden sie zuerst von einem Amtsarzt untersucht. Manfred ist viel zu mager, Susi eher fett. Dabei hatte sie wie Manfred ein ganzes Jahr lang nur sehr karge Gefängniskost bekommen, von der sie nie richtig satt wurde und die oft widerlich stank. Am schlimmsten rochen die faulenden Kartoffeln. Das Meiste hätte Susi unter normalen Umständen niemals gegessen, aber bei dem ständigen Hunger durfte man nicht wählerisch sein. Besonders eklig war für Manfred die Sülze, bei der die Schweineborsten aus der Gallertmasse hervorstachen und sich einfach nicht kauen ließen. Außerdem musste man vor jeder Mahlzeit erst die Kakerlaken von den Tellern schnippen.

„Haben Sie irgendwelche körperlichen Beschwerden?“, will der Arzt wissen.

„Ich hatte während der gesamten Haftzeit, also ein volles Jahr, keine Regelblutung.“

„Gehen Sie zum Frauenarzt! Das wird schon wieder, jetzt, da Sie keine Medikamente mehr bekommen.“

„Sie meinen, man hat uns chemisch manipuliert?“

„Ich meine gar nichts.“

Erschrocken über diese Zurechtweisung zuckt Susi zusammen, fasst sich aber schnell wieder.

„Mich stört vor allem, dass es in meinen Ohren ganz laut fiept.“

„Wie bitte?“

„Das ist ein Ton wie das Zeitzeichen bei Sendeschluss im Fernsehen, aber auf volle Lautstärke gedreht“, erklärt Susi.

Der Arzt schüttelt den Kopf. So etwas hat er noch nie gehört.

„Der grässliche Ton ist immer da, Tag und Nacht.“

Der Arzt nimmt ein Gerät und schaut Susi erst in das rechte und dann in das linke Ohr. „Ich sehe nichts.“

„Kann man Töne sehen?“, wundert sich Susi.

„Ich sehe jedenfalls nichts, also ist da nichts. Kein Mann im Ohr.“ Der Arzt lacht. Susi lacht nicht.

„Sie müssen noch zum Röntgen!“, ordnet er an. Nach dem Röntgen geht es in die Kleiderkammer, wo jede Person vom Diakonischen Werk Unter- und Nachtwäsche geschenkt bekommt und sich eine Hose und ein Hemd beziehungsweise eine Bluse aussuchen darf. Darüber freuen sich Susi und Manfred sehr, denn sie haben nicht einmal Wechselwäsche, sondern nur die Kleider, die sie auf dem Leib tragen. Zum Schluss bekommt jeder fünfzig Mark Begrüßungsgeld. So einen großzügigen Empfang hatten sie sich niemals vorgestellt.

Danach muss der Notaufnahmeantrag gestellt werden. Außerdem werden Susi und Manfred vom Bundesnachrichtendienst und Bundesgrenzschutz getrennt voneinander vernommen. Die Hauptfrage ist immer wieder, ob man namentlich Spitzel der ostdeutschen Staatssicherheit benennen kann oder selbst angeworben wurde, welcher Mithäftling ein Spitzel ist oder sein könnte.

Susi reagiert empört und faucht: „Ich kenne keine solchen Leute. Und wenn, dann würde ich nicht darüber reden.“

Susi denkt nicht nach, bevor sie spricht, während Manfred eher ruhig bleibt. Er hält die Spitzel für weit widerwärtiger als die Verbrecher selbst. Beide Temperamente sind für die Stasi uninteressant.

„Und was ist mit unseren Kindern? Ich meine, wann kommen sie zu uns?“, erkundigt sich Susi.

„Das weiß ich nicht. Dafür ist das Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen zuständig.“

Von diesem Ministerium gibt es im Notaufnahmelager keinen Beauftragten.

„Es wird einen Weg geben, so, wie es immer einen Weg gibt“, murmelt Manfred.

„Ja, ich weiß. Alles zu seiner Zeit.“ Susi ruft sich selbst zur Ordnung. Sie würde sich hier nicht gehenlassen. Sie hat ihre Kinder ein Jahr lang nicht mehr gesehen, sie muss also nicht ausgerechnet heute die Nerven verlieren. Sie weiß, dass es ihren Kindern gut geht. Es besteht kein Grund zur Sorge und schon gar nicht, dass sie darüber alles andere vergisst. Sie hat eine Aufgabe und diese benötigt ihre volle Aufmerksamkeit. Sie muss zusammen mit Manfred ein neues Heim für die Kinder schaffen. Es ist gut so wie es ist, es wird sich alles fügen und sie werden dafür tun, was getan werden kann.

Schließlich füllen Susi und Manfred einen Antrag der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge aus. Das ist ein sehr wichtiger Antrag, denn es geht vor allem um die strafrechtliche Rehabilitierung. Wenn Susi und Manfred sich gegen die Verhaftung gewehrt und dafür eine Strafe wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt erhalten hätten, dann wären sie nach bundesrechtlichem Gesetz vorbestraft. Ihr Urteil im Namen des Volkes lautete Republikflucht, so etwas gibt es im freien Teil Deutschlands nicht.

