Engel-Mädchen - Holger Niederhausen - E-Book

Engel-Mädchen E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Lisa ist achtzehn, und außer ihrer kleinen Clique hält sie nicht viel in ihrem Ort. Seltsame Umstände lassen sie die fünfzehnjährige Marie kennenlernen. Das einsame Mädchen birgt ein großes Geheimnis. Als es dieses schließlich offenbart, hat längst eine Entwicklung eingesetzt, die alles verändert, was Lisa für normal gehalten hat.

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

Man würde glauben, es sey ein Engel unter den Menschen

erschienen, sie durch Thaten zu lehren, ob vielleicht

Schönheit und Weisheit, wenn sie zusammen verwebt wären, diese

Unachtsamen rühren möchten, welche zu sinnlich sind, die Tugend

in ihrer eigenen Gestalt zu lieben.

(Wieland, Sympathien)

Sie schloss die Augen. Genoss seinen Kuss für einige Momente. Dann beendete sie ihn.

„Willst du heute Nacht bei mir schlafen?“, fragte Stefan halblaut.

Sie saßen mit sieben, acht weiteren Leuten ihrer Clique am Fluss.

Einer dieser wunderbaren Augustabende, es war etwa Mitternacht.

„Du meinst wohl, mit dir schlafen?“, verbesserte sie. „Nein, heute nicht.“

„Aber Lisa, wann denn dann?“

„Wann denn dann?“, wiederholte sie genüsslich. „Warte doch die Zeit ab...“

„Aber ich frag dich jetzt schon drei Wochen immer wieder, Lisa.“

Sie musterte ihn kurz. Viel sah man um diese Zeit nicht mehr.

„Keine Ahnung. Heute jedenfalls nicht. Ich muss jetzt los.“

„He, warte doch! Warum so plötzlich?“

Schon im Aufstehen tippte sie dem Jungen auf die Nase.

„Darum. Ich hör gern auf, wenn’s am schönsten ist...“

„Aber –“

„Bis morgen!“

„Lisa...“

„Tschüss, bis morgen!“, wiederholte sie laut in die Runde.

„Lisa?“, fragte Susanne.

„Ja. Ich geh jetzt.“

„Okay, bis morgen!“

„Tschüss...“

Sie stieg den kurzen Hang hoch, der den Fluss vom Weg trennte und ging nach Hause. Sie liebte diese Abende. Die warme Nachtluft der vielleicht letzten Sommertage. Die Dunkelheit. Dieses Gefühl der Freiheit, wenn man so allein nach Hause ging. Sie konnte machen, was sie wollte. Sie war jetzt achtzehn. Seit fünf Wochen. Noch ein Jahr Schule – dann war auch das geschafft.

Süß, dieser Stefan... Ein bisschen unreif noch. Wahrscheinlich zu unreif für sie. Aber ein wenig würde sie ihn noch zappeln lassen. Es machte Spaß. Und er war ja wirklich süß... Es war eine gute Entscheidung gewesen, sich von Rainer zu trennen. Es war am Ende wirklich zu stressig gewesen – und Stress konnte sie wirklich nicht gebrauchen.

Sie lachte kurz in sich hinein. ,Achtzehn und wieder weiblich, ledig, jung...’, dachte sie. ,Das gefällt mir. Was Festes ist überhaupt nichts für mich. ,Was Festes’ – wie sich das schon anhört!’

Nein, diese Erfahrung hatte sie durch. Mehrmals. Je fester, desto stressiger. Irgendwie begannen alle Jungs nach ein paar Monaten, Ärger zu machen. Entweder sie wollten zu viel – oder sie wollten zu viel. Nicht Sex – das war es nicht. Das machte Spaß, war toll. Dafür waren die Jungs richtig. Nein, etwas anderes mischte sich mit der Zeit hinein. Auf einmal wollten die Jungs dann dies und das. Lauter Zeugs, das ihr die Freiheit nahm – die sie brauchte wie die Luft zum Atmen. Dann wurde es immer eine Art Machtspiel – oder einfach nur lästig. Für Sex waren Jungs gut. Für feste Beziehungen nicht. Sobald sie das Gefühl hatten, man ,gehörte’ ihnen, wurden sie nervig. Sie wollte niemandem gehören. Niemals.

Sie würde es noch eine Weile genießen, dass Stefan ihr gehörte. Demnächst würde sie auch mit ihm schlafen. Aber nach einer Weile würde sie ihn dann wieder freilassen. Ob er wollte oder nicht. Sie würde das entscheiden.

Sie atmete einmal tief ein. Der Sommer war großartig...

