Meine seltsamen Nachbarn - Petra Weise - E-Book

Meine seltsamen Nachbarn E-Book

Petra Weise

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Beschreibung

Sandra findet ihre neuen Nachbarn recht seltsam. Bald erfährt sie, was sehr viele miteinander verbindet: die nahe psychiatrische Klinik, ob als Pfleger, Arzt oder Patient.

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Manchmal ist der einzige Weg, normal zu bleiben, ein bisschen verrückt zu sein.

Jeder spinnt auf seine Weise, der eine laut, der andere leise.

Joachim Ringelnatz

Inhalt

Vorgeschichte

Mona

Sofie

Claudia

Kevin

Alea

Miriam

Wasserkopf

Mona

Rasmus

Streithähne

Daniela

Kevin

Detlef

Kevin

Schluss

Vorgeschichte

Das letzte Jahr war derart grauenvoll, dass ich dachte, verrückt zu werden.

Im Haus gab es einen neuen Nachbarn. Das heißt, er wohnte schon länger dort als ich, doch ich kannte ihn nicht, weil er lange Zeit in einer Psychiatrie untergebracht war. Ich weiß nicht, warum und man fragt so etwas auch nicht. Mir schien er harmlos, direkt nett, oder harmlos und nett geworden dank seiner Tabletten oder was immer man solchen Leuten gibt, damit sie sich wieder ganz normal wie eben normale Leute benehmen. Verwandte oder Freunde schien er keine zu haben, denn ich sah ihn immer nur allein.

Die Nachbarn nannten ihn den Verrückten, weil er mit sich selbst redete. Ich verstand ihn schlecht, weil er so klang, als hätte er zwei heiße Kartoffeln im Mund. Manchmal stand er am Straßenrand und winkte vorbeifahrenden Auto zu. Wenn sie hupten, hüpfte er vor Freude hin und her. Das fand ich zwar seltsam, doch nicht weiter schlimm.

Eines Tages kam ich von der Arbeit und sah schon von weitem Blaulicht. Die ganze Straße war von versperrt und ich musste weit entfernt parken. Das Parken war ohnehin ein tägliches Problem, weil die Tiefgarage, die zum Haus gehörte, nicht benutzt werden durfte, obwohl ich jeden Monat für den Platz bezahlte. Irgendwann war Wasser hineingelaufen oder das Grundwasser kam nach oben – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es etwas mit Wasser zu tun hatte und das Parken in der Garage verboten war.

Beim Näherkommen zählte ich fünf Feuerwehren, vier Polizeiwagen und zwei Krankenautos. Ich musste vor dem Haus warten und beobachtete, dass zwei Sanitäter eine Person auf einer Trage in ihr Fahrzeug schoben.

„Das war der Verrückte“, erklärte eine Frau. „Der hat wieder gezündelt, fackelt uns noch das ganze Haus ab. Nun kommt er in die Geschlossene.“

„Was ist das?“

„Der wird weggesperrt.“

Vielleicht war das gut so, denn seit einigen Wochen brannte es immer wieder. Mal brannten Zeitungen im Treppenhaus, mal die Mülltonnen im Hof, einmal sogar Autoreifen im Keller. Alles war eindeutig Brandstiftung.

Alle waren froh, dass der Verrückte keinen Schaden mehr anrichten konnte und jeder hoffte, dass er nie wieder in unser Haus zurückkommt.

Trotzdem ließ der Vermieter überall Rauchmelder einbauen.

Drei Wochen später brannte mitten in der Nacht direkt vor unserem Haus ein Auto. Wieder kamen Feuerwehr, Polizei und Krankenwagen. Wieder wurde die Straße abgesperrt und einige Nachbarn wurden sogar evakuiert. Es wurde erzählt, dass jemand brennende Grillanzünder auf die Reifen gelegt hatte und nur wenige Minuten später das ganze Auto in Flammen stand.

Erst viel später stellte sich heraus, dass eine ältere Frau aus unserem Haus die Brände gelegt hatte und keiner kennt den Grund. Der Verrückte wurde also zu Unrecht beschuldigt.

