Marie und das vergessene Kind - Petra Weise - E-Book

Marie und das vergessene Kind E-Book

Petra Weise

0,0

Beschreibung

Marie ist minderjährig, als sie ein Kind bekommt. Sie will dieses Kind nicht. Sie will leben, die Welt kennenlernen und sich von nichts und niemandem einschränken lassen. Sie flieht in eine ferne Stadt, um zu studieren und danach nach Holland. Dort fühlt sie sich sicher vor den altmodischen Vorstellungen ihrer Eltern und vor ihrem Kind, an das sie keinen Gedanken verschwendet. Doch alles kommt anders.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 220

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar.

Oscar Wilde

In Kindern erlebt man sein eigenes Leben noch einmal, und erst jetzt versteht man es ganz.

Kiergegaard

Inhalt

Kindheit

Timur

Marie

Hochzeit

Serik

Kasachstan

Familie

Weinfest

Schock

Alltag

Geburt

Marie

Erkenntnis

Marie

Amsterdam

Sinterklaas

Enthüllung

Olaf

Überfall

Schluss

Ich schiebe die Decke zurück. Sie ist nass wie mein Nachthemd, das am Körper klebt. Bei dieser Hitze kann ich nicht schlafen. Neben mir schnarcht und schnauft Timur wie ein Wasserbüffel. Normalerweise mag ich seine Schlafgeräusche, doch das laute Schnaufen nervt. Timur mag es nicht, wenn das Fenster über Nacht offen bleibt, weil ihn am Morgen das Vogelgezwitscher stört. Ich mag es nicht, weil ich Angst vor Einbrechern habe, denn wir wohnen im Erdgeschoss. Doch wenn nachts die Temperatur nicht unter zwanzig Grad sinkt, ist es mir zu stickig.

Ich brauche Luft! Wir befinden uns mitten in den Hundstagen, wie die heißen Tage zwischen dem 23. Juli und 23. August genannt werden. In dieser Zeit steht die Sonne in der Nähe des Sirius, dem Hundsstern. Mich interessiert nicht, wie diese Tage genannt werden, ich will nur endlich nicht mehr schwitzen.

Hier im warmen Bett halte ich es nicht mehr aus. Ich schwinge meine Beine auf den Boden, schlüpfe in die Hauspantoffel und gehe ins Bad. Ich hätte ein frisches Nachthemd mitnehmen sollen. Doch die Schranktür knarrt und hätte Timur geweckt. Und der hätte mir unzählige Fragen gestellt wie: Was machst du da? Wie spät ist es? Musst du um diese Zeit durchs Haus geistern? Kannst du nicht einfach schlafen wie andere Leute auch? Willst du was trinken?; und viele unsinnige Dinge mehr.

Trinken ist eine gute Idee. Doch das Glas Wasser ist leer, kaum, dass ich es angesetzt habe. Ein Martini mit viel Eis wäre besser, doch ich fürchte, dass ich es ebenso schnell hinunter kippe wie das Wasser und mir vom Alkohol schummrig wird. Doch vielleicht könnte ich danach schlafen. Andererseits schwitzt man vom Trinken nur noch mehr. Ich öffne das Küchenfenster und lehne mich hinaus in die Nacht. Viel bringt das nicht, weil die Luft viel zu warm ist. Das Zimmerthermometer zeigt 27,2 Grad an, draußen 23 Grad. Furchtbar!

Mich lähmt die Hitze, weshalb ich den ganzen Tag nichts zustande brachte, nur vor mich hin döste.

Ich liege wieder im Bett und finde keinen Schlaf. Timur schnarcht noch immer. Warum musste er auch gestern so viel Bier trinken? Wir besuchten am Abend das Chemnitzer Bierfest, bei dem vierzig Brauereien hundert Biersorten anbieten. Ich wusste gar nicht, dass es so viele verschiedene Biere gibt. Außerdem schmeckt mir Bier nicht, nur dunkles wie das Köstritzer Schwarzbier, das leicht malzig ist. Mir reichte ein einziges Bier zur Bratwurst, doch Timur musste gleich sechs Sorten probieren. Kaum daheim zog er seine Jeans aus, ließ sie auf den Boden fallen, sank ins Bett und schlief sofort ein.

