Das Leben geht weiter - Petra Weise - E-Book

Das Leben geht weiter E-Book

Petra Weise

4,9

Beschreibung

Das Leben ist wie das Wetter. Ereignisse im Leben sind wie Wolken. Manchmal schieben sich zwischen die freundlichen weißen Schönwetterwolken bedrohlich dunkle Schatten. Manchmal zerstört ein Blitz aus heiterem Himmel eine fröhliche Zeit in der Sonne. Manchmal sind die Wolken so dick, dass sie alles verhüllen und man das nächste Haus nicht mehr erkennt. Doch manchmal kommt ein Regen, der alles fortspült, auch die finsteren Wolken. In diesen biografischen Erinnerungen passiert so viel, dass es mehrere Romane füllen könnte, obwohl es sich nur um elf Jahre einer hochinteressanten Familiengeschichte handelt: Reisen in den fernen Osten, die Gründung einer Firma in Ostdeutschland unmittelbar nach der Wende, deren Aufblühen und Zerfall und damit das Zerbrechen einer Familie, die gerade erst zusammen gefunden hat. Doch das Leben geht weiter.

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Seitenzahl: 226

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In einer Biografie ist alles wahr - auch das Erfundene.

Inhaltsverzeichnis

Wiedersehen im Westen

Unverhoffter Besuch

Die Firmengründung

Die erste Fahrt in den Osten

Das Geschäft läuft an

Hong Kong

Das neue Bürohaus

Familien-Alltag

Das Geschäft läuft

Susi und Manfred in Hongkong

Urlaub

André

Die Diagnose

Malaysia

Das neue Bürogebäude

Der Umzug

Das neue Bürohaus

Uwe

Anett

1994

Halsbrücke

Der Unfall

1996

1997

Baby Tim

Schicksalsjahr 2000

Wiedersehen im Westen

Susanne wälzt sich in ihrem Bett hin und her. Schließlich steht sie auf, geht in die Stube und schaltet den Fernseher an. Doch es laufen nur alberne Serien, nichts, was sie interessiert, nichts, was sie ablenkt. Sie nimmt sich ein Buch, kann sich aber nicht auf den Text konzentrieren. Sie geht zum Telefon und wählt die Nummer ihrer Eltern, die in Sachsen, in Ostdeutschland leben. Doch keiner hebt den Hörer ab, obwohl es drei Uhr morgens ist.

„Manfred, wach auf!“ Susanne kauert sich neben das Bett ihres Mannes und legt ihre Hand auf seine Schulter.

„Ist was passiert?“, fragt er schlaftrunken.

„Nein, nein. Nur meine Eltern gehen nicht ans Telefon.“

Manfred tastet nach seiner Uhr. „Um diese Zeit? Was ist denn in dich gefahren?“

„Du weißt doch, dass heute sämtliche Grenzen geöffnet werden. Ab heute darf jeder ganz ohne Visum von Ost nach West reisen.“

„Na und?“

„Ich glaube, dass meine Eltern auf den Weg zu uns nach München sind.“

Manfred seufzt. „Von mir aus. Dann sind sie eben irgendwann hier.“ Er zieht sich die Decke über den Kopf und brummt: „Schlaf jetzt!“

„Wie kannst du an solch einem Tag schlafen?“

„Ich bin müde. Es ist mitten in der Nacht. Also lass mich jetzt in Ruhe!“ Manfred dreht sich auf die andere Seite und seiner Frau den Rücken zu.

Susanne erinnert sich, dass alle ihre Freunde und die Kollegen ihres Mannes recht gefasst auf die Nachricht von der Grenzöffnung reagierten. Sie haben keinen Bezug zu irgend jemanden oder irgend etwas im Osten und demzufolge keinerlei Interesse an dieser Geschichte. Doch Susanne und Manfred wurden vor gut acht Jahren unter hochdramatischen Umständen aus der DDR freigekauft und mussten danach ein dreiviertel Jahr auf die Freigabe und Ausreise ihrer beiden Kinder warten, die im Osten bleiben mussten. Nun glaubt Susanne, dass ihre Eltern die vielleicht einmalige Gelegenheit nutzen, ihre Tochter in München zu besuchen.

„Dann schlaf!“, faucht sie. „Ich fahre jedenfalls an die Grenze und warte dort auf meine Eltern.“ Am liebsten hätte sie die Tür hinter sich zugeworfen, doch sie beherrscht sich, um ihre beiden Kinder nicht zu wecken. Rasch zieht sie sich an. Als sie gerade aus der Wohnung schleichen will, steht Manfred neben ihr.

