Schicksal oder nur Zufall? - Petra Weise - E-Book

Schicksal oder nur Zufall? E-Book

Petra Weise

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Beschreibung

Andrea wächst in Offenbach auf. Nach dem Mauerfall will sie den ihr völlig unbekannten Osten kennenlernen und macht sich auf den Weg nach Sachsen. Obwohl sie keinen Draht zu den Ossis findet, landet sie in Chemnitz in einem hässlichen Plattenbau. Sind all die Dinge, die Andrea widerfahren, Schicksal oder nur Zufall?

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-

Zufall bedeutet,

dass eine Situation eintritt,

die nicht geplant war

und die keiner aktiv herbeigeführt hat.

Schicksal ist,

wenn etwas vorbestimmt war

und man es niemals hätte ändern können.

Menschen,

die an Zufall oder Schicksal glauben,

kommen im Leben besser zurecht,

weil sie akzeptieren,

dass sie nicht alles im Leben

beeinflussen können.

Inhalt

1978

1985

1992

1995

1996

1998

2004

2009

2016

2017

2019

2020

2021

2022

2023

Schluss

1978

„Bald bringt dir der Storch eine kleine Schwester“, erklärt meine Mutter.

Begeistert springe ich auf, denn ich wünsche mir schon lange eine Schwester. Eine, mit der ich spielen und abends im Bett kuscheln kann. Die nicht dauernd Anführer sein will wie meine Freundin Nicole. Wenn ich eine Schwester habe, brauche ich keine Freundin mehr. Alle Kinder im Dorf haben eine Schwester oder einen Bruder, manche sogar beides. Ich habe nur einen Bruder, aber der ist blöd wie alle Jungs und außerdem schon groß. Mit dem ist nichts anzufangen, obwohl er sehr klug ist, weil er schon in die Schule geht, in die fünfte Klasse. Er weiß einfach alles.

„Weißt du, woher die Babys kommen, wo es doch im Dorf gar keine Störche gibt?“, frage ich Frank.

„Klar woaß i des.“

„Dann sag´s mir!“

„Wo´s eini kimme is, kimmts außi.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Weilst dumm wia Bohnenstroh bist.“

Ich bin nicht dumm, ich weiß nur nicht alles, weil ich noch nicht zur Schule gehe. Frank ist gemein. Er lacht mich aus und redet bayrisch, wenn er mich ärgern will. Frank ist in Bayern geboren und hat dort sechs Jahre gelebt. Jetzt leben wir in Hessen. „Wenn du groß bist, erkläre ich dir alles“, verspricht

Mama.

Das höre ich so oft, dass ich schon lange nicht mehr daran glaube. Ich muss warten, bis ich in die Schule komme und lesen lerne. Alles, was man wissen muss, steht in den Büchern. Wenn ich lesen kann, muss ich niemanden mehr fragen.

Mama ist dick geworden, so dick, dass sie sich nur mit Mühe bewegen kann. Tante Rita kommt jeden Tag und hilft der Mutter. Sie ist Mutters Schwester und holt mich oft vom Kindergarten ab. So auch heute.

„Wo ist die Mama?“

„Im Krankenhaus.“

„Hat sie wieder Bauchweh?“

Tante Rita lacht. Ich finde es überhaupt nicht lustig, wenn Mutter Bauchweh hat und im Krankenhaus liegt.

„Muss sie sterben?“, frage ich ängstlich.

„Aber nein! Sie holt das Baby ab und kommt bald wieder nach Hause.“

„Ein Schwesterchen! Ein Schwesterchen!“, singe ich und hüpfe durch alle Zimmer.

Endlich kommt die Mama mit dem Baby. Es heißt Stefanie und ist eine große Enttäuschung, weil es wie ein verschrumpelter Frosch aussieht und immer schreit, wenn es nicht schläft. Nichts kann ich mit ihm anfangen. Gar nichts! Stefanie kann nicht einmal reden, nur schreien. Mama und Tante Rita springen den ganzen Tag um sie herum, nehmen sie auf den Arm und schleppen sie durchs ganze Haus. Damit das Baby nicht schreit, presst es Mama an ihre nackte Brust. Da kommt Milch raus, hat sie mir erklärt. Ich finde das eklig und verstehe nicht, weshalb sie nicht einfach die Flasche gibt, wie es alle machen.

Ein Jahr später bekommt Mama noch ein Kind: Juliane. Da wusste ich schon, dass Babys im Bauch der Mutter wachsen.