Timur träumt nicht. Zumindest behauptet er das. Die Nacht ist zum Schlafen da, sagt er, für Unsinn wie Träume hat er keine Zeit.

Ich dagegen träume jede Nacht. Träume sind wichtig für mich und meist auch interessant. Deshalb bitte ich jeden Abend vor dem Einschlafen, dass mir das Universum angenehme Träume schickt, an die ich mich am Morgen erinnere. Meine Träume sind wie Filme, in denen ich mitspiele. Wenn mir eine Szene nicht gefällt, schlüpfe ich in eine andere und erträume ein schöneres Ende. Timur glaubt mir das nicht und doch ist es wahr.

Heute Nacht träume ich, dass aus jedem Haus Mütter ihre Töchter aus dem Fenster heben, damit sie mit mir spielen können. Wir spielen Himmel und Hölle. Kein Mensch spielt heute Himmel und Hölle, auch ich spielte es nie, trotzdem träume ich davon. Ich träume oft von meiner Kindheit in Gelenau, einem kleinen Ort im Erzgebirge, obwohl ich schon viele Jahre nicht mehr dort war. Ich habe den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen, weil sie mich damals im Stich ließen, als ich schwanger wurde. Aber ich träume von ihnen und unserem Haus. In meinen Träumen sind die Fensterscheiben zerbrochen und der Garten verwildert. Doch das kann nicht sein, denn der Garten war immer Mutters ganzer Stolz. Sie zog Blumen und Gemüse in einem bunten Durcheinander, was mir gut gefiel. Leider durfte ich in diesem Garten nicht spielen, weil Mutter Angst hatte, dass ich eine ihrer Pflänzchen umknicke. Heute glaube ich, sie mochte ihre Blumen lieber als mich. Damals machte ich mir keine Gedanken darüber. Die Welt war, wie sie ist und ich lebte unbeschwert in den Tag.

Kindheit

Kurz, bevor ich in die Schule kam, starb mein Opa. Das war etwas ganz anderes als das Sterben meines Hamsters, den wir in einer Ecke im Garten vergruben.

„Wieso heulen alle?“ Mein Bruder zeigte auf die Trauergäste. „Alle müssen sterben. Du auch!“

Er knuffte mich an der Schulter und ich zuckte zusammen.

„Wieso ich? Ich bin doch nicht so alt wie der Opa.“

„Aber du wirst so alt werden. Oder noch viel früher sterben. Bei einem Unfall oder an einer Krankheit.“

„Ich will aber nicht sterben!“, schluchzte ich.

„Aber du musst! Dann kommst du in eine Kiste wie der Opa. Die wird in einen Ofen geschoben und dann verbrennst du wie ein Stück Holz und bist nur noch Asche.“

„Du lügst!“, schrie ich außer mir vor Angst.

Verzweifelt rannte ich zu Mutti und erzählte ihr, wie gemein Florian ist. Doch sie sagte, er habe Recht und ich soll leise sein und Rücksicht nehmen. Ichbin immer leise und war von diesem Tag an noch viel leiser als zuvor. Dass Opa tot war, fand ich nicht so schlimm. Er hatte immer gesagt, dass er alt ist und bald sterben muss. Ich wusste also Bescheid. Doch ich wusste nicht, dass auch ich eines Tages sterben werde. Es ist mir nie in den Sinn gekommen. Von diesem Tag an hatte ich Angst vor dem Einschlafen, weil ich mir nicht sicher war, ob ich am nächsten Morgen wieder wach werde. Bis heute verfolgt mich diese Angst, obwohl ich inzwischen weiß, dass dies albern ist und nichts an der Tatsache ändert, dass tatsächlich jeder Mensch einmal sterben muss.

Ich war ein stilles Kind und ertrug den Lärm in der Schule nicht. In den Pausen verkroch ich mich auf der Toilette, um dem Geschrei der Schüler zu entfliehen. Jeden noch so kleinen Streit empfand ich als Katastrophe, vor allem, wenn daheim die Eltern laut wurden, sich gegenseitig anschrien oder mich ausschimpften. Ich sprach nicht gern, ich hörte lieber zu. So ging ich jedem Streit aus dem Weg. Trotzdem wusste jeder, dass ich zu allem eine Meinung hatte und schwer zu beeinflussen war. Das ist noch heute so. Ich schrieb damals alle meine Gedanken und Gefühle in ein Heft. Ein Wort ist schnell gesprochen und dann für alle Zeit verschwunden. Doch meine Notizen bleiben erhalten und können immer wieder gelesen und sogar korrigiert werden, denn manchmal ändere ich meine Meinung, obwohl ich überhaupt nicht wankelmütig bin.

