Reigen - wandern von einem zum andern - Petra Weise - E-Book

Reigen - wandern von einem zum andern E-Book

Petra Weise

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Beschreibung

Ein Jüngling liebt ein Mädchen, das hat einen Andern erwählt. So beginnt ein Gedicht von Heinrich Heine. Auch im Roman von Petra Weise wandert die Tragik der verschmähten Liebe von einer Person zur nächsten, alle sind irgendwie miteinander verbunden und doch wieder nicht.

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Seitenzahl: 242

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Ein Jüngling liebt ein Mädchen,

die hat einen andern erwählt;

der andre liebt eine andre,

und hat sich mit dieser vermählt.

Das Mädchen heiratet aus Ärger

den ersten besten Mann,

der ihr in den Weg gelaufen;

der Jüngling ist übel dran.

Es ist eine alte Geschichte,

doch bleibt sie immer neu;

und wem sie just passieret,

dem bricht das Herz entzwei.

Heinrich Heine

Die Kapitelüberschrift benennt den

jeweiligen Erzähler

Inhalt

Melanie

Thomas

Nina

Stefanie

Stefan

Sona

Alexander

Florian

Laura

Veit

Jennifer

Sebastian

Melanie

Wir rasen viel zu schnell über die Autobahn. Ich hasse das! Und ich hasse Reisen! Schon immer! Während meine Freundin Sarah schon immer gern in den Urlaub fährt. Am liebsten würde sie mich kreuz und quer durch sämtliche Länder schleppen, doch ich bin lieber daheim bei meinem Freund.

„Sebastian merkt gar nicht, dass du drei Tage fort bist, weil er nur auf seine Bildschirme stiert.“

„Sei nicht so gemein!“, schimpfe ich. „Er vermisst mich, kann es nur nicht so zeigen.“

Davon bin ich fest überzeugt. Er mag es nicht, wenn ich ohne ihn ausgehe, aber er hat nicht das Bedürfnis, etwas zu unternehmen und dafür seinen Computer zu verlassen.

„Sebastian ist nicht der Mittelpunkt der Welt“, stellt Sarah fest.

Immerhin ist er der Mittelpunkt meiner Welt.

„Auf jeden Fall ist es gut für dich, auch mal in ein freundliches Gesicht zu schauen und nicht in das ewig verkniffene von Sebastian.“

Wütend schaue ich hinüber zu ihr. Doch sie erwidert meinen Blick nicht und beobachtet konzentriert den Verkehr.

„Er gehört zu den Leuten, deren einziger Lebenssinn darin besteht, üble Laune zu verbreiten. Deshalb mag ihn keiner und jeder meidet seine Gesellschaft so gut es geht.“

Das stimmt so nicht. Niemand meidet Sebastian, er ist nur gern allein und hat viel zu tun am Computer. Dabei lässt er sich nicht gern stören.

Ich mag es nicht, wenn Sarah so über meinen Freund redet. Das habe ich ihr schon oft genug gesagt. Doch hier im Auto kann ich ihr nicht ausweichen und kann nur hoffen, dass sie endlich das Thema wechselt.

Sarah sagt, Sebastian sei völlig emotionslos. Das glaube ich nicht, er zeigt nur seine Gefühle nicht so offen wie Sarah. Ich wäre jedenfalls gern so wie er. Er ruht so wunderbar in sich und braucht diese Nähe nicht, die ich ständig suche und die mir immer fehlt. Er ist zufrieden mit sich selbst, während ich immer befürchte, nicht genug zu geben, damit er glücklich ist oder mich wenigstens wahrnimmt.

*****

Seit acht Jahren sind wir zusammen, Sebastian und ich, doch einen Antrag hat er mir noch nicht gemacht. Dabei ist er bereits 42 Jahre alt, vier Jahre älter als ich, und sollte längst eine Familie gründen wollen. Doch er will nichts übereilen.

„Auf den Antrag kannst du bis zum Sanktnimmerleinstag vergeblich warten!“, schimpft Sarah. „Ich will jedenfalls keinen Mann, der sich nicht entscheiden kann. Und ich will auch keinen, der nie über seine Entscheidungen spricht.“

Sarah hält Sebastian für mürrisch und sogar bösartig, weil er immer so finster schaut und nicht reagiert, wenn er etwas gefragt wird. Doch so ist er nicht. Er ist eigentlich sehr sensibel und spricht nur nicht gern über seine Gefühle. Sarah behauptet, dass er gar keine Gefühle hat. Das stimmt nicht und ich habe den Beweis dafür:

Vor vier Jahren verbrachte er ein halbes Jahr in den USA. Von dort schickte er mir jeden Tag reizende Nachrichten mit süßen Bildchen von Herzen und Rosen. Echte Blumen hat er mir allerdings noch nie geschenkt. Er ist eben kein Romantiker. Umso mehr überraschten und freuten mich seine Herz-Botschaften. Ganz offensichtlich vermisste er mich. Deshalb rechnete ich fest damit, dass er mir einen Verlobungsring mitbringt. Aber er hatte nur seine schmutzige Wäsche dabei und erzählte von all den interessanten Möglichkeiten, die er in den USA als IT-Systemelektroniker hätte. Warum ist er nicht gleich dort geblieben, wenn in Amerika alles so viel toller ist als hier in Chemnitz? Am liebsten hätte ich ihn das direkt gefragt. Doch ich freute mich, dass er zurück gekommen ist, zurück zu mir. Und immer, wenn er an seinem Computer hockt und mich gar nicht wahrnimmt, schaue ich mir auf meinem Handy all die schönen Nachrichten mit den Rosen und Herzen an. Dann weiß ich wieder, dass er mich liebt.

Mit Computern kenne ich mich nicht aus, weil ich bei der Arbeit im Pflegeheim keinen brauche. Ich habe Listen, die ich per Hand ausfülle. Darin wird zum Beispiel festgehalten, wie viel die alten Leute am Tag getrunken und ob sie Stuhlgang hatten. Die Listen sind der langweilige Teil meiner Arbeit, alles andere mache ich gern. Es sind zwar immer die gleichen Leute und die gleichen Handgriffe, doch das stört mich nicht, weil es doch immer wieder anders ist. Die meisten Alten sind sehr nett, nur ganz wenige garstig. Sie zwicken mich in Arme und Beine oder spucken mich an. Doch auch sie müssen ordentlich versorgt werden. Die meisten haben Familie, aber keinen Besuch. Sie warten und warten vergebens. Andere haben keine Familie und warten nicht. Am Ende sind sie besser dran, weil sie weniger enttäuscht sind.

Einen PC brauche ich nicht, auch nicht daheim. Sebastian dagegen hält es ohne seine Technik keine einzige Stunde aus. Er hat nur Augen für seine vier Bildschirme und zwei Handys, seine Hände tippen und wischen in einem unglaublichen Tempo über die Tastatur. Nur sein Mund bleibt verschlossen.

*****

Sebastian stammt aus einem sogenannten guten Elternhaus. Er hat keine Geschwister, dafür bereits im Grundschulalter seinen ersten Computer bekommen, an dem er seine gesamte Freizeit verbrachte.

Ich habe vier Geschwister, eine ältere Schwester und drei jüngere Brüder. Wir besaßen keinen Computer, eigentlich überhaupt kein Spielzeug. Doch das störte uns nicht, denn wir rannten bis spät an Abend draußen herum. Meine Schwester hat einen anderen Vater als meine Brüder und ich, den sie zwar nie kennenlernte, auf den sie sich aber viel einbildet. Dabei weiß sie nicht einmal seinen Namen, behauptet aber, er sei ein amerikanischer GI. Offenbar glaubt sie, das sei etwas Gutes.

Mein Vater war Schlosser. Er fand Kinder nie interessant und verließ unsere Mutter kurz vor ihrem

40. Geburtstag für eine viel jüngere Frau. Mutter war ihm zu alt und durch die fünf Geburten nicht mehr so knackig wie seine neue Kindfrau. Offenbar hatte er völlig ausgeblendet, dass er zwölf Jahre älter war als Mutter. Ein Jahr später ist er gestorben und Mutter schimpfte, dass dieser Dreckskerl sie um die Witwenrente betrogen habe. Seine Weibergeschichten waren ihr gleichgültig, aber das Geld hätte sie gut brauchen können.

Wenn Vater nach Hause kam, stellte er den Fernseher an, ließ sich ein Bier bringen und sah stundenlang Sport. Wehe, wenn ihn einer dabei störte! Ansonsten hielt er sich lieber im Wirtshaus auf als daheim. Mich hat das nie gestört. Ich war sogar froh, als er überhaupt nicht mehr kam. Meine Brüder reagierten ganz verschieden auf sein Verschwinden: der Älteste ist wie Vater, der Jüngste kommt irgendwie mit dem Leben nicht zurecht, der Mittlere arbeitet heute als Zahnarzt in einer eigenen Praxis. Er ist auch der Einzige von uns, der verheiratet ist und Kinder hat und mit ihnen in den Urlaub oder in einen Freizeitpark fährt.