„Warum tust du das?“, schreie ich Mutter an. „Warum lässt du immer neue Babys in deinem Bauch wachsen?“

„Du hast dir eine Schwester gewünscht.“

„Aber eine, mit der ich reden und spielen kann. So kleine Schwestern will ich nicht!“

Mir wäre es am liebsten, wenn Mutter die Babys ins Krankenhaus zurück bringt. Sie hat überhaupt keine Zeit mehr für mich, nur noch für die Babys. Über die Kleinen lacht sie viel, obwohl die gar nichts machen. Sobald sie mich sieht, wird Mamas Stimme streng: „Hol mir bitte die Windeln!“ oder „Räum deine Sachen vom Sofa! Ich will dort mit Juliane sitzen.“

Mein einziger Trost ist die Schule. Vom ersten Tag an lese ich alles, was mir vor die Augen kommt und suche die Buchstaben heraus, die ich schon kenne.

Stefanie und Juliane leben genauso, wie ich mir das Leben mit einer Schwester gewünscht habe. Sie spielen gemeinsam mit ihren Puppen und laufen Hand in Hand zum See. Mit mir spielen sie nicht und ich nicht mit ihnen, weil ich fünf bzw. sechs Jahre älter bin als sie. Sie sind für mich viel zu klein und ich für sie zu groß. Wie Frank für mich, denn er ist sechs Jahre älter als ich.

Anna rufen sie mich, weil sie Andrea nicht aussprechen können. Auch Stefanie und Juliane ist ihnen zu lang. Sie kürzen ihre schönen Namen auf Deffi und Lula ab und dabei ist es bis heute geblieben. Wenn sie wenigstens Steffi und Juli sagen würden!

1985

„Du bist eine blöde Ziege!“, schreit meine Freundin Nicole.

„Und du eine dumme Gans!“, kontere ich.

Nicole gibt mir einen Schubs und ich falle rücklings in eine Pfütze. Normalerweise drohe ich in solchen Situationen mit meinem großen Bruder, doch der wohnt nicht mehr daheim. Also schreie ich: „Das sage ich meinem Vater!“

Nicole zeigt mit dem Finger auf mich, streckt mir die Zunge raus und ruft: „Du kennst deinen Vater nicht einmal!“

Natürlich kenne ich meinen Vater. Er lebt mit mir, Mutter und meinen Schwestern zusammen.

„Das ist bloß der Vater deiner Schwestern. Du hast überhaupt keinen Vater.“

Nicole fängt sofort eine saftige Ohrfeige von mir, dann renne ich nach Hause. Keiner ist daheim, niemand, der mich tröstet. Mama ist noch im Büro und die Kleinen in Kita und Schule. Ich muss sie jeden Tag 15 Uhr abholen. Ich hasse das, weil die Mädchen jeden Tag Theater machten. Deffi will wie Lula in den Kindergarten und Lula wie Deffi in die Schule, damit sie zusammen sind. Jeden Morgen veranstalten sie ein wildes Geschrei und wenn ich sie am Nachmittag abhole, umarmen sie sich, als hätten sie sich hundert Jahre nicht gesehen. Mich nehmen sie gar nicht wahr.

Daheim werfe ich mich aufs Sofa und weine. Habe ich wirklich keinen Vater? Nur Deffi und Lula? Oder hat Nicole gelogen? Vielleicht ist Mama auch nicht meine richtige Mutter, weil sie zu den Kleinen viel lieber ist als zu mir. Ich weine noch viel mehr und bin das unglücklichste und einsamste Kind auf der ganzen Welt.

Normalerweise brate ich mir eine Scheibe Brot und ein Spiegelei zum Mittag, erledige meine Hausaufgaben und verkrieche mich mit einem Buch in eine Ecke. Aber heute will ich nichts essen, ich will überhaupt nie wieder etwas essen. Ich laufe weg, weit weg, wo mich keiner findet, weil ich keinen Vater habe und vielleicht nicht einmal eine Mutter. Nur noch Tante Rita. Alle sollen furchtbar weinen, wenn ich nicht mehr da bin.