Als Kind spielte ich gern Federball, doch nie mit meinem Bruder. Der war Mitglied in einem Federballsportklub im Dorf. Dort lernte er das Zuspiel nicht. Er schlug die Bälle derart hart und immer so, dass ich sie mit meinem Schläger nicht erreichte. Mit Absicht. Das machte keinen Spaß.

Aus Langeweile lernte ich, Akkordeon zu spielen und schloss mich dem Ortsorchester an. Doch die Freude hielt nicht lange, weil das Instrument entsetzlich schwer, sperrig und unhandlich ist. Außerdem furchtbar laut.

Mein Vater spielte Posaune im Posaunenchor der Kirche. Ich mag den sanften Klang dieses Instruments. Dagegen ertrug ich das laute aufdringliche Scheppern der Trompete, die mein Bruder spielte, überhaupt nicht. Auch nicht die hohe Stimme meiner Mutter, die im Kirchenchor und leider auch daheim sang. Die Leute loben ihre schöne Stimme, doch bei mir verursachen hohe Töne nach wie vor Kopfschmerzen.

Jeden Sonntag gingen meine Eltern in die Kirche, obwohl sie keinem Glauben angehören. Sie mögen nur die Musik, das Singen und Musizieren miteinander. Das kam mir immer falsch vor.

Ich war gern allein. Am liebsten lief ich übers Feld hinüber zum Wald, wo ich einen einsamen Platz kannte. Hier fand mich niemand. Hier hatte ich meine Ruhe.

Noch lieber besuchte ich meine Oma in Chemnitz. In der Stadt gab es zwar lauten Verkehr, aber der störte mich seltsamerweise nicht. Ich bummelte gern ziellos durch die Straßen und beobachtete die Menschen. Hier kannte mich niemand. Hier war ich mutig.

Hier lernte ich Timur kennen.

Timur

Er saß mir eines Tages in der Straßenbahn gegenüber. Fasziniert betrachtete ich sein Gesicht, das so fremd wirkte mit den dichten schwarzen Augenbrauen und sehr dunklen, mandelförmigen kleinen Augen. Diese Augen erinnerten mich an Mongolen. Ich hatte viele Bücher über die Mongolei gelesen, ihre Menschen und Traditionen. Noch lieber mochte ich die Geschichten von Tschingis Aitmatow, der seine kirgisische Heimat beschreibt, die Traditionen und die Menschen, die so anders sind als die Menschen in meinem Umfeld. In der Schule hatten wir gelernt, dass die Frage nach der Herkunft eines offensichtlich Fremden rassistisch sei und diesen Menschen verletzt. Ich glaube das nicht. Für mich zeigt solch eine Frage Interesse und ich bin davon überzeugt, dass derjenige sehr gern über sich und sein Anderssein spricht.

Eine Weile zögerte ich, doch schließlich fragte ich:

„Woher kommst du?“

„Aus der Uni“, antwortete er lächelnd.

Blöde Antwort, dachte ich.

„Wo bist du geboren?“, hakte ich nach.

Wieder lächelte er.

„Öskemen.“

Öskemen, das klang türkisch, vielleicht auch ungarisch.

„Muss man dir jedes Wort aus der Nase ziehen?“, fragte ich verärgert. „Wo liegt der Ort? In welchem Land?“

„Kasachstan.“

Kasachstan liegt direkt neben Kirgisien, meinem absoluten Lieblingsland, das ich allerdings gar nicht kenne, weil ich noch niemals dort war und nur Bücher darüber gelesen habe.

„Kennst du Aitmatov?“

„Nicht persönlich.“

Ich lachte, obwohl mich seine Antwort ärgerte. Vermutlich wollte sich der Typ nicht mit mir unterhalten. Aber ich mich mit ihm. Ungefragt erzählte ich ihm, dass ich Lena heiße, was die Leuchtende bedeutet.