Ich kannte so etwas nicht. Erst Sarah schleppte mich ins Kino, ins Hallenbad, zu Konzerten und in fremde Gegenden. Durch Sarah habe ich gemerkt, wie groß meine Heimatstadt Chemnitz ist und wie viel es in ihr zu sehen gibt. Wir haben eine Oper, Ballett, Philharmonie, Schauspiel, mehrere Kinos, Hallenbäder, viele Museen, Ausstellungen, Gasthöfe, Parks und was weiß ich nicht alles.

*****

Sarah sitzt am Steuer. Die Fahrt mit ihr ist ein reiner Genuss, denn sie fährt ruhig und entspannt, zwar schnell und zügig, aber keineswegs so hektisch wie Sebastian. So wenig er daheim den Mund aufmacht, so oft tut er es im Auto. Er fährt forsch und angriffslustig, weicht grundsätzlich nie aus und flucht und schimpft ohne Pause auf die Deppen auf der Straße. Mich packt jedes Mal die reine Angst, dass er in seiner üblen Laune einen Unfall baut.

Doch diese Angst darf ich mir nicht anmerken lassen, weil ihn das noch wütender macht. Deshalb schweige ich lieber.

Mit Sarah ist das anders. Sie lacht und plappert und wirkt trotzdem gelassen. Bei ihr fühle ich mich sicher.

„Hast du einen heißen Fummel zum Ausgehen eingepackt?“, fragt sie und zwinkert mir zu.

Heißer Fummel. Ich trage wie immer Jeans und ein einfarbiges blaues Shirt. Das findet Sarah langweilig. Mir gefällt´s. Dafür mag ich es nicht, wenn sie in schreiend grellen Farben daherkommt und auffällt wie ein bunter Hund. Die Leute schauen sich nach ihr um und ich würde am liebsten im Erdboden versinken.

„Was hast du denn vor?“, frage ich und ahne nichts Gutes.

„Wirst schon sehen!“, kichert sie.

Sie hätte mir vorher sagen sollen, was sie plant. Ob wir wandern gehen oder in die Oper oder in einen Club. In Clubs fühle ich mich im Gegensatz zu Sarah nicht wohl.

Einen heißen Fummel besitze ich gar nicht. Ich trage das, was ich immer trage: Jeans und Pulli. Für unseren Ausflug habe ich zwei blaue Shirts und Wechselwäsche eingepackt. Fertig. Die Jacke liegt auf dem Rücksitz.

Ich hasse das Kofferpacken. Schon deshalb verreise ich nicht gern. Wenn schon Urlaub, dann am Meer. Am Meer brauche ich nur Badeanzug, Badeschlappen, Strandkleid. Fertig.

Für die Berge müsste ich feste Wanderschuhe und Schuhe zum Ausgehen, für jeden Tag zwei T-Shirts, mehrere warme Pullis, Anorak, Mützen und was weiß ich nicht alles mitschleppen. Schon diese Aufzählung erschöpft mich.

Heute ist der schlimmste aller Fälle eingetreten: Sarah hat eine Städtereise für uns beide gebucht, nach Dresden. Als ich vor meinem Schrank stand und nach einem passenden Kleid suchte, hatte ich sofort schlechte Laune. Ich mag weder feine Kleider noch Blazer und schon gar keine Absatzschuhe. Sarah hat mich zum Kauf dieser Dinge regelrecht genötigt, doch ich habe sie kein einziges Mal getragen. Wegen ihr schleppe ich jedes Mal zu viel mit und doch fehlt immer etwas Wichtiges. Also habe ich am Ende nur die beiden Wechselpullis eingesteckt. Das muss reichen.

Laut Navi sind wir in knapp zwei Stunden im Hotel. Sarah sagt, dass es in der Neustadt viele Musikkneipen gibt und wir die Abende dort verbringen.

„In Chemnitz gibt es ebenfalls unzählige Kneipen.

Dafür müssen wir nicht nach Dresden fahren und teure Übernachtungen bezahlen.“

„Du hast immer was zu meckern“, tadelt Sarah.

Ich habe nicht gemeckert. Mir leuchtet nur nicht ein, weshalb wir achtzig Kilometer fahren, um den Abend in einem Lokal zu verbringen.

„Ich würde gern ins Grüne Gewölbe gehen“, schlage ich vor.

Sarah verdreht die Augen und knurrt: „Museen gibt es auch in Chemnitz genug.“

Das stimmt, aber nicht die einzigartige Sammlung wie im Grünen Gewölbe.

„Nein, wir werden uns amüsieren und schauen, was der Markt so hergibt“, bestimmt sie.

„Markt?“

Will sie einkaufen gehen?

