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Sonja lebt zufrieden in Leipzig. Eines Tages erhält sie von einer angeblichen Cousine eine Einladung zu einem großen Familientreffen, obwohl ihre Eltern keine Geschwister hatten. Ungläubig und zugleich neugierig geworden reist sie ins vierhundert Kilometer entfernte Büdingen und lernt die Geschichte und Geheimnisse ihrer Familie kennen.
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Seitenzahl: 215
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Mit der Zeit fliegt alles auf: Die verstecktesten Lügen, die offensichtlichsten Gründe und die falschesten Personen.
Mia
Sonja
Markus
Sonja
Beate
Sonja in Büdingen
Ausflug
Das Kochbuch
Erinnerung an Tante Agnes
Viktors Behauptung
Mia
Sonja
Kora und Schluss
Vater ist seltsam geworden. Schon äußerlich. Er läuft rum, als wäre er Mitte Zwanzig wie ich, dabei ist er weit über fünfzig Jahre alt. Furchtbar! Seine ewig grauen Anzüge mochte ich zwar auch nicht, aber sie passten zu ihm. Doch seit vier Monaten trägt er sie nicht mehr, sondern Jeans und bunte Shirts mit Druckdesigns von nackten Körpern oder albernen Sprüchen wie Ich spüre das Tier in mir. So geht man doch nicht auf die Straße! Schon gar nicht in seinem Alter. Um seinem Hals hängt eine dicke Metallkette, am Arm mehrere Bänder aus Leder und im linken Ohr prangt ein Ohrring aus grauem Stahl. Er macht ein peinliches Theater um seine Haare, die stark gegelt nach oben störzeln. Ich glaube, er würde sich sogar die Haare färben, wenn grau nicht gerade in wäre.
Ich begreife nicht, warum Mama seinen lächerlichen Aufputz duldet. Sie ist doch sonst so auf Etikette bedacht.
„Lass ihm doch die Freude!“, sagt Mama.
Freude? Ich will nicht, dass die Leute über meinen Vater lachen. Dieser Aufzug passt nicht zu ihm, weil er eher kühl und unnahbar ist und im Stadtamt arbeitet. Mir ist direkt peinlich, wie er sich auf jung trimmt und sich dabei lächerlich macht, ohne es zu merken. Ich mag mich nicht mit ihm in der Öffentlichkeit zeigen. Aber dazu hat er sowieso kein Lust. Keine Zeit, sagt er.
Das stimmt so nicht, denn er hat mehrmals in der Woche Zeit für das Fitnessstudio, um Krafttraining zu machen.
Mama mag sportliche Männer. Aber sie findet es übertrieben, dass er sich ein winziges Zelt, orangefarbene Wanderschuhe und einen Rucksack kaufte, um jedes Wochenende auf Tour zu gehen. Allein.
Mama mag nicht in der Natur schlafen. Natürlich nicht. Sie hat Stil und würde lieber mit ihm durch die Stadt bummeln, chic einkaufen und bei einer Reise in einem guten Hotel übernachten.
Doch das ist Vater zu langweilig. Auf einmal! Ich verstehe ihn einfach nicht mehr.
Eigentlich habe ich ihn noch nie verstanden, aber das muss eine Tochter auch nicht. Ich habe ihn bewundert. Er war so, wie man sich den Vater vorstellt: groß, stark, zurückhaltend und immer auf Arbeit. Er ist Planungsleiter im Leipziger Stadtamt. Ich mochte seine bernsteinfarbenen Augen und seine Haare, die früher glatt und hellbraun waren. Doch leider habe ich die schwarzen Locken meiner Mama geerbt. Lieber wären mir blonde glatte Haare, weshalb ich sie heller färben wollte, doch das ist bei Locken und dunklem Haar schwierig. Für das aktuelle Grau-Blond müsste ich sie mir sogar bleichen lassen. Das will ich nicht. Deshalb habe ich mir die Haare rappelkurz schneiden lassen und verstecke die Locken unter einem Tuch oder einer trendigen Mütze, wenn ich ausgehe.