„Ich komme mit.“

Susanne fällt ihm um den Hals und flüstert glücklich: „Ich liebe dich.“

Während sich Manfred anzieht, geht sie ins Zimmer ihrer Tochter. Zuerst wollte sie nur einen Zettel für die Kinder hinterlassen, aber nun weckt sie das Mädchen. „Anett, wir fahren an die Grenze und hoffen, meine Eltern dort zu treffen. Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs sein werden. Im Kühlschrank ist Hackfleischsoße, ihr müsst nur noch Spaghetti kochen.“

„Geht klar. Gute Fahrt. Bussi“, kommt es schlaftrunken unter der Bettdecke hervor. Susanne küsst ihre Tochter und schließt leise die Tür. Sie muss sich keine Sorgen um ihre Kinder machen, ihr Sohn André ist sechzehn Jahre alt, Anett dreizehn.

Um 7:30 Uhr stehen Susanne und Manfred an der deutsch-deutschen Grenze in der Nähe von Hof zwischen vielen Menschen, die die Leute aus dem Osten begrüßen. Alle winken und lachen, doch viele von ihnen haben Tränen der Freude in den Augen. Ihnen kommt eine schier endlose Karawane Trabis und Skodas entgegen und zuckelt langsam an ihnen vorbei. Die Leute in den Fahrzeugen haben ihre Fenster herunter gekurbelt und winken lachend heraus. Manchmal kommt die Kolonne ins Stocken. Dann springen die Leute aus ihren Autos und umarmen die nächstbesten Menschen. Susanne ärgert sich, nur zwei Bananen als Wegzehrung mitgenommen zu haben. Die hat sie dem Erstbesten geschenkt und hätte gern noch mehr Freude bereitet.

Plötzlich hält neben ihnen ein Moped, das einen Anhänger hinter sich her zieht. Der Mann steigt herunter und klopft seine Hände gegeneinander. Susanne sieht ihm an, dass er friert und geht auf ihn zu. Sie bietet ihm einen heißen Kaffee aus ihrer Thermoskanne an. Der Mann fällt ihr um den Hals und schreit: „Ich bin drüben! Ich fasse es nicht! Ich bin wirklich drüben!“

„Ich freue mich mit Ihnen.“ Mehr kann Susanne nicht sagen, weil sie sich so sehr mitfreut und sie einen dicken Kloß im Hals spürt. Möglicherweise hat er ebenso wie sie und Manfred die Zustände in der DDR nicht ertragen, die ständige Manipulation und Überwachung, der lähmende Krampf, nicht alles sagen zu dürfen.

„Ich will nach Stuttgart. Dort habe ich Verwandte. Bei denen kann ich erst einmal unterkommen.“ Er zeigt mit dem Arm auf den Anhänger. „Mein Hausrat.“

Susanne folgt mit den Augen, worauf der Mann zeigt, und sieht eine Waschmaschine, einen offensichtlich alten Sessel und eine Decke, unter der noch weitere Habseligkeiten versteckt sind. „Und wo kommen Sie her?“

„Aus Freiberg.“

„Aus Freiberg? Wir warten auf meine Eltern aus Freiberg.“

„Die Straße ist voll. Ich konnte mit meinem Moped manchmal ein Stück vorbei, Gegenverkehr gibt es schließlich keinen.“ Der Mann lacht. Dann fügt er ernst hinzu: „Wer weiß, vielleicht machen die die Grenze wieder dicht. Da muss man schnell sein und die Gelegenheit sofort nutzen.“ Er umarmt Susanne und Manfred noch einmal. „Also wenn Ihre Eltern nicht schon um Mitternacht losgefahren sind, stehen Sie sicher noch den ganzen Tag hier.“ Dann bedankt er sich für den Kaffee. „Ich muss los, kann es gar nicht erwarten.“

„Ein Verrückter“, bemerkt Manfred. „Wie will der mit dem Anhänger voller Gerümpel bis nach Stuttgart kommen?“

„Der schafft das. Der ist so glücklich, dass er notfalls läuft und den Hänger selbst zieht.“ Susanne lacht. Sie kann einfach nur noch lachen bei den vielen glücklichen Gesichtern ringsum. Und doch schüttelt sie über den Mann den Kopf, der im Westen ein ganz neues Leben starten will, sich aber nicht von seinem alten Hauskram trennen kann.