„Schöner Name.“

„Alle Welt heißt Lena“, gab ich genervt zurück und schaute ihn herausfordernd an. „Kannst du auch in ganzen Sätzen sprechen?“

„Lena also.“ Er lächelte. „In Sibirien gibt es einen riesigen Strom, der Lena heißt. Er ist viertausendfünfhundert Kilometer lang und an manchen Stellen zehn Kilometer breit.“

Das wollte ich zwar nicht wissen, aber es war besser, etwas über einen fremden Fluss zu hören als gar nichts. Ich erfuhr, dass er Timur heißt und Maschinenbau studiert.

„Ich bin sechzehn Jahre alt. Und du?“

„Neunzehn.“

„Kennst du dich in Chemnitz aus?“ Er nickte.

„Wunderbar! Dann kannst du mir die Stadt zeigen“, bestimmte ich und war überrascht, dass er dazu sofort bereit war.

Ich bummelte zwar gern durch Chemnitz, wenn ich Oma besuchte, doch ich saß lieber auf irgendeiner Parkbank und beobachtete die Menschen. An den Gebäuden war ich nicht interessiert. Mit Timur an meiner Seite war das anders. Da gefiel mir sogar das hässliche Hotelhochhaus in der Stadtmitte. Timur zeigte mir den riesigen Nischel, der das Wahrzeichen der Stadt ist und den Kopf von Karl Marx darstellt. Dorthin wird jeder Tourist geschleppt, um zu staunen und Fotos zu machen.

„Was ist das für ein fürchterliches Gebäude dahinter?“

„Das Landesamt für Steuern und Finanzen. Das passt zu Marx, nicht wahr?“

„Wieso das?“

„Nun, er war ein Parasit und lebte auf Kosten seines Freundes und der Familie seiner Frau.“

Das wusste ich nicht und ist mir auch gleichgültig.

Dann liefen wir weiter zum Opernhaus und umrundeten den Schlossteich, wo wir die Schwäne und Enten auf dem Wasser beobachteten. Schließlich spendierte er mir ein Eis im Milchhäuschen, einem zauberhaften Café direkt am See. Niemals zuvor hat mir die Stadt so gut gefallen. Und ich war ganz hingerissen von Timur.

„Hat dich meine Frage nach deiner Herkunft gekränkt?“

„Wie kommst du darauf?“

„Wir haben in der Schule gelernt, dass solch eine Frage rassistisch ist, weil sich derjenige gegen seinen Willen rechtfertigen muss, warum er hier zwischen all den Weißen ist.“

Timur schaute mich fassungslos an und schüttelte den Kopf.

„Nein, mir gefällt es, wenn sich jemand für meine Herkunft interessiert.“

„Wie ich!“, rief ich erleichtert aus. „Wenn du nicht so anders aussehen würdest, hätte ich dich gar nicht angesprochen.“ Erleichtert seufzte ich und lachte ihn an. „Wir müssen uns unbedingt wiedersehen“, sagte ich zum Abschied. „Morgen um drei am Milchhäuschen?“ Timur lächelte und ich hätte ihn am liebsten geküsst. Doch so etwas tut ein Mädchen nicht.

Timur wurde in Kasachstan geboren. Das Land ist siebeneinhalb Mal so groß wie Deutschland. Bis 1990 lebten etwa eine Million Deutsche in Kasachstan, meist im Norden zwischen Astana und Ust-Kamenogorsk. Den kasachischen Namen Öskemen nahm die Stadt erst 1993 an. Heute gibt es kaum mehr als 180.000 Deutsche. Mehr als die Hälfte des Landes besteht aus Steppen und Wüsten, aber es gibt auch hohe Berge, dessen Gipfel bis zu 7.000 Meter hoch ragen.

Timurs Vater ist Russe, seine Mutter Kasachin, die einen deutschen Vater hat: den blonden Hans. Er war Kriegsgefangener im Straflager Ust-Kamenogorsk, aus dem er ein Jahr nach Stalins Tod entlassen wurde. Doch es gab keine Möglichkeit, in seine Heimat zurückzukehren. Er lungerte anfangs in der Stadt herum, fand aber recht schnell eine Arbeit, denn die Gegend war ein Zentrum der Metall- und Bergbauindustrie, besonders für Blei, Zink und andere Metalle. Die Sowjetregierung förderte die Industrialisierung, sodass viele Menschen in Fabriken und Minen arbeiteten.