So schnell ich kann laufe ich aus dem Haus, die Dorfstraße entlang, am See vorbei und verstecke mich im Maisfeld. Bald ist mir langweilig, weil ich kein Buch mitgenommen habe. Doch inzwischen ist es sowieso zu dunkel zum Lesen. Kurz plagt mich das schlechte Gewissen, weil ich meine beiden Schwestern nicht abgeholt hatte. Doch schnell beruhige ich mich, denn sie wollen sowieso nichts mit mir zu tun haben. Außerdem haben sie einen Vater. Soll der sich um seine Töchter kümmern. Um mich kümmert sich niemand.

Ich knabbere an einem Maiskolben. Doch die Körner sind hart und schmecken bitter. Aber das ist mir gleichgültig, weil ich sowieso nie wieder etwas essen will.

Inzwischen ist es dunkel geworden. Normalerweise habe ich Angst im Finstern. Doch heute bin ich nur schrecklich traurig und mir ist kalt. Ich stelle mir vor, dass ich in der Nacht erfriere und ganz steif bin, wenn man mich eines Tages findet. Genauso wie Nicoles Hamster, der kalt und steif in seinem Käfig lag. Ich lege mich auf die kalte Erde und werde warten, bis ich sterbe.

Plötzlich höre ich es rascheln. Sind das nur Mäuse oder ein Fuchs oder gar ein Wildschwein? Vor Wildschweinen fürchte ich mich, weil sie den Schäferhund vom Nachbarn komplett zerfetzt hatten. Sie wollten ihn sogar fressen, doch der Nachbar fuhr mit seinem Moped direkt auf sie zu und schrie: „Euch soll der Teufel holen!“ Ich habe das alles ganz genau gesehen und viele Tage um den toten Hund geweint.

Bestimmt fressen Wildschweine auch Menschen, vor allem Kinder. Ich ducke mich noch tiefer zwischen die Halme und halte mir mit beiden Händen die Augen zu.

„Andrea! Bist du hier?“, höre ich ganz deutlich eine Stimme.

Das müssen Kobolde sein. Sie kennen meinen Namen. Nicole hat mir erzählt, dass es im Wald Kobolde und Elfen gibt, vor allem in den kleinen Höhlen der Schlucht. Kobolde sind böse und tun den Kindern weh.

„Andrea! Wo bist du? Anna!“

Durch das Dunkel huscht ein helles kleines Licht. Ein Geist! Er ruft mich. Er will mich töten. Abends schaue ich immer erst unters Bett und in den Schrank, bevor ich mich hinlege. Denn irgendwo könnte sich ein Geist verstecken. Tante Rita verriet mir einen Trick, mit dem ich die Geister vertreiben kann. Ich muss nur laut „Geh weg!“ rufen. Dann verschwinden sie.

„Geh weg!“, schreie ich. Und noch einmal: „Geh weg!“

„Ich bin´s, deine Tante Rita.“

Ohne nachzudenken springe ich auf, renne aus dem Feld und direkt in Tante Ritas Arme.

„Hier bist du! Welch eine Freude, dich zu sehen!“, ruft sie aus. „Komm! Wir gehen nach Hause.“

„Ich gehe nicht mehr nach Hause. Nie wieder!“

„Aber warum? Deine Mutter macht sich Sorgen, weil du nicht daheim bist. Sie weint.“

„Das soll sie auch!“, sage ich trotzig.

„Warum willst du nicht nach Hause gehen?“

„Weil alle Erwachsenen Lügner sind.“

„Nicht alle. Ich lüge nicht.“

„Doch! Du hast mir nicht gesagt, dass Papa nur der Vater von Deffi und Lula ist. Nicole sagt, ich habe gar keinen Vater.“

„Jeder hat einen Vater. Wir gehen jetzt zu mir und ich erzähle dir alles.“

Ich höre, wie Tante Rita zu Mama sagt: „Ich nehme die Andrea mit zu mir. Es wird Zeit, ihr reinen Wein einzuschenken.“ Ich wusste bereits, dass das nur eine Redensart ist

und mir meine Tante keinen Wein zu trinken gibt, sondern die Wahrheit erzählt. Da das Wochenende vor der Tür steht, darf ich sogar bei Tante Rita übernachten. Sie kocht mir einen Kakao und drückt mir ein Käsebrot in die Hand. Dann wickelt sie mich in eine dicke Decke und erzählt:

„Deine Mutter und ich lebten mit unseren Eltern und zwei jüngeren Geschwistern in Bayern. Weil ich nur ein Jahr älter bin als deine Mutter, verstanden wir uns so gut wie Stefanie und Juliane.