*

Als sie zuhause ankam, saß ihr Vater noch vor dem Fernseher.

In dem Moment, wo sie ins Wohnzimmer kam, ging der Fernseher aus.

„Na, dann kann ich jetzt ja ins Bett gehen“, sagte ihr Vater.

„Was soll das?“, fragte sie. „Ich hab dir doch schon tausendmal gesagt, dass du dir um mich keine Sorgen machen brauchst.“

„Ja, das sagen Kinder so.“

„Ich bin kein Kind mehr.“

„Für Eltern bleiben die Kinder trotzdem immer Kinder.“

Sie stöhnte.

„Hoffentlich kann ich bald ausziehen...“

„Du brauchst gar nicht so genervt zu tun. Manchmal passieren nachts tatsächlich Dinge.“

Sie verdrehte die Augen.

„Ja, das tun sie.“

Sie dachte an den baldigen Sex, den sie Stefan gewähren würde.

„Übrigens auch tagsüber“, fügte sie hinzu.

„Ich weiß, dass du meine Worte seit geschätzt zweieinhalb Jahren nicht mehr ernst nimmst“, erwiderte ihr Vater sarkastisch. „Vielleicht solltest du das aber mal ein wenig.“

„Und warum sollte ich das?“, ahmte sie ihn nach.

„Heute ist drei Orte weiter ein Mädchen vergewaltigt worden.“

„Und was geht mich das an?“

Die Nachricht machte sie sehr wohl ein wenig betroffen. Nur drei Orte weiter?

„Wo denn überhaupt?“

Ihr Vater nannte den Ort. Zehn Kilometer nach Südwesten. Ein Kaff von vielleicht dreihundert Einwohnern.

„Und – wer war’s?“

„Eine Fünfzehnjährige. Der Name stand nicht in der Zeitung.“

„Ich meine, wer hat das gemacht? Wer war das?“

„Der Täter? Das weiß man nicht. Noch nicht.“

Sie überlegte kurz.

„Vorgestern ist drüben beim Rewe ’ne Katze überfahren worden.

Vor drei Wochen hat sich Bine ’n Bein gebrochen. Dinge passieren. Wenn man ständig Angst hat, passiert wahrscheinlich noch mehr.“

„Du solltest mit solchen Dingen nicht spaßen.“

„Und du solltest nicht so viel darüber nachdenken. Denkst du wirklich, irgendein Vergewaltiger kommt zu einer Clique von acht bis zehn Leuten – oder lauert uns auf dem kurzen Weg nach Hause auf? Stehen doch überall Laternen – viel zu viele übrigens.“

„Ich denke, du solltest die nächsten Abende nicht so spät draußen bleiben.“

„Spinnst du? Natürlich mach ich das! Ich lass mir doch von irgendeiner Meldung aus irgendeinem Nachbardorf nicht die letzten Sommertage verderben!“

„Mach, was du willst!“, erwiderte ihr Vater ärgerlich. „aber jammer nicht hinterher!“

Er ging an ihr vorbei ins Schlafzimmer.

Innerlich fluchend ging sie ins Bad. Musste er ihr diesen Abend noch madig machen? Er sollte einfach weniger Zeitung lesen. Diese blöden Käseblätter, die nur unnütze Nachrichten brachten. Neue Ampel eingeweiht und so ein Scheiß. Und dann auch noch solche Scheiß-Meldungen. Nach dem Abi würde sie sowieso wegziehen...

Am nächsten Abend wurde die Meldung Gesprächsthema am Fluss. Sie ärgerte sich darüber, aber Sarah hatte damit angefangen.

Die meisten hatten gar nichts davon gehört, weil sie keine Zeitung lasen. Ob es irgendwo im Radio erwähnt worden war, wusste sie auch nicht. Dass aber nun über die Meldung erst recht ein übertriebenes ,Hallo’ entstand, war ihr besonders lästig. Besonders, dass sich gerade die Mädchen darüber aufregten.

„Macht euch doch nicht gleich in die Hosen! Das ist ja furchtbar!“,

warf sie ärgerlich ein.

„Willst du gern so einem Typen begegnen?“, erwiderte Rada. Sie hatte Eltern, die aus Südosteuropa stammten.

„Wir sind hier nicht in einem Horrorsteifen“, gab sie zurück. „Der Typ wird ganz schnell hinter Gitter wandern. Jedenfalls wird er garantiert nicht in allen Orten umherstreifen. Und was soll er denn machen? Hier ist doch nix. Hallo!?“

„Achtzig Prozent der Vergewaltigungen werden nicht aufgeklärt“, warf Thorsten in verschwörerischem Tonfall ein.