„Es gibt eine Liste ehemaliger politischer Häftlinge. Damit können Sie Kontakte knüpfen und sich mit Leuten in ihrer Nähe treffen, sich wertvolle Tipps geben lassen und mit Gleichgesinnten austauschen.“

Susi saugt die vielen Informationen in sich auf, auch Manfred bleibt ruhig und gefasst. Sie hinterfragen die Untersuchungen und Verhöre und Amtsanträge nicht, sondern funktionieren noch immer fast automatisch wie während ihrer Haftzeit. Sie sind es beide gewöhnt, mit der aktuellen Situation umzugehen, ohne darüber nachzudenken.

Zu Mittag gibt es eine Kohlrabi-Rahmsuppe, die Susi hervorragend schmeckt. Leider ist sie danach vollkommen satt und kann von der Hauptspeise nur eine kleine Kartoffel mit etwas Soße essen, Gemüse und Fleisch werden ihr zu viel. Manfred geht es ebenso. Er seufzt enttäuscht, als er das Fleisch auf dem Teller liegenlassen muss.

„Komisch“, wundert sich Susi. „Im Gefängnis konnte ich fünf oder sechs Kartoffeln essen, falls es überhaupt so viele gab, und war trotzdem noch hungrig. Und hier bin ich schon nach der Suppe pappesatt.“

„So kalorienreiches Essen wie hier sind wir eben nicht gewöhnt, Susi.“

Nach dem Mittag wollen sie sich die Stadt ansehen. Das Aufnahmelager befindet sich direkt hinter dem Bahnhof. Um ins Zentrum zu gelangen, muss man nur über eine lange Fußgängerbrücke gehen, unter der die Gleise laufen. Hand in Hand machen sich Susi und Manfred auf den Weg, um Postkarten und Briefmarken zu kaufen. Susi wird immer langsamer, ihre Beine fühlen sich mit jedem Schritt schwerer an. Mitten auf der Brücke bleibt sie stehen. „Ich kann nicht mehr“, keucht sie.

Auch Manfred ist erschöpft. Weder das Laufen noch die viele frische Luft sind sie gewöhnt, also kehren sie um und erholen sich bei einem Mittagsschlaf.

Am nächsten Tag gehen sie erneut los und erreichen nach zehn Fußminuten das Stadtzentrum. Als erstes betreten sie ein Postamt.

„Bitte vier Zehnerbriefmarken für Postkarten und drei Zwanziger für Briefe.“

„Glaubst du, du bist hier in der Ostzone?“, faucht der Postbeamte.

Susi lächelt verlegen. Sie weiß nicht, was sie sagen soll.

„Geben Sie uns je vier Marken für Karten und Briefe von hier nach Dresden!“, bittet Manfred. Er zahlt den geforderten Betrag und steckt die Marken ein. Draußen auf der Straße kichert Susi über ihre Dummheit. Erschrocken schaut sie sich um. Aber keinen Passanten scheint es zu stören, dass sie mitten auf dem Fußweg steht und lacht. Die Leute reden unbekümmert laut miteinander. Kinder hüpfen im Wechselschritt quer über die Straße und manche singen dabei. Alles macht einen völlig entspannten Eindruck.

„Das ist es, was mir gleich aufgefallen ist, dass hier alle ungehemmt laut sprechen. Im Osten unterhielten wir uns leise, fast im Flüsterton“, sagt Susi.

Sie bummeln durch eine Straße voller Geschäfte und betreten schließlich ein Schreibwarengeschäft. Dort kaufen sie vier Ansichtskarten von Gießen, außerdem hübsches Briefpapier mit bunten Schmetterlingen drauf und lustige Abziehbilder, die sie den Briefen an ihre Kinder beilegen können.

Die beiden Kinder leben seit der Verhaftung vor genau einem Jahr bei Susis Eltern. Susi weiß, dass sich die Großeltern gut um die Kinder kümmern. Das tröstet sie zwar nicht über die Trennung hinweg, aber es beruhigt sie.

„Was soll ich den Kindern schreiben? Dass wir uns bald sehen? Dass wir hier in Gießen glücklich sind? Ich weiß gar nichts. Mein Kopf ist wie leer.“ Susi sitzt am Tisch und kaut hilflos auf ihrem Stift.

„Bleibe einfach kühl und sachlich, immerhin werden die Karte unzählige Leute lesen, nicht nur unsere Eltern und Kinder.“

„Du hast recht, mein Lieber.“ Susi informiert also nur kurz die Kinder und ihre beiden Omas darüber, dass sie gestern in Gießen angekommen sind, während Manfred ebenso schlichte Grüße an seine Eltern schickt.

Erst am nächsten Tag verfasst Susi einen langen, sehr herzlichen Brief an ihre Kinder und ihre Eltern.

Manfred hat eine Zeitung besorgt und studiert sie ganz genau. In der Untersuchungshaft gab es keine Zeitung und später im Gefängnis wurden Artikel, die die Häftlinge nicht lesen sollten, herausgeschnitten.

Auf der Titelseite ist eine Frau abgebildet, die sie nicht kennen, die aber auf sämtlichen Zeitungen und Zeitschriften mit der Überschrift Lady Di heiratet den englischen Prinzen aufgefallen ist.

