Ein Jahr im Mehrfamilienhaus - Petra Weise - E-Book

Ein Jahr im Mehrfamilienhaus E-Book

Petra Weise

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Beschreibung

Seit ihrer Rente hat Beate Wenzel viel Zeit, ihre neuen Nachbarn zu beobachten. Kein Tag ist wie der andere, denn in diesem einen Jahr passiert unglaublich viel: Tod, Scheidung, Feiern, Streit, Freud und Leid ... und die Liebe.

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Leben heißt Beobachten

Plinius der Ältere

Nur wer betrachtet,

lernt auch zu sehen.

Martin Gerhard Reisenberg

Inhalt

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Dezember

Januar

Zuerst packe ich die großen Figuren ein: mehrere Nussknacker, Bergmann und Bergengel, die seit dem ersten Advent im Fenster stehen. Der Bergmann steht für meinen Sohn, der Engel für meine Tochter, obwohl meine Tochter nun wirklich kein Engel ist. Äußerlich ähnelt sie eher einem Pferd mit ihrem langgezogenem Gesicht, den schmalen Schultern, den überbreiten Hüften und den dicken Schenkeln. Ich weiß nicht, von wem sie das hat. Von mir jedenfalls nicht! Auch ihre Haare sind hart wie die Mähne eines Pferdes und stehen wild nach allen Seiten ab. Vom Wesen her ist sie stur wie ein Esel und bellt wie ein nerviger Hund, weil sie ständig wütend ist. Wütend auf alles, was ich mache oder nicht mache und vor allem auf meine Traditionen, die sie für rückständig hält und mich als ewig Gestrige beschimpft.

Sicher bin ich nicht so, wie sich meine Tochter einen modernen Menschen vorstellt. Aber das ist mir gleichgültig. Ich bin Rentner und muss niemandem gefallen und kann machen, was und wann ich mag.

Und ich mag besonders die erzgebirgische Adventszeit mit ihren Räuchermännchen, Pyramiden, Schwibbögen und geschmückten Tannenzweigen.

Doch heute ist der 6. Januar und ich muss die ganze wunderbare Pracht wieder einsammeln, vorsichtig einwickeln, in Kisten verpacken und auf den Kleiderschrank wuchten. Besonders lange betrachte ich den Bergmann, den ich mir selbst zum Advent schenkte. Aber ich will nicht die Zeit vertrödeln und endlich fertig werden.

Als ich den Schwibbogen vom Fensterbrett heben will, sehe ich draußen im Hof Holm, der im Stockwerk über mir wohnt. Er räumt Koffer in sein Auto und will offenbar verreisen. Sein großer dunkelblauer BMW ist immer tiptop sauber und gepflegt. Der ganze Mann wirkt wie aus dem Ei gepellt, immer ordentlich frisiert, tadellos gekleidet mit Hose, Hemd, Jacke, Mantel und Hut. Nie läuft er ungepflegt herum in zerrissenen Jeans wie die jungen Leute heutzutage. Dabei hat er gar keine Frau, die sich um ihn kümmert, bei ihm putzt und seine Wäsche macht, sondern lebt allein. Holm ist mir der liebste Nachbar, ruhig und sauber. Und er feiert nicht, zumindest nicht in seiner Wohnung. Das ist mir sehr angenehm, weil ich ein gutes Gehör habe und es gar nicht mag, wenn man über meinem Kopf herumtrampelt.

In meiner früheren Wohnung lebte ein junges Paar über mir, das viel Sport machte. Ich weiß, dass ich das Hüpfen und Springen nicht hätte dulden müssen, doch ich wollte keinen Streit. Die Wohnung war derart hellhörig, dass ich jeden Schritt hörte, manchmal meine Deckenleuchte wackelte oder die Gläser in der Vitrine.

Holm dagegen verhält sich immer ruhig, grüßt freundlich und bleibt gern auf ein Wort stehen. Nicht jeder hat Lust, sich mit mir zu unterhalten, obwohl ich zu jedem freundlich bin, die Pakete annehme und die Blumen gieße, wenn sie im Urlaub sind. Die meisten gehen arbeiten und haben keine Zeit für einen Schwatz mit mir. Holm nimmt sich die Zeit. Er arbeitet bei der Sparkasse, ein wirklich feiner Herr.

Ich öffne das Fenster und rufe hinaus: „Wo soll´s denn hingehen?“ Holm winkt mir freundlich zu und sagt, dass er leider demnächst ausziehen muss, was er sehr bedauert.