„Idiot!“, antwortete sie. „Du saugst dir irgendwas aus den Fingern.“

„Nein, ehrlich, ist auf jeden Fall ’ne ziemlich hohe Zahl.“

„Wenn ’ne Zahl hoch ist, dann die der Frauen, die sich nicht zur Polizei trauen! Weil das auch lauter Typen sind. Aber können wir jetzt mal mit dem Thema aufhören! Ihr seid ja echt wie die Kinder – oder wie die Erwachsenen. Kaum ist da irgend ’ne kleine Meldung, benehmt ihr euch wie ein Hühnerstall, vor dem der Fuchs turnt. Ich finde das einfach nur albern. Idiotisch!“

„Wir haben ja nichts zu befürchten“, feixte Thorsten. „Das seid ja ihr. Du nicht zuletzt.“

„Wenn da jemand ankommt, dann hat er aber was zu befürchten!“, gab sie wütend zurück. „Du weißt doch, wohin man dann tritt...“

„Wenn der dann aber so ein großes Schlachtermesser dabei hat...“, wandte Thorsten ein.

Sie konnte sein Grinsen noch in der Dunkelheit hören.

„Dann kriegt er das auch noch rein. Und jetzt Schluss mit der Scheiße! Geht’s euch Typen eigentlich noch gut? Auf welcher Seite steht ihr eigentlich?“

„Vergleich uns mal nicht mit Thorsten“, meldete sich Dirk nun.

„He – was? Man darf doch wohl mal einen kleinen Spaß machen.“

„Aber nicht mit so was“, sagte Stefan.

Er hatte sich wieder neben sie gesetzt. Sie hatte ihn eine Weile ganz vergessen.

Einen Moment lang war ihr alles lästig – wirklich alles. Dann folgte sie demonstrativ einem völlig anderen Impuls. Sie wandte sich Stefan zu und begann, ihn zu küssen. Mochten die anderen machen, was sie wollten. Sie genoss seine Überraschung und küsste ihn fordernd einfach immer weiter, drückte ihn auf das Gras der Böschung und legte sich auf ihn, ohne ihr Tun zu unterbrechen...

Obwohl sie nur einem eigenwilligen Impuls gefolgt war, spürte sie, wie die Lust in ihr aufstieg. Dass der Junge unter ihr leicht überfordert war, gefiel ihr – ebenso genoss sie es, dass sie sehr genau spürte, dass er ihre heftige Zärtlichkeit als eine Art Ehre betrachtete. Er wollte immer so cool tun, aber er war es nicht. Man merkte den Unterschied ganz genau. Süß war er... Ihre Lust wuchs. Als sie dann spürte, wie auch er erregt wurde, hörte sie wieder auf.

„Lisa ... warum denn?“, fragte er.

„Das reicht erstmal“, sagte sie.

Sie spürte seine Verwirrung – und genoss auch diese wieder.

„Der Abend ist ja noch lang...“, vertröstete sie ihn.

Rada und Sarah unterhielten sich noch ein wenig über das leidige Thema, aber die Jungs hatten nun auch die Lust verloren – und so wandten sich die Gespräche sehr bald den wichtigeren Themen zu, neuen Songs, Videos und Filmen...

Sie achtete darauf, dass Stefan während des Abends nicht zu kurz kam – und sie auch nicht...

Als die anderen schließlich gegen Mitternacht nach Hause gingen, blieb sie demonstrativ noch am Ufer sitzen – und Stefan mit ihr. Er wartete nur. Sie wusste, dass er es wieder als etwas Besonderes empfand, nun mit ihr allein zu sein. Sie fragte sich, ob er ihr heute wieder die eine Frage stellen würde. Insgeheim wettete sie sogar.

Sie tippte auf Nein. Und tatsächlich wagte er es nicht – saß einfach nur neben ihr. Wie ein treuer Begleiter. Sie hatte ihn gut erzogen...

Schließlich sagte sie leichthin:

„Du kannst ruhig auch schon gehen.“

„Nein, warum sollte ich?“

„Jedenfalls brauchst du dir um mich keine Sorgen zu machen.“

„Das tue ich nicht.“

„Wartest du etwa...“

Sie wollte sagen ,auf deine Gelegenheit’ – aber das erschien ihr dann doch etwas zu fies.