„Und das ist so wichtig?“, kichert Susi. „Ich wusste gar nicht, dass es noch Prinzen gibt. Vielleicht sogar Könige und Kaiser wie in einem Märchen.“

Gefüllt mit vielen verschiedenen Amtswegen auf dem Notaufnahmegelände sind die nächsten zwei Tage. Das Bundeskriminalamt macht Fotos und nimmt Fingerabdrücke, es gibt Vorprüfungsgespräche mit dem Leiter des Notaufnahmelagers und schließlich ein langes Gespräch in der Landeszuweisungsstelle.

„Wir möchten nach Bayern.“

„Zu Verwandten?“

„Nein. Wir haben zwar Verwandtschaft bei Augsburg, aber keinen Kontakt zu ihnen.“

„Es muss also nicht Augsburg sein?“

„Nein.“

„Wir raten Ihnen dringend von Bayern ab.“ Der Beamte macht ein besorgtes Gesicht. Susi und Manfred schauen sich ratlos an.

„Wissen Sie, in Bayern kämen Sie direkt vom Regen in die Traufe, von Rot nach Schwarz sozusagen. Das Land wird schließlich von Josef Strauß regiert.“ Der Beamte nickt bedeutsam. „Außerdem erkennen die Bayern Ihre ostdeutsche Ausbildung nicht an.“

Das ist ein schwerwiegendes Argument, denn das Wichtigste für die beiden Neuankömmlinge ist, schnell eine passende Arbeit zu finden. Sie müssen Geld für ihren Lebensunterhalt verdienen und das möglichst in ihren Ausbildungsberufen.

„Was raten Sie uns?“, will Susi wissen.

„Bleiben Sie hier in Hessen! Hier müssen Sie keine Verwandtschaft nachweisen, um bleiben zu dürfen. Wir könnten Ihnen einen Platz in einem Wohnheim in Offenbach zuweisen.“

„Offenbach?“

„Das ist eine Stadt mit 120.000 Einwohnern am Main, sie grenzt direkt an Frankfurt. Dort gibt es viel Industrie, also genug Arbeit für Sie.“

„Das hört sich gut an.“ Manfred nickt. Auch Susi ist einverstanden. Der Beamte verweist sie an die Kassenstelle, wo ihnen eine Fahrkarte nach Offenbach für den nächsten Tag geschenkt wird, außerdem 324 Mark und eine lange Laufliste mit den vielen Meldestellen, die in Offenbach sofort kontaktiert werden müssen.

Nach nur einer Stunde Zugfahrt stehen sie auf dem Bahnhofsvorplatz in Offenbach. Es ist ein sehr kleiner alter Bahnhof. Leute hasten an ihnen vorüber. Ein Mann rennt zu einem Bus. Susi und Manfred folgen ihm. Sie studieren die Fahrpläne verschiedener Buslinien, aber die Straße, in der sich die neue Wohnung befinden soll, entdecken sie nicht. Kurz entschlossen steigen sie in ein Taxi. Die Fahrt dauert nur wenige Minuten. Susi lacht. „Das hätten wir leicht laufen können.“

Manfred nickt. „Stimmt, aber wir hätten nicht gewusst, wohin.“

„Kommen Sie mit!“, bestimmt der Heimleiter und geht voran, ins Haus gegenüber, klinkt eine unverschlossene Wohnungstür auf. Im Vorbeigehen zeigt er kurz auf die Türen, die vom Flur abgehen. „Hier wohnt eine Ungarin, da ist das Bad mit Waschmaschine, hier lebt ein junges Paar aus Polen, hier ist die Küche und das Ihr Zimmer.“

Es stehen zwei einzelne Bettgestelle aus Metall drin, darauf liegt jeweils eine Militärdecke, kein Kopfkissen. Ein kleiner viereckiger Tisch, zwei Stühle, ein schmaler Kleiderschrank und ein kleiner Kohleofen. Keine Bilder an den Wänden, kein Regal für Bücher. Von der Decke hängt an einem Kabel eine Glühlampe herunter, der Lampenschirm fehlt.

„Haben Sie Bettwäsche?“

Susi schüttelt den Kopf.

„Wir können Ihnen für den Anfang Wäsche und Handtücher gegen eine Gebühr leihen. Fragen Sie in der Verwaltung nach!“ Der Mann wirft einen einfachen Bartschlüssel auf den Tisch. „Für die Haustür. Die ist von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh abzuschließen.“

„Vielen Dank.“ Dann fällt Susi noch etwas ein.

„Wann und wo gibt es die Mahlzeiten?“

„Das weiß ich doch nicht!“ Der Mann klingt ärgerlich. „Wann immer ihr Hunger habt, euch was kocht oder in ein Lokal geht. Geld habt ihr schließlich genug bekommen.“ An der Tür dreht sich der Mann noch einmal um und ergänzt: „Die Miete beträgt 91 Mark und ist sofort fällig. Und die wird ab August pünktlich zum Ersten gezahlt.“ Bei pünktlich hebt er mahnend den Zeigefinger.