„Aber warum in Gottes Namen?“

„Die Bank schickt mich nach Amerika.“

„Gibt es dort auch Sparkassen?“

„Aber ja! Ganz viele und besonders große.“

Mir war schon immer klar, dass Holm schnell Karriere machen wird. Sogar nach Amerika schicken sie ihn, was mich sehr beeindruckt. Aber er wird mir fehlen.

„Kann ich etwas helfen?“

„Aber nein. Das regelt alles die Umzugsfirma.“

„Wann kommt denn der Möbelwagen?“

„Nächste Woche schon.“

Die Woche vergeht, doch die Umzugsfirma kam nicht. Ich habe mich extra beeilt, wenn ich mal kurz beim Friseur oder einkaufen war, um sie nicht zu verpassen. Leider habe ich Holms Handynummer nicht, weshalb ich ihn nicht anrufen und nach dem neuen Termin fragen kann. Ich will nicht, dass etwas schief geht und Holm unnötig lange auf seine Möbel warten muss. Wie lange dauert eigentlich so ein Transport über den großen Teich? Eine Woche oder gar drei?

Manchmal höre ich oben in der Wohnung das Telefon läuten. Vielleicht weiß einer seiner Freunde nicht, dass er fortgezogen ist. Nach Amerika.

Als das Telefon wieder klingelt, merke ich, dass gleichzeitig auch die Klingel an seiner Tür läutet. Schnell öffne ich das Küchenfenster und schaue hinaus. Draußen steht eine junge Frau, die besorgt abwechselnd nach oben und auf ihr Handy guckt. Weiß sie nicht, dass Holm befördert wurde und nun in Amerika lebt?

Ich möchte ihr helfen und rufe hinaus: „Guten Tag!

Sie wollen zu Herrn Böhm?“

„Ja, aber er öffnet nicht.“

Natürlich nicht, er ist in Amerika.

„Ich bin eine Kollegin“, fügt sie hinzu.

Eine Kollegin? Das glaube ich nicht, denn als seine Kollegin wüsste sie, dass Holm befördert wurde und nun in Amerika lebt. Sie hat mich also angelogen, was ich überhaupt nicht vertrage. Am liebsten würde ich das Fenster sofort wieder schließen, doch das wäre unhöflich.

„Wissen Sie, ob er vielleicht krank ist?“

„Nein. Ich meine, ich weiß, dass er nicht krank ist.“

„Aber wo ist er dann?“ Ich sage ihr nicht, dass er nach Amerika gegangen ist, aber ich sage ihr, dass er nicht mehr hier wohnt.

Irritiert und ziemlich bekümmert schaut mich die junge Frau an. Sie tut mir leid. Wer sie wohl ist? Wäre sie seine Kollegin, wüsste sie von seiner Beförderung. Wäre sie seine Freundin, wüsste sie es auch. Holm hatte nie Damenbesuch. Dabei ist er so ein feiner und kultivierter Mann. Er sieht auffallend gut aus und ist immer freundlich. Solch einen Mann wünscht sich jede Frau. Zum Essen ging er immer aus, was ich gut verstehen kann. Schließlich isst man nicht gern allein, es schmeckt nicht halb so gut wie in Gesellschaft. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Schon das Kochen ist mehr Last als Lust, weil sich der Aufwand für eine einzelne Person nicht lohnt. Ich bin mit einem Spiegelei auf Brot oder mit zwei Kartöffelchen zufrieden. Aber so ein junger Mann braucht kräftige Kost, zum Beispiel ein Schnitzel mit Bratkartoffeln oder ein Steak mit Speckbohnen.

*****

Eine Woche später komme ich bepackt vom Einkauf. Viel brauche ich nicht, doch heute habe ich einen Ritterstern mitgebracht und hoffe, dass die Blüten aufgehen. Seit die Tannenzweige weg sind, sieht meine Stube direkt kahl aus.

An der Haustür muss ich den Topf und die Tasche absetzen, um den Schlüssel herauszunehmen und aufzusperren. Plötzlich stehen zwei Polizisten neben mir, einer links und einer rechts.

„Zu wem wollen Sie?“

„Gehen Sie in Ihre Wohnung!“, bellt einer der Männer.

Nun hört sich doch alles auf! Ich werde wohl noch fragen und eine Antwort erwarten dürfen! Als ich aufgesperrt habe, gehen die Uniformierten forsch an mir vorbei und ich denke noch so, dass sie mir den Vortritt lassen müssten. Schließlich bin ich mehr als doppelt so alt wie sie.

Ich lausche in den Hausflur und höre zuerst mehrfaches Klingeln und dann lautes Schlagen gegen Holz.