„Na und?“, schimpfte mein Freund. „Ein Verrückter weniger! In diesem Haus bleibe ich keinen Tag länger. Und wenn du hier bleibst, bist du ebenfalls verrückt.“

Doch wo sollte ich hin so schnell? Außerdem standen drei volle Monate Kündigungszeit im Mietvertrag. Das interessierte Heiko nicht. Er wollte nur schnell weg und ließ mich einfach zurück.

Natürlich rief ich ihn an und bat ihn, mit mir zusammen eine neue Wohnung zu suchen. Nach diesem Anruf drückte er mich immer weg, wenn er meine Nummer sah und ich begriff, dass es aus war zwischen uns.

*****

Nun lebe ich am anderen Stadtende in einer sehr ruhigen und sauberen Wohngegend. Die Häuser sind nicht beschmiert und kein Müll liegt auf der Straße. Meine kleine Zwei-Raum-Wohnung hat sogar einen Balkon. Ganz in der Nähe gibt es einen Supermarkt, zwei Bäcker und eine Bushaltestelle für zwei Linien ins Stadtzentrum. Das Hotel, in dem ich arbeite, ist so nahe, das ich es fußläufig erreichen kann. Hinter dem Haus befindet sich ein Hof mit einem festen Parkplatz für mein Auto und eine kleine Wiese, auf der eine Wäschespinne und eine Bank stehen. Die Zufahrt und der Hof sind von Blumenrabatten gesäumt. Auf der schmalen Straße fahren nur wenige Autos und wegen der vielen Bäume am Straßenrand habe ich fast das Gefühl, im Grünen zu wohnen.

Mona

Sonntag. Ich habe frei, sitze auf meinem kleinen Balkon und frühstücke. Das ist wie Urlaub. Gleich morgen werde ich Blumenkästen kaufen und sie so hübsch bepflanzen wie meine Nachbarn. Mit Pflanzen kenne ich mich nicht aus, auch nicht mit Vögeln, die zwischen den großen Bäumen hin und her fliegen. Ein winzig kleiner Vogel flattert ganz in der Nähe einem Insekt hinterher, das sich hinter die Brüstung des Nachbarbalkons retten will. Doch der geschickte Vogel hält bereits seine Beute im Schnabel. Das erstaunt mich, denn ich weiß, wie schwer es ist, eine Fliege oder Mücke zu fangen. Fliegen können in der Luft stehen und ganz plötzlich ihre Richtung ändern.

Diese Ruhe tut mir gut.

Doch plötzlich dröhnt in der Ferne ein Martinshorn, dessen Auf und Ab sich rasch nähert. Noch während ich überlege, weshalb diese Sirene Martinshorn genannt wird, hält direkt vor unserem Haus ein großes Polizeiauto mit Blaulicht, gefolgt von zwei weiteren Polizeiwagen. Aus jedem Fahrzeug steigen zwei Beamte, die in ihren schwarzen Uniformen zum Fürchten aussehen.

Schwarz hat so etwas Bedrohliches und soll wohl Macht demonstrieren. Mir gefielen die blauen Uniformen besser, sie wirkten freundlicher. Meine Mutter sagt, früher waren die Uniformen grün. Grün symbolisiert die Hoffnung, Hoffnung auf Hilfe. Blau ist wohl eher neutral, aber schwarz dominant und düster und steht für den Tod.

Die sechs Polizisten laufen eilig in die Einfahrt zum Haus gegenüber. Auf jeden Fall muss etwas furchtbar Schlimmes passiert sein, weil so viele Polizisten in das Haus stürmen.

Gespannt beobachte ich das Haus auf der anderen Straßenseite und hoffe, irgend etwas zu sehen. Leider befindet sich die Haustür hinten im Hof, so dass ich warten muss, bis die Polizisten wieder zurückkommen. Ganz sicher ist jemand in Gefahr und braucht dringend Hilfe.

Nun parkt ein Auto direkt vor meinem Balkon. Ich beuge mich über die Brüstung, um besser sehen zu können. Zwei ältere Leute steigen aus und laufen ebenfalls in die Einfahrt. Ob sie etwas mit dem Unglück zu tun haben?