91 Mark für ein einziges Zimmer mit Bad- und Küchenbenutzung. Das ist doppelt so viel wie die Miete für ihre ehemalige große Vier-Raum-Wohnung in Berlin. Doch Susi erholt sich schnell von diesem Schreck. Sie will die Küche sehen.

Ein junger Mann sitzt im Unterhemd am Tisch und raucht. Am Herd rührt eine recht kräftige Frau in einem riesigen Topf. „Ihr neu? First day here?“

Susi nickt. Sie tippt sich auf die Brust. „Ich bin die Susi.“

„Isch Ewa, das Marek.“

„Big…“ Susi sucht nach der passenden Vokabel. Sie zeigt auf den Topf und beschreibt mit ihren Armen einen großen Kreis. „Topf, großer Topf.“

„Wir Deutsch, kommen from Poland.“

„Ah!“

„Nicht bleiben, gehen Austria.“

„Australien? Warum so weit? Austria so fare.“

„No, Austria near Deutsch. Neighbour.“ Susi versteht nicht. Sie ruft nach Manfred. Mit seiner Hilfe erfährt sie, dass das polnische Paar gern in Österreich leben möchte. Susi weiß gar nichts über Österreich.

„Setzen, bitte!“, fordert Ewa Susi und Manfred auf.

Marek winkt Manfred, ihm zu folgen und sie holen zwei Stühle aus dem Nachbarzimmer. Nun haben sie alle vier am Küchentisch Platz. Ewa zeigt auf den Topf. „Essen?“

„Gutt.“ Marek klopft mit der Hand auf seinen Bauch.

Ewa hat längst vier Teller mit Suppe gefüllt.

„Das sein Borschtsch.“

„Was ist das? Sieht aus wie Rote Bete.“ Susi mag keine Roten Bete.

„Burak. Bedeuten beetroot, red beet.“

„Hab dich nicht so!“, tadelt Manfred. „Probiere wenigstens! Ich finde die zwei nett.“

„Hallo.“ Eine sehr dünne Frau mit zerzausten roten Haaren kommt barfuß und nur mit einem kurzen Nachthemdchen bekleidet in die Küche. In der Hand hält sie eine Zigarette, eine zweite klemmt in ihrem Mundwinkel.

„Das Kati, immer schlafen.“ Ewa holt eine große breite Tasse aus dem Schrank und füllt Suppe hinein. Manfred will einen Stuhl für Kati holen, aber die schüttelt mit dem Kopf.

„Immer stehen“, erklärt Ewa.

„Aber nicht beim Schlafen, oder?“ Susi hält ihre Hände an die Wange, schließt die Augen und lacht. Jetzt lachen auch die anderen.

„Das Susi, das Manfred. Wir heute feiern.“ Marek holt Wodka und Gläser. Es sind große Gläser, in denen vorher wohl Senf oder Marmelade war. Susi hat noch nie in ihrem Leben Alkohol getrunken.

„Das deutsch Wodka, gutt, polnisch Wodka mehr gutt.“

Marek holt ein kleines Kofferradio aus seinem Zimmer und stellt es an. Ewa und Kati wippen mit ihren Hüften zum Takt. Kati stellt ihre Tasse auf den Tisch und greift nach Susi. „Tanzen! Wir alle tanzen.“

Susi tanzt. Sie tanzt gern. Es gibt wenig, was sie so gern macht. Susi bewegt ihren ganzen Körper und fühlt sich auf einmal unbeschreiblich gut. Sie lacht und lacht und kann nicht mehr aufhören zu lachen. Manfred legt seine Arme um ihre Schultern und zieht sie aus der Küche. „Wir müssen noch einkaufen. Ist dieser Kühlschrank für uns alle?“ Ewa scheint zu verstehen und nickt.

„Wir gehen jetzt an die frische Luft“, bestimmt Manfred. „Du hast nämlich einen kleinen Schwips.“

Sie gehen an einem kleinen Park vorbei und treffen schließlich auf die Hauptstraße. Dort entdeckt Susi einen kleinen Lebensmittelladen und geht hinein. Gleich in der Tür bleibt sie stehen.

„Riechst du das? Wie Weihnachten und Ostern zusammen“, flüstert sie Manfred zu.

Zuerst sehen sie ein Regal voller Brot. Susi hätte sich im Leben nicht vorstellen können, dass es so viele verschiedene Brotsorten gibt. Helle, dunkle, fast schwarze, mit großen Körnern darin, verpackt als Laib oder nur in wenigen Scheiben.

„Welches sollen wir nehmen?“

Manfred zuckt mit der Schulter. Susi wählt ein Päckchen mit acht Scheiben einer dunklen Sorte. Gleich gegenüber sind große flache Behälter voller Obst und Gemüse aufgebaut. Bananen! Äpfel, Birnen, Orangen, Gurken, Tomaten, Zwiebeln und vieles mehr. Alles sieht aus wie einzeln hineingelegt und vorher blank geputzt. Susi beobachtet eine Frau, die zwei Bananen von einer Staude abbricht, in einen kleinen durchsichtigen Beutel steckt, diesen verknotet und auf eine Waage legt. Aus der Waage kommt ein Zettel, den sie auf den Beutel klebt. Susi macht es der Frau nach. Danach stehen sie vor dem Käseregal und fühlen sich völlig hilflos. Es sind weit mehr als hundert Sorten Käse, hübsch bunt verpackt. Eher wahllos nimmt Susi eine runde Schachtel Camembert aus dem Regal. Direkt neben dem Regal befindet sich die Käsetheke. Große angeschnittene Käseräder liegen sauber neben- und übereinander, alle mit kleinen Schildchen mit Namen und Preis. Vorn an der Glasscheibe präsentieren mehr als zehn weiße Keramikschalen verschiedene Sorten Frischkäse.

