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Eila wandert mit ihrer Familie von Norwegen nach Deutschland aus. Plötzlich und wie aus heiterem Himmel verlässt sie ihr Mann und kehrt allein zurück nach Skandinavien. Sie arrangiert sich mit dieser Situation, fühlt sich wohl in ihrem neuen Haus, mit neuen Nachbarn und einem neuen Freund. Doch dann bedroht ein gefährlicher Virus mehr und mehr ihr Leben.
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Seitenzahl: 226
Es nimmt der Augenblick, was Jahre geben.
Johann Wolfgang von Goethe
Nachbarn
Trennungen
Ballett
Geburtstag
Verlust
Kunst
Nicole
Medium
Geschichte
Virus
Schluss
Max bellt und rennt zum anderen Ende des Gartens. Dort zwängt sich soeben meine Nachbarin Nicole durch die Sträucher, die unsere Gärten trennen. Sie lacht etwas gequält, als Max sie knurrend umkreist. Mein Hund spürt, dass ich mich über Nicole ärgere, weil sie mich schon wieder unangemeldet überfällt. Sie soll anrufen, bevor sie mich besuchen möchte, damit ich ihr sagen kann, ob ich Zeit für sie habe.
„Wieso? Du bist doch den ganzen Tag daheim, hast also immer Zeit“, argumentiert sie.
Doch so ist es nicht. Ich bin selbständige Übersetzerin und brauche ungestörte Arbeitszeit, um meine Texte pünktlich abliefern zu können.
„Eila!“, jodelt sie mit hoher Stimme. „Ich bringe dir Hermann!“
Seit Philipp vor vier Monaten ausgezogen ist, hat sie mir jeden Monat einen neuen Ersatz-Liebhaber vorgestellt, Hermann wäre der fünfte. Auch dieses Mal wird es furchtbar peinlich für mich und diesen Mann werden, weil ich keinen will und bisher jeden kurzerhand wegschickte. Nicole glaubt, dass eine Frau nur glücklich sein kann, wenn sie einen Mann hat, der sie finanziell versorgt. Für diese Sicherheit kocht und wäscht sie gern für ihn. Doch ich koche und putze überhaupt nicht gern, weder für mich noch für einen Mann.
Vielleicht haben mich Philipp und mein Ex-Mann genau deshalb verlassen. Beide sind ins Ausland gegangen, der eine nach Norwegen, der andere nach Australien.
„Ich brauche keinen neuen Mann! Ich komme allein viel besser zurecht“, fauche ich Nicole an. Sie kichert und behält dabei Max im Auge.
„Gib Ruhe!“, ermahne ich meinen Hund, damit er endlich aufhört zu bellen.
Max ist ein besonders imposanter schwarzer Labrador, der Nicole nicht ganz geheuer ist. Deshalb will sie ihn mit Keksen bestechen, die sie weit in die Wiese wirft, um den Hund abzulenken.
„Ich bringe dir Hermann“, verkündet sie noch einmal und wackelt dabei mit ihren Hüften.
Sie tut so, als hätte ich diesen Mann bestellt und schon lange auf ihn gewartet. Doch ich möchte diesen Hermann nicht kennenlernen, weder ihn noch einen anderen Mann. Sollte ich jemals in meinem Leben wieder Lust auf einen Partner verspüren, suche ich ihn mir selbst aus. „Hör endlich auf, mir Männer anzuschleppen!“
„Diesen Hermann wirst du lieben!“, flötet sie und zwinkert mir verschwörerisch zu.
„Bringen wir es hinter uns“, brumme ich.
Nicole wird keine Ruhe geben, wenn sie nicht alles gesagt hat, weshalb sie gekommen ist.
Sie hält mir ein Einweckglas entgegen, zeigt darauf und trällert: „Taraa!“
„Da drin ist Hermann?“, spotte ich.
Sie nickt, zeigt auf das Glas und flüstert anzüglich: „Es liegt allein in deiner Hand, den Hermann zum Wachsen zu bringen.“
Jetzt wird mir die Sache zu dumm. Ich mag keine albernen Scherze und ich mag es nicht, wenn sie unangemeldet in mein Haus schneit und Neuigkeiten verkündet, die ich gar nicht wissen will.