Das vormals wohl einsamste Haus in ganz Deutschland so direkt an der Zonenrandgrenze erstickt heute in den Trabi-Abgasen. Susanne läuft immer wieder in das Haus und bittet einen Bewohner, ihre Eltern anrufen zu dürfen, doch nie heben die Eltern den Hörer ab. Das kann nur bedeuten, dass sie unterwegs nach München sind. Doch sicher ist sich Susanne nicht. Sie klingelt wieder an der Haustür, doch keiner öffnet. Eine Frau beugt sich aus dem Fenster und ruft: „Tut mir leid, aber wir hatten drei Stunden lang die Bude voller Menschen. Jeder wollte seine Verwandten anrufen und kaum einer hatte Geld dabei. Nun ist uns das alles zu viel.“

„Glaubst du wirklich, dass deine Eltern hierher kommen?“

Susanne nickt, doch mittlerweile ist sie sich überhaupt nicht mehr sicher. Vielleicht machen die Eltern eine Urlaubsreise, von der sie nichts weiß.

„Von Freiberg bis hierher sind es keine 150 Kilometer. Selbst, wenn sie erst spät losgefahren wären, müssten sie längst hier sein.“ Ungeduldig stampft Manfred mit den Füßen auf. „Mir ist kalt.“

„Mir auch.“

Für November ist es zwar ungewöhnlich mild, doch durch das stundenlange Herumstehen fühlt sich die Luft inzwischen eisig an, die dicken Jacken wärmen nicht mehr. Wenn sie wenigstens genau wüsste, dass die Eltern wirklich kommen, wäre die ganze Warterei erträglicher.

„Und wenn sie nun eine ganz andere Strecke nehmen?“, fällt plötzlich Manfred ein.

„Wie denn anders?“

Manfred zuckt mit der Schulter. „Ich will jetzt heim“, bestimmt er.

„Wollen wir nicht noch ein wenig warten?“

„Nein, zehn Stunden sind genug. Wir fahren!“ Manfred dreht sich um und stapft zum Auto, klopft mit den Armen um seine Schultern, um sich ein wenig aufzuwärmen.

Er drückt aus Ärger über den verkorksten Tag das Gaspedal bis zum Boden durch und verlässt kaum die Überholspur. Susanne mag es nicht, wenn er so rast, doch sie wagt nicht, sich zu beschweren. Sie überlegt, ob es wirklich noch andere Strecken und Straßen über die Grenze gibt. Oder ob die Eltern eine Reise machen und gar nicht beabsichtigen, nach München zu fahren.

Bereits zwei Stunden später sind sie daheim.

„Ich koche uns erst einmal einen starken Kaffee“, verkündet sie und hofft, damit Manfred wieder friedlicher zu stimmen.

In diesem Moment klingelt das Telefon.

„Susi, wir sind in Hof!“ Die Stimme der Mutter überschlägt sich vor Freude. „Endlich.“

„Wunderbar!“

Susanne wird von Verwandten und Freunden nur Susi gerufen.

Susi und Manfred fahren also noch einmal Richtung Nord-Osten und treffen wie am Telefon besprochen auf dem Bayreuther Parkplatz die Eltern. Die kriechen völlig erschöpft aus dem engen Wartburg, aber sie sehen glücklich aus. Susanne umarmt ihre Mutter. „Ich freue mich so sehr, dich zu sehen.“

Sie durfte noch nie in den Westen reisen, während der Vater bereits im August seine Tochter und ihre Familie besuchen konnte. Er hat durch seine jahrelange Arbeit als Former Blei in der Lunge und ist wegen seiner schweren Erkrankung Rentner.

„Lasst das Auto einfach hier stehen und steigt bei uns ein“, bestimmt Manfred. Er öffnet dem Vater die Beifahrertür, die Mutter steigt mit ihrer Tochter hinten ein.

„In zwei Stunden sind wir daheim.“

„So lange noch!“, ruft die Mutter entsetzt aus. „Ach, Susi, wir haben achtzehn lange Stunden bis Hof gebraucht, achtzehn Stunden im Schritttempo. Vati wollte mehrmals umkehren, doch das war auf den schmalen Straßen gar nicht möglich“, erzählt sie.

„Und dann noch einmal zwei Stunden bis Hof. Mutti ist einfach in einen Gasthof und hat von dort angerufen“, ergänzt der Vater.

Susi rechnet nach. Die Eltern müssen also genau in der Stunde oder gar Minute die Grenze erreicht haben, als sie sich entschlossen, zurück nach München zu fahren. Das ärgert sie sehr.

Die Kinder sind noch nicht im Bett, als sie daheim in München eintreffen.