Jetzt fahren drei große Feuerwehren vor, die dritte mit der Aufschrift Höhenrettung, und bleiben in der Straßenmitte stehen. Das kann nur bedeuten, dass es im obersten Stockwerk brennt. Denn dort gibt es eine Wohnung mit Kohleöfen. Ich wusste gar nicht, dass heutzutage so alte Heizungen noch erlaubt sind, weil das Verbrennen von Kohle und Holz wegen der Schadstoffe gesundheitsschädigend ist. Meine Oma behauptet allerdings, ein Ofen verströmt eine gemütlichere Wärme als eine moderne Heizung. Doch den Dreck, der solch ein Ofen verursacht, mochte sie nicht, auch nicht die Schlepperei mit Kohlen, Holz und Asche. Sie war froh, als ihr alter Kachelofen abgerissen wurde, da er den Brandschutzbestimmungen nicht mehr genügte. Jetzt hat sie wie ich in jedem Raum einen flachen Heizkörper und ist glücklich über den gewonnenen Platz und der Sauberkeit in der Stube und der Wärme im Bad. Sie kocht auch nicht mehr auf dem Herd, sondern bequem auf elektrischen Platten.

Ich beuge mich über die Balkonbrüstung und sehe auch in unserer Einfahrt eine Feuerwehr, ein etwas kleineres Fahrzeug mit Blaulicht. Mehrere Männer in schwarzen Uniformen, auf denen gelb-grün leuchtende Streifen angebracht sind, laufen zum Haus. Ihre Köpfe sind von Helmen, die Gesichter von durchsichtigen Scheiben geschützt. Aber sie tragen weder einen Wasserschlauch noch Feuerlöscher. Also brennt es gar nicht! Ich sehe auch keinen Rauch und rieche keinen Brand. Warum also die Höhenrettung? Und warum fahren sie ihre Leitern nicht aus? Angespannt betrachte ich das Dach. Über der Dachwohnung sind kleine Luken, doch aus keiner winkt ein Mensch, der Hilfe braucht.

Die zwei älteren Leute von vorhin kehren zu ihrem Auto zurück, der Mann trägt einen großen Koffer, die Frau ein kleines Mädchen, hinter ihnen läuft eine junge Frau, die zwei Taschen schleppt. Sie verstauen Kind und Gepäck im Auto und schauen sich immer wieder zum Haus um, schütteln die Köpfe und raufen sich die Haare.

Was bedeutet das? Vielleicht wohnt die junge Frau mit dem Kind ganz oben in der Wohnung mit der Ofenheizung? Vielleicht ist ihrem Mann etwas passiert? In diesem Fall konnte sie den Polizisten und Feuerwehrleuten die Tür öffnen, weshalb keine Leiter gebraucht wird. Am liebsten würde ich sie fragen, doch das wage ich nicht, weil die drei verstört wirken, besonders die junge Frau. Ich vermute, dass sie die Tochter des älteren Paares ist, die ihrem Kind und Enkel zu Hilfe eilten.

Auf jeden Fall muss etwas ganz besonders Schlimmes passiert sein, weil drei Polizeiwagen und vier Feuerwehren eingesetzt werden.

Das erinnert mich an den Vorfall in meinem früheren Wohnhaus. Auch damals kamen viele Fahrzeuge von Feuerwehr und Polizei und ließen mich viele Stunden nicht ins Haus. Ich hatte mir solche Sorgen gemacht, weil mir keiner sagen wollte, was passiert ist. Dabei hatte nur der Müll im Hof gebrannt. Das Löschen war schnell erledigt, doch das Absperren und Überprüfen dauerte ewig. Zum Schluss nahmen sie nur den Verrückten mit, der mit dem angezündeten Müll gar nichts zu tun hatte.

Ein Sanitäter schiebt eine Krankenliege den Fußweg entlang und biegt in die Einfahrt zum gegenüber liegenden Hof. Kurz darauf verlassen die Feuerwehrleute das Gelände, steigen in ihre Fahrzeuge und fahren davon. Nun ist die Zufahrt für den Krankenwagen frei, gefolgt vom Notarzt.

Mir ist kalt, aber ich rühre mich nicht von der Stelle, um nichts zu verpassen. Erst eine halbe Stunde später fährt der Arzt wieder ab und kurz darauf der Krankenwagen. Leider kann ich nicht sehen, ob sich in ihm Verletzte befinden.

Schließlich gehen auch die Polizisten zu ihren Autos und fahren davon.