„Polizei! Öffnen Sie die Tür!“

Sie klopfen eindeutig gegen Holms Wohnungstür.

Wann kommt die Polizei ins Haus? Immer bei einem Todesfall. Vermutlich ist jemand aus Holms Familie gestorben.

Eilig steige ich die Treppen hinauf und sage den Beamten, dass Herr Böhm jetzt in Amerika lebt.“

„Hat er Ihnen das gesagt?“, fragt einer der Polizisten und schiebt mich zurück zum Treppenabsatz.

„Natürlich hat er das!“, gebe ich empört zurück.

Glaubt der Mann, ich denke mir so etwas aus?

„Wann?“

Was meint er mit wann? Wann er befördert wurde? Oder wann er umgezogen ist?

„Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“

„Vor fast zwei Wochen. Freitag war´s, das weiß ich noch. Da ist er weg, hat noch Koffer in sein Auto getragen.“

„Koffer sagen Sie? Nach Amerika wollte er?“

„Fragen Sie doch bei seiner Bank!“, empfehle ich.

„Die wissen, wo er jetzt arbeitet.“

Die Männer werfen sich einen verstehenden Blick zu.

„Mich wundert nur, dass der Möbelwagen noch nicht hier war.“

„Welcher Möbelwagen.“

„Herr Böhm hat nur Kleider mitgenommen, die Möbel sollten später abgeholt werden, eigentlich bereits letzte Woche. Doch bis jetzt war der Möbelwagen noch nicht hier.“

Holm wird seine Möbel brauchen.

„Besitzen Sie einen Schlüssel zur Wohnung?“

„Nein. Was ist denn passiert? Ist jemand aus seiner Familie gestorben?“

Wieder schauen sich die zwei Männer an und einer sagt: „Nichts ist passiert.“

Mir ist schleierhaft, was die Polizei von ihm will. Er hat mit Sicherheit nichts Unrechtes getan. Auf gar keinen Fall. Doch ich komme nicht mehr dazu, das klarzustellen.

„Wir haben hier nichts mehr zu tun. Gehen wir!“, fordert einer der Männer.

„Was wollen Sie denn von Herrn Böhm?“

Doch darauf erhalte ich keine Antwort.

Was kann die Polizei nur von Holm gewollt haben? Mir lässt das die ganze Nacht über keine Ruhe. Soviel ich auch nachdenke, ich kann mir keinen Reim auf das Ganze machen.

Gleich am nächsten Morgen steige ich die Treppe hinauf zu Frau Köhler. Sie ist Psychotherapeutin und seit zwei Jahren in Rente. In ihren ehemaligen Praxisräumen wohne nun ich und konnte sogar ihr Sofa, die beiden Stuhlsessel und den Couchtisch übernehmen, weil sie es nicht mehr brauchte und ich kein Geld für neue Möbel hatte. Nur ein neues Bett habe ich mir geleistet mit einer besonderen Matratze, die einen hohen Liegekomfort garantiert. In meinem Alter sollte man daran denken, dass man künftig mehr Zeit im Bett verbringt als bisher, weshalb eine gute Matratze wichtig ist.

In meiner Wohnung fühle ich mich richtig wohl. Ich wusste gar nicht, wie wichtig so eine Mauer um das Bett und die Küche sein kann. Jahrelang fühlte ich mich eingeengt, obwohl ich früher viel mehr Platz hatte als jetzt in diesem einen Zimmer mit der winzigen Küche und dem Bad. Ich weiß nicht, woran das liegt. Weil ich zur Ruhe gekommen bin? Oder weil diese Bleibe genau zu mir passt?

Obwohl ich so gern koche, reicht mir die kleine Küchenzeile völlig aus, schließlich lebe ich allein und habe kaum noch Gelegenheit, für andere zu kochen. Meine beiden Kinder sind erwachsen und besuchen mich höchst selten. Karla lebt in Berlin und Olaf hat kaum Zeit, weil er viel arbeitet und zwei kleine Kinder hat.

Frau Köhler lebt ebenfalls allein. Mir wären drei Räume für mich allein zu viel. Manchmal kommt ihr Sohn mit dem Enkel. Mehr weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie Psychologin ist und sich deshalb mit den Menschen und ihren Problemen auskennt. Vielleicht kann sie mir sagen, was die Polizei von Holm wollte.

„Der Holm ...“

„Herr Böhm?“

Ich nicke.

„Gestern hat die Polizei bei ihm geklingelt.“

„Warum das?“

„Das weiß ich nicht.“

„Ich hatte den Eindruck, dass sie kurz davor waren, die Tür zu Holms Wohnung aufzubrechen.