„So ein Zufall! Ihr habt euch genauso verstanden wie Deffi und Lula.“

„Vielleicht doch eher Schicksal, meinst du nicht?“

„Was ist Schicksal?“

„Schicksal ist, wenn etwas vorbestimmt ist.“

„Ist es vorbestimmt, wann wir geboren werden und welche Geschwister wir haben? Und wer bestimmt das?“

„Das weiß ich nicht.“

Warum sagt sie es dann, wenn sie es gar nicht weiß? Trotzdem bitte ich sie, weiterzuerzählen.

„Nachmittags trafen wir uns mit unseren Freunden an der Dorflinde. Einmal hatten wir Streit und ich lief mit einer Freundin davon. Gisela, also deine Mutter, blieb zurück. Erst spät in der Nacht kam sie nach Haus. Ihr Kleid war zerrissen, Arme und Beine blutig zerkratzt. Gisela sprach kein Wort. Wir rätselten, ob sie sich mit den Burschen geprügelt hatte oder in einen Graben gefallen war. Unsere Mutter steckte sie in die Badewanne und verbrannte das Kleid. Viele Monate später stellte sich heraus, dass Gisela schwanger war.“

„Du meinst, es passierte etwas Schlimmes an dem Abend vor vielen Monaten, an dem du weggelaufen bist?“

Tante Rita nickt.

„Das viele Blut!“ Sie seufzt. „Das werde ich nie vergessen. Doch Gisela schwieg. Niemand wusste, was ihr passiert war, wer sie so schlimm verletzt und offenbar auch geschwängert hatte. Nicht einmal ich, weil sie auch mir nichts erzählte. Ich bemerkte nur, dass sie nachts oft weinte und manchmal schrie.“ „Hatte sie Schmerzen?“

„Vielleicht. Doch ich denke, sie hatte Albträume von der Vergewaltigung.“

Das Wort Vergewaltigung war mir längst ein Begriff.

„Ich hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen, denn das alles wäre nicht passiert, wenn ich bei ihr geblieben und sie nicht allein gelassen hätte.“

Tante Rita lässt den Kopf hängen und kratzt mit den Fingernägeln über ihren Unterarm.

„Erzähle weiter!“, bitte ich.

„Damals war es eine Schande, als Ledige ein Kind zu bekommen. Unsere Eltern hielten es für vernünftiger, den kleinen Jungen …“

„Welchen Jungen?“

„Das Baby war Frank, dein großer Bruder. Also sie wollten Frank zur Adoption freigeben, damit Gisela einen Beruf lernen, einen Mann finden und heiraten kann. Doch das wollte sie nicht. Sie wollte weglaufen und in einem Ledigenheim Unterschlupf finden. Das tat sie auch. Sie packte Frank und ein paar Sachen in die Kinderkutsche und ging fort. Vier Jahre lang hörten wir nichts von ihr und wussten nicht, wie es ihr geht, ob sie überhaupt noch lebt. Ich habe sehr gelitten, fast noch mehr als unsere Mutter. Dann kam plötzlich eine Einladung zur Hochzeit nach Regensburg.

Wir waren ganz aus dem Häuschen vor Freude und fuhren nach Regensburg; unsere Eltern und ich. Dort lernten wir Giselas Bräutigam kennen, einen sehr sympathischen Ingenieur, der nach der Trauung Frank adoptierte.

Was Gisela während der letzten vier Jahre erlebt hatte, erzählte sie uns nicht. Aber jeder konnte sehen, wie glücklich sie war.

Zwei Jahre später wurdest du geboren. Ich nahm ein paar Tage frei und fuhr nach Regensburg, um meiner Schwester zu helfen.

Und dann geschah eine grauenhafte Katastrophe: Michael, also dein Vater, stürzte mit dem Motorrad so unglücklich, dass er noch am Unfallort starb.“

„Dann habe ich wirklich keinen Vater.“

„Doch. Du hast einen Vater, aber er lebt nicht mehr.“ Rita streicht über meine Haare und umfasst meine Hände. „Deine Mutter war untröstlich. Sie weinte und weinte und wollte nicht mehr aufhören. Ich blieb bei ihr, versorgte dich und Frank und auch meine Schwester. Es brach mir das Herz, sie so unsagbar leiden zu sehen. Gisela verkroch sich wochenlang im Bett und sprach mit niemandem; nicht mit mir und nicht mit Frank. Sie ertrug nicht einmal den Anblick ihres kleinen Babys. Und du warst so ein süßes Kind.“ Tante Rita umfasst mein Gesicht und gibt mir einen dicken Kuss auf beide Wangen. „Weil Gisela keine Milch hatte, konnte sie dich nicht stillen.“