„Sag, was du zu sagen hast! Ich muss gleich los.“
„Wo willst du denn hin? Triffst du einen Mann? Wie heißt er? Ist er groß? Wie alt? Wieder blond, nicht wahr? Nun sei doch nicht so verstockt!“
Ich bin nicht verstockt. Ich bin nur genervt von ihren vielen Fragen. Außerdem treffe ich keinen Mann. Ich will einfach nur meine Ruhe, denn bei meiner Arbeit muss ich mich konzentrieren. Im Moment übersetze ich einen komplizierten technischen Text aus dem Norwegischen. Doch Nicole hält meine Arbeit nicht für eine Arbeit. Sie hält Selbständigkeit für unbegrenzte Freizeit. Ich habe ihr erklärt, dass ich nichts verdiene, wenn ich zum Beispiel Urlaub mache, während ihr Urlaub bezahlt wird. Doch das begreift sie nicht. Deshalb lüge ich und behaupte, ich treffe eine Frau, der ich meine Texte übergebe. Das stimmt natürlich nicht, denn die Arbeiten erhalte ich per Mail und schicke auf gleichem Weg die Übersetzungen zurück.
„Du musst ihn regelmäßig füttern!“, erklärt sie.
„Wen soll ich füttern?“
Nicole zeigt auf das Einweckglas.
„Schleppst du mir eine Maus an?“, frage ich empört.
Die würde ich sofort frei lassen, denn ich will sie nicht im Haus haben, meine beiden Töchter schon gar nicht.
„Ich finde den Zettel nicht, wo drauf steht, wann und womit du Hermann füttern musst. Kannst ja googeln!“
Mit diesen Worten hält sie mir das Glas hin. Ich greife automatisch zu und drehe es hin und her, sehe aber kein Tier, sondern nur eine Art Paste. „Lade mich ein, wenn dein erster Kuchen fertig ist!“
„Kuchen? Wie kommst du jetzt auf Kuchen?“
„Gib einfach Hermann im Computer ein und vergiss nicht, ihn zu füttern!“, ruft sie und kriecht durch den Strauch zurück auf ihr Grundstück.
Verdutzt schaue ich ihr nach. Hermann und Kuchen und füttern – ich verstehe gar nichts. Hoffentlich ist das Ganze nicht wieder so ein modischer Unsinn wie damals das Tamagotchi, das sie mir zum Geburtstag schenkte. Nicole macht jede Mode begeistert mit, gleichgültig, ob es sich um Kleider, Möbel, Spielzeug oder Gartenschmuck handelt. Ich bin dafür zu praktisch. Hosen und Pullis müssen bei mir bequem und möglichst lange haltbar sein. Möbel halten im Idealfall ein Leben lang.
Trotzdem hat sie mich neugierig gemacht. Und weil ich den Dingen gern auf den Grund gehe, setze ich mich sofort an meinen Computer und gebe „hermann füttern“ ein. Dabei erfahre ich, dass es sich um einen Kuchenteig handelt. Ich mag keinen Kuchen. Auch meine Töchter essen niemals Kuchen. Sie glauben, dass man von Kuchen dick wird und das wäre für beide eine Katastrophe, denn beide tanzen Ballett und wollen unbedingt dünn bleiben.
Ich lese: „3 Tage je 30 g Wasser und 30 g Mehl mit der Hand umrühren, mit einem Tuch abdecken, warm gestellt ruhen lassen.“
Bei Wasser muss es Milliliter heißen und nicht Gramm. Außerdem habe ich weder Mehl noch eine Waage im Haus. Wie dem auch sei, ich backe nicht. Gelangweilt klicke ich weiter und lese eine komplett andere Rezeptur:
„1 T Mehl, 1 T Zucker, 1 T Milch, NICHT umrühren, fest verschlossen im Kühlschrank aufbewahren, nach 2 Tagen mit einem Holzlöffel (NICHT mit den Händen!) vorsichtig umrühren, die Hälfte zum Backen verwenden, die andere Hälfte aufbewahren oder verschenken.“
T heißt Tasse. Mit Tassen komme ich zurecht, doch mit den zwei verschiedenen Rezepten nicht. In ersten soll ich Wasser nehmen, im zweiten Milch; in einem Zucker zugeben, im anderen nicht. Mit Händen oder Holzlöffel umrühren? Kühl oder warm stellen?