„Nein, ich warte nicht“, erwiderte er. „Ich freue mich einfach nur, dass wir hier auch mal allein so sitzen...“

„Komm mir aber jetzt nicht mit ,romantisch’ und so!“

„Das hatte ich nicht vor. Aber du hast wohl gar nichts dafür übrig, was?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil das ein großer Unsinn ist.“

„Was genau?“

„Das ganze Getue. ,Du bist der Einzige. Für immer. Und alles tue ich nur für dich...’ Da ekelt’s einen doch! Grauenvoll ist das.“

Stefan schwieg. Auch das begann sie nun zu ärgern.

„Jetzt sag nicht, das wundert dich.“

„Nein.“

„Gut.“

Sein Schweigen störte sie noch immer.

„Aber?“, fragte sie daher.

„Was denn? Nichts aber“, erwiderte Stefan.

„Irgendwas gefällt dir daran doch nicht.“

„Was denn?“

„Das musst du doch wissen. Ich merk’ nur, dass dir irgendwas daran noch nicht gefällt.“

„Muss es das denn?“

Seine Frage gefiel ihr auch nicht.

„Nein, überhaupt nicht. Ach, vergiss es!“

Sie hätte es jetzt gern gesehen, wenn auch er gehen würde. Ganz allein wollte sie hier sitzen. Einfach ganz allein am Fluss...

Nachdem ihr Ärger wieder abgeebbt war, spürte sie, dass sie ihn verletzt haben musste. Jedenfalls fühlte sich das Schweigen jetzt etwas anders an.

In einer plötzlichen Anwandlung sagte sie:

„Komm mal her...“

Er wandte sich fragend zu ihr, und sie zog sein Gesicht an ihres, um ihn wieder zu küssen. Dann legte sie sich selbst auf die Böschung, gleichsam wie ein Geschenk, und wartete, bis er ihr berührt folgte. Sie genoss ihre eigene Gutmütigkeit und spürte sehr genau, wie sehr er sie begehrte. Sie selbst staunte, wie sehr sie sich auf einmal auf ihn einließ und wie sehr dadurch auch ihre Erregung zunahm...

Schließlich brachte sie ihn dazu, die Stellung umzukehren, wieder legte sie sich auf ihn und fuhr fort, ihn zu küssen. Dann fuhr sie heftig atmend mit ihrer Hand in seine Hose, spürte das, was sie suchte...

„Was machst du?“, fragte er überrascht.

„Nichts“, erwiderte sie geheimnisvoll. „Nur ein bisschen weiter...“

„Ich kann das so nicht, Lisa!“, sagte er nun, noch immer voller Begehren.

Ihre eigene Lust verflog schlagartig.

Sie erhob sich und setzte sich wieder auf.

„Was ist mit dir los?“, fragte sie abschätzig.

„Ich kann es so einfach nicht, Lisa“, wiederholte Stefan. Dann fragte er zögernd: „Möchtest du mit mir schlafen?“

„Das war doch gar nicht die Frage!“, entgegnete sie gereizt. „Muss denn immer alles so klar sein?“

„Wenn du mit mir schlafen möchtest, Lisa, dann sag es“, bat er.

„Aber einfach so – kann ich es nicht...“

Jetzt war er ihr wieder lästig. Immer dieses Entweder-Oder.

„Ich dachte, Jungen mögen das“, sagte sie vorwurfsvoll.

„Da ... angefasst zu werden?“

„Ja?“

„Aber – nicht einfach so.“

„Was heißt einfach so? Wir waren gerade mittendrin!“

„Ja, aber trotzdem. Wir waren mittendrin in was anderem. Da kann man nicht einfach plötzlich...“

„Wie ,plötzlich’?“, erwiderte sie heftig. „Ich denke, du willst mit mir schlafen?“

„Ja, Lisa, ich will mit dir schlafen. Aber nur, wenn du es auch willst. Ich will nicht einfach plötzlich – nur...“

Er beendete den Satz nicht. Sie verstand auch so, was er meinte.

„Okay, Pech, dann halt nicht.“

Wieder schwieg der Junge neben ihr.

Sie atmete hörbar aus. Die Situation war nicht mehr zu retten.

„Ich geh dann mal“, entschied sie. „Ist ja spät genug.“

Als Stefan nichts sagte, erhob sie sich – woraufhin auch er sich erhob.

„Bis morgen dann!“, sagte sie.

„Soll ich dich noch nach Hause begleiten?“, fragte er.

„Nein, wozu das? Brauchst du nicht.“

„Ich könnte es aber.“

„Nein – ich bin doch kein Kleinkind.“

Er schwieg wieder.

„Pass du lieber auf dich auf“, ergänzte sie daher.

Er schwieg noch immer.

„Tschüss, Lisa...“, sagte er schließlich.