Hans lernte Gulzhan kennen. Ihr Name bedeutet Blume des Lebens, was er für ein gutes Omen hielt. Gulzhan wurde schwanger und bekam eine Tochter, die sie Aida nannte. Aida bedeutet Rückkehrer, denn Gulzhan glaubte, Hans wolle in seine Heimat zurückkehren. Kurz darauf erlaubte ihm das Andenauer-Dekret die Heimreise, doch nur ihm, nicht Gulzhan und der gemeinsamen Tochter.

Also blieb Hans im Altai. Die kleine Familie bekam ein Zimmer in einer Kommunalka. Das bedeutet, dass in jeder Wohnung mehrere Familien lebten, die jeweils nur ein Zimmer hatten, in dem sie wohnten und schliefen. Küche und Bad mussten sie sich mit den anderen Familien teilen, was oft zu Streit führte. Und doch waren sie weit besser dran als die vielen tausend Deportierten, die ihre Häuser in ihrer Heimat verlassen und in der Fremde neu anfangen mussten. Es heißt, in Kasachstan gab es an die hundertdreißig verschiedene ethnische Gruppen, die völlig ungewohnten klimatischen Bedingungen ausgesetzt waren und den ersten kalten Winter nicht überlebten. Im Sommer kann es vierzig Grad heiß werden und im Winter vierzig Grad minus. Auf Grund der gezielten Besiedlung durch Russen und Ukrainer waren nur noch dreißig Prozent der Menschen kasachischer Herkunft.

Bald wurde die zweite Tochter geboren: Nazira, was seltene Schönheit bedeutet, denn sie hatte die helle Haut ihres Vaters und die mandelförmigen Augen der Mutter. Naziras Haare schimmerten in einem hellen Braun, das an Milchschokolade erinnert.

Als Nazira erwachsen war, heiratete sie den Russen Viktor. Seine Eltern arbeiteten früher im Straflager für deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Als es während der Perestroika zu öffentlicher Kritik an der Politik und zu Unruhen kam, half Viktor bei den Sicherheitskräften, die Demonstrationen zu zerschlagen. Er prahlte mit der Bedeutung seines Namens: Sieger. „Dummkopf!“, beschimpften ihn die Nachbarn und warfen mit Steinen nach ihm.

Nazira hatte es doppelt schwer, denn sie war nicht nur mit einem Russen verheiratet, sondern nur zur Hälfte Kasachin, die andere Hälfte war deutsch. So wurde sie von den Kasachen, den Russen und den Deutschen nur Tschuschoi (Fremde) genannt.

Im Jahr 1991 hielt die Familie den Streit zwischen den ethnischen Gruppen nicht mehr aus und reiste mit ihren drei Söhnen nach Deutschland aus.

Timur ist der mittlere Sohn.

Opa Hans blieb mit seiner Frau Gulzhan in Ust Kamenogorsk, Tochter Aida lebt mit ihrer Familie auf dem Land in einem eigenen Häuschen und Viktors Eltern zogen nach Omsk, einer russischen Großstadt in Sibirien mit mehr als einer Million Einwohner.

Timur war vier Jahre alt, als er nach Chemnitz kam. Sein Name bedeutet Eisen, sein älterer Bruder heißt Bolat, was Stahl bedeutet, der jüngste heißt Serik (freundlich). Serik ist körperlich und geistig behindert und braucht rund um die Uhr Betreuung, was in Kasachstan eine Unterbringung in einem Sonderheim nötig gemacht hätte. Doch die Heime waren rettungslos überfüllt, weshalb sie Serik bei der Ausreise mitnehmen mussten.

Mussten! So haben sie es mir später erzählt. Vielleicht hätten ihn seine Eltern auch im Land gelassen, wenn dies möglich gewesen wäre. Ich habe nie gefragt.