*****
Ich habe meiner Freundin Karo vom peinlichen Stilwechsel meines Vaters erzählt. Aber sie findet ihn überhaupt nicht peinlich. Sie findet ihn cool.
„Cool? Was soll das heißen?“
„Ich wünschte, mein Alter wäre so geil wie deiner.“
„Spinnst du? Woher kennst du ihn überhaupt?“
„Seit der Preisverleihung im vorigen Jahr.“
Damals trug Vater noch Schlips und Anzug, ein Wunder, dass sie ihn im aktuellen Aufzug überhaupt wiedererkennt.
Karo belegte im letzten Jahr beim Architektenwettbewerb für eine Parkgestaltung einen vorderen Platz. Sie will auch für ihre Masterarbeit einen Park entwerfen und kein Gebäude. Ich dachte, Architekten gestalten nur Häuser, aber im Grunde ist es mir gleichgültig. Parks interessieren mich nicht, ich bin wie Mama ein Stadtkind. Auch Karo war wie ich. Doch neuerdings schwärmt sie von Parks, von denen es in Leipzig mehr als genug gibt.
Sie hat überhaupt keine Zeit mehr für mich, seit sie einen neuen Freund hat. Dieser Typ scheint älter zu sein, denn er macht teure Geschenke und fährt mir ihr ins Wochenende, so richtig schick mit Hotel und Gourmetdinner, worauf sie sich wunder was einbildet. Dabei ist nur wichtig, dass man satt wird. Sie schwärmt vom Essen. Das muss man sich mal vorstellen! Von dem Typ erzählt sie nichts und macht ein albernes Geheimnis um ihn. Deshalb frage ich gar nicht mehr und tue so, als ob der Heini mich nicht die Bohne interessiert.
Früher gingen Karo und ich meist auf die KarLi, wo es unzählige Kneipen und Bars gibt. Doch dazu hat sie keine Lust mehr und allein mag ich nicht ausgehen. Es ist eben ein Fehler, wenn man nur eine einzige Freundin hat, die nur ihren neuen Lover im Kopf hat, den ich jetzt schon nicht ausstehen kann, obwohl ich ihn nicht kenne.
*****
Ich bin Verkäuferin bei Pandora. Mama fand es nicht gut, nach dem Abitur nur Kaufmann für Einzelhandel zu lernen. Ich sollte studieren, um anschließend wie Vater im Stadtamt zu arbeiten. Das wird erheblich besser bezahlt als die Arbeit im Verkauf, obwohl man für den Bachelor auch nur drei Jahre studiert, genauso lange dauert die Ausbildung zum Kaufmann. Studium ist wie Schule, nur lockerer. Man hört sich Vorträge an, falls man Lust dazu hat. Eine Ausbildung dagegen findet gezielt für einen bestimmten Beruf in einer Firma statt, was mir sinnvoller erscheint. Doch meine Eltern halten ein Studium für nützlicher.
Sinn und Nutzen sind zwei verschiedene Dinge. Nicht alles, was für mich sinnvoll ist, ist auch nützlich. Für mich macht es Sinn, Schmuck zu verkaufen. Ich liebe Schmuck und kann mir nichts Schöneres vorstellen, als den ganzen Tag Ketten, Ringe und Armbänder in den Händen zu halten und diese wundervollen Dinge den Kunden anzubieten.
Mich ärgert, dass Vater seinen Schmuck nicht bei mir im Laden kauft, obwohl er weiß, dass ich Provision bekomme. Er trägt nicht einmal mehr seinen Ehering, sondern nur noch Ringe aus Stahl.