„Hey“, sagte sie in einem plötzlichen Impuls, der seinen Abschied noch einmal rückgängig machte.

Dann näherte sie ihr Gesicht noch einmal dem seinen und küsste ihn abermals. Nach einer kleinen Weile spürte sie wieder seine Zärtlichkeit. Nun war sie zufrieden.

„Bis morgen!“

*

Sie genoss dann auch den einsamen, wenn auch nicht sehr langen Weg nach Hause. Freiheit und ein seltsamer Kitzel. Wenn nun auf einmal ein Mann hinter einem Busch auftauchen würde. Dann wäre sie wirklich ganz allein ... mit diesem Mann. Und dann?

Mit diesem Kitzel kam sie zuhause an. Er verflog wiederum schlagartig, als sie ihren Vater noch wach antraf.

„Das war ja klar!“, sagte dieser. „Kaum steht was in der Zeitung und deine Eltern machen sich Sorgen, kommst du extra noch später als sonst! Toll – wirklich toll, Lisa!“

Sie war auf den Angriff nicht ganz vorbereitet gewesen. Er frustrierte sie und nahm dem ganzen Abend wieder seine ganze Stimmung.

„Könnt ihr euch nicht mal abgewöhnen, auf mich zu warten? Was soll das überhaupt. Rita macht das doch gar nicht. Wieso musst du das ständig machen?“

Heftig stellte sie sich gegenüber von ihrem Vater auf.

„Glaub mal nicht, dass deine Mutter sich weniger Sorgen macht als ich! Sie schafft es einfach nur nicht mehr, so lange aufzubleiben.“

„Das braucht sie ja auch nicht!“, betonte sie mit aller Kraft. „Und du ebensowenig. Könnt ihr euch nicht damit abfinden, dass ich jetzt erwachsen bin und selbst die Verantwortung für mich übernehmen kann?“

„Ja, Lisa“, erwiderte ihr Vater. „Du hast jetzt die Verantwortung für dich. Trotzdem machen sich Eltern deswegen nicht weniger Sorgen.“

„Aber dann brauchen sie doch wenigstens ihre Kinder nicht damit zu belästigen!“

„Du verstehst gar nichts!“, gab ihr Vater zurück.

Sie sah, dass sie ihn verletzt hatte. Aber sie wollte auch wirklich endlich ihre Ruhe vor dieser elterlichen Fürsorge haben. Über-Fürsorge...

„Ihr versteht es auch nicht“, entgegnete sie. „Besser, du hörst jetzt damit auf. Sonst bleibe ich immer extra lange draußen, und dann passiert wirklich noch was – nur deswegen. Dann seid ihr schuld, mit eurem ewigen Sorgenmachen. Wenn man sich keine Sorgen macht, passiert auch nichts. Wenn man sich Sorgen macht, passiert erst recht was.“

„Das kann wirklich nur die reine Unvernunft sagen! So was Unlogisches habe ich selten gehört!“

„Das ist nicht unlogisch. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Lies mal ein bisschen was darüber!“

„Woher willst du denn das wissen?“

„Hab ich jetzt schon oft gehört. Und selbst wenn es nicht stimmt – das ewige Sorgenmachen hilft erst recht nichts. Das ist unlogisch.

Man macht sich Sorgen – und kann eh nichts ändern.“

Ihr Vater wollte noch etwas erwidern. Dann schüttelte er nur den Kopf und sagte:

„Ich geh jetzt ins Bett.“

„Schlaf gut. Und ... geh nächstes Mal früher...“

Als er die Tür hinter sich schloss, hatte sie die leise Vorahnung, dass er das nächste Mal tatsächlich nicht mehr warten würde. Es erfüllte sie mit Glück und einem Gefühl des Triumphs. Nun wurde sie wirklich erwachsen – auch in den Augen ihrer Eltern. Es war nur ein leiser Wermutstropfen, den das Gespräch trotz allem auch hinterließ...

Als sie am Mittwoch das Altpapier in den Müll bringen musste, wünschte sie sich einmal mehr, nicht nur erwachsen zu sein, sondern irgendwann endlich auch ausziehen zu können. Sie hasste diese ,Aufgaben’, die damit zu tun hatten, dass sie noch ,unter einem Dach’ mit ihren Eltern lebte. Es hätte zwar alles noch viel schlimmer sein können – sie musste nur einmal in der Woche abwaschen, einmal im Monat alle Zimmer staubsaugen und eben ab und zu das Altpapier wegbringen –, aber das war schlimm genug.

,Ab und zu’ bedeutete spätestens alle zehn Tage.