„Unseren Marktwert testen, ein paar Kerle aufreißen und es uns gut gehen lassen.“

„Ohne mich!“, schniefe ich empört.

Ich habe einen Freund und kein Interesse an anderen Männern. Das weiß sie und sollte es endlich respektieren.

Sarah parkt direkt an der Elbe vor einem Schiff.

„Oh! Wir machen eine Dampferfahrt!“, rufe ich aus.

Doch sie schüttelt lachend den Kopf, greift nach ihrer Reisetasche und macht mir ein Zeichen, mein Gepäck mitzunehmen. Erstaunt begreife ich, dass dieses Schiff unsere Unterkunft ist, ein Schiffshotel oder Hotelschiff.

„Cool!“, rufe ich aus, obwohl ich Schiffe nicht leiden kann, auch keine Flugzeuge.

Mir ist alles, was nicht auf der Erde kriecht, läuft oder fährt, irgendwie nicht geheuer.

Unser Zimmer ist winzig klein und hat statt der Fenster nur Bullaugen. In ihm befinden sich ein Doppelbett, ein Kleiderständer und ein Waschbecken; Toiletten und Duschen sind auf dem Gang und Fernsehgeräte in Gemeinschaftsräumen. Das gefällt mir nicht, doch Sarah klatscht begeistert in ihre Hände.

„Mehr Platz brauchen wir nicht. Wir wollen hier nur schlafen und morgens gut frühstücken. Ansonsten halten wir uns in der Stadt auf.“

Das Schiff liegt sehr günstig. Zu Fuß ist man in nur wenigen Minuten bei den berühmten Sehenswürdigkeiten wie Semperoper, Zwinger und Frauenkirche oder am Abend im Neustädter Szeneviertel.

Sarah ist wie mein Gegenpol. Während ich erst still abwarte, prescht sie voran und macht viel Lärm dabei. Mich wundert, dass ich seit der Schulzeit ihre Freundin bin, denn sie wechselt Menschen, Städte, Arbeitsplätze und Wohnungen in rasendem Tempo. Selten hält sie länger als ein oder zwei Jahre an einer Stelle aus, manchmal nur wenige Monate. Dadurch kennt sie Gott und die Welt.

Ich dagegen kenne außer meinem täglichen Arbeitsweg zum Pflegeheim nur die Orte, wohin mich Sarah schleppt. Manchmal ist es mir gar nicht recht, wenn sie mich zwingt, mit ihr auszugehen, doch am Ende hat es mir meist sehr gut gefallen.

Dann will ich Sebastian erzählen, was ich Schönes erlebt habe, doch er runzelt immer nur die Stirn und schimpft: „Geh doch zu deiner Sarah! Mich brauchst du nicht.“

Dann stiert er wieder auf seine Bildschirme und will nicht gestört werden.

„Doch! Ich brauche dich und möchte gern mit dir ausgehen!“

Aber Sebastian geht nie aus. Essen und Trinken kann er daheim viel bequemer und vor allem preiswerter als anderswo.

„Ich mag nicht Leuten zuhören, denen ich nicht zuhören will“, lautet sein Lieblingsargument.

Darauf sage ich nichts, denn er erträgt keine Vorwürfe, nicht den Hauch einer Kritik. Doch er hält mir viele Tage, Wochen oder gar Monate vor, dass ich ohne ihn ausgegangen bin.

*****

Jetzt schleppt mich Sarah in eine Gemäldegalerie, weil sie weiß, dass ich Bilder mag. Eines fasziniert mich besonders: Eine junge Frau steht vor einem Spiegel und kämmt ihre Haare. Sie trägt ein blaues Kleid und hat dunkelbraune Locken wie ich. Im gemalten Spiegelbild sehe ich ihr Gesicht. Sie lächelt sich an. Vielleicht denkt sie an ihren Freund, den sie gleich treffen wird.

Ich setze mich auf eine Bank, um das Bild aus der Entfernung etwas länger zu betrachten, Sarah ist bereits weitergegangen.

Ich schaue ihr nach und beobachte, wie sie ihre Hüften schwenkt und ungeniert die Leute mustert, als wäre sie auf der Suche nach Beute. Die Kunstwerke scheinen sie weniger zu interessieren.

Sie bleibt neben einem Mann stehen, der mir schon mehrfach auffiel. Bei jedem seiner Schritte klackt es, als ob er Absatzschuhe trägt. Deshalb habe ich mich nach ihm umgedreht. Er ist blond, größer als die meisten Besucher und trägt eine schwarze Hose aus Leder, ein ebenso schwarzes Hemd und darüber ein auffällig rotes Jackett. Und er blinzelte mir frech zu. Natürlich habe ich sofort weggeschaut.