Erst, als ich ihnen sagte, dass er ausgezogen ist ...“

„Ausgezogen? Ich habe gar nichts gemerkt von einem Umzug. Und verabschiedet hat er sich auch nicht.“

Das ist wirklich seltsam. Wenn ich nicht zufällig aus dem Fenster geschaut hätte, wüsste auch ich nicht, dass er befördert wurde und jetzt in einer amerikanischen Bank arbeitet. Solch ein plötzliches Verschwinden ist nun wirklich ungehörig. Wenn man in einem Haus wohnt, verabschiedet man sich von den Mietern und schleicht sich nicht heimlich davon. Das ärgert mich jetzt.

Frau Köhler bittet mich in ihre Küche und zeigt mit der Hand auf einen Stuhl, auf den ich mich wie erschöpft sinken lasse.

„Wissen Sie, der Holm hat mehrere Koffer in sein Auto getragen und gesagt, dass er nach Amerika geht.“

„Nach Amerika?“, wundert sich Frau Köhler.

„Jaja! Er ist befördert worden“, berichte ich stolz.

Ich bin wirklich stolz auf diesen jungen Mann, dem ich seinen Erfolg von Herzen gönne.

„Kein Wunder, nicht wahr? Er war immer so adrett gekleidet und freundlich.“

Frau Köhler nickt.

„Entschuldigen Sie, ich bin etwas durcheinander und verstehe nicht, weshalb die junge Frau fragte, ob er krank wäre.“

„Welche junge Frau?“

„Seine Kollegin. Sie sagte, sie sei seine Kollegin.“

„Dann hätte sie von der Beförderung gewusst“, überlegt Frau Köhler laut.

„Genau. Das hat mich auch gewundert. Doch am meisten mache ich mir Sorgen wegen der Polizei. Was wollten sie von Holm? Ich habe sie gefragt, aber ich bekam keine Antwort. Als ich ihnen sagte, Herr Böhm lebt jetzt in Amerika und bald werden die Möbel abgeholt, gingen sie plötzlich fort. Verstehen Sie das?“

Frau Köhler denkt nach. Lange.

„Ich vermute, dass sich der junge Mann abgesetzt hat.“

„Wie meinen Sie das?“, frage ich aufgebracht.

„Nehmen wir mal an, Herr Böhm ist unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben.“

„Das glaube ich nicht!“, rufe ich empört aus. „Nicht bei unserem Holm. Er war immer sehr korrekt.“

„Es ist ja auch nur eine Vermutung, weil diese Kollegin so besorgt war.“

„Vielleicht war sie gar keine Kollegin. Doch was hat das mit der Polizei zu tun?“

Ich verstehe überhaupt nichts mehr.

„Ob es nun eine Kollegin war oder nicht, sie wird ihn vermisst und vielleicht angerufen haben.“

Mir fällt ein, dass ich tatsächlich öfter ein Klingeln hörte.

„Und weil Herr Böhm weder auf Arbeit noch daheim erreichbar war, hat die junge Frau befürchtet, er hätte einen Unfall gehabt oder läge verletzt und hilflos in seiner Wohnung. Deshalb hat sie die Polizei gebeten, nachzuschauen.“

„Aber warum sind die dann nicht in die Wohnung gegangen?“

„Weil Sie ihnen gesagt haben, dass Herr Böhm mit dem Auto und vollgepackten Koffern davongefahren ist. Also gibt es keinen Unfall oder gar Toten.“

„Toten? Gott bewahre!“

„Wenn er etwas angestellt hätte, hätten sie vermutlich die Tür aufgebrochen und die Wohnung durchsucht.“

„Was soll er denn angestellt haben?“

„Arbeitet er nicht bei der Bank?“

„Wie meinen Sie das?“, frage ich empört.

Glaubt sie etwa, Herr Böhm ist ein Dieb? Er doch nicht!

„So ein feiner Mensch lässt sich nichts zuschulden kommen!“, sage ich sehr bestimmt. „Er ist immer sauber und akkurat und läuft nicht mit zerrissenen Jeans herum wie die jungen Leute über Ihnen.“

Frau Köhler lächelt.

„Ja, heute ist vieles anders.“

Je länger ich darüber nachdenke, desto logischer erscheint mir, was die Psychologin vermutet. Doch es bringt mich nicht weiter. Auf jeden Fall werde ich die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Doch wo und bei wem kann ich mich erkundigen? Ich weiß nicht, ob Herr Böhm Familie hat und schon gar nicht, wo ich diese finde.