Warum musste sie Aufgaben übernehmen, die nicht das Geringste mit ihr zu tun hatten? Na gut, sie musste nicht kochen, nicht Wäsche waschen, sie nicht aufhängen und diese Dinge – aber was bitteschön hatte sie mit diesen Zeitungen zu tun, die neben aller möglichen Post und Werbung den Hauptteil des Altpapiers bildeten?

Lästige Papierverschwendung war das, mehr nicht. Müll über Müll, alle zehn Tage...

Sie klappte den Deckel der blauen Tonne nach hinten – und stülpte die Kiste mit Schwung in die Öffnung. Dabei fiel die oberste Zeitung vorbei.

,Scheiße!’, dachte sie. Das passierte ihr nicht zum ersten Mal.

Kaum wollte man mal ein bisschen Wut herauslassen, ging etwas daneben. Mit einem gesteigerten Ärger auf sämtliche Zeitungen der Welt bückte sie sich und hob die Zeitung auf.

Ihr Blick fiel auf die Ankündigung einer Musikgruppe und ihres Auftritts in einer der umliegenden Ortschaften. Es interessierte sie nicht besonders, aber sie schlug die Zeitung dennoch auf, um den kleinen Bericht dazu zu lesen. Wenn sie schon den Müll herunterbringen musste, musste es auch zu etwas gut sein.

Sie überflog den Bericht letztlich doch nur – es war einfach alles langweilig und uninteressant. Als sie die Zeitung gerade endgültig entsorgen wollte, fiel ihr Blick auf eine weitere Meldung. Es war eine Nachricht über die Vergewaltigung von vor zwei Tagen.

Ohne dass sie es bemerkte, tauchte sie ein in die Meldung. ,Täter gefasst’ war die Überschrift gewesen. Der Täter war ein Siebzehnjähriger aus Sachsen gewesen. Er war dort aus einem Heim geflohen und war nun bereits wieder über hundert Kilometer weiter auf einer Tankstelle aufgegriffen worden, als er versucht hatte, ein paar Lebensmittel zu klauen.

Sie hatte es doch gewusst – der trieb sich nicht in der Gegend herum. Er war längst weg gewesen.

Was sie dann aber las, ließ ihr Denken für einen Moment aussetzen. Das Mädchen – es war kein Name genannt, nur ihr Alter, aber das kannte sie schon aus der ersten Meldung – hatte erst auf Drängen der Eltern eine Täterbeschreibung gegeben. Erst auf Drängen der Eltern! Wie sollte man sich das vorstellen? Dass nicht jedes vergewaltigte Mädchen überhaupt etwas sagen würde, war vielleicht noch verständlich. Aber darum ging es hier offenbar nicht – sondern um die Beschreibung des Täters! Wie blöd war das denn?

Warum wollte sie den Täter nicht beschreiben?

Nachdenklich starrte sie die Meldung an. Die Sache beschäftigte sie. Schließlich riss sie die Seite heraus, faltete sie zweimal zusammen und schmiss den Rest in die Tonne.

In ihrem Zimmer warf sie sich auf das Bett, entfaltete das Blatt wieder und las die Meldung noch einmal. Immer wieder die beiden entscheidenden Sätze. Sie konnte das nicht verstehen. Aber sie konnte nicht einmal verstehen, warum sie die Meldung aufgehoben hatte...

*

Am Abend, als sie mit den Anderen wieder am Fluss saß, kam das Thema nach einiger Zeit wieder zur Sprache. Diesmal war es Dorit, die davon anfing.

„Habt Ihr schon gehört? Dieser Typ von vorgestern ... der das Mädchen vergewaltigt hat, ist gefasst worden.“

Viele hatten es natürlich noch nicht gehört, und so musste sie lang und breit die kleine Meldung wiedergeben. Zuerst hielt man sich dann bei dem Jungen auf.

Thorsten – der mit Dorit zusammen war – war es wieder, der einwarf:

„Klingt ja abenteuerlich. Aus ’nem Heim geflohen! Vergewaltigt ’n Mädchen und lässt sich dann auf ’ner Tankstelle erwischen.

Besonders gerissen scheint der ja nicht gewesen zu sein!“

„Schlimm ist das! Mit dem Mädchen...“, sagte Rada.

„War aber drei Dörfer weiter...“, erwiderte Thorsten verschwörerisch.

„Fang jetzt nicht wieder mit dem Scheiß an!“, hielt Susanne ihm entgegen.

„Genau!“, sagte Sarah. „Das war vorgestern bescheuert genug. Das brauchen wir heute nicht mehr.“

„Ist ja schon gut“, maulte Thorsten. „Ihr versteht auch gar nichts von einem bisschen Grusel...“

„Grusel?“, gab Rada zurück. „Es geht um ein echtes Mädchen.