Ich verstehe nicht, weshalb sich Mia über ihren Vater aufregt. Erik sieht mit seiner modischen Kleidung und Frisur richtig flott aus, nicht mehr so langweilig wie bisher. Mir gefällt er jetzt sogar besser als in den vielen Jahren unserer Ehe, in denen er nur graue Anzüge trug. Das passte gut zu seinem Job im Stadtamt und den vielen Terminen mit Architekten und Bauleitern. Doch inzwischen hat er eine Position, in der er sich nicht mehr so anpassen muss wie früher. Ich kann gut verstehen, dass er sich übers Wochenende auspowern muss, mit seinem Rucksack unterwegs ist und im Zelt übernachtet. Für mich ist das nichts. Ich ziehe den Komfort in einem guten Hotel vor. Ich will mir den Kaffee nicht auf einer kleinen Gasflamme kochen und erst recht keine Tütensuppe essen und dabei irgendwo im Gras sitzen. Erik meidet Zeltplätze, wo man wenigstens eine ordentliche Toilette und saubere Duschen hat. Er sagt, er will die Natur spüren und sucht sich seinen Schlafplatz irgendwo im Wald. Nie weiß ich, wo er gerade ist, weil er das vorher selbst noch nicht weiß. Aber ich muss das auch nicht wissen. Ich muss überhaupt nicht immer wissen, wohin er geht, wo er ist und wann er zurück kommt. Er macht das, was er für richtig hält und das ist gut so.
Inzwischen ist es mir ganz recht, dass wir am Wochenende nicht mehr zusammen unterwegs sind. Wenn Erik zeltet und Mia sich mit Freunden trifft, kann ich ungestört daheim am Computer sitzen und nach aktuellen Ausgrabungen forschen. Das geht nicht, wenn Erik oder Mia daheim sind, weil beide gern reden, aber nicht gern zuhören. Ich höre gern zu, selbst dann, wenn sie lange und ohne Pause reden und Dinge erzählen, die mich nicht interessieren. Nur manchmal wird es mir zu viel und würde am liebsten schreien: „Seid endlich still! Ich will das nicht hören! Lasst mich in Ruhe!“ Aber ich schreie nie und verbiete niemandem den Mund oder verlange meine Ruhe.
Wenn ich Mutti besuchte, sagte sie oft: „Geh nach Hause, dein Mann wartet!“
Dabei wartete Erik nicht, weil er meist mit Kunden im Lokal zu Abend isst. Mich kränkte es immer sehr, wenn Mutti mich wegschickte, obwohl ich Zeit mit ihr verbringen wollte. Das fällt mir jedes Mal ein, wenn ich keine Nerven mehr habe, den endlosen Monologen von Erik oder Mia zuzuhören. Dann sage ich mir, dass es nichts Wichtigeres für mich geben sollte als ein Gespräch mit meinem Mann und meiner Tochter und höre weiter geduldig zu, weil ich keinen von beiden kränken mag.
Mia ist schnell gekränkt und ebenso schnell wütend. Sie will, dass ich mit ihr streite. Aber das mag ich nicht. Ich schreie nicht. Nie.
Erik macht sich nicht so viele Gedanken wie ich. Er geht einfach aus dem Zimmer, wenn ihn ein Gespräch nicht interessiert. Oder er setzt sich an seinen Computer und möchte nicht gestört werden.
*****
Ich habe Archäologie studiert und arbeite im Naturkundemuseum Leipzig. Dort habe ich feste Aufgaben und Arbeitszeiten, was erheblich angenehmer ist als früher, als ich bei Ausgrabungen nach verborgenen Schätzen suchte. Anfangs fand ich es spannend, Hügelgräber oder alte verschüttete Mauern freizulegen und herauszufinden, wann und wie die Menschen dort lebten. Aber mit der Zeit wurde das langweilig. Es war immer dasselbe: eine zwecklose Suche nach Scherben zerbrochener Krüge. Eine Stunde graben oder auch zwei mag bei schönem Wetter spannend sein, doch nicht den ganzen Tag, die ganze Woche, das ganze Jahr oder das ganze Leben.