Obwohl nun alles ruhig ist, finde ich keine Ruhe und grüble, was wohl passiert sein mag. Auf jeden Fall muss es mit dem kleinen Mädchen und der jungen Frau zusammenhängen, die von dem älteren Paar abgeholt wurden. Vielleicht erfahre ich an einem der nächsten Tage von den Nachbarn, was im Haus gegenüber passiert ist. Dumm ist nur, dass ich noch nicht lange hier wohne und niemanden näher kenne.

*****

Als ich am nächsten Tag vom Frühdienst komme, spricht mich eine ältere Frau vor dem Haus an. Ich sehe sie fast täglich mit ihrem Mann spazieren oder einkaufen gehen. Sie laufen sehr langsam in vorsichtigen kleinen Schritten, der Mann klammert sich an seinem Rollator fest und hat sichtlich Mühe, sich auf den Beinen zu halten, die Frau stützt sich auf einen Stock. Die beiden wohnen zum Glück im Erdgeschoss und müssen keine Treppen steigen. Ich weiß das, weil ich ihnen einmal ihre Einkaufstaschen ins Haus getragen habe.

Die Frau ist sehr gesprächig und hat sich bei unserer ersten Begegnung als Frau Rühle vorgestellt, ihren Begleiter als Anton, den sie liebevoll Toni nennt. Sie wohnen seit sieben Jahren zusammen und wollen im nächsten Monat heiraten. Beide waren schon einmal verheiratet und haben Kinder mit ihren ehemaligen Partnern, doch ihre große Liebe haben sie erst jetzt gefunden. Mich rühren derartige Geschichten, vor allem, wenn so alte gebrechliche Menschen wie diese beiden ihr spätes Glück finden.

„Begleitest du mich?“, fragt Frau Rühle. „Ich darf dich duzen, nicht wahr? Du bist jung und ich alt.“

Sie lacht. Dann verfinstert sich ihr Gesicht und sie klammert sich an meinen Arm.

„Kommst du mit?“

„Zum Einkauf?“

„Nein, in meine Wohnung. Ich fürchte mich allein.“

Die Frau erzählt, dass sie wegen des schrecklichen Tumults bei einer Freundin übernachtete und sich jetzt nicht nach Hause traut.

Ich kann verstehen, dass sie der Lärm, den die vielen Polizisten und Feuerwehrleute verursachten, in Angst und Schrecken versetzte. Doch bevor ich fragen kann, was eigentlich passiert ist, merke ich, dass Frau Rühle heftig zittert. Deshalb sage ich nichts, aber in meinem Kopf überstürzen sich Gedanken und Befürchtungen.

Es könnte ein Einbrecher über den Balkon in die Wohnung eingedrungen sein, der Herrn Anton verletzt hat. Deshalb musste Frau Rühle die Polizei rufen. Doch wo ist ihr Partner jetzt? Hat ihn der Krankenwagen mitgenommen? Und warum kam die Feuerwehr? Das Paar wohnt im Erdgeschoss. Vielleicht flüchtete der Täter ins Dachgeschoss und hat die junge Frau bedroht, weshalb das ältere Paar kam und ihre Tochter und das Enkelchen abholten.

„Nun wird alles gut“, tröste ich.

„Ja, sie haben ihn mitgenommen. Endlich.“

Sie seufzt erleichtert. Aber ich kann mir auf dieses endlich keinen Reim machen.

„Was meinen Sie mit endlich? War der Täter schon einmal hier?“

Frau Rühle wedelt fahrig mit ihren Armen durch die Luft und wirkt ängstlich und zugleich wütend.

„Die Polizei war schon einmal hier, hat ihn aber nicht mitgenommen und die Rettung sagte beim letzten Mal, ich hätte die Notrufnummer missbraucht. Aber wen soll ich anrufen, wenn nicht die 110 und die 112?“

Ich verstehe nicht, wovon sie spricht. Wen hat die Polizei nicht mitgenommen? Und wieso hat sie die Notrufnummer missbraucht? Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Doch Frau Rühle keucht und stöhnt bei jedem Schritt, weshalb ich nicht weiter nachfrage.