„Sieh mal, wen ich aufgegabelt habe!“, höre ich sie rufen.

Alle Leute im Raum drehen sich zu ihr um und schütteln missbilligend den Kopf.

Neben Sarah steht genau der junge Mann, der mir vorhin zugeblinzelt hat, dieser auffällige Gockel in seinem roten Jackett und der Lederhose. Er packt mich oberhalb der Taille, zieht mich von der Bank in die Höhe und umarmt mich, als wären wir alte Freunde.

„Hallo, Melli!“

Seit der Schulzeit nennt mich kein Mensch mehr Melli, sogar meine Brüder sagen Melanie, wie es sich gehört.

„Sag bloß, du erkennst mich nicht! Ich bin Thomas, der kleine Tommi aus der B-Klasse.“

B-Klasse? Tommi?

„Guten Tag!“, wünsche ich höflich.

„Tommi kennt einen geilen Musikschuppen in der Neustadt, wo wir heute zu Abend essen werden, ein paar Drinks nehmen und uns mal so richtig ausquatschen.“

Hoffentlich kein Jazz, denke ich, sage aber nichts. Widerspruch lässt Sarah sowieso nicht gelten und hat sich ohnehin bereits mit diesem Thomas abgesprochen. Ich mag am liebsten Schlager, glaube aber, dass in einem Gasthof eine andere Art Musik gespielt wird.

Bei mir daheim läuft kein Radio, weil Sebastian Musik stört, eigentlich jedes Geräusch, obwohl er meist seine Kopfhörer aufhat.

*****

Thomas ist schon da, als wir im Gasthof eintreffen. Hier sitzen recht viele Leute viel zu eng beieinander, doch die Bedienung ist flott und bringt mir fast sofort nach der Bestellung einen gebackenen Camembert, für Sarah eine Ofenkartoffel und für Thomas einen riesigen Burger. Dazu gibt es Bier aus dem Fass.

Zuerst steigt ein junger Liedermacher auf die Bühne, der sich mit seiner Gitarre selbst begleitet. Er hat eine hübsche Stimme, doch seine genuschelten Texte verstehe ich leider überhaupt nicht.

Jetzt spielt eine Bläsergruppe, die in dem kleinen Raum so viel Lärm macht, dass mir gleich der Kopf schmerzt. Thomas muss direkt schreien, damit ich höre, was er sagt.

Inzwischen singt ein Mädchen, das Thomas vermutlich kennt, denn er ist zu ihr nach vorn zur Bühne gegangen.

„Sei doch nicht so prüde!“, faucht mich Sarah an.

„Wie meinst du das?“

„Du bist so steif, als hättest du einen Besenstiel im Kreuz und schaust wie sieben Tage Regenwetter. Tommi ist doch voll nett!“

Natürlich ist er nett, doch er sollte mich nicht ständig anfassen. Mal legt er den Arm um meine Schulter, mal ergreift er meine Hand oder lehnt seinen Kopf an meinen. Das will ich nicht. Ich kann mich kaum an den Schuljungen Tommi erinnern, den Mann Thomas kenne ich gar nicht.

„Dann lerne ihn kennen!“ Sarah zwinkert mir zu. „Er will dich! Merkst du das nicht?“

Er will mich? Was soll das heißen?

„Amüsiere dich mal!“

Für mich bedeutet amüsieren, wenn man sich auf angenehme Art die Zeit vertreibt – zum Beispiel ein interessantes Buch lesen oder spazieren gehen. Sarah denkt dabei an Sex. Eigentlich denkt sie ständig an Sex, erst recht, wenn sie von amüsieren spricht.

„Ich habe einen Freund, schon vergessen?“

„Na und? Der ist nicht hier.“

Empört schaue ich sie an. Weil Sebastian nicht hier ist, ist das ein Grund, etwas zu tun, was ihm missfällt?

„Dieser Stoffel!“, sagt sie verächtlich.

„Sebastian ist kein Stoffel. Er redet nur nicht gern.“

„Und was hast du davon, wenn er nicht redet, sondern sich stattdessen nur mit seinem Computer beschäftigt?“

Mich stört es manchmal auch, dass Sebastian nur Augen für seine Bildschirme hat. Dann fühle ich mich direkt unsichtbar und möchte am liebsten seinen Computer einfach ausschalten, damit er mich wahrnimmt. Doch die Technik ist nun einmal seine Leidenschaft. Ich kann nichts daran ändern. Außerdem mag ich ihn nicht dazu zwingen, sich mit mir zu unterhalten, wenn er das gar nicht will. Ihn interessiert eben nicht das, was mich interessiert. Das stimmt mich zwar manchmal traurig, doch es ist kein wirkliches Drama. Meist lese ich oder schaue im Fernsehen eine Dokumentation über fremde Länder. Mich interessiert, wie andere Menschen leben, welche Traditionen ihnen wichtig sind, ob es dort kälter oder wärmer ist als bei uns. Hinreisen würde ich allerdings nicht, weil ich nicht gern reise und eigentlich überhaupt keine Veränderungen mag.