Herr Böhm ist ausgezogen, doch seine Möbel sind noch hier. Wenn nun ein neuer Mieter einziehen will? Vielleicht schon zum ersten Februar?

Das bringt mich auf die Idee, die Verwaltung anzurufen. Dabei erfahre ich, dass Herr Böhm tatsächlich die Wohnung gekündigt hat und am nächsten Dienstag den Schlüssel übergeben wird.

Das wird knapp. Dann hätten die Möbelpacker nur noch drei Tage und ein Wochenende Zeit zum Ausräumen. Außerdem muss ein Maler alle Räume weiß streichen, bevor die Wohnung übergeben werden kann. So steht es im Mietvertrag.

*****

Dienstag. Heute soll der Schlüssel übergeben werden. Ob Holm extra dafür aus Amerika kommt? Oder erledigt das ein Freund? Doch es wird Ärger geben, weil die Möbel noch immer in der Wohnung stehen. Hoffentlich meldet sich Holm bei mir, um sich ordentlich zu verabschieden. Ich werde ihm von der Polizei erzählen und dass sie nahe dran waren, sich gewaltsam Zutritt in seine Wohnung zu verschaffen.

Hat die Frau von der Verwaltung eine Uhrzeit genannt? Ich glaube nicht. Also muss ich heute besonders aufmerksam sein.

Eigentlich bin ich immer aufmerksam und niemals nachlässig. Was ich auch mache, ich konzentriere mich mit all meinen Sinnen darauf. Manchmal sitze ich eine Stunde oder auch zwei am Fenster und schaue hinaus. Aber ich schaue nicht nur so vor mich hin. Ich beobachte. Ich sehe die Menschen, die mit ihren Taschen am Arm vom Einkauf kommen, ihren Hund spazieren führen oder ihr Kind zum Kindergarten bringen. Ich merke, wenn sich ein Nachbar etwas mühsamer als sonst vorwärts schleppt oder wenn sich ein neues Paar gefunden hat. Manche halten das für gewöhnliche Neugier, dabei ist es ehrliches Interesse an meinen Mitmenschen. Ich stehe immer in direkter Beziehung zu meinem Umfeld, zu meinem Gegenüber und gehe niemals achtlos an jemandem vorbei.

Es klingelt. Die Frau von der Verwaltung steht vor mir.

„Ich warte seit einer halben Stunde, doch Herr Böhm ist noch immer nicht erschienen. Hat er sich bei Ihnen gemeldet?“

„Nein. Leider nicht.“

„Ich habe eine Bitte. Wären Sie so nett und rufen mich an, falls sich Herr Böhm meldet? Ich muss zu einem weiteren Termin und kann nicht länger warten.“

„Das mache ich gern“, versichere ich.

*****

Doch Holm meldet sich nicht, weder bei mir noch bei der Verwaltung. Deshalb lässt sie drei Wochen später die Tür aufbrechen.

Natürlich bin ich sofort nach oben gestiegen, als ich den Lärm hörte und vor Schreck fast rückwärts wieder die Treppe hinunter gestürzt. Keinen einzigen Schritt kann man in Holms Flur treten, weil auf dem Boden Beutel, Zeitungen und unzählige Flaschen liegen. Ein scheußlicher Anblick. Wer kann das nur getan haben? Waren Einbrecher am Werk, die die verlassene Wohnung ausrauben wollten? Aber warum hinterlassen sie eine derartige Verwüstung?

Doch es kommt noch schlimmer!

In der Küche türmen sich auf dem Tisch, dem Herd und dem Boden schmutziges Geschirr, prallvolle Einkaufstüten, mit Speiseresten verklebte Töpfe und unzählige volle und leere Flaschen. Der Kühlschrank steht halb offen und lässt sich wegen dicker Eisschichten, die aus seinem Inneren quellen, nicht schließen. Ins Eis eingeschlossen sind verdorbene Lebensmittel.

Völlig geschockt bleibe ich im Türrahmen stehen und begreife, das dieses Chaos keine Einbrecher verursacht haben.

Im Schlafzimmer liegen wild verstreut Hemden, Hosen, Jacken und Wäsche. Und dazwischen wieder Flaschen über Flaschen. Wo hat der Mensch nur gelegen? Mitten in all diesem Müll? Die Bettwäsche ist starr vor Schmutz.

Auch in der Wohnstube gibt es keinen Platz, wo man sich hinsetzen könnte, denn jedes Fleckchen ist mit Papieren, Zeitungen, Kleidern, Joghurtbechern und natürlich Flaschen belegt.