Jetzt graben andere Archäologen und bringen ihre interessantesten Funde ins Museum, wo ich sie in die Ausstellung einarbeiten darf.
Diese wunderbar ruhige Arbeitsstelle habe ich meinem Mann zu verdanken. Erik bekleidet als Planungsleiter im Stadtamt eine wichtige Position. Auf sein Wort hört man, obwohl es im Amt viel Streit gibt zwischen den Abteilungen. Was die eine bewilligt, lehnt die nächste ab. Aber Erik setzt sich meist durch.
Das liegt an seiner ruhigen selbstsicheren Art, die keinen Zweifel an seinen Worten aufkommen lässt. Erik ist sehr kontrolliert. Er bleibt stets Herr seiner Gefühle und wirkt deshalb auf sein Umfeld vernünftig und verantwortungsbewusst, was er schließlich auch ist. Und er ist fürsorglich. Das ist selten bei einem Mann und weit mehr als nur körperliches Begehren. Ich fühle mich sicher und beschützt in seiner Nähe und zwar seit dem Tag, an dem wir uns kennenlernten.
*****
Damals, vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren hatte ich mich zufällig im Kino neben Erik gesetzt. Der Film war mir gleichgültig, mir war nicht einmal bewusst, dass ich mich in einem Kino befand, weil ich so schrecklich unglücklich war. Ich war schwanger, aber ich wollte das Kind nicht. Ich wollte es abtreiben lassen, denn bisher war Abtreibung kein Problem. Man ging in eine Klinik und war die Sorge los. Doch inzwischen hatten sich die Zeiten geändert und alles war komplizierter geworden.
Bisher waren Abtreibungen (in der DDR) völlig normal, jede dritte Schwangerschaft wurde abgebrochen. Doch seit dem letzten Jahr galten sie plötzlich als gesetzeswidrig und standen sogar unter Strafe. Für die Leipziger Frauenärzte gehörten Abbrüche seit mehr als zwanzig Jahren zum medizinischen Alltag. Doch nun durften die Frauen nicht mehr selbst entscheiden, ob sie das Kind austragen möchten oder nicht. Das entschieden amtliche Beratungsstellen.
Plötzlich versammelten sich Abtreibungsgegner direkt vor den Kliniken, hielten Plakate hoch und schrien, dass das ungeborene Leben geschützt werden muss. Sie bedrohten sogar die Ärzte. Deshalb boten viele Kliniken keine Abbrüche mehr an.
Mein Frauenarzt verwies auf den Paragraphen 219 des Strafgesetzbuches und schickte mich zu einer Beratungsstelle. Diese Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens und sollte mich zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen und Perspektiven für ein Leben mit dem Kind aufzeigen. Und sie sollte mich ermahnen, eine gewissenhafte und verantwortliche Entscheidung zu treffen. Doch das hatte ich längst getan.
Die Beratungsfrau sprach in einem mir unbekannten Dialekt, den ich anfangs gar nicht verstand. Sie wollte wissen, warum ich nicht verhütet hätte. Das hatte ich sehr wohl, doch sie glaubte mir nicht und verlangte einen zweiten Termin, den ich zusammen mit meinem Mann wahrnehmen sollte.
„Ich bin nicht verheiratet“, gab ich an.
„Fir die Freid wor da Mo guad. Nu hod er Sie sitzenlossn und jetzt woin Sie Ihr Kind tödn“, wetterte sie empört.
Wer nicht klar spricht, denkt nicht klar. Die Frau stammte aus dem katholischen Bayern, doch ihr Dialekt war im sächsischen Leipzig nicht angebracht und sowieso kaum zu verstehen.
„Es ist noch kein Kind und soll auch keins werden. Außerdem hat Markus nicht mich verlassen, sondern ich ihn.“
„Wern Sie ned frech!“, schnauzte sie.