„Er braucht einfach Zeit“, sage ich.

„Zeit wofür?“

„Sich zu öffnen.“

„So ein Unsinn! Darauf wartest du seit acht Jahren.

Er ist 42 Jahre alt und wird sich niemals „öffnen“.

Du musst endlich aufhören, auf etwas zu warten, was niemals eintreten wird!“

„Ich warte auf nichts, weil ich zufrieden bin.“

„Das glaubst du doch selbst nicht! Hat er jemals zu dir gesagt, dass er dich liebt?“

„Das muss er nicht sagen, das weiß ich auch so. Außerdem ...“

„Jetzt komme mir nicht mit den ach-so-wundervollen SMS mit Herzchen aus Amerika!“

Genau daran denke ich gerade. Sebastian findet eben nicht die Worte, die ich ab und zu gern hören würde. Im Grunde rede ich auch nicht so gern.

„Entweder, er gefällt dir so langweilig wie er nun mal ist oder du schickst ihn in die Wüste und gehst allein ans Meer.“

„Ans Meer?“

„Symbolisch, du Nuss!“ Sarah boxt sanft gegen meinen Arm. „Jedenfalls ist Tommi erheblich amüsanter als dein Stoffel und auch nicht so maulfaul.“

Das stimmt. Thomas redet viel und schmückt alles mit witzigen Begebenheiten aus. Er erzählt, dass er bei Konzerten die Technik auf- und abbaut und deshalb viel unterwegs ist, sogar im Ausland. Er spricht über Musikgruppen, Geld verdienen und lustige Erlebnisse. Und er spricht über mich, wie schön meine Haare sind, die er natürlich gleich anfassen muss, wie schmal und zart er meine Hände findet, die er sofort in seine nimmt. Seine Worte machen mich ganz verlegen, zumal ich Komplimente nicht gewöhnt bin. Und immer nennt er mich Melli, als sei ich noch ein kleines Kind.

Thomas redet nicht planlos auf mich ein, er erzählt, um mich zu unterhalten. Er wechselt sofort das Thema, wenn er merkt, dass es mir nicht zusagt. Wenn ich zurück weiche, lehnt auch er sich zurück. Er bedrängt mich nicht. Und doch umarmt er mich, lacht viel und sorgt dafür, dass mein Glas immer wieder gefüllt ist.

Ich glaube, ich habe inzwischen einen kleinen Schwips.

Seine Hand ruht auf meinem Arm, der sich auf einmal siedend heiß anfühlt. Gleichzeitig spüre ich am ganzen Körper bis hinunter zu den Füßen Gänsehaut. Wie ist das möglich? In meinem Kopf dreht sich alles: Worte, Gedanken, Gefühle. Ich schließe die Augen und lehne mich zur Seite. Sofort umfassen mich zwei starke Arme und ziehen mich an einen Körper, der einen betörend männlichen Duft ausstrahlt. Langsam und unglaublich sanft hebt eine Hand mein Kinn nach oben und im gleichen Moment spüre ich heiße Lippen auf meinen. Mir ist, als schwinden mir die Sinne und zugleich, als ob ich tief nach unten falle, ganz langsam wie ein überirdisches Schweben.

*****

Am nächsten Morgen wage ich nicht, Sarah in die Augen zu schauen, als ich sie im Frühstücksraum sitzen sehe. Ich habe keine Ahnung, wo sie über Nacht geblieben ist und brauche jetzt all meinen Mut, um mich neben sie zu setzen.

„Hallo“, hauche ich und erwarte ein heftiges Donnerwetter.

„Willst du nichts essen?“, fragt sie lachend.

Betreten schüttle ich den Kopf. Ich fühle mich mies, weil ich meinen Freund betrogen habe. Zu allem Übel bereue ich nichts, weil die Nacht mit Thomas so unglaublich schön war. Noch niemals zuvor bin ich derart zärtlich berührt worden. Ich war wie von Sinnen und konnte und wollte mich nicht wehren, ganz im Gegenteil. Ich wollte auf einmal den ganzen Thomas, in ihn hineinkriechen, ihn in mir aufnehmen, ihn wild packen, mich auf ihn stürzen und mich gleichzeitig fallen lassen.