Ich weiß nicht, was richtig ist. Immerhin weiß ich nun, warum mir Nicole den Hermann brachte: Durch das Füttern vermehrt sich der Teig, man verbraucht beim Backen nicht alles und soll den Rest verschenken. Das Verschenken finde ich lustig, doch mir fällt niemand ein, dem ich einen Hermann schenken könnte. Deshalb werfe ich das Glas sofort in den Müll. Ich backe sowieso nicht, weder für Emmas Geburtstag noch für den Besuch der Schwiegereltern.
Genau genommen sind es meine Ex-Schwiegereltern, denn ich bin seit fast sieben Jahren von Björn geschieden. Er ist nach Norwegen zurückgekehrt, wo wir früher lebten und unsere Töchter geboren wurden. Björns Eltern wohnen im übernächsten Reihenhaus. Das ist verkehrte Welt: Björn ist weg, weil er es in Deutschland nicht aushielt und seine Eltern kamen aus Norwegen hierher in ihr Heimatland, weil man hier besser und vor allem preiswerter leben kann. Mit dem preiswerten Leben lockte mich damals Björn nach Deutschland, doch heute kann er hier nicht leben. Aber er kann ohne mich und ohne seine Töchter leben. Er hat mir damals nur gesagt, dass er wieder nach Hause geht und ehe ich begriff, dass er damit Bergen in Norwegen meint, war er fort. Er hat mich nicht einmal gefragt, ob ich mit ihm gehen will. Also blieb ich hier.
Glaubte er, ich ginge auf jeden Fall mit ihm zurück nach Norwegen, weil ich zu ihm gehöre? Oder hat er mich absichtlich zurückgelassen, obwohl er zu mir gehört? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß inzwischen, dass ich dumm war, als ich glaubte, er gehöre zu mir. Niemand gehört zu irgendwem. Im Moment gehöre ich zu meinen Töchtern, weil ich für sie verantwortlich bin bis sie erwachsen sind und ihr eigenes Leben führen.
Als sich meine erste Wut über Björns Auszug in Entsetzen und schließlich in Angst umwandelte, wartete ich auf ein Zeichen, auf seine dringende Bitte, endlich zu ihm zu kommen. Ich hätte mich zuerst ein wenig geziert und dann meine Sachen und die Mädchen gepackt und wäre zu ihm geflogen. Dahin, wohin ich gehöre: an seine Seite.
Doch ich wartete vergebens. Die Tage, Wochen und Monate vergingen und nun sind wir geschieden.
In Norwegen braucht man keinen Anwalt für eine Scheidung, es entstehen auch keine so hohen Kosten wie in Deutschland. Ich musste nur formal bestätigen, dass ich mit den Kindern in Deutschland lebe - sofort galt unsere Ehe als beendet. Das kränkt mich bis heute.
Ich bemühte mich den ganzen Tag, nicht an Björn zu denken. Das rächte sich in der Nacht, wenn ich meine Gedanken nicht steuern oder ausblenden konnte, dann träumte ich von ihm. Und am Morgen war ich jedes Mal aufs Neue verstört, verletzt und unendlich müde.
Was blieb mir anderes übrig, als zur Tagesordnung überzugehen? Ich war schon als Kind vernünftig und bin noch immer sachlich und besonnen. Kurz gesagt: normal langweilig. Ich mag keine Dramen und bin auch nicht gut im Klagen und Jammern. Deshalb bedauert mich auch niemand.
*****
Mir fällt es schwer, loszulassen. Ich mag es nicht, wenn sich mein Umfeld verändert und komme mit Trennungen überhaupt nicht zurecht, obwohl ich in meinem Leben schon viele Verluste und Veränderungen verkraften musste.
Die erste schwere Trennung, die ich erlebte, war die von meiner Schwester. Ich war damals acht oder neun Jahre alt, Jante ist zehn Jahre älter als ich. Sie war mein Vorbild und ich wollte immer so werden wie sie: so groß, so schön, so mutig und so sanft. Mir gefiel es, wenn sie mir vorlas, mit mir spazieren ging, mir Geschichten erzählte.