So kann man doch nicht leben! Wo hat sich Holm gewaschen? Das Waschbecken ist kaputt, in der Wanne liegen schmutzige Handtücher und die Kloschüssel ist mit einer dunkelbraunen Kruste überzogen. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen und auch nicht für möglich gehalten. Schon gar nicht bei Holm! Wie ist das nur möglich? Er war immer sehr gepflegt, tiptop gekleidet, rasiert und außerdem stets freundlich.

„Der kann sich frisch machen!“, höre ich eine verärgerte Frauenstimme. „Den zeige ich an und präsentiere ihm die Rechnung. Unter zehn Tausender kommt der nicht davon. So eine Schweinerei!“

Vor mir steht eine zierliche Frau mit vor Zorn hochroten Wangen.

„Wie sind Sie hier hereingekommen?“, schnauzt sie mich an.

„Die Tür stand offen“, antworte ich brav. Doch schnell habe ich mich gefangen und frage barsch zurück: „Wer sind Sie überhaupt?“

„Das geht Sie zwar nichts an, doch ich bin Frau Schmidt von der Wohnungsverwaltung.“

Kann das stimmen?

„Ich kenne Sie nicht. Bisher hatte ich mit einer ganz anderen Dame zu tun.“

Die Frau winkt mit dem Arm ab. Es ist eine resignierte Bewegung.

„Das teure Türschloss ist hinüber! Hat man so etwas Abscheuliches jemals gesehen? Sie wohnen doch im Haus und wollen nichts bemerkt haben?“

Was hätte ich getan, wenn ich vom Zustand seiner Bude gewusst hätte? Ganz sicher hätte ich Holm meine Hilfe angeboten, bei ihm geputzt und nach dem Rechten gesehen. Doch er war immer so adrett und sauber. Nie im Leben hätte ich mir vorstellen können, dass er zwischen Schmutz und Müll haust.

„Herr Böhm war ein ausgesprochen angenehmer Nachbar, sehr zuvorkommend und gepflegt. Ich kann mir nicht vorstellen … wirklich nicht … tut mir leid.“

Mir fehlen die passenden Worte. Sicher gibt es gar keine passenden Worte. Ich habe genug gesehen und will nur noch zurück in meine Wohnung.

Am Treppenabsatz bleibe ich stehen und lehne mich gegen die Wand. Vor meinen Augen dreht sich alles und ich fürchte zu stürzen. Plötzlich umfasst jemand ganz sanft meine Schulter.

„Kommen Sie! Sie wohnen unten im Erdgeschoss, nicht wahr?“

Ich nicke.

„Mein Name ist Friedrich, Ralf Friedrich. Ich habe im letzten Jahr Ihren Wasserhahn ausgewechselt. Erinnern Sie sich?“

„Wasserhahn? Welchen Wasserhahn?“

Der Mann lacht, als hätte ich etwas Lustiges gesagt. Dabei ist mir überhaupt nicht nach Scherzen zumute. Vor meiner Tür bleiben wir stehen.

„Geht es?“

Die Stimme klingt freundlich, fast mitfühlend und ich schaue den Mann an. Jetzt erinnere ich mich dunkel an den netten Herrn, der meinen Wasserhahn ausgetauscht hat. Er war nicht sehr gesprächig, doch ich fand ihn sympathisch und habe ihm noch einen Kaffee angeboten.

„Wissen Sie, ich habe so etwas noch nie gesehen und bin etwas verwirrt“, gestehe ich. „Noch dazu bei Herrn Böhm. Er wirkte auf mich besonders ordentlich und sauber, immer so fein. Ich verstehe das nicht.“

„Das kann man auch nicht verstehen.“

Herr Friedrich verabschiedet sich und verspricht, sich später noch einmal zu melden. Ich nicke dankbar, obwohl ich nicht weiß, was er noch von mir will.

*****

Die Bilder von all dem Schmutz und Unrat in Holms Wohnung gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich sehe den von Müll überladenen Boden vor mir, das schmutzige Bett, die vielen Flaschen. Wer weiß, was sich in all den Einkaufstüten verbirgt? Vielleicht Eier oder vergammelte Wurst, vielleicht sogar Ungeziefer. Das hat nichts mit Unordnung zu tun. Das ist etwas Anderes. Doch was?