Als Timur sechzehn Jahre alt war, wurde er aufgefordert, sich einen Personalausweis ausstellen zu lassen. Doch Timur wollte keinen deutschen Pass. Er sagte, er ist seit seiner Geburt Kasache und bleibt es, gleichgültig, wo auf dieser Welt er lebt. Also beantragte er bei der Botschaft der Republik Kasachstan einen kasachischen Reisepass und einen Personalausweis (Udostoverenie Lichnosti). Viele Wochen später teilte man ihm mit, dass seine Eltern bei ihrer Einbürgerung in Deutschland 1991 die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten und ihre drei minderjährigen Kinder automatisch mit eingebürgert wurden, da sie im selben Haushalt lebten und die Eltern das Sorgerecht hatten. Timur hatte also seine kasachische Staatszugehörigkeit für immer verloren. Eine Entlassung aus der deutschen Staatsbürgerschaft wäre nur möglich, wenn er die kasachische oder russische noch besessen hätte.

In seinem Ausweis steht bei Nationalität: deutsch, obwohl dies nicht stimmt. Timur will seine Nationalität nicht leugnen, hat aber keine Chance, dies korrigieren zu lassen. Immerhin darf er ohne Visum nach Kasachstan reisen, am günstigsten über Istanbul.

Kasachen sind normalerweise Moslems, Timur und seine Eltern nicht. Sie ordneten sich keiner Glaubensgemeinschaft unter.

Öskemen ist der kasachische Name, den die Stadt erst seit 1993 gleichwert neben dem ursprünglich russischen Ust-Kamenogorsk trägt. Sie liegt so weit im Osten, dass es bis China nicht mehr weit ist. Timurs Eltern unterrichteten an der dortigen Universität und konnten nach ihrer Übersiedlung nach Chemnitz sofort an der TU als Dozenten arbeiten, da ihr Fachgebiet Maschinenbau ist. Damit hatten sie doppeltes Glück, denn normalerweise werden Ausbildungen der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland nicht anerkannt, aber so kurz nach der Wende herrschte ein großes Durcheinander, weil kaum jemand wusste, was erlaubt ist und was nicht.

Bereits im 19. Jahrhundert war Chemnitz Heimat vieler Maschinenbauunternehmen und ist auch heute ein wichtiges Zentrum für Maschinenbau und verwandte Industrien. Es gibt Institute und die Technische Universität, die bekannt für Forschung und Lehre im Maschinenbau sind.

Auch Timur hat Maschinenbau studiert. Obwohl er in Deutschland aufwuchs und akzentfrei Deutsch spricht, sind seine Freunde vor allem Russen und Kasachen. Sie heiraten meist innerhalb der Gruppe.

Timur ist eine Ausnahme, weil er mich heiratete.

Er lädt seine Freunde oft zu uns nach Hause ein. Dann geht es sehr laut zu, was mir gar nicht gefällt. Muss man beim Lachen laut grölen? Kann man sich nicht leise freuen? Ich habe keine Lust, die lärmende Truppe zu bedienen und mag auch nicht mit ihnen feiern.

„Was hast du gegen meine Freunde?“

„Nichts. Sie sind mir nur zu laut.“

„Wenn dich Fröhlichkeit stört, bist du nicht normal“, wirft mir Timur vor. „Du hast ja nicht einmal Freunde, weil irgendwas mit dir nicht stimmt.“

Es stimmt, dass ich keine engen Freunde habe, nur lockere Bekanntschaften in der Nachbarschaft. Doch die geben mir nichts, weil die meisten Leute eher verschwiegen sind. Da weiß man nie, woran man ist. Auch Timur redet nicht über seine Gefühle und Gedanken, weil die seiner Meinung nach niemandem etwas angehen, auch mich nicht.

„Weil ich keine Freunde nötig habe“, gebe ich gekränkt zurück. „Ich weiß, was ich weiß und bin mir selbst genug. Dafür bin ich im Gegensatz zu den meisten Leuten ehrlich und sage, was mich bewegt und frage, wenn ich etwas wissen will. Auch, wenn es mich angeblich nichts angeht.“

„Du wirst noch einmal Ärger kriegen, weil du keinen Unterschied machst, mit wem du sprichst“, befürchtet Timur.