Sie lernte in Bergen Krankenschwester. Nach der Ausbildung fuhr sie in den Urlaub und kam nicht mehr zurück. Zuerst glaubten die Eltern, ihr sei etwas zugestoßen, doch irgendwann erfuhren wir, sie sei einem Kloster beigetreten. Dabei ist keiner aus unserer Familie katholisch, auch Jante nicht. Zumindest ging sie niemals in die Kirche.
Wir haben nie erfahren, ob ihr etwas Schlimmes widerfahren ist und sie im Kloster Zuflucht suchte. Wenn sie schon in einem Kloster leben muss, warum nicht in dem in Bergen, wo wir sie sehen könnten? Doch Jante lebt auf einer Insel mitten im Meer und kommt niemals mehr nach Hause.
Während der ersten Jahre habe ich viel geweint, weil ich sie so schrecklich vermisste. Mit der Zeit habe ich gelernt, weniger und immer weniger an sie zu denken, damit es nicht mehr so weh tut, dass sie weg ist.
Erst zwölf Jahre später sah ich sie wieder. Ich habe sie besucht, kurz bevor ich Björn heiratete. Man kann die Insel als Tourist kennenlernen und sogar einige Tage im Kloster leben. Mir war es trotz der vielen Leute aus aller Herren Länder viel zu einsam dort. Warum möchte jemand einsam sein? Was suchte Jante in solch einem abgelegenen Kloster? Sie sagte, sie fühlt sich in der Stille und diesem speziellen Licht Gott besonders nahe. Aber ist Gott nicht überall, falls man an ihn glaubt? Um Gott nahe zu sein, muss man sich weder in einem Kloster noch auf einer Insel verstecken.
Ich fühlte keine Nähe mehr zu meiner Schwester, als sie so vor mir stand. Sie war mir direkt fremd in ihrem Ordensgewand mit dem Schleier, der nur das Gesicht frei ließ. Sie machte keine Anstalten, mich zu umarmen. Doch sie lächelte. Galt das Lächeln mir? Oder lächelte sie einfach so vor sich hin?
Sie fragte nach den Eltern, aber sie fragte nicht, wie ich als kleines Mädchen ohne sie zurecht kam. Wusste sie nicht, wie verlassen ich mich gefühlt hatte? Die gleiche Verlassenheit fühlte ich in dem Moment des Wiedersehens, denn Jante hatte sich so stark verändert, dass ich in ihr kaum meine Schwester wiedererkannte.
Deshalb konnte ich mit ihr sprechen wie mit der Bäckersfrau von nebenan und habe erst hinterher geweint. Um den Verlust meiner Schwester, die ich ganz anders in Erinnerung hatte, viel wärmer, viel herzlicher, viel persönlicher.
Ich habe nie wieder einen Versuch unternommen, mit ihr in Kontakt zu treten. Es bringt nichts, sich zu verzehren. Man muss den Dingen ins Auge sehen oder sich sagen:
Aus den Augen – aus dem Sinn.
*****
Auch meinen Bruder habe ich verloren, wobei verloren nicht das richtige Wort ist. Wir haben uns als Kinder nie wirklich verstanden, weil wir einfach zu verschieden sind. Eldar liebte schon immer das Meer und verbrachte seine gesamte Freizeit am und auf dem Wasser, während ich lieber auf die umliegenden Hügel kletterte. Von dort sah man zwar noch mehr Wasser als vom Strand oder vom Hafen, doch auch die bunten Häuser der Stadt und die Felsen und Wälder ringsum. Ich mag Häuser und Felsen, aber das Meer mag ich nicht.
Wir fanden nichts, was uns beide gleichermaßen interessierte. Zwar haben wir in den langen Wintern gern gelesen, doch nie die gleichen Bücher. Eldar las Schiffsabenteuer und ich von fernen Ländern. So gab es nichts, worüber wir miteinander sprechen konnten.
Mein Bruder wurde Steward auf einem Linienschiff und befindet sich monatelang auf See. Nicht einmal zu meiner Hochzeit konnte er kommen, auch Jante nicht.