„Uwe!“, schreit die Mutter auf. Ihr Sohn wohnt und arbeitet in der Schweiz. Sie hat ihn während der letzten acht Jahre nicht sehen dürfen.

Auch Susi ist überrascht, ihren Bruder zu sehen.

„Anett hat mir am Telefon erzählt, dass ihr die Eltern abholt. Diese Gelegenheit konnte ich mir nicht entgehen lassen.“ Uwe lacht übers ganze Gesicht und umarmt seine Eltern.

Obwohl alle von der anstrengenden, ewig langen Fahrt und Warterei sehr müde sind, mag keiner ins Bett gehen. Susi bereitet einen kleinen Imbiss zu und Manfred bietet Getränke an. Zur Feier des Wiedersehens öffnet er sogar eine Flasche Sekt.

„Wir trinken auf diesen denkwürdigen Tag“, verkündet er.

„Jetzt seid ihr nicht mehr in der DDR eingesperrt, jetzt seid ihr frei“, bemerkt Uwe.

„Um frei zu sein genügt es, sich frei zu fühlen“, antwortet der Vater.

„Ich konnte das damals im Osten nicht. Schon als Kind fühlte ich mich manipuliert, eingeengt und überwacht und fand das unerträglich.“ Susi hebt bedauernd die Schultern.

„Die wahre Freiheit kann man ohnehin nur wirklich begreifen, wenn man die Diktatur erkannt hat“, schließt Manfred das Gespräch.

Am nächsten Tag machen sie einen kleinen Ausflug in die Innenstadt von München und holen bei dieser Gelegenheit die hundert Mark Begrüßungsgeld ab. Am Nachmittag bringen Susi und Manfred die Eltern an den Bayreuther Parkplatz, wo ihr Auto steht, während Uwe zurück in die Schweiz fährt. Er muss am nächsten Tag wieder arbeiten, die Mutter ebenso. Sie ist Lehrerin für Unterstufe und möchte dies auch weiterhin bleiben.

„Ich hoffe, dass die Grenze nicht plötzlich wieder dicht gemacht wird und wir uns nun öfter sehen können“, sagt Susi.

„Und wenn schon.“ Die Mutter zuckt mit der Schulter. „Ich habe alles gesehen. Hier sieht es auch nicht anders aus als bei uns.“

Susi ist fassungslos. Wie ist es möglich, dass die Mutter keinen Unterschied zwischen Ost und West sieht? Merkt sie nicht, dass es hier Farbe gibt, während Freiberg wie alle Orte in der DDR schmutzig grau ist? Die vielen ungewohnten Farben sind Susi damals als erstes aufgefallen, als sie über die Grenze fuhr. Selbst das Gras schien ihr grüner. Das lag sicher daran, dass Industrie- und Hausbrand nicht nur die Häuser, sondern auch die Natur mit einer grauen Schmutzschicht überzog. Früher hatte Susi geglaubt, dass es normal ist, wenn der Schnee sich nach nur einer Stunde graubraun färbt. Erst, seit sie im Westen lebt, weiß sie, dass der Schnee noch nach vielen Tagen und Wochen leuchtend weiß bleibt.

Unverhoffter Besuch

Am 14. Dezember klingelt es am späten Nachmittag an der Wohnungstür. Susi öffnet und steht völlig überrascht ihrer Schwester Ute mit ihrem Mann Harald und den beiden Kindern gegenüber.

„Kommt rein!“, fordert sie die Familie auf, öffnet die Stubentür und zeigt auf das große Ecksofa. „Setzt euch!“

Ute zieht ihre Schuhe aus und bedeutet ihren beiden Kindern, es ihr gleichzutun.

„Bei uns zieht man die Schuhe nicht aus.“ Susi findet es entsetzlich, wenn man von den Leuten verlangt, die Schuhe auszuziehen und in Socken die Wohnung zu betreten.

Harald schleppt drei große Koffer in den Flur.

„Wir wohnen jetzt im Westen!“, kräht der kleine Mathias.

„Ja.“, bestätigt Harald. „Wir ziehen zu meinem Cousin nach Düsseldorf. Er hat in seinem Haus eine Wohnung frei für uns.“

Susi läuft aufgeregt hin und her. Sie hat nicht gewusst, dass ihre Schwester mit ihrer Familie aus der DDR ausreisen wollte.

„Seit Egon Krenz an der Macht ist, hatte ich nur noch Angst“, erklärt Ute. „Man weiß ja nie, was sich solche Leute ausdenken und hört nur Schreckliches. Deshalb beschlossen wir, zu Haralds Cousin nach Düsseldorf zu ziehen.“

„Und das geht so einfach?“, wundert sich Susi.