Ich muss mich jemandem anvertrauen. Wieder fällt mir Frau Köhler ein. Sie ist studierte Psychologin und kann mir sicher all meine Fragen beantworten. Vermutlich ist sie an die Schweigepflicht gebunden, weshalb es sicher nicht falsch ist, wenn ich die ganze Ungeheuerlichkeit beschreibe. Außerdem hat sie mich gebeten, mich zu melden, wenn ich Neues von Holm weiß.

Ich sitze auf dem Sofa neben Frau Köhler. Zuerst fehlen mir die Worte, doch dann sprudeln sie nur so aus mir heraus. Ich beschreibe ihr jedes Detail. „Kein Mensch kann sich diesen Schmutz vorstellen!“, rufe ich aus und schüttle immer wieder den Kopf. „Dabei hielt ich ihn für einen besonders feinen Mann.“

„Herr Böhm ist offensichtlich ein Messie“, erklärt sie mir. „Solche Menschen sind nicht fähig, das Alltagsleben zu organisieren und ihre Wohnung in Ordnung zu halten. Sie verwahrlosen und haben keine Hoffnung, ihr Problem jemals in den Griff zu bekommen. Vielleicht erkennen sie ihr Chaos nicht einmal als Problem.“

„Aber wie kann man dieses unglaubliche Durcheinander nicht als Problem sehen? So kann man doch nicht leben!“

Noch immer kann ich mir den adretten Holm nicht in dieser schmutzigen Müllbude vorstellen.

„Ich habe ja schon viel gehört in meinem Leben, aber von einem Messie noch nie.“

„So selten ist das gar nicht. In Deutschland gibt es fast zwei Millionen Messies.“

Das erscheint mir äußerst unwahrscheinlich und ich schüttle entsetzt den Kopf. Ich habe mir immer eingebildet, mich mit den Menschen auszukennen, doch in Holm habe ich mich gewaltig getäuscht, weil er äußerlich so akkurat schien. Doch in Wirklichkeit war er ein … ein Schmutzfink.

„Ich wusste wirklich nicht, dass Holm solch ein schlechter Mensch ist.“

„Schlecht ist nicht das richtige Wort. Er ist ein Mensch in Not, ein kranker Mensch, einer, der in seiner Wohnung nur noch vegetieren kann.“

Er ist also krank, denke ich und seufze erleichtert. Für eine Krankheit kann er nichts. Ich kann mir nur nicht erklären, wie solch eine Krankheit entsteht. Körperlich kann es wohl nicht sein, eher seelisch, weshalb sich Frau Köhler als Psychologin so gut damit auskennt.

„Offenbar hat er keine Freunde oder Familie, die ihn besuchen und ihm helfen können“, überlege ich laut.

„Das ist nicht so einfach“, erklärt Frau Köhler. „Er hat eher Angst davor, dass jemand merkt, wie es bei ihm aussieht. Er lebt also im Dauerstress.“

Wieder habe ich die Bilder der Wohnung vor mir und mir tut mein Herz weh vor Mitgefühl mit dieser armen Kreatur. Ich stelle mir vor, wie Holm zwischen den meterhohen Haufen einen Durchgang zur Toilette, zur Küche und zum Bett sucht.

„Warum nur habe ich nichts gemerkt?“, klage ich mich selbst an. „Sicher hätte ich ihm helfen können!“

Frau Köhler zuckt mit der Schulter und ich sehe ihr an, dass sie daran nicht glaubt.

„Wie geht es nun weiter?“

„Die Verwaltung wird die Wohnung entmüllen und reinigen lassen, vielleicht neue Laminate legen und die Wände streichen lassen. Herr Böhm wird die Rechnung bekommen und bezahlen müssen.“

Frau Schmidt sprach von 10.000 Euro. Das ist unglaublich viel Geld. So viel wird Holm gar nicht aufbringen können in Amerika. Doch vielleicht ist er gar nicht in Amerika. Vielleicht hat er mich belogen und ist einfach nur verschwunden und niemand weiß, wohin. Dann wäre er doch nicht der gute Mensch, für den ich ihn immer gehalten habe.

*****

Es klingelt. Vor mir steht dieser nette Handwerker. Wie hieß er doch gleich? Frieder oder Friedrich? Mit Vor- oder Nachnamen? Ich weiß es nicht mehr.

„Gut, dass ich Sie daheim antreffe.“

Wo sollte ich sonst sein? Bei diesem Regenwetter jagt man keinen Hund vor die Tür.

„Ich werde in nächster Zeit oft hier im Haus zu tun haben und kann nicht verhindern, dass es manchmal etwas laut wird.“

Herr Friedrich erklärt, dass er WC- und Waschbecken austauschen, neues Laminat verlegen und die Wände weißeln wird.