„Was darf es sein?“, fragt freundlich die Verkäuferin.

Susi schüttelt ihren Kopf und geht weiter. Gleich daneben ist eine Wursttheke.

„Schau, Manfred! Hier gibt es alles. Einfach alles. Tausend Wurstsorten, sogar Schinken.

Und hier liegen Wiener.“

„Sie wünschen?“

„Hundert Gramm Leberwurst“, bestellt Susi selbstsicher.

„Schwein oder Kalb? Frisch oder geräuchert? Grobe oder feine? Hausmacher? Pfälzer? Pommersche?“ Bei jedem Wort tippt die Verkäuferin mit einer langen Gabel auf eine andere Wurst. Susi schaut ratlos zu Manfred, der zuckt mit der Schulter. Beide kennen nur feine und grobe Leberwurst.

„Pommersche“, bestimmt Susi. Für sie ist das ein Zeichen, weil ihr Vater aus Pommern stammt. Pommersche Leberwurst kennt sie trotzdem nicht. „Und hundert Gramm Salami, bitte.“

„Pfeffersalami, italienische, Schwarzbier, Wildkräuter, Hirsch- oder Haussalami? Haussalami wäre gerade im Angebot.“

„Nein, ich möchte die Pfeffersalami“, wehrt Susi entsetzt ab. Sie weiß nicht, was es bedeutet, wenn die Wurst im Angebot ist.

„Und hundert Gramm Schinken, bitte.“

„Roh oder gekocht? Serrano, Katen, Farmer, Parma?“

Susi schaut die Verkäuferin irritiert an und zeigt mit dem Finger auf den gekochten Schinken mit Fettrand.

Sie dreht sich zu Manfred um, der mit dem Einkaufskorb direkt hinter ihr steht und sagt: „Ich kann das nicht. Mir ist das jetzt alles zu viel und eigentlich ist mir zum Heulen zumute.“

„Zum Heulen? Bei diesen unglaublich vollen Regalen?“

„Ich kenne keinen einzigen Artikel. Alles ist bunt. Sogar die Butter ist in lila oder goldenem Glanzpapier. Was soll ich denn nehmen?“

Susi ist erschöpft und würde sich am liebsten in eine ruhige Ecke verkriechen. Sie sucht mit den Augen die Kasse und entdeckt auf dem Weg dorthin in den Regalen Toilettenartikel und greift eher wahllos nach den nötigsten Dingen.

Vor dem Geschäft lässt sich Susi auf eine Bank fallen. Manfred setzt sich neben sie und nimmt ihre Hand.

„Wir sind es nicht gewöhnt zu wählen“, sagt sie. „Entweder, es gibt Käse oder es gibt keinen. Entweder, es gibt Brot oder es ist schon ausverkauft. Und die viele Wurst! Schinken liegt einfach so herum. Weißt du noch, in Berlin kannte ich eine Verkäuferin, die mir jeden Mittwoch hundert Gramm gekochten Schinken zurücklegte. Aber ich musste vier Stationen mit der S-Bahn bis zu diesem Fleischer fahren.“

Auf dem Rückweg zum Wohnheim kommen sie an einem kleinen Geschäft mit Haushaltswaren vorbei und suchen sich Tassen, Teller, Schneidebrettchen, Besteck für drei Personen und einen kleinen Topf aus.

Zurück im Wohnheim stellen sie fest, dass sie zwar einen Topf haben, aber nichts, was sie darin kochen könnten. Makkaroni zum Beispiel, das war immer Susis Lieblingsessen. Und sie haben nichts zu trinken, weder Saft noch Bier oder Wasser.

„Ich gehe noch einmal los“, bietet Manfred an.

„Nein!“, schreit Susi und klammert sich an Manfreds Arm. „Ich ertrage es nicht, wenn du jetzt weggehst. Außerdem haben wir Brot, Wurst und Käse zum Essen, dazu kochen wir uns einen Kaffee.“

Ewa zeigt ihnen, wie man die Kaffeemaschine bedient und muss ihnen mit Filtertüten aushelfen.

„Es lebt sich leichter in einer Mangelgesellschaft.“

„Wie meinst du das?“, fragt Manfred entsetzt.