„Das ist jetzt kein Problem mehr. Wir konnten ganz normal ausreisen und sogar unsere Möbel verpacken. Du weißt ja, dass ich so schöne alte Stilmöbel besitze, die ich auf gar keinen Fall zurücklassen kann.“

Susi nickt. Wenn die Ausreise in den Westen inzwischen so einfach wie ein normaler Umzug ist, sollte man wirklich seine Möbel mitnehmen. Bei ihrer Flucht vor neun Jahren hatte sie ganz ohne jedes Bedauern ihr gesamtes Hab und Gut zurück gelassen, denn alles, was für Geld zu haben ist, ist ersetzbar und somit ohne wirklichen Wert. Wichtig waren für sie die Familienfotos und ihre Zeugnisse, die Facharbeiterbriefe, Manfreds Abitur und sein Diplom. Das schickten sie vor ihrer Flucht aus der DDR an Manfreds Schwester, damit diese Unterlagen nicht verloren gingen.

„So dumm wie ihr sind wir eben nicht. Im Gegensatz zu euch achten wir unseren Besitz“, erklärt Ute. Ihre Stimme klingt tadelnd.

Ute und Susi sind zwar Schwestern und im gleichen Elternhaus zusammen aufgewachsen, doch sie sind grundverschieden. Besitz und Ansehen haben Susi nie etwas bedeutet, während Ute sich über ihr Hab und Gut und ihre Arbeit definiert.

„Es freut mich, dass die Ausreise für euch so einfach ist“, sagt Susi.

„Ihr hättet es ebenso leicht haben können.“

„Ach ja? Und wie sollte das gehen?“

„Ganz einfach: Antrag stellen.“

Susi schüttelt den Kopf. Obwohl sie weiß, dass es keinen Zweck hat, ihrer Schwester zu antworten, sagt sie: „Manfred arbeitete im Patentamt, man hätte ihn auf keinen Fall ausreisen lassen.“

„Tja, das sind selbstgemachte Probleme“, meint Ute lakonisch. „Jedenfalls wären wir niemals so verantwortungslos gewesen wie ihr und hätten unsere Kinder in Gefahr gebracht.“

Susi weiß heute sehr wohl, dass sie ihre Kinder bei der Flucht in Gefahr gebracht hat. Doch damals war ihr das nicht klar. Man weiß nur das, was man wissen will.

Sie wollte schon etwas entgegnen, doch es zog ihr die Kehle zusammen, sie brachte kein Wort heraus.

„Wie kann man so blöd sein und zu Fuß mit der ganzen Familie über die Grenze latschen wollen?“ Harald lacht.

Manfred zuckt mit der Schulter. Er spricht mit niemanden über diese Flucht und die grauenhafte Zeit im Gefängnis.

Susi sieht in Gedanken, wie sie damals mit Manfred, ihrem Bruder Uwe und den beiden kleinen Kindern einen Weg über die Grenze zwischen Bulgarien und Jugoslawien suchte. Sie erinnert sich an die brutale Verhaftung und den verrohten Umgang im Gefängnis. Schnell denkt sie dankbar an ihre Eltern, die während der gesamten Haftzeit und bis zur Freigabe die beiden Kinder aufnahmen.

Sie lächelt ihre Schwester an. „André und Anett ging es gut bei unseren Eltern.“ Über ihre eigenen Gefühle, ihre zehrende Sehnsucht, ihre Ängste spricht sie nicht.

„Ihr habt eure Kinder im Stich gelassen. Das werde ich als Mutter nie begreifen“, tadelt Ute.

„Wir wollten vor allem wegen der Kinder weg. Keine Manipulation mehr ...“

„So ein tolles Bildungssystem wie in der DDR gibt es in der ganzen Welt nicht“, unterbricht Ute.

Susi und Manfred sehen sich an. Sie wissen, dass Ute die ostdeutschen Erziehungsmethoden in Ordnung findet, schließlich ist sie selbst mit Leib und Seele Erzieherin, genau wie ihre Mutter.

„Und warum seid ihr dann weg, wenn alles so toll ist?“, provoziert Manfred.

„Was nützt es, wenn man gut verdient, sich aber nichts kaufen kann, weil es nichts zu kaufen gibt? Jedenfalls nicht das, was ich haben will.“

„Wieder geht es nur ums Geld“, denkt Susi, sagt aber nichts.