„Das ist gut. Ich will nicht an einer Brust nuckeln.“ Rita lächelt und erzählt weiter:

„Ich habe Babymilch für dich gekocht. Es war eine schlimme Zeit. Eines Tages warf Gisela ihre Bettdecke zur Seite und duschte lange. Als sie sich zu mir an den Tisch setzte, sagte sie, dass sie um nichts in der Welt in Regensburg bleibt, wo sie jede Straße, jedes Haus und jeder Gegenstand an ihren verstorbenen Mann erinnert. Sie wollte weg, egal, wohin, Hauptsache weg!

Ich konnte und wollte sie nicht allein lassen in ihrer Trauer und suchte mir eine Arbeit, später auch eine Wohnung. So landeten wir hier: du, Frank, eure Mutter und ich.“

„Warum hat mir Mama nie etwas davon erzählt?“

„Das weiß ich nicht. Ich glaube, ihr fällt es schwer, darüber zu sprechen. Michael war ihre große Liebe und die vergisst man nicht.“

„Hast du ein Foto von meinem richtigen Vater?“

„Ja, ich besitze ein wunderschönes Hochzeitsfoto. Sicher hat deine Mutter noch mehr Bilder. Frage sie, ob sie sie dir zeigt!“

„Und Papa? Ich meine den Vater von Stefanie und Juliane.“

„Er ist ein guter Mensch und hat ihr die Freude am Leben zurückgegeben.“

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann Papa zu uns kam. Er lebt schon immer bei uns, so lange ich denken kann.

„Mama liebt meine Schwestern mehr als mich.“

„Wie kommst du darauf?“

„Das sehe ich doch! Sie küsst und umarmt sie mehr als mich.“

„Weil sie noch klein sind.“

Verächtlich schnaufe ich durch die Nase. Als ich so alt war wie Lula und Deffi, war ich viel allein und keiner hat sich um mich gekümmert.

„Sie hat meinen Vater geliebt. Aber den gibt es nicht mehr, nur ich bin übrig geblieben. Auch Frank ist übrig geblieben und ging fort. Ich werde auch fortgehen.“

Der Gedanke tröstet mich. Trotzdem weine ich.

„Du Dummchen! Du bist ein Teil deines Vaters und darüber freut sich deine Mutter. Sie liebt dich so, wie du bist.“

Das glaube ich nicht. Sie hat mir nicht einmal von meinem Vater erzählt.

„Deine Mutter und ich wurden von unseren Eltern nicht so liebevoll umsorgt wie du und deine Geschwister. Wenn wir weinten, kam unsere Mutter nie gerannt, um zu schauen, was uns fehlte. Sie kümmerte es nicht, weil sie glaubte, Trost und Hilfe würde uns verweichlichen. Wir sollten lernen, mit unseren Problemen und unserem Leben selbst fertig zu werden. Selbständig und unabhängig waren ihre Lieblingsworte, die wir ständig zu hören bekamen. Das hat uns stark gemacht.“

Darüber muss ich nachdenken.

Tante Rita schaltet den Fernseher ein. Es läuft eine Schlagersendung. Ich schaue hin, kenne aber die Sänger nicht, auch nicht die Lieder. Ich denke an meinen Vater, von dem ich nichts weiß, nur, dass er Michael heißt und kurz nach meiner Geburt mit dem Motorrad verunglückte. Schließlich schlafe ich ein.

Im Jahr darauf ziehen wir in eine moderne große Wohnung in einem Hochhaus in Offenbach am Main. Von meinem Fenster aus sehe ich den Fluss und die Wiesen dahinter. Bis zum Gymnasium ist es nicht weit. Ich kann zu Fuß hinlaufen und muss nicht mehr wie früher mit dem Bus fahren. Zufällig heißt auch hier meine beste Freundin Nicole.

1992

Nach dem Abitur will ich unbedingt in die Ostzone. Ich weiß, dass sie seit zwei Jahren zu Deutschland gehört, aber der Name Ostzone wird nach wie vor benutzt. Viele Leute kommen jetzt aus dem Osten in den Westen, weil dort nach der Wende viele Firmen schließen mussten und die Menschen keine Arbeit hatten. Die meisten hoffen auf ein besseres Leben im Westen. Das gute Leben hatte ich schon, weshalb ich sehr neugierig auf das einfache Leben im Osten bin. Doch so schlimm wird es schon nicht werden.