Im Grunde hat er Recht. Ich sollte nicht mit jedermann so offen sein, weil heute alles politisiert wird. Gleichgültig, was man sagt, man wird sofort in eine politische Ecke gedrängt. Vor allem soll man sich deutlich gegen Rechts positionieren. Doch ich will nicht wollen, was andere wollen, das ich zu wollen habe. Ich weiß genau, was ich will. Ich kann es nur nicht immer sagen, weil ich oft viel zu lange nach dem passenden Wort suche. Wenn ich es gefunden habe, ist die Unterhaltung längst beim nächsten Thema und mein Wort passt nicht mehr. Daher bin ich oft nur Zuhörer. Das ist aber nicht schlimm, denn ich stehe sowieso nicht gern im Mittelpunkt.

Viele Freunde habe ich nicht, weil ich nur selten über Späße lachen kann, die ich meisten peinlich finde. Ich mag keinen Sarkasmus, keinen Spott und keinen schwarzen Humor, da allen dreien die Achtung fehlt.

*****

Gestern hat Timur seine alten Spielzeugautos auf der Straße zum Kauf angeboten. Das ärgert mich, denn normalerweise stellt jeder Nachbar alles, was er nicht mehr braucht, in den Hausflur neben ein Schild Zu verschenken. Doch Timur hat nichts zu verschenken, er will seine alten Autos verkaufen, zu Geld machen. Die große Feuerwehr, die Lok, den Bagger, den LKW und das Puppenhaus unserer Tochter, den Kaufladen und vieles mehr hätten sicher einige Nachbarn gern für ihre Enkel gehabt.

„Können sie haben, müssen nur blechen.“

Blechen. Damit meint er bezahlen. Die Autos sind alle aus Blech. Vielleicht will das heute niemand mehr. Heute mögen die jüngeren Eltern Spielzeug aus Plastik oder Holz. Hier im Haus lebt ein junger Mann mit einer kleinen Tochter, die ihn an jedem zweiten Wochenende besucht. Doch die Kleine wollte das Puppenhaus nicht, auch nicht den Kaufladen. Sie spielt lieber mit dem Handy, obwohl sie erst vier Jahre alt ist. Die anderen drei Paare im Haus sind Rentner und haben Enkel, alles Jungs zwischen zwei und zehn Jahren, die kein Puppenhaus brauchen, aber vielleicht Autos aus Blech.

Ein anderer Nachbar will seine Wein- und Likörvorräte loswerden. Er zieht um und mag nicht alles, was sich während der letzten Jahre ansammelte, mitschleppen. Ich wähle zwei Flaschen Wein und einen Glühwein. Doch als ich ihn öffnen will, merke ich, dass der nur bis Mitte 2019 haltbar war. Wie kann man so etwas anbieten?

Marie

Ich habe keine Ahnung, womit Kinder heutzutage spielen, denn wir haben keine Enkel. Unsere Tochter ist siebzehn Jahre alt. Als ich mit Marie schwanger war, war ich so alt wie sie heute. Siebzehn. Ich ging noch zur Schule. Die Schwangerschaft merkte ich erst, als es für einen Abbruch zu spät war. Trotzdem drängten meine Eltern auf eine Abtreibung. Auch Timur wollte noch kein Kind. Er wollte ohne Stress fertig studieren und danach die Welt bereisen. Ohne mich.

„Du machst mich zum Gespött der ganzen Schule“, klagte Mutter, die im Ort eine beliebte Lehrerin ist.

„Und des ganzen Dorfes“, ergänzte Vater. „Du bist minderjährig und wirst tun, was wir für richtig halten.“

„Wenn das Kind da ist, bin ich achtzehn und ihr habt mir gar nichts mehr zu sagen.“

„Werde nicht frech! Noch bist du siebzehn.“

„Wir leben nicht mehr in der Steinzeit“, gab ich trotzig zurück.

Mutter holte aus und versetzte mir eine schallende Ohrfeige. Sie hatte mich zuvor noch nie geschlagen und ich schaute sie entsetzt an. Doch ihr Gesicht blieb kalt, während meins wie Feuer brannte.