„Ich hätte noch viel mehr verdient, wenn ich nicht wegen euch meine Stelle verloren hätte“, schimpft Ute.

Ute ist gelernte Pionierleiterin und musste seit der Verhaftung ihrer Schwester als Erzieherin in einem Kindergarten arbeiten. Sie fühlte sich degradiert und wurde außerdem schlechter bezahlt.

„Du gibst also uns die Schuld daran und nicht dem System? Ich fasse es nicht!“ Susi steht auf. „Jetzt mache ich Abendbrot.“

Sie geht schnell in die Küche. Am liebsten hätte sie ihre Schwester angeschrien. Kann die sich nicht vorstellen, wie schwer es für sie war, fast zwei Jahre ohne ihre Kinder zu sein? Sie will Ute jetzt nicht sehen, doch die folgt ihr in die Küche.

„Wie immer haust du ab, wenn es Probleme gibt statt sich ihnen zu stellen und darüber zu reden“, greift Ute erneut an.

Susi dreht sich um und schaut ihre Schwester an, dann verliert sie die Beherrschung und schreit: „Das größte Problem war Anetts Krankheit, die man in der supertollen DDR nicht heilen kann.“

„Unser Gesundheitssystem ist Weltspitze.“

Susi schweigt. Sie kann es nicht verhindern, dass ihr die Tränen kommen, wenn sie an die Zeit nach Anetts Geburt denkt. Die Kleine musste die ersten zehn Lebensmonate in verschiedenen Kliniken verbringen, ständige Blutuntersuchungen und ohne Betäubung mehrere Leber-Punktionen aushalten. Das weiß schließlich auch Ute. Helfen konnte man Anett nicht, weil das nötige Medikament ein Kontingentmittel war, das für teure Devisen aus der BRD beschafft werden musste. Doch Susi und Manfred hatten laut staatlicher Auskunft keinen bevölkerungsbedarfsgerechten Beruf, weshalb Anett auf keiner Dringlichkeitsliste stand.

Dies Ute zu erklären bringt nichts, denn sie glaubt nur das, was sie schon weiß und weiß es sowieso besser.

Susi seufzt. Anett fehlt komplett das Urvertrauen, was für eine gesunde Entwicklung die Basis ist. Nach der Entlassung aus der Klinik war es ihre eigene Mutter, die sie jeden Monat in die Klinik brachte zur Kontrolle der Blutwerte. Sie schrie aus Leibeskräften, doch Susi hielt sie fest, so dass der Arzt ihr weh tun konnte. Das hat ihr Anett bis heute nie verziehen. Auch nicht, dass sie grob wurde aus lauter Angst und Ungeduld, wenn Anett nicht essen wollte oder ihre Tabletten immer wieder ausspuckte.

Nun hat sie ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, äußert aber nur selten ihre Meinung. Sie vertraut niemandem und zuckt zurück, wenn ihr jemand zu nahe kommt. Sie lässt sich ungern umarmen und duldet körperliche Nähe nur, wenn sie sie von selbst sucht. Menschen, die so früh wie Anett traumatisiert werden, fällt es meist schwer, sich berühren zu lassen. Anett mag keine Veränderungen, sie braucht vor allem Beständigkeit. Sie will sich später um autistische Kinder kümmern. Das sind Kinder, die ihre Gefühle nicht zeigen können. So scheint sich Anett zu fühlen und sie glaubt, diese Kinder verstehen und ihnen helfen zu können.

„Wenn man weiß, wofür es gut ist, hält man fast alles aus“, sagt Susi.

„Ach, du bist einfach nur borniert“, schimpft Ute. „Ich mache jetzt Abendessen“, wiederholt Susi. Fast hätte sie versehentlich die Butterdose fallen lassen und vor Zorn über ihre Ohnmacht die Wurstbüchse auf den Boden geschleudert. Aber sie nimmt sich zusammen und sagt sich, dass es doch gut ist, wie leicht ihre Schwester gemeinsam mit ihrer Familie ausreisen kann. „Alles nur Schein“, denkt sie. Dabei ist ihr nichts so zuwider wie Scheinheiligkeit und Lüge. Das Verschweigen ihrer wahren Meinung gehört für Susi zur Lüge dazu.