„Wenn es keinen Käse gibt, dann kann ich eben keinen essen. Punkt. Hast du die vielen Käsesorten im Laden gesehen? Es waren mehr als hundert. Wie soll ich daraus wählen? Ich habe das Wählen nie gelernt. Mir scheint ein Leben im Überfluss weit schwieriger zu sein als eins im Mangel.“

Manfred lacht, legt seinen Arm um Susi und küsst sie. „Dummchen. Das war heute unser erster Einkauf. Ich bin mir sicher, wir werden uns schnell an den Überfluss gewöhnen.“

Susi nickt. „Wir haben ein Zimmer für uns ganz allein, das ist echter Luxus. In Hoheneck waren wir 18 Frauen in Dreistockbetten in der Zelle und hatten nur zwei Klos. Zum Glück mit Spülung. Bis vor zwei Jahren mussten sie auf Eimer gehen. Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte.“

Manfred verzieht das Gesicht. „Es ist schon erstaunlich, was der Mensch so alles aushält, wenn er es muss.“ Seine Stimme ist sehr ernst. Dann strafft er sich und erzählt: „Wir waren zu zwölft und hatten ebenfalls Dreistockbetten, aber im Gegensatz zu euch sogar Tische und Stühle in der Zelle.“

„Weißt du, was das Allerschönste ist?“ Susi strahlt Manfred an. „Ich kann die Türen öffnen und auch schließen.“ Wie zum Beweis springt sie auf, reißt die Tür weit auf und schließt sie wieder. Dann drückt sie mehrmals die Klinke auf und nieder und freut sich darüber wie ein kleines Kind.

Manfred ergänzt: „Und das Licht an- oder ausschalten. Wenn ich auf dem Klo sitze, kann ich hinter mir die Tür zusperren.“

„Und keiner stößt dich von der Schüssel.“ Manfred schaut wieder ernst. „Ich habe gehört, dass es bei den Frauen brutaler zugeht als bei den Männern.“

„Brutal? Nicht, wenn man sich still verhielt und der Verwahrraumältesten und ihrer Freundin aus dem Weg ging.“

„Verwahrraumälteste?“

„Der Häuptling sozusagen.“ Susi lacht, plötzlich fängt sie an zu weinen. Manfred nimmt sie in den Arm. „Du musst nicht darüber sprechen.“

„Weißt du, die hatte ihre beiden Töchter getötet, zerstückelt und durch den Fleischwolf gedreht.“ So eine Frau hatte das Kommando über 17 Gefangene, die zum großen Teil von der Sehnsucht nach ihren Kindern zerfressen wurden und oft gar nicht wussten, wo ihre Kinder lebten und ob es ihnen gut ging.

„Mörder gab es bei uns auch, aber so ein Kerl, der Kindern etwas antut, hätte bei uns keine Ruhe gehabt und schon gar nicht das Kommando.“

„Sie hat nur 20 Jahre bekommen. Ich hätte sie in Frankfurt erschießen lassen.“

„Frankfurt? Bei uns kam einer nach Leipzig zum Erschießen. Einer aus meiner Zelle hat die Todesstrafe und wartet seit sieben Jahren auf sein Ende. Seine Familie weiß gar nicht, dass er noch lebt.“

Susi schaut Manfred entsetzt an. Dann nimmt sie den Faden von vorhin wieder auf: „Wie gesagt, wenn man sich still verhielt und keine Widerworte hatte, war es auszuhalten.“

„Du konntest Widerspruch hinunterschlucken?“, wundert sich Manfred. Er kennt Susis heftiges Temperament und weiß, dass sie redet ohne nachzudenken und sich damit sehr oft in Schwierigkeiten brachte.

„Ich musste nichts hinunterschlucken, denn ich habe in mir gar keinen Widerstand gespürt. Eigentlich habe ich gar nichts gespürt, einfach funktioniert wie ein Automat. Das Nachdenken über Dinge, die man nicht ändern kann, bringt nichts. Ich wäre wohl sonst verrückt geworden in diesem Umfeld und aus Sorge um die Kinder.“ Susi seufzt. Dann strafft sie sich und fasst zusammen: „Nach einer Ohrfeige weiß man, was man falsch gemacht hat und tut gut daran, diesen Fehler nicht zu wiederholen.“

Am Abend bummeln Susi und Manfred durch die Straßen. Als sie von der Hauptstraße abzweigen, sehen sie etwas glitzern und laufen darauf zu. Es ist ein breiter Fluss, der Main, der fast träge durch die Wiesen fließt. Susi bleibt wie gebannt stehen und schaut aufs Wasser. Zwei kleine Boote schaukeln vorbei und am Rand schwimmt eine Gruppe Schwäne.

Sie spazieren in Flussrichtung und hören plötzlich Musik, Reggae-Musik. Manfred beschleunigt seinen Schritt, während Susi versucht, langsamer zu gehen. Sie weiß aus Berichten im DDR-Fernsehen, dass es im Westen ständig Überfälle gibt. Hier herrscht nicht so eine Ordnung wie im Osten. Susi möchte kein Risiko eingehen, sondern lieber zurück ins Wohnheim. Außerdem wird es bald dunkel und das ist ihr unheimlich.