Deshalb beschlossen wir, nur mit unseren Eltern zum Standesamt zu gehen. Natürlich an einem Freitag, am Friggas-Tag, dem Tag der Göttin der Ehe. Meine Mutter war damit zufrieden, doch Björns Mutter lange verärgert. Sie sagte, dass eine Heirat nicht nur Braut und Bräutigam und deren Familien betreffe, sondern ein gesellschaftlicher Anlass ist, der gebührend zelebriert und gefeiert werden muss.
Eldar kam auch nicht zur Geburt der Mädchen, nicht einmal zu Vaters Beerdigung.
Vater war ein sehr ungewöhnlicher Mann, denn normalerweise reden Norweger wenig bis gar nicht, doch Vater sprach sehr viel. Er arbeitete als freier Handelsvertreter für eine deutsche Firma, die Diamantwerkzeuge herstellte. Wir sahen ihn kaum, manchmal nicht einmal am Wochenende. Doch wenn er daheim war, hörte man ihn laut lachen und erzählen. Meist kam die ganze Nachbarschaft zusammen und freute sich über seine Geschichten. Er nahm Mutter in die Arme und wirbelte mit ihr im Kreis. Dann lachte sie.
Doch sie lachte nie, wenn Vater nicht daheim war. Manchmal fuhr er mit einem Freund und dessen Boot hinaus aufs Meer, manchmal nahmen sie Eldar mit. Dann weinte Mutter. Sie hatte eine übertriebene Angst vor dem Wasser und glaubte, es würde Menschen verschlingen, ihren Mann und auch ihren Sohn.
Heute scheint es mir, als hätte sie geahnt, dass Vater eines Tages nicht mehr zurückkommt und im Meer ertrinkt. Denn genauso ist es geschehen.
*****
Mutter kam vor mehr als fünfzig Jahren als Freiwillige für ein soziales Projekt von Berlin nach Bergen. Sie mochte die kleinen Häuser und die norwegische Mentalität. Also blieb sie, heiratete und bekam drei Kinder. Obwohl sie sehr schnell die Landessprache lernte, sprach sie mit uns Kindern konsequent Deutsch. Ich habe das damals gehasst und ihr ebenso konsequent auf Norwegisch geantwortet. Heute bin ich ihr dankbar, denn heute profitiere ich davon, die deutsche Sprache zu beherrschen. Zusätzlich zu Englisch lernte ich in der Jugendschule Spanisch, für das Abitur wählte ich die sprachliche Richtung.
Irgendwann erzählte mir Mutter ihre traurige Geschichte. Sie war erst neun Jahre alt, als ihre Mutter kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes starb. Der Vater fing an zu trinken und versorgte das Baby nicht. Das überließ er seiner Tochter, meiner Mutter, die sich nach der Schule um das Kleine und den Haushalt kümmerte. Eines Tages holte man die Kinder direkt von Schule und Kindergarten ab und brachte sie ins Heim. Die beiden jüngeren Geschwister wurden recht bald adoptiert und Mutter an ihrem 18. Geburtstag aus dem Heim entlassen. Sie erfuhr nie, wo ihre Geschwister lebten; das sei aus Datenschutzgründen nicht erlaubt.
Kurz nach Vaters Tod ging Mutter nach Australien. Ich weiß bis heute nicht, warum.
Ich fühlte mich schrecklich allein. Vater hatte keine Verwandten in Norwegen, nur eine greise Tante, die seit vielen Jahren in einem Heim lebte. Mutter hatte zwar Geschwister, doch sie wusste nicht, wo diese lebten. Auch zu meinen beiden Geschwistern gab es keinen Kontakt, weil Eldar immer unterwegs auf See war und Jante zurückgezogen in ihrem Kloster lebte.
Deshalb zögerte ich keinen Augenblick, als Björn vorschlug, nach Deutschland zu gehen. Seine Eltern besaßen in Chemnitz ein Haus in einer ruhigen Siedlung und hatten ihm gesagt, dass eines der Nachbarhäuser zum Verkauf steht.