„Ich muss es Sebastian erzählen.“

„Warum?“, will Sarah wissen. „Eine Frau genießt und schweigt.“

Das kann ich nicht. Das ist doppelter Betrug.

„Thomas will mich wiedersehen“, gestehe ich.

„Was spricht dagegen?“

„Sebastian! Ich habe einen Freund! Diese Nacht war ein Ausrutscher und wird nie wieder passieren.“

„War es so schlecht?“

Sarah blinzelt mir zu. Sie begreift nichts. Ich habe mich mit dieser Nacht in eine schlimme Situation gebracht, weil sie so wunderschön war. Wäre es nur dumpfer Sex gewesen, wäre es mir nur entsetzlich peinlich. Doch ich spüre Thomas in jeder Faser meines Körpers und würde jetzt am liebsten zu ihm gehen und mich in seinen Armen verkriechen. Das geht natürlich auf gar keinen Fall.

„Ich will ihn nie mehr sehen! Niemals!“

„Warum?“

„Weil ich Sebastian liebe.“

Sarah lacht. Was gibt es da zu lachen?

„Was genau liebst du an ihm? Seine Schweigsamkeit? Seine Ablehnung? Oder seinen schlechten Sex?“

Sebastian ist tatsächlich ein grottenschlechter Liebhaber, das ist mir in der letzten Nacht klar geworden. Doch eine Beziehung besteht nicht nur aus Sex. Dazu gehört viel mehr. Wir sind seit acht Jahren zusammen und wollen irgendwann heiraten und Kinder großziehen. Ich will heiraten und Kinder haben, bei Sebastian bin ich mir nicht so sicher. Nicht mehr. Er weicht aus bei diesem Thema. Er weicht überhaupt aus, mir weicht er aus. Ich habe versucht, ihm näherzukommen, indem ich mit ihm schlafe, mit ihm verschmelze, eins werde. Doch das hat nicht funktioniert, weil Sebastian sich keine Zeit für Zärtlichkeiten nimmt. Er kann sich nicht zurückhalten, beeilt sich sogar, um die „Sache“ schnell hinter sich zu bringen, um wieder am Computer zu sitzen oder einfach sofort einzuschlafen. Deshalb fühlte ich mich immer irgendwie betrogen. Und jetzt habe ich ihn betrogen und weiß gleichzeitig, was mir bisher gefehlt hat.

„Wenn du alles beim Alten lässt, wird sich nichts ändern“, fasst Sarah zusammen.

„Ich will gar nichts ändern!“

„Dann ist es ja gut und wir können zur Elbterrasse schlendern.“

Erschrocken schaue ich sie an. Dort sind wir mit Thomas verabredet. Das will ich auf gar keinen Fall!

„Ich will nach Hause. Sofort!“

„Bist du verrückt?“, schreit Sarah mich an.

Ich halte mir die Ohren zu und will nicht hören, dass wir noch eine Nacht gebucht haben und eine Karte fürs Panometer am nächsten Tag. Ich will einfach nur noch heim.

„Du kannst gern bleiben, ich nehme den Zug“, sage ich und stopfe meine Sachen in die Tasche.

„Dann rufst du jetzt Thomas an und sagst ab. Wir werden uns nicht heimlich davonschleichen.“

Ich schüttle den Kopf, denn ich fühle mich außerstande, seine Stimme zu hören und mich von ihm zu verabschieden. Zum Glück haben weder Sarah noch ich seine Handynummer.

*****

Während der gesamten Autofahrt sage ich kein einziges Wort. Mir ist mein Verhalten einfach peinlich, weil ich Thomas gar nicht kenne und schon gar nicht liebe. Weshalb bin ich dann mit ihm im Bett gelandet?

„Er hat mich betrunken gemacht.“

Genauso war es. Niemals hätte ich an einem einzigen Abend ein großes Bier und drei Cocktails getrunken.

„Rede keinen Unsinn! Thomas hat dich zu nichts gezwungen. Es war deine freie Entscheidung, so viel zu trinken und mit ihm zu schlafen.“

Eigentlich bin ich ein vorsichtiger Mensch und lasse mich nur schwer zu irgend etwas überreden. Schon gar nicht zu etwas, das ich nicht will. Ich bin Alkohol nicht gewöhnt. Aber ich bin mir sicher, dass man ohne tiefe Gefühle niemals Sex haben will.

Sarah lacht.