Am Abend sind alle von der Aufregung müde und Susi richtet die Betten für die Übernachtung her. Sie kann lange nicht einschlafen, weil ihr das Gespräch mit Ute nicht aus dem Kopf geht. Die Schwestern haben zwar als Kinder zusammen gespielt, doch sich nie wirklich gut verstanden. Ute hielt sich am liebsten bei ihren Freundinnen auf, während Susi in einer Ecke saß und sich in den Geschichten aus ihren Büchern vertiefte. Was die eine gut fand, war der anderen zuwider. Auch äußerlich sind sie grundverschieden. Susi hat dunkelbraune Locken, Ute glatte blonde Haare, blond wie die des Vaters. Die Mutter ist dunkel wie Susi. Auch André hat schöne dunkelbraune Locken, fast so schwarz wie die seines Vaters. Anett fällt mit ihren dichten blonden Locken völlig aus dem Rahmen. Sie sind nicht goldblond wie die von Ute und ihren Kindern, sondern eher silbergrau. Solch eine Farbe ist höchst selten, vor allem, da ihre Eltern dunkle Haare haben. Und Susi fragt sich manchmal, ob es eine seltsame Art von Vererbung oder doch eher eine Störung ist, hervorgerufen durch einen Schock.

Die Firmengründung

„Ihr müsst handeln!“, bestimmt Toni, ihr ungarischer Freund.

„Wie denn handeln? Handeln wie etwas tun?“

„Nein, handeln wie verkaufen.“

Susi lacht, während Manfred amüsiert den Kopf schüttelt.

„Was sollen wir denn verkaufen?“, will Manfred wissen. „Reifen wie du oder Schuhe wie deine Frau?“

„Warum nicht?“ Toni lacht. „Muss Ding sein, das jeder braucht.“

„Etwas, das jeder braucht“, wiederholt Susi nachdenklich. „Im Osten wird alles gebraucht, auch Reifen und Schuhe.“

„Eben!“ Toni argumentiert immer hektischer, doch Manfred schüttelt den Kopf. „Ich verkaufe Messgeräte für eine bekannte Münchner Firma, verdiene hervorragend und bin damit vollkommen zufrieden.“

Toni springt auf und breitet seine Arme aus. „Wo seid ihr geboren?“

„In Freiberg Sachsen, das weißt du doch.“

„Das müsst ihr nutzen! Ihr habt die gleiche Mentalität, versteht die Menschen besser als sonst jemand auf der Welt. Und nun habt ihr auch für den Osten die freie Marktwirtschaft. Das ist eure große Chance.“

Alles, was Toni sagt, hört sich für Susi richtig an. Doch sie ist zufrieden mit ihrem Leben. Sie ist daheim, hat Zeit für die Kinder und für Freunde, zum Lesen und Schreiben, Malen und Ausgehen. Manfred liebt seine gut bezahlte Arbeit. Warum sollten sie das ohne Not ändern?

„Nachdenken!“, fordert Toni energisch. „Im Osten gibt es Zuteilung, ihr könnt alles anbieten, alles wird gebraucht.“

Im Grunde ist jeder Artikel Mangelware, gleichgültig, ob sie Wandfliesen, Waschbecken, Autoreifen, Schuhe oder Papier anschleppen. Alles würde ihnen aus den Händen gerissen werden und zwar zu jedem Preis.

„Nachdenken! Muss Ding sein wie Klopapier. Jeder braucht es und muss nachkaufen.“

Susi und Manfred halten Tonis Idee für kompletten Unsinn. Trotzdem denken sie darüber nach.

„Was ist denn wie Klopapier, das jeder verbraucht und nachkaufen muss? Mir fallen nur Lebensmittel ein“, meint Susi. „Aber die verderben schnell. Das wäre mir zu riskant.“ Sie überlegt weiter. „Blumen!“, ruft sie aus. „Frische Blumen gab es nur im Hochsommer, ansonsten nur Alpenveilchen.“

Manfred nickt. Er hat im Dezember Geburtstag und bekam Jahr für Jahr immer ein Alpenveilchen geschenkt. Dann schüttelt er den Kopf. „Nein, Blumen verderben noch schneller als Lebensmittel.“

Angestrengt überlegen beide, was jeder braucht und immer wieder nachkaufen muss, aber nicht verderblich sein darf. Plötzlich springt Manfred auf, klatscht in die Hände und ruft: „Ich hab´s! Jede Firma braucht Papier, Locher, Ordner und Stifte.“

Susi fällt ihrem klugen Mann um den Hals.