Nach einigem Hin und Her gestand ich: „Mein Freund ist Alkoholiker.“
„Warum lossn Sie si mid so am a?“
Warum ich mich mit so einem einlasse? Ich kannte Markus schon als kleines Mädchen. Wir gingen zusammen zur Schule und am Nachmittag oft in die Schwimmhalle. Als ich mich in ihn verliebte, war ich kaum sechzehn Jahre alt, da hat er noch nicht getrunken. Mit dem Trinken fing er erst während seines Studiums an. Ich habe es nicht bemerkt. Ich mochte seine lustige und unbeschwerte Art. Wir hatten viel Spaß, aber nur, wenn er Alkohol in sich hatte. Das merkte ich erst viel später. Nüchtern lag er nur übellaunig auf dem Sofa. Und irgendwann gab es Momente, wo er auf dem Boden in seiner Kotze lag. Dann wünschte ich, er würde etwas trinken und wieder nett zu mir sein. Gleichzeitig schämte ich mich für diesen Gedanken.
Ich wollte ihn verlassen, weil mir klar war, dass man sich auf einen Alkoholiker nicht verlassen kann. Aber immer, wenn ich dazu bereit war, tat er etwas Wundervolles. Er schenkte mir einen Bildband über Kathedralen der Steinzeit, den ich mir schon lange kaufen wollte. Oder er überreichte mir Kinokarten oder ein silbernes Armband mit kleinen lila Herzen. Ich liebte ihn, aber ein Kind wollte ich nicht mit ihm. Er war unzuverlässig und vergaß oft, wenn wir verabredet waren. Außerdem hatte ich Angst, dass der Alkohol dem Ungeborenen bereits geschadet hat und es behindert sein könnte.
Als ich Markus sagte, dass ich schwanger bin, machte er mir sofort einen Heiratsantrag. Aber ich wollte nicht geheiratet werden, ich wollte einen Mann, der nicht trinkt, der zu mir steht, der Verantwortung zeigt. Das habe ich ihm auch gesagt. Er versprach hoch und heilig, keinen einzigen Tropfen mehr anzurühren. Das hatte ich so krass nicht gefordert, er sollte einfach mit nur einem Bier zufrieden sein und nicht gleich zehn trinken und dazu Schnaps. Doch schon am nächsten Tag kam er mir strahlend entgegen getorkelt. Da warf ich ihn raus und sagte, dass ich ihn nie wieder sehen will.
Vielleicht hätte ich die Beratungs-Frau davon überzeugen können, dass eine Abtreibung besser ist als ein Kind von einem Alkoholiker. Doch plötzlich kam ich mir dumm vor und bin einfach gegangen.
Ich ging ins nächstbeste Kino zur Nachmittagsvorstellung. An den Film kann ich mich nicht erinnern, weil ich die ganze Zeit weinte. Ich wollte das Kind nicht austragen, aber ich fühlte mich schuldig. Es war meine Schuld, dass ich schwanger war. Und es war ganz allein meine Schuld, dass ich ausgerechnet von Markus schwanger war, den ich liebte, aber manchmal nicht ausstehen konnte. Ich wollte kein Kind von einem Säufer und fühlte mich kreuzunglücklich und schrecklich allein. Ich wollte das Kind nicht austragen, weil ich es nicht allein großziehen wollte.
Erik saß neben mir und reichte mir wortlos eine Packung Taschentücher. Erst da wurde mir bewusst, dass ich in einem Kino saß und einem fremden Mann etwas vorheulte.
Als der Film zu Ende war, hakte er sich einfach bei mir ein und sagte: „Ich bin Erik und lade Sie zu einem frühen Abendessen ein.“
Das war mir gar nicht recht. Trotzdem ging ich mit.
Als ich Erik das erste Mal nackt sah, war ich überrascht, weil er viel kräftiger war als ich gedacht hatte. Ich versuchte, Markus aus dem Kopf zu bekommen und konzentrierte mich auf Eriks Augenbrauen und seinen weichen Mund. Ich wusste, es musste mir jetzt und heute gelingen, mich ihm hinzugeben, um mit Markus abzuschließen und mit Erik neu zu beginnen. Mir war zum Heulen zumute, aber ich riss mich zusammen und fing an, Eriks sanfte Berührungen zu genießen. Es war schön, seinen nackten Körper zu spüren, der sich vollkommen an meinen anpasste.