„Bei Frauen mag das so sein, bei Männern ganz sicher nicht“, erklärt sie. „Bei Männern ist es eher umgekehrt: Sie benötigen den Sex, um überhaupt tiefe Gefühle empfinden zu können.“

Ich lasse Sarah einfach reden. Sie behauptet, Sex sei die eigentliche Energie des Mannes und erfüllt sein gesamtes männliches Wesen. Er wird von der Suche nach Befriedigung getrieben und fühlt sich ständig wie ein Vulkan vor dem Ausbruch, den er nur äußerst schwer steuern kann.

„Jeder Mann ist sexbesessen. Deine Brüder, Lehrer, Pfarrer, Nachbarn und sogar dein Stoffel Sebastian.“

„Du spinnst!“

Sexbesessenheit ist eine Krankheit und passt nicht zu Sebastian. Soll ich ihr sagen, dass er manchmal wochenlang überhaupt keine Lust verspürt? Dann wird sie noch weniger verstehen, dass ich an einer Beziehung mit ihm festhalte.

„Dein Langweiler drückt sich halt nicht körperlich aus, sondern hämmert wie besessen auf seinen blöden Computer ein.“

Ich sage lieber nichts dazu. Mir ist es einfach nur peinlich, dass ich mich so gehengelassen habe. Natürlich war es schön, doch darum geht es nicht. Ich habe einen großen Fehler gemacht und zu allem Überfluss kann ich diese Umarmung nicht vergessen. Ich kann Thomas nicht vergessen. Ich möchte ihn wiedersehen und fühle schon jetzt ein Kribbeln in meinem ganzen Körper, wenn ich nur an ihn denke.

Wie soll ich Sebastian unter die Augen treten? Er wird mir an der Nasenspitze ansehen, dass etwas nicht stimmt mit mir, dass ich verändert bin, ihn ganz anders anschaue als jemals zuvor. Er wird mich fragen, was mich so verändert hat.

*****

„Du schon?“, brummt Sebastian und zieht die Stirn kraus.

Auch wenn es nicht so wirkt, weiß ich doch, dass er sich freut, weil ich einen ganzen Tag früher als geplant zurück bin. Er kann es nur nicht so zeigen.

Ich umarme ihn stürmisch und lüge: „Du hast mir so gefehlt.“

Er zuckt mit der Schulter und setzt sich an seinen Computer. Ob ich ihm etwas Leckeres koche? Die Liebe geht schließlich durch den Magen! Genussvolles Essen gehört einfach zur Liebe wie die Luft zum Atmen. Wo habe ich das nur gehört? Ach ja, das sagte Thomas. Thomas! Schon wieder denke ich an ihn. Er sagt, dass gutes Essen Glücksgefühle auslöst. Bei Sebastian ist mir das noch nie aufgefallen. Meist mag er nur eine Schnitte mit Leberwurst, während er am Computer sitzenbleibt.

Doch Versuch macht klug. Ich schaue im Kühlschrank nach, woraus ich etwas zaubern könnte. Es liegen zwei angebissene Wurststücke auf der Glasplatte statt im Wurstbehälter und ein leerer Joghurtbecher. Auf der Butterschale fehlt der Deckel.

Ich schneide eine Paprika und zwei Tomaten in kleine Würfel, auch die angebissene Wurst und den Rest aus dem Behälter und gebe alles in eine Auflaufform. Dann verquirle ich vier Eier mit Sahne und Reibekäse, kippe es obenauf und schiebe es in den Backofen. Inzwischen kann ich Brot braten. Es ist recht trocken, weil es wohl die ganze Zeit auf dem Tisch lag. Doch mit Olivenöl in der Pfanne getoastet wird es noch schmecken.

Nachdem ich den Tisch gedeckt habe, umarme ich Sebastian.

„Lass das!“, sagt er und beugt sich von mir weg.

Ich wusste es! Er hat gemerkt, dass meine Umarmung anders ist als früher. Jetzt sollte ich besonders lieb zu ihm sein.

„Ich habe uns etwas Leckeres zu essen gekocht ...“

„Bring´s her! Kann jetzt nicht weg“, nuschelt er, ohne vom Bildschirm aufzusehen.

Und den Tisch hübsch gedeckt, wollte ich noch sagen. Doch Sebastian dreht sich nicht einmal um, weil er Wichtiges zu tun hat, arbeiten muss. Was genau arbeitet er eigentlich so viele Stunden am Computer? Interessiert schaue ich auf den Bildschirm. Darauf sehe ich seltsame Gestalten in Rüstungen und übergroße Insekten durch dunkle Räume kriechen.

„Was machst du?“, frage ich fassungslos.

„Allererste Sahne! Geiler Sound, Supergrafik.“