Deshalb schrieb ich mich zum Studium für wissenschaftliches Bibliothekswesen in Leipzig ein. Das wird ein wunderbares Abenteuer, das ich jederzeit abbrechen kann, falls es mir im Osten nicht gefällt. Nach der Ausbildung werde ich in einer großen Universitäts-Bibliothek arbeiten, vielleicht in Frankfurt oder sogar in Köln.

*****

Bis zum Studienbeginn habe ich noch zwei Monate Zeit. Freunde von mir pilgerten im letzten Jahr den Jacobsweg. Dieser Weg zieht sich quer durch Spanien bis an die portugiesische Küste, man braucht dafür sechs bis acht Wochen. Das ist eine ungewöhnlich lange Wanderung und bietet sicher viele Abenteuer. Früher gingen die Leute diesen Weg aus religiösen Gründen, heute wollen sie Alltagsstress abbauen. Ich habe keinen Stress, aber ich habe Zeit und werde mir den Spaß gönnen und bis zum Studienbeginn durch Spanien wandern.

Meine Freundin Nicole verbringt die Ferien ebenfalls in Spanien, aber am Strand.

„Komm doch mit!“, bittet sie. „Wir werden viel Spaß zusammen haben.“

„Nein. Wochenlang nur in der Sonne braten halte ich im Leben nicht aus.“

„Du spinnst! Was gibt es Schöneres, als am Strand zu liegen und schön braun zu werden?“

Da fallen mir viele Dinge ein. Tanzen zum Beispiel, ins Kino oder shoppen gehen.

„Strand und Sonne – das kenne ich schon, weil es überall auf der Welt gleich ist, gleichgültig, ob du in Spanien, auf den Malediven oder in der Karibik bist. Ich will das Abenteuer.“

„Abenteuer“, Nicole bläst geräuschvoll die Luft zwischen ihren Zähnen aus. „Bei glühender Hitze durch die Botanik zu laufen halte ich für eine blöde Idee. Überlege doch mal! Ich brauche für vier Wochen am Strand nur meine zwei Bikinis, T-Shirts und Jeans zum shoppen und einen geilen Fummel für die Disco.“

Eine Disco wird es unterwegs nicht geben, das ist mir klar.

„Tanzen kann ich später zur Genüge, wenn ich in

Leipzig bin.“

Nicole lacht.

„Glaubst du, die haben im Osten eine Disco?“

Irritiert schaue ich Nicole an. Ich habe keine Ahnung, was die Zonis in ihrer Freizeit treiben. Fragen kann ich niemanden, da ich keinen kenne, der schon einmal in der DDR war. Ich glaube, jetzt heißt das Land gar nicht mehr DDR.

„Während ich bequem in der Sonne liege und mir einen Drink gönne, schleppst du einen schweren Rucksack durch die Hitze, und schwitzt dein T-Shirt durch, das du nirgendwo waschen kannst“, lästert sie und kichert.

„Niemals trage ich verschwitzte Klamotten“, gebe ich verärgert zurück.

„Kein Problem! Du nimmst einfach so viele mit, dass du jeden Tag ein frisches anziehen kannst.“

Insgeheim rechne ich, dass ich in diesem Fall vierzig bis sechzig T-Shirts brauche. So viele habe ich gar nicht und außerdem wäre damit mein Rucksack rappelvoll. Ich wollte eigentlich keinen großen Rucksack mitschleppen. „Und wo willst du schlafen? Etwa im Zelt? Und das auch noch mit dir herumschleppen? Und einen Schlafsack?“

„Himmel! Nein! Man übernachtet kostenlos in kirchlichen Herbergen, wo man auch Essen bekommt.“

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“ Nicole verzieht den Mund. „Du schläfst mit zwanzig nach Schweiß stinkenden Fremden in einem Zimmer und teilst dir mit denen Klo und Dusche. Ich dagegen habe ein Zimmer mit Dusche ganz für mich allein.“

„Bei Bekannten?“

„Aber nein! Halbpension in einem Nobelhotel mit Frühstück und Abendessen am Buffet. Mittags esse ich sowieso nichts.“

Nicole dreht sich hin und her, wirft den Kopf nach hinten und blickt mich von oben herab an.