Und sie war erst fünfzehn! Einfach so...“

„Aber sie wollte nicht mal sagen, wer der Täter war“, ließ Dorit nun die Bombe platzen.

Auch die Anderen konnten das nicht fassen. Dorit musste mehrmals bestätigen, dass die Meldung so gelautet hatte.

Schließlich sagte Rolf:

„Das ist aber doch nun wirklich dämlich!“

„Da steckt was dahinter...“, sagte Thorsten.

„Was soll denn da dahinterstecken?“, fragte sie fast heftig. Sie konnte seine Bemerkungen nicht leiden.

„Keine Ahnung“, erwiderte Thorsten. „Irgendwas halt.“

„Blödsinn“, sagte sie, einfach nur, um zu widersprechen.

Dass irgendetwas dahinterstecken musste, war ihr selbst klar.

„Können wir das Thema nicht mal lassen?“, sagte Rada. „Ich find’s schlimm genug. Wir sollten das Mädchen einfach in Ruhe lassen.“

„Wir tun ihm doch gar nichts“, sagte Thorsten.

„Drüber reden, ist auch was“, sagte Rada.

„Aber das ist ihm doch egal“, wandte Thorsten ein.

„Aber uns vielleicht nicht“, entgegnete sie.

Thorsten schaute sie in der Dunkelheit an.

„Du bist doch die härteste von allen. Seit wann stört dich denn so ein Thema?“

„Das Thema vielleicht nicht so sehr wie du.“

„Willst du damit etwa sagen, dass –“

„Hör doch auf, Thorsten“, schaltete sich nun Stefan ein.

Das konnte sie gar nicht gebrauchen. Sie brauchte keinen Verteidiger.

„Nein, lass ihn ruhig“, warf sie sich in die Bresche. „Wenn er will, soll er nur. Dann kriegt er sein Fett ab!“

Sie merkte, wie sie jetzt wirklich wütend zu werden begann.

Nun sagte Dorit:

„Könnt ihr nicht einfach beide aufhören? Ihr benehmt euch ja wie kleine Kinder!“

Sie regte sich wieder ab.

„Rada hat Recht“, betonte sie abschließend. Nur um es Thorsten trotzdem noch einmal zu zeigen.

„Da warst du eben aber noch ganz anderer Meinung!“, sprang Thorsten wieder auf den Zug auf.

„Schluss jetzt!“, entschied Dorit. Sie rief es fast – und hatte damit Erfolg.

Thorsten schwieg. Sie wertete es als einen Sieg für sich. Sie musste nicht immer das letzte Wort haben. Er war es gewesen, der von Dorit scharf an die Zügel genommen worden war. Das reichte ihr.

An diesem Abend beteiligte sie sich wenig an den Gesprächen, die auf- und abfluteten, mit wechselnden Themen, wie immer. Nachdenklich starrte sie auf das leise und langsam dahinfließende Wasser, das man mehr hörte als sehen konnte, abgesehen von einzelnen Lichtschimmern von den in größeren Abständen stehenden Laternen.

Als sie am nächsten Tag aus der Schule kam, wollte sie auch die andere Meldung aufheben – die erste. Aber als sie in den Müllraum ging und die blaue Tonne öffnete ... war sie leer. Es war Donnerstag. Sie hatten das Altpapier wieder mal abgeholt. Ausgerechnet heute!

In ihr stieg ein Gefühl wie von etwas Unwiederbringlichem auf. Es war nur eine alte Zeitung gewesen – eine drei Tage alte Zeitung.

Aber sie war nicht mehr da. Sie wusste nicht, warum ihr die Meldung auf einmal so wichtig war – aber sie würde sie nicht mehr bekommen. Nie mehr. Es war ein seltsames Gefühl. Ein Gefühl, mit dem sie sich nicht abfinden konnte...

Warum musste das Altpapier gerade heute abgeholt werden? Sie überlegte und kam auf den Gedanken, dass sie herausfinden könnte, wo es hingebracht wurde, um dann diese eine Zeitung herauszufischen, bevor alles verbrannt wurde, oder was auch immer. Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Und dann kam sie auch darauf, dass die Zeitungen wahrscheinlich bereits im Müllwagen zusammengepresst und auf diese Weise vernichtet wurden. Der Gedanke war also nicht nur verrückt, sondern auch noch sinnlos gewesen.