Sie übernahmen dreißig Prozent der Kaufsumme, so dass wir mit einer angenehm niedrigen Monatsrate über die Runden kamen. Schon Björns Großeltern hatten Geld und hinterließen ein reiches Erbe. Das war nie ein Geheimnis, aber sie protzen nicht. Auch Björn nicht. Ich spürte es nur an seiner nachlässigen Art im Umgang mit Menschen und Dingen, während ich in Geldangelegenheiten schon immer eher ängstlich und sparsam bin.
Es ist ein hübsches Haus mit einer großen, offenen Wohnküche, fünf Schlafräumen und einem großen Garten. Wir wohnen am Ende dieser Straße, einer Sackgasse, die dort breit genug zum Wenden der Fahrzeuge ist. Hierher verirrt sich kein Fremder, man sieht nur Leute, die hier wohnen und deren Besucher. Deshalb kennen sich alle - manche mehr, andere weniger.
Was mir besonders gefällt, sind die hohen Bäume in der Straße. Es gibt Kastanien und Linden. Bei uns daheim in Bergen dominieren die Nadelbäume, die Fichten. Linden gibt es auch, nur duften sie nicht so betörend stark und süß wie hier.
*****
Kaum hatten wir das Haus bezogen, veränderte sich Björn. Schon an seinem ersten Arbeitstag beklagte er sich, die Deutschen seien pingelig, jammern zu viel und lieben ihr eigenes Land nicht. In Norwegen ist es üblich, alle Leute zu duzen, was in Deutschland bei einigen Kollegen und bei seinen Chefs nicht gut ankam.
Ich dagegen fühlte mich sofort wohl in Chemnitz und begrüßte zum Beispiel die nur halb so hohen Lebenshaltungskosten und dass ich die Zahnarztrechnungen nicht mehr privat tragen musste. Es gefiel mir, dass die Männer nicht ganz so selbstherrlich herumstolzierten wie in Bergen.
Chemnitz ist so ganz anders als meine Heimatstadt Bergen, obwohl beide etwas etwa gleich groß sind. Ich mag die Häuser, das viele Grün, die Innenstadt aus einem Mitschmatsch von alt und neu. Die Hügel im nahen Erzgebirge sind nicht so hoch wie die Berge in Norwegen, der höchste Gipfel ist kaum höher als die sieben Stadthügel rund um Bergen. Besonders freut mich, dass es hier erheblich weniger regnet als in meiner Heimat und viel wärmer ist. Ich habe gelesen, dass Chemnitz die sonnenreichste Großstadt des Landes ist.
Auch meine Töchter Emma und Anja haben sich sofort wohlgefühlt und Freunde gefunden. Sie hatten keine Probleme mit der Sprache, weil ihre beiden Omas mit ihnen oft Deutsch sprachen, was sich jetzt auszahlte.
Björn schimpfte nicht nur auf die Deutschen, sondern vor allem mit mir, alles machte ich in seinen Augen falsch. Ich war ihm nicht ordentlich genug. Plötzlich sollte ich täglich kochen, was ich noch nie gemacht hatte. Er verlangte neben Fischgerichten jeden zweiten Tag Rommegrot, eine süße Speise aus saurer Sahne, Grieß und viel Butter, obwohl er wusste, dass sie mir und den Mädchen zu fettig ist. Zum Frühstück verlangte er eingelegten Hering, das jahrelang gewohnte Müsli mit Obst und Joghurt hielt er auf einmal für Männer nicht geeignet.
Er nannte mich unwillig, weil ich mich nicht für Technik interessierte. Ich mag Technik, doch ich will nicht wissen, wie ein Computer oder Auto funktioniert. Ich will nur wissen, wie ich es bedienen muss.
Wir fingen an, uns zu streiten über belanglose Dinge wie das Waschbecken im Bad, das einen langen Riss hatte. Er wollte es nicht austauschen, obwohl ich ihn darum bat.
Machte ich ihn darauf aufmerksam, dass das Wasser in der Dusche nicht abfließt, schaute er nicht einmal von seiner Zeitung auf.
„Vermutlich ist es verstopft“, hakte ich nach.
Er nickte nur, verließ aber nicht seinen bequemen Platz auf dem Sofa.