Der Fluss ist nicht mehr zu hören, er wird von den Klängen der Musik übertönt. Plötzlich stehen sie mitten in einer Gruppe junger Leute, die laut schwatzend mit einem Bier in der Hand herumstehen oder einfach am Wegesrand sitzen. Einige tanzen mitten auf dem Weg. Susi strahlt und vergisst ihre Angst. Manfred geht näher heran, er will die Musiker sehen. Drei Gitarren, eine davon Bass und drei Bläser, zwei Trompeten und eine Posaune. Und viele Trommeln. Der Bass macht einen Höllenlärm und ist so etwas wie das Gegengewicht zu den anderen Instrumenten, die eher nur Rhythmus statt einer Melodie spielen. Die Trommeln verbinden das Ganze. Jetzt singt ein Bursche. Er hat eine recht hohe Stimme und seine Haare hängen in wuscheligen Locken bis über die Schulter und bedecken sogar einen Teil seines Gesichts. Susi wiegt sich im Takt und stubst Manfred an. Sie will tanzen, aber er merkt das nicht, so gebannt ist er von der Musik. Kein Mensch verlangt Eintrittsgeld von ihnen.

„Wollt ihr Bier?“, fragt ein Mädchen. Susi schüttelt den Kopf.

„Gern“, antwortet Manfred.

Das Mädchen reicht Manfred eine bereits geöffnete Flasche Bier. „65 Pfennig.“

Es ist längst Nacht geworden, als sich Susi und Manfred auf den Heimweg machen. Sie haben gut drei Stunden mit den fremden jungen Leuten gequatscht, getanzt und Bier getrunken. Nie im Leben hätten sie geglaubt, dass es hier so entspannt und friedlich zugeht. Das waren sie von Freiberg, Dresden oder Berlin nicht gewöhnt. Am meisten wundern sie sich, dass keine Polizei kam, um die jungen Leute auseinander zu treiben.

Am nächsten Morgen nehmen sich Susi und Manfred ihren Laufzettel vor. Sie gehen am Main entlang bis in die Innenstadt von Offenbach. Dort lassen sie Passfotos anfertigen, beantragen ihre Personalausweise, sprechen im Sozialamt, Arbeitsamt, Schulamt und im Flüchtlingsamt vor. Fast überall erhalten sie einen ganzen Stapel Formulare, die sie ausfüllen und in den nächsten Tagen mitsamt diverser Nachweise persönlich abgeben sollen. Erst am späten Nachmittag verlassen sie die letzte Amtsstube. Wann und auf welchem Weg ihre Kinder übersiedeln, erfahren sie nicht.

Auf dem Rückweg ins Wohnheim nehmen sie sich Zeit und schauen sich ein wenig in der Stadt um. Sie gehen in ein Kaufhaus und suchen zuerst die Abteilung mit den Kindersachen auf. Susi ist überwältigt von den unzählig vielen Pullis und Hosen, sogar Jeans sind dabei. Es gibt Kinderkleidung in allen erdenklichen leuchtenden Farben und Mustern, zum Teil mit lustigen Tiermotiven darauf. Susi springt begeistert von einem Stand zum nächsten. Sie kann sich einfach nicht entscheiden, was ihren Kindern wohl am besten gefallen würde. Schließlich wählt sie einfarbige Baumwollshirts und Pullis aus kuschelweichem Nickistoff, der sich wie Samt anfühlt. So etwas hatte sie noch nie zuvor in ihren Händen. Für alles zusammen bezahlt sie nicht einmal dreißig Mark. In Berlin hätte all das ein Vermögen gekostet, falls es jemals zu bekommen gewesen wäre.

Für sich selbst kauft Susi eine grüne Sommerbluse, Manfred sucht sich einen dünnen blauen Pulli aus.

Im Wohnheim liegt ein Paket auf ihrem Tisch. Absender: Petersen aus Westerland.

„Das muss Vatis Schwester sein. Meine Tante!“ Susis Vater hat sechs Schwestern. Drei davon leben im Osten und drei im Westen Deutschlands. Susi kennt nur ihre drei Tanten aus dem Osten. Sie greift nach dem Paket und will das Packpapier aufreißen, aber Manfred hält sie zurück. „Sei vorsichtig! Wir können die Schnur und das Papier für das Paket an die Kinder verwenden.“

Susi nickt. Daran hat sie in der Aufregung gar nicht gedacht. Im Paket sind Kaffee, Käse, eine Wurst, Kekse, Schokolade, je zwei T-Shirts für Susi und Manfred und ein Brief.

Liebe Susi, lieber Manfred – wir heißen Euch sehr herzlich in Deutschland willkommen undhoffen, dass es Euch gut geht. Solltet Ihr etwasbrauchen, ruft uns einfach an. Viele liebe Grüße von Tante Trautchen.

„Das ist aber lieb!“, ruft Susi begeistert aus.

„Ich kenne deine Tante gar nicht.“

„Ich eigentlich auch nicht“, entgegnet Susi.