*****
Das ist inzwischen fünfundzwanzig Jahre her. Wir heirateten an meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag und zwar noch vor Mias Geburt, weshalb Erik automatisch als der Vater in der Geburtsurkunde steht. Denn der Vater eines Kindes ist der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. Die rechtliche Vaterschaft besteht unabhängig davon, ob der Mann auch der Erzeuger des Kindes ist und wird von keinem Amt hinterfragt.
Ich wusste, bei Erik würde ich immer in Sicherheit sein und dass er mir nie etwas Böses wünschen würde. Er trinkt wie ich am Abend oft ein Glas Wein, aber keinen Schnaps. Dagegen kann er nicht auf Kaffee verzichten, den er täglich literweise trinkt. Schon am Morgen braucht er noch vor dem Frühstück seinen starken Kaffee und tagsüber sicher zwanzig Tassen von diesem Gebräu. Bevor er ins Bett geht, brüht er sich immer noch einen Espresso auf. Das finde ich nicht schlimm. Es ist nur eine Angewohnheit durch seine vielen Besprechungen mit Kollegen und Kunden.
Anfangs war die Schwangerschaft schwierig für mich. Ich schämte mich, als der Bauch immer dicker und ich immer behäbiger wurde. Ich ertrug es einfach nicht und nahm mir vor, das Kind nicht zu stillen. Ich wollte nicht, dass es an meiner Brust saugt, als wäre ich ein Tier. Schon den Gedanke daran fand ich widerwärtig.
Doch als Mia dann da war und ich das winzige wehrlose Wesen in meinen Armen hielt, war ich im gleichen Moment überglücklich, es ernähren und beschützen zu dürfen. Mia war ein pflegeleichtes Baby, das problemlos trank und viel schlief. Ich konnte stundenlang ihr liebes Gesichtchen betrachten, als wäre es das größte Wunder auf der ganzen Welt.
*****
Heute weiß ich, dass ich alles richtig gemacht habe, denn Erik und ich führen eine glückliche Ehe. Mein Leben gefällt mir. Ich möchte nichts daran ändern. Ich glaube inzwischen, dass eine Beziehung längerfristig nur funktioniert, wenn sich Gleich zu Gleich gesellt. Das ist bei uns der Fall. Wir interessieren uns beide für Geschichte, das Altertum und Bauwerke und stammen beide aus Leipzig. Man sollte sich ohnehin seinen Partner in der Gegend suchen, in der man aufgewachsen ist.
Markus und ich wuchsen zwar Tür an Tür auf, aber wir sind grundverschieden. Ich bin gern daheim und lese Fachartikel, während Markus am liebsten mit Freunden unterwegs war. Ich trinke gern ein Glas Wein oder auch mal einen Cocktail, doch Markus schluckte unkontrolliert unglaubliche Mengen Bier und sogar Schnaps. Das wäre nie im Leben gut gegangen mit uns.
Erik dagegen ist zuverlässig und liebt Mia wie seine eigene Tochter, was sie im Grunde auch ist.
Der einzige Unterschied zwischen Erik und mir ist, dass ich das Alte mag. Etwas, das es schon immer gab. Erik dagegen mag das Neue. Er will unsere Stadt verändern, sie schöner machen, neu aufbauen mit Gebäuden und Brücken, die es zuvor noch nicht gab. Das Lipsia-Haus und die Häuser im Barfußgässchen gefallen ihm genauso gut wie mir, doch noch mehr bewundert er den schlichten Bauhausstil des Europahauses, der Versöhnungskirche oder der Gutenbergschule. Aber seine wahre Leidenschaft gehört dem Neuen. Er will Neues schaffen, etwas, das auffällt und die Menschen beeindruckt.