„Kostet das nicht furchtbar viel Geld?“

„Keinen Tausender inklusive Flug, was sowieso mein Dad bezahlt. Du dagegen musst mindestens mit dem Doppelten rechnen.“ Wieder schaut Nicole geringschätzig. „Zahlt das dein Vater auch?“

Ich seufze und schüttle den Kopf, denn Papa hält es für Schwachsinn, den Jacobsweg zu gehen. Er will solch eine gefährliche Wanderung nicht unterstützen. Nicht einmal die Zugfahrt bis zur französisch-spanischen Grenze will er bezahlen.

„Überlege mal! Du wanderst mit schwerem Gepäck, verbrauchst also viel mehr Kalorien als ich, weil ich nur faul am Strand liege oder entspannt bummeln gehe. Also musst du auch viel mehr essen als ich. Meine Mahlzeiten sind bereits bezahlt, deine nicht. Und du weißt auch nicht, wo du überhaupt etwas kaufen kannst.“

Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Vielleicht sollte ich Kekse und Zwieback mitnehmen und die Gelegenheit nutzen, ein paar Kilo abzunehmen. Was mich wirklich stört, ist verschwitzte Wäsche und die Übernachtung in großen Schlafsälen mit fremden Leuten. Und vielleicht hat Nicole Recht und meine spartanische Wanderung ist teurer als ein lustiger Urlaub am Strand, den am Ende mein Vater finanziert. Kurzerhand ändere ich meinen Plan und fliege mit Nicole ins spanische Hotel.

*****

Leipzig. Meine Eltern fahren mich mit dem Auto die vierhundert Kilometer von Offenbach bis Leipzig. Der „Charme“ im Osten ähnelt dem in Italien und Griechenland: dunkelgrauer Putz an den Häusern blättert ab, alles wirkt ungepflegt und düster, zumal die Sonne fehlt. Stattdessen ist es neblig. Außerdem sehen wir Schornsteine, aus denen es gelb qualmt, was überhaupt nicht gesund aussieht. Und es stinkt beißend aus den kleinen Autos, die Vater Trabi nennt. Er schimpft vor sich hin, weil er unzähligen tiefen Schlaglöchern ausweichen muss.

Endlich stehen wir vor dem Studentenwohnheim, das ein ebenso hässlicher Klotz ist wie die umliegenden Häuser. Drinnen sieht es auch nicht besser aus. Die breiten Gänge wirken trostlos und abgewohnt. Ich wusste, dass es keine Einzelzimmer gibt, aber Mutter schlägt entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen.

„Wie willst du in solch einer Atmosphäre studieren?“

Im Raum befinden sich drei alte Stockbetten, zwei zerkratzte Tische, sechs Stühle und sechs schmale Stahlschränke. Suchend schaut sich Mutter um.

„Wo ist das Bad?“

„Draußen im Gang gibt es eine Gemeinschaftsdusche, Toiletten und eine Küche“, erklärt ein Mädchen.

Mutter schaut sich die Küche an und packt derb meinen Arm.

„Hier bleibst du nicht!“, ruft sie aus.

„Für diese Absteige zahle ich keine einzige Mark!“, droht Papa.

„Nur für den Anfang“, bettle ich. „Ich finde bestimmt ganz schnell etwas Besseres.“

Ich stopfe meine Sachen in den Schrank, der sich leider nicht abschließen lässt.

„Wir gehen jetzt in die Stadt und besorgen ein Vorhängeschloss“, bestimmt Papa.

„Wir werden uns die Stadt anschauen und gemeinsam zu Abend essen“, ergänzt Mutter. „Falls es hier überhaupt einen Gasthof gibt.“

Die Eltern übernachten im Hotel Astoria und fahren am nächsten Morgen zurück nach Offenbach.

„Bin de Nicole“, stellt sich das Mädchen vor, das uns die Küche und Dusche gezeigt hat.

„So ein Zufall! Meine Freundin heißt auch Nicole.“

„Is keen Zufall. In´ Sibbschorn wor dor Nome gruß mode.“

Nicole ist nur schwer zu verstehen, vermutlich ist sie Ausländerin und muss erst Deutsch lernen.

„Wo kommst du her?“, frage ich interessiert.

„Bin ne Hiessche aus Gamds.“

„Wie bitte?“

„Eine Hie-si-ge, eine von hier. Gamds ist sächsisch un meend, und meint Chemnitz.“

„Du bist von hier?“, rufe ich erstaunt aus.