Mich beeindruckt, dass sich dieser Mann offenbar in jedem Handwerk auskennt. Ich dagegen habe nur das Kochen gelernt.

Herr Friedrich ist zwar nicht besonders groß, doch recht stämmig, direkt kräftig. Trotz seines Alters hat er dichtes volles Haar, das allerdings komplett grau ist. Im Gegensatz dazu ist sein Vollbart kohlrabenschwarz. Ich mag keine Bärte, weil sie immer irgendwie einschüchternd auf mich wirken. Und doch hat dieser Mann etwas an sich, das mich anzieht.

Bereits drei Tage später steht am frühen Morgen ein Container im Hof und vier Männer tragen prall gefüllte Müllsäcke, Bretter und ein großes Sofa aus Holms Wohnung. Einen Sessel, ein Bücherregal und einen Schrank verstauen sie in einen Transporter. Dann sind sie verschwunden.

Am Montag darauf höre ich Schritte in der Wohnung über mir. Hin und wieder wird etwas über den Boden gezogen. Zwar bin ich nicht ängstlich, doch mich irritieren Geräusche, die ich nicht einordnen kann. Zum Glück fällt mir der Handwerker ein, der davon sprach, in nächster Zeit oben viel arbeiten zu müssen.

Zum Mittag habe ich mir einen ganzen Topf Kohlsuppe gekocht mit Speck und Kartoffeln. Obwohl ich einen besonders kleinen Kohlkopf kaufte, ist es so viel, dass ich wohl die ganze Woche davon essen muss. Ob Herr Friedrich Kohlsuppe mag? So ein Handwerker kann eine warme Stärkung sicher gut gebrauchen. Ich steige hinauf und frage ihn, ob er Kohlsuppe mag.

Überrascht schaut er mich an und zeigt auf seine Brotbüchse, die auf der Heizung liegt.

„Ihre Schnitten essen Sie einfach dazu!“, bestimme ich.

„Gut.“

„Waschen können Sie sich bei mir. Ich habe Seife und auch ein Handtuch.“

„Gut“, wiederholt er und folgt mir in meine Wohnung.

Die Suppe scheint ihm zu schmecken. Vielleicht sollte ich ihn auch morgen zum Essen einladen? In Gesellschaft schmeckt jede Mahlzeit doppelt so gut. Was er wohl gern isst? Sicher Schnitzel mit Bratkartoffeln, viel Speck und Eiern.

Am nächsten Tag habe ich Hackepeter und frische Brötchen besorgt. Das mögen die meisten Männer, sicher auch Herr Friedrich.

„Sogar mit Zwiebelringen und Gurkenscheiben drauf!“, ruft er begeistert aus, als er sich an den Tisch setzt.

Er lehnt den linken Unterarm auf die Tischplatte, greift mit der rechten Hand ein Brötchen und beißt herzhaft hinein. Er kaut langsam und bedächtig, als wolle er jeden einzelnen Krümel genießen. Ich beobachte, wie behutsam er mit seinen großen, etwas groben Händen die Tasse abstellt. In seinem Gesicht sehe ich reine Zufriedenheit. Das gefällt mir.

Vorsichtig tupft er mit einer Serviette seinen Bart ab. Am liebsten würde ich jetzt genau dort anfassen. Natürlich mache ich das nicht. Aber ich muss es tun! Wie automatisch streiche ich mit der Hand über eine dichte Wolke aus Draht. Wieso sind Haare so hart? Überrascht zucke ich zurück.

Herr Friedrich zuckt nicht. Er lacht und seine dunklen Augen blitzen dabei.

Februar

Jeden Abend und oft sogar nach dem Mittag freue ich mich auf mein Bett. Dort finde ich Ruhe und bin dankbar für mein weiches Kissen und die warme Decke. Zuerst strecke ich mich aus, dann rolle ich mich zur Seite und schlafe meist sofort ein.

Doch heute klappt das Einschlafen nicht, obwohl es bereits weit nach 23 Uhr ist. In meinen Kopf drängen sich Gedanken und Sorgen, die eigentlich gar nicht meine Sorgen sind. Ich überlege, wie es wohl Holm geht, wo er jetzt sein mag. Mir tut er leid und gleichzeitig ärgere ich mich, dass ich mich so in ihm getäuscht habe.

Ich spüre ein unangenehmes Stechen im Bauch und überlege, ob ich etwas Ungutes gegessen habe. Nein, wie immer nur eine Scheibe Brot, belegt mit Wurst und Käse, dazu eine Tasse Kräutertee und hinterher einen Eierlikör.