Inzwischen stehen wir vor der Haustür und Frau Rühle bittet mich, den untersten Klingelknopf zu drücken, auf dem Rühle/Nowak steht. Es meldet sich niemand.

„Er geht sowieso nicht an die Tür, maximal ans Küchenfenster.“

Prüfend schaut sie auf ein Fenster und zeigt sich zufrieden, dass es weder geöffnet wird noch die Gardine wackelt. Sie drückt mir einen Schlüssel in die Hand und bittet mich, aufzuschließen. Auch die Wohnungstür.

„Geh vor und schau in jedes Zimmer, ob er da ist!“

Glaubt sie, der Einbrecher versteckt sich noch in der Wohnung? Den hat die Polizei längst gefasst. Oder ist er entkommen? Mir fällt ein, dass sie das Haus ohne eine Person in Handschellen verließen. Nur der Krankenwagen könnte ihn mitgenommen haben. Vermutlich wurde der Eindringling bei der Festnahme verletzt und kam ins Krankenhaus. Doch wo ist Herr Nowak? Hat er ebenfalls bei Bekannten übernachtet? Auf jeden Fall wäre ich ebenso vorsichtig wie die alte Frau und würde in jeden Winkel, in jeden Schrank und auch unters Bett schauen, um sicher zu gehen, dass sich kein Fremder in meiner Wohnung befindet.

„Wo ist eigentlich Ihr Mann?“

Die Frau schaut mich an, als hätte ich sie beleidigt und faucht: „Der ist nicht mein Mann! Bewahre!“

„Ich meine Herrn Anton, ihren Partner.“

Natürlich weiß ich, dass die Beiden erst im nächsten Monat heiraten wollen, doch die meisten Frauen bezeichnen auch ihre Lebensgefährten als ihren Mann. Ich mag nicht noch einmal fragen und eigentlich auch nicht in diese Wohnung. Die Angst der Frau hat sich längst auf mich übertragen und ich fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt, als ich jeden Abend vor dem Zubettgehen in jedem Schrank und sogar unter dem Bett nachsah, ob sich ein Gespenst versteckt hatte.

„Noch einmal kommt der mir nicht hier rein!“

„Wen meinen Sie?“

„Den Nowak. Der hat dieses Chaos verursacht.“

Sie spricht von ihrem Partner Anton Nowak.

„Welches Chaos?“

Die Frau winkt mit der Hand ab.

„Schau!“ Sie schiebt mich in den Flur. „Alle Spiegel sind verhängt.“

„Wo?“

Der große Spiegel neben der Tür sieht ganz normal aus.

„Geh ins Bad! Dort hat er alles breitgeworfen, Wanne und Spiegel verschmiert.“

Frau Rühle schluchzt laut auf und zeigt auf eine Tür. Dahinter befindet sich das Bad. Doch auch hier ist alles in Ordnung, es liegen keine Gegenstände auf dem Boden, die Spiegel sind weder beschmiert noch mit Tüchern verhüllt. Ich sehe nur ein Gebiss im Waschbecken liegen und zeige mit der Hand darauf.

„Wirf es weg!“, schreit sie hysterisch. „Weg! Weg damit!“

„Gehört es nicht ...“

„Dem seins! Ich will das nicht!“

„Ihr Freund wird es brauchen.“ Ich lege das Gebiss in einen Zahnputzbecher, den ich mit Wasser fülle, und wasche mir die Hände. „Hier ist alles in Ordnung“, fasse ich zusammen.

„Ich bin doch nicht verrückt!“, ruft Frau Rühle aus. „Ich habe das Chaos mit eigenen Augen gesehen.“ Also war doch ein Einbrecher hier. Vielleicht haben ihn die beiden Alten überrascht, als er die Schränke durchwühlte, und die Polizei gerufen. Nach der ganzen Aufregung wird sie zu ihrer Bekannten geflüchtet sein und Herr Nowak hat hier für Ordnung gesorgt.

Frau Rühle schiebt mich in die Wohnstube und anschließend ins Schlafzimmer.

„Die Schranktüren sind alle kaputt und meine Kleider liegen auf dem Boden!“

Auch in diesen Räumen herrscht Ordnung, sogar die Betten sind gemacht, die Schranktüren unversehrt und nichts liegt auf dem Boden.