„Alles, was ich über sie weiß, weiß ich von meiner Oma. Tante Trautchen wohnt auf der Insel Sylt mitten in der Nordsee. Ich habe sie und ihre Familie nur auf Fotos gesehen, die mir meine Oma gezeigt hat.“

„Und woher kennt sie unsere Adresse?“

Susi zuckt mit der Schulter. „Keine Ahnung.“ Plötzlich fällt ihr das Gespräch im Chemnitzer Transport-Gefängnis ein. „Der Vernehmer wollte wissen, ob ich nach der Entlassung zu Frau Petersen gehe. Er sagte, sie stünde in meinen Akten als Kontaktperson. Ich habe lange darüber nachgedacht, konnte mir das aber nicht erklären.“

Susi verpackt die eben gekauften Sachen für die Kinder im ausgeleerten Paket von der Tante, adressiert es und bringt es zusammen mit Manfred zur Post. Dort kann sie mit der Tante telefonieren. Das ist ganz einfach. Es gibt für jede große Stadt und deren Umgebung ein extra Buch, in dem alphabetisch alle Leute, die ein Telefon besitzen, aufgeführt sind. Außerdem gibt es eine Liste mit Vorwahlnummern. Offenbar ist diese Vorwahlnummer immer gleich, man kann sie von Offenbach aus genauso verwenden wie zum Beispiel von Hamburg oder München. Das war in der DDR anders. Von jedem Ort aus gab es andere Vorwahlnummern, die nicht offiziell bekannt gegeben wurden. Man musste jedes Ferngespräch anmelden und sich verbinden lassen.

Susi bedankt sich bei Tante Trautchen für die vielen schönen Sachen.

„Woher weißt du, wo wir sind?“

„Dein Anwalt hat uns informiert, dass ihr aus dem Gefängnis entlassen seid. Die genaue Adresse haben wir vom Notaufnahmelager.“ Susi ist derart überrascht, dass ihr keine der vielen Fragen einfällt, die sie der Tante unbedingt stellen wollte.

„Telefonieren ist teuer. Das erklärt dir alles Lore, wenn sie euch besucht“, beendet Trautchen das Gespräch.

„Lore will uns besuchen“, berichtet Susi.

„Wer ist das denn?“, will Manfred wissen.

„Auch eine Schwester meines Vaters. Du weißt ja, dass er elf Geschwister hat. Vier davon leben im Westen.“

„Und wo lebt Lore?“

„Ich glaube, an der Ostsee. Ich kann sie nicht einmal anrufen, weil ich ihren Nachnamen nicht kenne.“

Susis Vater pflegte keinen Kontakt zu seinen Geschwistern im Westen. So ein Kontakt war nicht gern gesehen und er wollte im Betrieb keine Schwierigkeiten. Zum 75. Geburtstag seiner Mutter sah er alle elf Geschwister wieder. Die meisten hatten ihre Partner und Kinder mitgebracht. Alle zusammen feierten ein großes Fest im Gemeindesaal. Dieser Gemeindesaal war der erste Ort, wo die große Familie nach ihrer Vertreibung aus Pommern bleiben durfte. Im Dorf fanden sie Ruhe, eine Wohnung und ein neues Leben. Die Oma und fünf ihrer Kinder wie auch Susis Eltern wohnen noch heute mit ihren Familien in diesem Dorf bei Freiberg in Sachsen.

Auch Susi war mit ihrer Familie bei diesem großen Fest dabei. Allerdings hatte sie nur

Augen für ihre kleine Tochter Anett, die kurz vorher aus der Leipziger Kinderklinik entlassen worden war, wo sie ihre ersten zehn Lebensmonate verbringen musste. Susi war nervös, da ihr Baby kaum mehr als sechs Kilogramm wog und sie immer in Angst lebte, ihrem Kind könnte etwas schlimmes passieren. Deshalb kümmerte sie sich nicht um Omas viele Kinder und Enkel, sondern verließ mit ihrem kranken Baby im Arm die Feier recht bald.

Und nun kann sie sich nicht einmal mehr an den Familiennamen von ihrer Tante Lore erinnern.

Einige Tage später liegen zwei Telegramme auf dem Tisch. Susi reißt das erstbeste hektisch auf. Wir besuchen Euch Dienstag 28. Juli Lore.

„Das ist ja morgen!“, ruft sie aus.

Manfred liest laut das zweite Telegramm. „Bin morgen zehn Uhr in Offenbach. Uwe.“

„Mein Bruder ist frei!“, jubelt Susi.

Uwe war vor einem Jahr zusammen mit Susi und Manfred verhaftet worden, als sie gemeinsam mit den Kindern die grüne Grenze zwischen Bulgarien und Jugoslawien übertreten wollten. Und nun ist er zwei Wochen später als Susi und Manfred freigekauft worden und bald wieder mit ihnen zusammen.

Manfred geht zu Fuß zum Bahnhof, um Uwe abzuholen, während Susi auf Tante Lore wartet. Lore stürmt durch die Tür, greift nach Susi und umarmt sie herzlich.

„Ich freue mich so. Wie geht es dir? Erzähle!“

„Du erdrückst das Mädchen noch“, ertönt eine tiefe freundliche Stimme. Ein großer stattlicher Mann schiebt Lore zur Seite. „Lass mich erst einmal Guten Tag sagen. Ich bin der Julius, Lores Mann.“

„Setzt euch!“, fordert Susi ihren Besuch auf. Sie hatte die beiden Stühle aus der Küche ins Zimmer geholt. Ewa kommt mit Tassen und einer Kanne Kaffee herein. Sie stellt alles auf den kleinen Tisch und verschwindet schnell wieder.