Als mich Sonja vor die Tür setzte, ging ich sofort in die nächstbeste Kneipe und gab mir voll die Kante.
Mit dem regelmäßigen Trinken fing ich als Student an, weil ich Sonja so vermisste und ohne Alk die Trennung von ihr nicht aushielt.
Sonja war schon immer meine Freundin, denn wir wohnten im gleichen Haus und verbrachten unsere Freizeit zusammen. Sie war mir näher als mein älterer Bruder. Im Grunde war ich öfter bei Sonjas Familie als daheim, aß bei ihnen zu Abend und ging nur zum Schlafen nach Hause. Ich mochte ihre Eltern lieber als meine. Meinen Vater kannte ich nicht und meine Mutter kümmerte sich weder um mich noch um meinen Bruder. Sie weinte ununterbrochen, wenn sie daheim war.
Erst viele Jahre später erfuhr ich den Grund:
Vater hatte die Familie verlassen, als ich zwei Jahre alt und mein kleiner Bruder gerade geboren war. In der DDR gab es für Geschiedene keine Ausgleichszahlungen, da jeder arbeitete und selbst verdiente. Mutter nutzte zuerst das bezahlte Babyjahr, blieb daheim und bekam anschließend für Jens einen Krippenplatz. Mein großer Bruder und ich gingen in den Kindergarten.
Als Mutter eines Tages nach der Arbeit den Kleinen aus der Krippe holen wollte, war er nicht mehr da. Die Erzieherin meinte lakonisch, das Jugendamt habe Jens abgeholt. Mutter lief völlig aufgelöst zum Jugendamt. Dort sagte man ihr, dass sie als Alleinstehende nicht für drei Kinder sorgen könne und man deshalb eine andere, eine intakte Familie für Jens gefunden hatte. Näheres erfuhr sie nie, obwohl sie anfangs jede Woche im Jugendamt nachfragte. Irgendwann gab sie auf.
Mutter sah Jens nie wieder und ist daran zerbrochen. Sie fing an zu trinken und kümmerte sich kaum um mich und meinen Bruder.
Das alles wusste ich als Kind nicht. Ich wusste nur, dass es bei Sonja und ihren Eltern schöner war als bei meiner Familie.
Nach der Wende versuchten wir, Jens zu finden, aber die Suche muss vom Kind ausgehen, nicht von der Mutter. Das Amt konnte oder wollte uns nicht helfen.
*****
An Sonja mochte ich alles: ihre wilden schwarzen Locken, ihre Art zu lachen und mit mir zu sprechen. Sie kreischte und tuschelte nicht wie die anderen Mädchen, ich fand sie angenehm normal und war gern mit ihr zusammen.
Nach dem Abitur hätte ich wie Sonja in Leipzig studieren können, doch ich wollte weg und das Leben voll genießen. Seit dem Ende der DDR durfte man überall hin reisen, sogar nach Amerika. Und man durfte in fast jedem Land studieren. Leider war mein Englisch zu schlecht, um sofort in die USA zu fliegen, vom fehlenden Geld ganz zu schweigen. Ich bewarb mich in weit entfernten Universitäten und studierte schließlich in Düsseldorf, fünfhundert Kilometer von Leipzig entfernt. Dort wollte ich die Sau rauslassen, mich amüsieren und viel Spaß haben. Aber ich war nicht imstande, mich so frei zu fühlen wie ich erwartet hatte. Nichts machte mir Freude, ich war wie leer. Endlich merkte ich, woran das lag: Mir fehlte Sonja! Ich vermisste ihr Lachen, ihr liebes Gesicht und ihre wilden Locken. Ohne sie war nichts wirklich schön.
Am liebsten wäre ich sofort wieder nach Hause gefahren, weil mir Sonja so fehlte. Doch das ging nicht. Also fing ich an zu trinken, um nicht ständig an sie denken zu müssen.