„Weißt du noch, dass wir im Osten immer genau angeben mussten, wie viele Ordner und Locher wir im nächsten Jahr brauchen?“

Manfred nickt zustimmend. „Die Zuteilung der Artikel übernahm ein Versorgungszentrum.“

„Geklappt hat das nie. Mal hatten wir einen ganzen Waggon Klopapier am Jahresanfang, aber bekamen im ganzen Jahr keinen einzigen Ordner.“ Susi lacht. „Und heute können wir darüber lachen.“

„Ja. Und wir könnten heute direkt an die Betriebe verkaufen und die Versorgungszentren einfach übergehen.“

„So machen wir´s!“, ruft Susi aus. „Ich organisiere den Verkauf und du sorgst wie bisher für unser Familieneinkommen.“

Gleich am nächsten Morgen ruft Susi in der IHK (Industrie- und Handelskammer) München an. Leider verfügt dieses Amt über keinerlei Adressen und Telefonnummern in der DDR. Sie erfährt nur, dass es in Karl-Marx-Stadt ebenfalls eine IHK gibt. Man rät ihr, sich an die Bundesstelle für Außenhandelsinformation zu wenden, da die DDR schließlich nicht zur Bundesrepublik gehört.

Doch auch dort kommt Susi nicht weiter. Sie kontaktiert nun direkt Hersteller von Büroartikeln und bietet sich als Handelsvertreter für den Raum Sachsen an. Nur fünf dieser Firmen zeigen sich interessiert, möchten allerdings keine Vertretung, sondern ihre Ware über Susi in den Osten verkaufen. Das heißt, Susi muss eine Firma gründen und das Handelsrisiko komplett selbst übernehmen. Ganz wohl ist ihr nicht dabei, doch sie fährt zum Meldeamt, um ihre Firma im Handelsregister eintragen zu lassen. Dazu braucht sie einen Firmennamen. Ungeduldig klopft der Beamte mit seinem Stift auf die Theke. „Sie müssen doch wissen, wie Ihre Firma heißt!“

Darüber hat sich Susi noch gar keine Gedanken gemacht, doch sie nickt und trägt kurzerhand HIV – Herzog-Import-Verkauf ein.

Der Beamte schiebt ihr das Formular wieder zurück.

„Das geht so nicht. HIV ist eine eingetragene Bezeichnung für eine Immunschwäche, meist im Zusammenhang mit Aids.“

Susis Wangen brennen. Das hat sie nicht bedacht. Also schreibt sie HIEB Herzog-Import-Export-Büroartikel.

Anschließend lässt sie Visitenkarten mit ihrem Namen Susanne Herzog, der neuen Firmenbezeichnung und ihrer Münchner Telefonnummer drucken. Für Herzog und Büroartikel wählt sie eine grüne Schrift, weil es die Farbe der Hoffnung und gleichzeitig die der Sachsen ist.

Aus den Katalogen und Preislisten der Hersteller suchen Susi und Manfred Artikel heraus, die sie zuerst anbieten wollen. Ihre Preisliste besteht aus nur fünf Seiten und beinhaltet Telex- und Additionsrollen, Briefumschläge aller Größen, Locher, Heftgeräte und Klammern, Kugelschreiber, Blei-, Bunt- und Faserstifte, Spitzmaschinen und Taschenrechner.

Am liebsten hätte sich Susi sofort ins Auto gesetzt und wäre nach Karl-Marx-Stadt gefahren. Doch sie kann daheim nicht einfach alles stehen und liegen lassen, denn sie hat zwei Kinder. Beide sind zwar bereits im Teenager-Alter und brauchen keine Rundumbetreuung mehr. Doch als Mutter stellt man seine Bedürfnisse ganz natürlich hinter die der Kinder. Die Mahlzeiten, die gesamte Freizeit waren für sie schon immer allein auf das Wohlbefinden der Kinder ausgerichtet.

Die Kinder wachsen und entwickeln sich rasend schnell und genauso schnell ändern sich ihre Bedürfnisse. Nach der Pubertät lässt man sie locker, später los. Aber noch sind sie mitten in der Pubertät und Susi hat den Eindruck, dass sie immer im absolut falschen Moment rebellieren.

Für André ist die Idee, Ware nach Sachsen zu verkaufen, ein Abenteuer, Anett dagegen reagiert empört. Sie kann nicht verstehen, weshalb sich die Mutter freiwillig mit dem Osten beschäftigt.

„Wir sind dort aufgewachsen“, erklärt Susi.

„Aber ihr habt dort nicht leben können und wolltet da raus. Wofür habt ihr ein ganzes Jahr im Gefängnis gesessen, wenn ihr jetzt dorthin zurück geht? Ich verstehe euch nicht.“

„Wir wollen nicht zurück, wir wollen dort nur Ware verkaufen.“