„Mach endlich was!“, forderte ich verärgert.
Doch es half nichts, er tat nichts mehr im Haus, gar nichts.
Er knallte mit jeder Tür, die ihm in die Quere kam: Badtür, Stubentür, Haustür, Autotür.
Anfangs grübelte ich darüber nach, was ich falsch gesagt oder gemacht hatte. Wenn ich ihn fragte, schrie er mich an, ich solle ihn in Ruhe lassen, wenigstens fünf Minuten am Tag. Dabei war er kaum noch daheim. Doch sobald er daheim war, herrschte eine unangenehm angespannte Stimmung, die ich immer weniger ertrug.
Anja war noch klein und fing an, sich vor ihrem Vater zu fürchten. Emma ging ihm aus dem Weg.
Ich nannte ihn einen grässlichen Choleriker und er schimpfte mich eine hysterische Kuh.
„Wenn ich in Wut gerate, dann allein wegen dir!
Niemand sonst bringt mich so in Rage wie du!“
„Lass ihn doch schreien!“, riet mir Nicole. „Er schreit nicht dich an, weil er ein Problem mit dir hat, sondern eines mit sich selbst.“
Warum sagt er nicht, was ihn bedrückt? Ich bin seine Frau, ich würde ihn verstehen und ihm helfen. Was ihn betrifft, betrifft auch mich.
„Schrei nicht so!“, bat ich.
„Der Ton macht die Musik!“, brüllte er.
„Genau das meine ich. Rede vernünftig mit mir!“
„Mit dir? Du bist die Letzte, mit der man vernünftig reden kann.“
Dabei schaute er mich derart hasserfüllt an, dass es mir eiskalt den Rücken herunter lief und ich zurückzuckte.
Auch er zuckte zurück und zeigte mir eine betroffene Miene, was mich sofort milde stimmte. Ich lächelte ihn an, er lächelte zurück. Doch es war kein echtes Lächeln, eher ein verkrampftes und zugleich spöttisches, das mich irritierte.
„So solltest du nicht mit mir reden“, sagte ich leise.
„So sollte ich nicht mit dir reden?“
An seiner Tonlage und seiner Mimik merkte ich, dass er mich nachäffte. Machte er sich lustig über mich? Merkte er nicht, wie unglücklich ich war?
Von diesem Tag an äffte er mich ständig nach. Strich ich mir die Haare aus dem Gesicht, tat er das ebenfalls – nur mit übertriebener Geste. Er wiederholte alles, was ich sagte in einem kindlich quäkendem Ton. Anfangs habe ich gelacht. Doch ich merkte bald, dass er mich nicht erheitern, sondern verletzen wollte.
Ich hatte im Internet gelesen, dass das Spiegeln eine manipulative Kommunikationsart ist, die bei Verkaufsgesprächen und Psychologen angewandt wird, auch gern von Erziehern. Vermutlich hatte er das in seiner neuen Arbeitsstelle gelernt und probierte diese unangenehme Technik an mir aus.
Er stürzte sich auf meine Worte wie ein strenger Richter und verdrehte sie zum Gegenteil, so dass ich nicht mehr weiter wusste und am Ende weinte. Meine Hilflosigkeit legte er als Starrsinn aus, was ihn noch wütender machte.
Ich weiß, dass Zorn ein ganz normales Gefühl ist, das man erleben und nicht beurteilen soll. Es ist wie alle anderen Gefühle eine Form der Kommunikation. Und doch kam ich mit Björns Zorn nicht zurecht, weil er direkt gegen mich gerichtet war und unser Zusammenleben zerstörte. Ich war wie gelähmt und mir war es nicht mehr möglich, auf seine Wutausbrüche zu reagieren. Ich versuchte nur noch, ihm aus dem Weg zu gehen, um jeden Streit zu vermeiden, doch es gelang mir nicht.
Früher hielten wir schlechte Stimmungen nur wenige Minuten aus und versöhnten uns spätestens abends im Bett, wenn der Sex alles wieder gut machte.