„Der hat aufgeräumt! Das muss man ihm lassen“, sagt sie, obwohl es eher herablassend klingt.

Ich nicke. Herr Nowak hat wirklich gut aufgeräumt, von einem Chaos ist nichts mehr zu sehen. Aber wo ist er?

„Setzen Sie sich erst einmal und beruhigen Sie sich! Soll ich Ihnen etwas zu trinken holen?“

„Ich habe nichts da! Gestern alles in den Ausguss geschüttet: Bier, Wein, Sekt und den Schnaps. Ich brauche das nicht.“

Ich hatte eher an ein Glas Wasser gedacht.

„Sag Mona zu mir! Eigentlich heiße ich Monika, aber das klingt so altmodisch.“ Sie mustert mich.

„Wie heißt du eigentlich?“

„Sandra. Sandra Kummer.“

„Kummer?“ Sie lacht schallend. „Mach mir keinen Kummer, Sandra!“

Mich verwirren Monas rasche Stimmungswechsel. Mal weint sie, dann ist sie wütend, sie lacht und erzählt. Zudem verstehe ich nicht, was hier eigentlich passiert ist. Ich verstehe nur, dass sich Mona freut, dass ihr Partner nicht hier ist, aber ich begreife den Grund nicht.

In diesem Moment klingelt das Telefon und Mona schiebt mich aufs Sofa. Obwohl ich keine Zeit habe, bleibe ich sitzen, denn es scheint mir unhöflich, einfach wegzulaufen.

Es scheint ein recht unangenehmer Anruf zu sein, denn sie wiederholt mehrfach wütend: „Damit habe ich nichts zu tun!“Immer wieder höre ich, wie Mona energisch etwas ablehnt, doch zum Schluss sagt sie: „Gut, ich bin gleich da.“

„Ich muss los“, sage ich und wende mich zur Tür.

„Warte! Ich muss in die Klinik. Fahr mich!“ Nach einer kurzen Pause fügt sie ein flehentliches: „Bitte!“ an.

Und schon fließen wieder ihre Tränen. Vermutlich ist sie krank, wenn sie sofort in die Klinik muss. Sie scheint mir ziemlich verwirrt, was ich nach all der Aufregung mit Einbruch, Polizei und Feuerwehr gut verstehe.

„Gern, doch ich habe nicht viel Zeit.“

Meist komme ich gegen 11 Uhr vom Frühdienst und muss spätestens 17 Uhr wieder im Hotel sein.

„Die Klinik ist gleich vorn an der Hauptstraße, das dauert nicht lange. Ich muss Sachen für den Nowak abgeben, weil der nichts mitgenommen hat.“

„Heißt das, Herr Nowak ist in der Klinik? Ist er verletzt?“

„Wieso verletzt?“

Er liegt im Krankenhaus, also geht es ihm nicht gut. Immerhin verstehe ich, dass Herr Nowak in das große Krankenhausgelände eingeliefert, das sich keine fünf Fußminuten entfernt befindet, und Mona will ihm Wäsche bringen.

„Das ist wirklich nicht weit. Wir können schnell zu Fuß hingehen.“

„Und die schwere Tasche?“, fragt sie streng.

Ich helfe gern, doch Frau Rühle hat eine sehr bestimmende Art an sich, die mir von Minute zu Minute unangenehmer wird. Gleichzeitig wirkt sie hilflos, weshalb ich es nicht fertigbringe, sie jetzt im Stich zu lassen.

„Mir geht es nicht gut, weil mir der gestrige Tag noch in den Knochen sitzt. Ich kann kaum gehen.“

Ich sehe Tränen in ihren Augen und sofort tut sie mir leid.

„Wissen Sie was? Sie packen die Tasche und ich hole inzwischen mein Auto hier auf den Hof, dann müssen Sie nicht erst über die Straße.“

Unterwegs erzählt sie, dass der Nowak Ungar ist und sie ihn vor gut sieben Jahren im Urlaub kennenlernte.

„Er war so charmant, dass ich gar nicht merkte, wie er mich um den Finger wickelte. Wir fuhren zusammen hierher zurück. Er hatte nichts bei sich, nur einen kleinen Koffer aus Pappe, nistete sich bei mir ein und zeigte sein wahres Gesicht.“

„Was hat er denn gemacht?“, erkundige ich mich und rechne mit schlimmen Dingen wie Wutanfällen oder gesetzlosem Verhalten.