„Nuglor.“ (Natürlich)

Vermutlich ist Chemnitz ein Dorf oder eine Stadt in der Nähe. Nicoles Dialekt, der äußerst seltsam in meinen Ohren klingt, gefällt mir gar nicht.

„Gannst Niggi sogn. Wie heesde? Wu kummste her?“

Nicole öffnet kaum den Mund beim Sprechen und hängt die Worte so dicht aneinander, dass ich sie weder auseinander halten noch verstehen kann.

„Mit mir musst du langsamer und deutlicher reden, weil ich dich sonst nicht verstehe“, bitte ich.

„Geht klar. Also: Du kannst Nicki zu mir sagen. Wie heißt du? Wo kommst du her?“

Erleichtert seufze ich, da Nicki Hochdeutsch sprechen kann.

„Ich bin die Andrea …“

„Mein Bruder heißt Andreas. Wir nennen ihn Andi.“

„Ich komme aus Offenbach.“

Nicki zuckt mit der Schulter.

„Gennschni – Kenne ich nicht.“

„Offenbach liegt direkt neben Frankfurt.“

„Fast Polen, was?“

„Wie kommst du auf Polen?“

„Na, Frankfurt liegt annor Odor un über de Brücke biste in Polen.“

„Nein, Frankfurt liegt am Main.“

„Im Westen?“ Nicki schnalzt mit der Zunge und schaut mich an, als wäre ich ein Exot. „Ich bin also der einzige Ossi hier im Zimmer. Die Uni macht auf International und würfelt absichtlich verschiedene Nationen zusammen, damit alle schneller Deutsch lernen.“

„Gar nicht so dumm.“

Insgeheim denke ich, dass Sächsisch nicht viel mit Deutsch zu tun hat.

„Hier schläft Than aus Vietnam.“ Nicki klopft auf eines der Betten. Dann zeigt sie auf das nächste.

„Hier Minho aus Korea und hier Benita aus Kuba. Diese zwei Betten sind noch frei.“

Ich wähle das Bett am Fenster. Über die genannten Länder weiß ich wenig, eigentlich gar nichts. Ich weiß nur, wo sie ungefähr liegen. Über Vietnam hörte ich kurz einiges in der Schule, von Korea und Kuba nichts. Afrikanische Länder wurden gründlicher durchgenommen und wir mussten alle auswendig lernen.

„Kennst du Korea? Ich meine, warst du schon einmal dort im Urlaub?“

Verwundert schaut mich Nicki an.

„Wo denkst du hin? Was glaubst du, wie viel ich in meinem Leben von der Welt gesehen habe?“

Ich zucke mit der Schulter.

„Keine Ahnung.“

„Wir durften ohne Genehmigung nur in die Tschechei reisen, auf Antrag auch nach Bulgarien. Dann war Ende Gelände.“

„Wie bitte?“

Nicki erklärt, dass die Menschen in der DDR nicht einfach in ein anderes Land reisen durften, ohne

Genehmigung nur nach Polen und in die CSSR, für Bulgarien, Rumänien und Ungarn brauchten sie eine offizielle Reisegenehmigung. Viel seltener wurde ein Besuch in der Sowjetunion oder Kuba erlaubt. Mehr Möglichkeiten gab es praktisch nicht. Das wusste ich nicht und begreife den Grund nicht. „Der Betrieb, in dem meine Eltern arbeiteten, hatte ein Ferienheim im Erzgebirge. Aber sie bekamen nicht in jedem Jahr während der Ferien Urlaub. Die meisten Leute fuhren zelten.“

„Wir auch. Oft fuhren wir im Sommer an den Gardasee, anfangs mit dem Zelt, später mit unserem Wohnwagen.“

„Wow! Mit dem Wohnwagen an den Gardasee! Der liegt in Italien, nicht wahr?“

Ich nicke.

„Andi und ich verbrachten unsere Ferien immer in Kühnhaide bei Tante Monika. Später fuhr ich mit Freunden zelten in die Lausitz.“

„Und ich mit Freunden nach Südfrankreich, weil ich in der Schule neben Englisch Französisch lernte. Du auch?“

„Nö. Wir lernten Russisch und wer wollte, ab der siebenten Klasse Englisch.“ Nicki runzelt die Stirn.

„Du musst nicht mit deinen Sprachen und Ländern protzen.“

„Mach ich gar nicht.“