Zum Weihnachtsfest fuhr ich nach Hause und traf Sonja endlich wieder. Ich hätte sie gern gefragt, ob sie inzwischen einen Freund hat. Aber ich tat es nicht, weil ich Angst hatte, dass sie ja sagt und mir von ihm vorschwärmt. Stattdessen erzählte ich dumme Geschichten von Partys, auf denen ich niemals war und von Mädchen, die ich gar nicht kannte. Sonja lachte darüber, aber ich merkte, dass sie verstimmt war.
Wieder zurück in Düsseldorf ärgerte ich mich über mich selbst und wusste nicht, wie ich all den Unsinn, den ich erzählt hatte, wieder gut machen kann. Ich nahm mir fest vor, Sonja in den Semesterferien alles zu erklären und ihr zu gestehen, dass sie die Frau meines Lebens ist und ich nie mehr ohne sie sein möchte. Ich wollte ihr sogar einen Heiratsantrag machen.
Doch es kam anders, denn Sonja war gar nicht daheim. Sie nahm in England oder Schottland an einer Feldforschung teil, die bis zum Ende der Semesterferien dauert. Was sollte ich drei Monate daheim ohne sie, wo mich das Haus, jeder Stein und jeder Baum in der Stadt an sie erinnerte?
Am liebsten wäre ich ihr nachgereist. Doch selbst, wenn ich gewusst hätte, wo genau sie wohnt und arbeitet, ich hätte kein Geld für diese Reise gehabt.
Erst zum nächsten Weihnachtsfest sah ich sie wieder und wir wurden ein Paar. Aber ich hatte mich inzwischen an die regelmäßigen Flaschen Schnaps gewöhnt und konnte nicht mehr aufhören zu trinken. Ich bin mir nicht sicher, ob Sonja es merkte. Sie hat nie etwas gesagt und war nur sauer, wenn ich zu spät kam oder eine Verabredung komplett verpasste. Ich hätte sie anrufen und absagen können, doch wenn ich trank, dachte ich an nichts anderes.
Als sie mir sagte, dass sie schwanger ist, sprang ich vor Freude wild umher und machte ihr endlich den längst geplanten Heiratsantrag. Doch sie sah mich nur stumm an.
„Heißt das Ja?“, fragte ich.
„Bist du verrückt geworden?“, schrie sie. „Bring zuerst dein verkorkstes Leben in Ordnung, bevor du eine Familie gründest! Eher lasse ich das Kind abtreiben als dich in seine Nähe.“
„Warum?“
„Das fragst du noch?“ Empört schnaufte sie und stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Du trinkst! Auf dich ist kein Verlass!“
Ich versprach, mit dem Trinken aufzuhören und keinen Tropfen mehr anzurühren, doch Sonja zuckte nur resigniert mit der Schulter. Sie glaubte mir nicht. Leider bekam ich am zweiten Tag ohne Alkohol höllische Kopfschmerzen und nahm eine Tablette. Doch sie half nicht. Ganz im Gegenteil! Mich quälten plötzlich seltsame Angstzustände. Ich war unruhig und sah nebelhafte Gestalten. In meiner Panik griff ich zum Bier. Direkt nach dem ersten Schluck ging es mir wieder gut, was mich sofort beruhigte. Mir war klar, dass es dumm wäre, auf Bier und Schnaps zu verzichten. Ich wollte keine Kopfschmerzen. Ich wollte Sonja. Doch zuerst wollte ich Schnaps. Sobald ich die Flasche an die Lippen setzte, war sie auch schon leer und ich sternhagelvoll. In diesem Zustand torkelte ich glücklich zu Sonja. Doch sie stieß mich zurück und sagte, dass sie mich nie wieder sehen will, weil ich unzuverlässig bin. Das gab mir einen furchtbaren Stich im Herzen und ich war im gleichen Moment stocknüchtern. Aber all meine Beteuerungen halfen nicht, Sonja schickte mich fort.