„Der trinkt jeden Abend Bier, schaut ständig aus dem Küchenfenster und beobachtet die Nachbarn. Manchmal steht er auf dem Hof und redet dummes Zeug.“

„Aber das ist doch nicht schlimm!“, versuche ich, sie zu beruhigen.

Sie schaut mich an, als hätte ich sie beleidigt.

„Der gehört in die Nervenanstalt!“, spuckt sie giftig aus.

Die nahe Klinik ist kein normales Krankenhaus, sondern eine sogenannte Klapsmühle für Nervenkranke. Hat Mona wirklich ihren langjährigen Freund in die Psychiatrie einliefern lassen, weil er Leute beobachtet und auf dem Hof steht? Fassungslos schüttle ich den Kopf und versuche, mir einzureden, dass ich nur etwas falsch verstanden habe.

„Ich musste endlich etwas unternehmen und habe schon einmal die Polizei gerufen.“

„Warum?“

„Weil er überall geklingelt hat.“

Das ist zwar lästig, doch kein Grund, die Polizei zu rufen.

„Und was haben die Polizisten gemacht?“

„Nichts! Stell dir das vor! Sie sind einfach wieder gegangen und haben noch frech gelacht.“

Fast hätte auch ich gelacht. Doch ich schüttle nur den Kopf. Nicht über die Polizisten, sondern darüber, dass Frau Rühle ihren Partner bei der Polizei anzeigt, weil er bei den Nachbarn klingelt.

„Dann habe ich die Rettung gerufen und denen gesagt, dass der Nowak ...“

Warum nennt sie ihn nie bei seinem Vornamen?

„… getrunken hat. Sie haben ihn erst mitgenommen, als er auf nichts reagierte und sie merkten, dass irgend etwas nicht in Ordnung war. Ich habe denen auch klar gesagt, dass der nach drüben gehört.“

„Nach drüben?“

„In die Klapse natürlich! Aber am gleichen Tag kam er mit dem Taxi zurück.“ Empört schnauft sie. „Ich habe die Ärztin angerufen und gefragt, wieso sie ihn entlassen haben. Da sagt die frech, das hat er selbst getan und ich hätte die Notrufnummer missbraucht. Missbraucht! Stell dir das mal vor!“

Ich mag mir das nicht vorstellen und glaube, dass Frau Rühle verwirrt ist. Das ist nicht schlimm. Doch es ist schlimm, dass sie Herrn Nowak in die Nervenklinik einweisen ließ. Sehr schlimm sogar. Ich versuche, nicht näher darüber nachzudenken und mir einzureden, dass es mich nichts angeht.

Wir parken auf dem Klinikgelände und steigen aus. Mona lässt die Beifahrertür offen und geht zielsicher zum Haupteingang. Ich greife ihre Tasche mit den Sachen, verriegle das Auto und gehe ihr nach.

„Du kannst die Tasche hier abstellen. Darum wird sich eine Schwester kümmern. Ich will damit nichts zu tun haben.“

„Wollen Sie Ihren Partner gar nicht sehen?“, frage ich irritiert.

„Wozu?“ Sie packt meinen Arm, zieht mich zur Tür und hinaus zum Auto. „Hier ist er gut aufgehoben.“

Gut aufgehoben? Das klingt, als hätte sie ein Tier abgegeben. Aber kein geliebtes Tier, das gut betreut werden soll, sondern eins, das man nicht wiederhaben will. Auf einmal erscheint sie mir herzlos und durchtrieben, was mich wütend und fassungslos macht. Am liebsten würde ich sie einfach stehenlassen. Ich begreife das alles nicht. Ihr Partner liegt in die Psychiatrie, aber sie will ihn nicht sprechen. Sicher geht es ihm nicht gut und er braucht eine Vertraute, die ihn unterstützt. Ich hoffe, dass es dafür eine ganz einfache Erklärung gibt.

„Und jetzt fahren wir einkaufen!“, verkündet Mona fröhlich.

Als sie mein entsetztes Gesicht sieht, lässt sie sich schwer gegen meine Brust fallen und umklammert meinen Arm.