„Ab sofort bleibst du im Haus! Ich melde dich krank und vereinbare einen Termin beim Frauenarzt in der Stadt, wo uns niemand kennt.“

„Warum? Ich bin nicht krank! Ich bin nur schwanger.“

„Halt den Mund! Jetzt und überhaupt! Von deiner Verfehlung erfährt niemand auch nur ein Sterbenswort. Hast du mich verstanden?“ Verfehlung nannte Mutter meinen Kummer. So unerbittlich hatte ich sie noch nie erlebt und war bis ins Mark getroffen. Was sollte ich nur tun? Ich durfte mich niemandem anvertrauen und fühlte mich schrecklich allein gelassen. Meine Eltern sahen nur den einen Ausweg: die Abtreibung. Auch ich wollte das Kind nicht. Ich stand unter Schock und sehnte mich nach Trost, nach dem Versprechen, dass alles gut wird. Doch keiner nahm mich in den Arm. Ganz im Gegenteil. Von allen Seiten prasselten Fragen auf mich ein. Ich fühlte mich entsetzlich.

„Mit wem hast du dich eingelassen? Mit dem Sohn vom Musiklehrer?“, fragte Vater streng.

Trotzig zischte ich: „Mit keinem aus dem Kuhdorf.“

„Dachte ich´s mir!“, wusste Mutter. „Der Halunke ist aus Chemnitz. Deshalb fährst du in die Stadt, um dich herumzutreiben, während du uns glauben lässt, du bist bei Oma.“

„Wie heißt der Bursche? Kennen wir ihn?“, schrie Vater aufgebracht.

Ich schüttelte den Kopf, denn Timur war noch nie bei mir daheim.

„Timur studiert …“

„Timur?“ Mutter lachte spöttisch. „Timur und sein Trupp.“

Ich hatte keine Ahnung, was sie meint. Erst viel später erfuhr ich, dass sie sich auf ein Buch eines russischen Autors bezog, das in den DDR-Schulen zur Pflichtliteratur gehörte.

„Ein Russe also.“

„Nein. Timur ist Kasache.“

„Etwa ein Flüchtling?“ Vaters Gesicht wurde rot und die Adern an seinem Hals schwollen bedrohlich an.

„Timur ist kein Flüchtling. Er lebt seit …“

„Habe ich dich gefragt?“, schrie er und ich spürte eine Wolke Speichel in meinem Gesicht, wagte aber nicht, sie abzuwischen.

„Ihr wollt ja gar nichts wissen“, entgegnete ich wütend und weinte enttäuscht.

Ich begriff, dass mir meine Eltern nicht beistehen werden. Sie fürchteten das Gerede im Ort, wenn meine Schwangerschaft bekannt wird. Meine Angst interessierte sie nicht, auch nicht, dass es für eine normale Abtreibung längst zu spät war. Angeblich gibt es immer Mittel und Wege, eine Ausnahmegenehmigung zu erhalten.

Am nächsten Tag, als die Eltern zur Arbeit gingen und das Haus von außen abschlossen, packte ich meine Sachen in den Rucksack, kletterte aus dem Fenster und fuhr nach Chemnitz. Mein Tagebuch nahm ich mit, schrieb aber nie wieder etwas hinein. Ab sofort wollte ich keines meiner gedachten Worte jemals wieder hinunterzuschlucken, sondern frei aussprechen.

Oma hörte sich die ganze Geschichte an.

Dann umarmte sie mich, tätschelte mein Gesicht und meinte: „Wir kriegen das Würmchen schon groß.“

Sicher informierte Oma meine Eltern, dass ich bei ihr wohnte, aber sie meldeten sich während meiner gesamten Schwangerschaft kein einziges Mal. Vermutlich waren sie froh, dass keiner ihrer Freunde von meinem „Verfehlung“ erfuhr. Sie erzählten im Dorf, ich sei in Chemnitz auf einer Handelsschule. Mich kränkte es sehr, dass ihnen ihr guter Ruf wichtiger war als ich. Dabei hatte ich nichts Böses getan. Für mich waren meine Eltern böse, weil sie mir nicht helfen wollten. Ich fühlte mich verstoßen und weinte mich jede Nacht in den Schlaf.

Irgendwann sagte ich mir: „Wer mich nicht will, den will ich auch nicht.“

So lernte ich mit der Zeit, meine Eltern aus meinem Kopf zu verbannen.

Immerhin hatte ich meine Oma, die sich liebevoll um mich kümmerte. Sie begleitete mich zu allen Gesprächen beim Arzt und der Schwangerenberatung. Und sie vermittelte mir eine Ausbildungsstelle zum Kaufmann für Bürokommunikation bei der