Doch es gab keinen Sex mehr. Er küsste mich nicht einmal. Nicht, wenn er aus dem Haus ging und auch nicht, wenn er von der Arbeit kam und schon gar nicht ohne jeden Grund. Überhaupt nicht. Wollte ich ihn küssen, brummte er: „Lass das!“
Wenn er früher in der Nacht zu mir ins Bett kam, nahm er mich wortlos in den Arm. Er musste nichts sagen, ich wusste auch so, dass alles in Ordnung war. Selbst, wenn ich noch kurz zuvor verärgert war, beruhigte ich mich sofort und vergaß im gleichen Moment allen Streit des Tages. Meist hatte ich kalte Füße und Hände, doch seine Nähe durchwärmte meinen ganzer Körper.
Später in Deutschland hatte ich das Gefühl, neben ihm im Bett zu erfrieren – so eine Kälte strahlte er aus. Dann nahm ich meine Bettdecke und legte mich aufs Sofa in der Stube. Obwohl mir unser Hund sofort Gesellschaft leistete, fühlte ich mich allein gelassen, verstoßen. Davon merkte er nie etwas. Ich fehlte ihm nicht. Er schlief. Wenn ich mich darüber beklagte, sagte er: „Es war deine Entscheidung, das Bett zu verlassen, nicht meine.“
Björn trank in Deutschland erheblich mehr Bier und Schnaps als früher, denn man bekommt den Alkohol recht günstig und vor allem bequem in jedem Supermarkt und jeder Tankstelle – nicht wie in Norwegen in speziellen staatlichen Läden.
Ich beschwerte mich: „Wir sitzen am gleichen Esstisch, wir schauen vom gleichen Sofa aus den gleichen Film und wir liegen in der Nacht im gleichen Bett. Aber wir machen nichts zusammen.“
„Was denn noch? Immer musst du meckern und mir die Stimmung verderben!“
Anfangs fand ich leicht Erklärungen für seine üble Laune. Ich schob sie Ärger mit der ungewohnten neuen Arbeit zu oder dem Leben in einem Land, dessen Sprache er zwar verstand, die ihm aber fremd war. Ich glaubte, ihm fehlen seine Freunde und kam nicht auf die Idee, dass er mich nicht mehr liebte.
Der italienische Frauenheld Casanova sagte einmal, dass die Liebe zu drei Vierteln aus Neugier besteht. Ist Björns Neugier gestillt?
Nicole meinte damals, dass er eine andere Frau hätte so wie ihr Mann, der sie ständig betrog. Sie störte das nicht, ihr war nur wichtig, dass er sie und die Kinder finanziell gut versorgte.
„Du darfst von Männern nicht zu viel erwarten!“, riet sie mir. „Ein Mann kann dir nicht alles geben, was du brauchst. Er denkt anders als du, er fühlt anders als du, er handelt anders als du. Nimm sein Geld und lasse ihn machen, wozu immer er Lust hat!“
So stellte ich mir keine Ehe vor und so wollte ich auch nicht leben, nicht einmal mit Björn.
„Sei froh, wenn du deine Ruhe vor ihm hast! Ich lege jedenfalls keinen Wert darauf, dass mich mein Mann mit seinen ungeschickten dicken Fingern befummelt. Das darf er gern bei anderen Frauen tun.“
Dass Björn mich betrog, glaube ich bis heute nicht. Ich war nie eifersüchtig, doch seit er nicht mehr bei mir ist, ertrage ich den Gedanken nicht, dass er andere Frauen küsst.
Ich weiß, dass das absurd ist. Hätte ich ihn verlassen und nicht er mich, wären mir seine Liebschaften sicher gleichgültig.
Heute bin ich lieber allein, als mit jemandem zusammen, der mir das Gefühl gibt, allein zu sein.
*****
In Norwegen wird die Ehe einfach aufgehoben, wenn man dies wünscht und ein Jahr getrennt gelebt hat. Es gibt kein Verfahren und somit entstehen auch keine Kosten. An das gesetzlich festgelegte Umgangsrecht können wir uns wegen der Entfernung zwischen Bergen und Chemnitz allerdings nicht halten, das gemeinsame Sorgerecht bleibt davon unberührt. Deshalb einigten wir uns auf nur zwei Besuche pro Jahr und einen höheren Unterhalt für die Kinder.