„Ich kann jetzt nicht allein sein“, schluchzt sie. „Mir geht es furchtbar elend. Die ganze Nacht lag ich wach und wusste nicht weiter. Gegessen habe ich auch noch nichts.“

Sie tut mir leid.

Gleich in der Nähe ist ein Supermarkt. Es macht mir keine Mühe, sie dorthin zu bringen. Zurück nach Hause kann sie leicht allein laufen.

„Nicht hier entlang! Ich mag heute nicht zu Netto. Fahr mich zu Rewe!“

Auch das noch! Ich wollte sie bei Netto absetzen, weil sie von dort auch mit einer schweren Tasche die wenigen Schritte bis zu ihrem Haus laufen kann. Aber nun sind wir einmal unterwegs und ich fahre die etwa drei Kilometer bis zum gewünschten Supermarkt.

„Warte hier auf mich! Ich weiß, was ich will und bin gleich zurück.“

So langsam, wie sich Mona vorwärts bewegt, werde ich wohl länger auf sie warten müssen als mir lieb ist. Verärgert nehme ich mein Handy aus der Tasche und lese die letzten Nachrichten meiner Freundin Sofie.

Sofie und ich haben uns in der Berufsschule kennengelernt und arbeiten im gleichen Hotel. Sie hat jetzt Dienst, weshalb ich sie nicht anrufen kann. Ich schicke ihr nur eine SMS: ne Nachbarin nervt, melde dich!

Mona steht vor dem Laden und winkt mir zu. Mühsam schiebt sie mir den Einkaufswagen entgegen. Schnell steige ich aus und helfe ihr, die vielen Sachen in einen Beutel und im Auto zu verstauen.

„Die Blumen sind für dich!“ Sie drückt mir einen Strauß Tulpen gegen den Bauch, schaut mich streng an und sagt barsch: „Keine Widerrede!“

Die Frau ist seltsam, aber irgendwie amüsiert sie mich. Über die Blumen freue ich mich, nur die unangenehme Geschichte mit ihrem Mann in der Klinik und dem Überfall, der vielleicht gar kein Überfall war, geht mir nicht aus dem Kopf.

*****

Zwei Tage später klingelt es an meiner Tür. Die Kamera an der Haustür zeigt mir Monas Gesicht. Sie klingelt wieder und wieder. Weiß sie, dass ich daheim bin? Ich habe keine Lust zu öffnen, weil ich mich nicht wohl fühle. Mir ist seit dem Morgen seltsam kalt, weshalb ich mir einen Kaffee kochen und dann in die Wanne steigen wollte. Ein Bad und danach eine Stunde Schlaf wären genau richtig, bevor ich am Nachmittag wieder zur Arbeit muss.

Meine Dienstkleidung habe ich bereits ausgezogen und nur noch Unterwäsche an.

Als ein Nachbar das Haus verlässt, nutzt Mona die Gelegenheit und schlüpft durch die nun offene Tür. Ich höre sie auf der Treppe ächzen und keuchen. Vor meiner Tür bleibt sie einen Moment stehen, dann klingelt sie mehrmals und klopft heftig gegen die Tür.

„Ich weiß, dass du da bist.“

Vermutlich hat sie mich gesehen, als ich vor einer halben Stunde nach Hause kam. Obwohl ich vermute, dass sie in Not ist und Hilfe braucht, ärgere ich mich. Sie stört! Aber dafür kann sie nichts. Weil sie meine Telefonnummer nicht hat, muss sie sich selbst auf den Weg machen, was ihr sicher schwer

fällt. Ich schlüpfe in meine Jeans und einen Pulli und

öffne die Tür. Neben Mona steht eine Reisetasche.

„Du musst mir helfen! Ich weiß nicht weiter.“

„Guten Morgen“, grüße ich.

Doch Mona antwortet nicht, sie geht entschlossen an mir vorbei, direkt ins Wohnzimmer.

„Wo darf ich mich setzen? Ich weiß nicht mehr weiter.“

Ich zeige auf den Sessel.

Doch Mona schüttelt den Kopf.

„Da komme ich nicht wieder hoch.“

Sie zieht einen Stuhl unter dem Tisch hervor und lässt sich schwer darauf fallen.

„Du kochst in der Stube?“