Frustriert ging sie wieder ins Haus. Irgendetwas schmerzte sie. Sie hatte diese Meldung haben wollen. Zum ersten Mal in ihrem Leben interessierte sie sich für eine Zeitungsmeldung – und dann war die Zeitung weg, für immer verschwunden...

*

Am Abend hatte sie den Vorfall noch immer nicht vergessen, im Gegenteil, er nahm ihre Gedanken noch immer in Beschlag. Sie wollte diese beiden Meldungen über das Mädchen haben. Beide.

Das Gespräch am Fluss drehte sich um Musik. Es wurde diskutiert, welche Gruppen gerade ,in’ waren, welche cooler waren, wann wo welche Auftritte waren, und so weiter. Sonst interessierte sie dies alles auch – und sie war nicht diejenige, die am wenigsten dazu beizutragen hatte. Heute aber schien das alles merkwürdig weit weg zu sein. Wieder beobachtete sie das Wasser, während die letzte Helligkeit des Tages verging, reagierte ab und zu auf direkte Ansprache, war aber im Übrigen ganz mit sich beschäftigt.

Schließlich war in ihr ein Entschluss herangereift. Nun trat auch Stefan wieder in ihr Bewusstsein. Er hatte einfach neben ihr gesessen und sich ebenfalls kaum an den Gesprächen beteiligt.

„Am Montag gab es diese erste Meldung von dem Mädchen“, sagte sie leise genug, dass nur er es hören konnte.

Er war erstaunt, dass sie auf einmal zu sprechen begann. Sie bemerkte seine Freude darüber, dass sie ihre Missachtung beendete.

„Von der...“

Sie wusste sofort, dass er das Wort nicht aussprechen wollte.

„Ja, genau“, sagte sie, schon wieder leicht genervt, ohne dass sie es eigentlich wollte.

„Und ... was ist damit?“, fragte Stefan zurück.

Sie überlegte noch eine Sekunde, aber ihr Entschluss blieb, wie er war.

„Wenn du mir ... diese Meldung noch einmal besorgst, dann ... schlafe ich mit dir.“

An seiner Reaktion sah sie, dass er glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

Sie schaute einmal kurz auf die Anderen, um sicherzugehen, dass es von niemandem sonst gehört wurde. Dann wiederholte sie:

„Du hast schon verstanden. Wenn du mir die Zeitung von Montag beschaffst, schlafe ich mit dir.“

„Was hat die Zeitung denn damit zu tun?“, fragte er nun halblaut zurück.

„Das ist meine Sache“, entschied sie kurz angebunden. „Ich will sie einfach haben. Wir haben sie nicht mehr.“

„Aber was willst du denn damit?“

„Das geht dich nichts an. Willst du nun mit mir schlafen oder nicht?“

„Doch, natürlich will ich, aber –“

„Kein Aber. Besorg mir die Zeitung – und wir schlafen zusammen.“

„Aber...“

„Stefan“, zischte sie, „ich will darüber nicht reden. Entweder du machst es – oder du machst es nicht.“

„Ich mach’s ja. Ich will nur wissen ... bin ich ... dabei auch ein bisschen ... wichtig? Oder ist es nur die Zeitung...?“

„Was? Nein, natürlich nicht. Es ist nicht nur die Zeitung. Aber ich will sie haben. Kannst du das verstehen? ... Nein, kannst du nicht.

Ich will sie aber trotzdem. Unbedingt. Du tust mir damit einen großen Gefallen. Und ich tu dir dann auch einen...“

„Aber dann ist es doch nur die Zeitung...“

Sie sah ihn im Dunkeln an.

„Nein, ist es nicht. Aber wenn ich einfach so mit dir schlafe, irgendwann, kriege ich sie ja nie. Ich brauche sie aber. Und wenn du mir dabei hilfst, dann schlafe ich schneller mit dir. – Ach, komm’ schon, Stefan. Hilf mir einfach! Ich würde auch so mit dir schlafen.

Aber nicht so schnell...“

„Na gut, ich mach’s Lisa. Ich versteh’s nicht ganz, aber –“ Er tat ihr irgendwo leid. Natürlich hatte er Recht. Irgendwas war daran nicht ganz in Ordnung.

Um es wieder gutzumachen, küsste sie ihn – und wurde dabei ziemlich leidenschaftlich. Sie fühlte, wie seine Einwände zusammenschmolzen...

Eine gewisse Aufregung erfüllte sie, als sie am nächsten Abend wieder zum Fluss ging. In der Schule hatte er die Zeitung noch nicht gehabt. Er hatte sie bei sich zuhause nicht gefunden. Vielleicht hatte seine Mutter sie zum Gemüseschälen gebraucht...

„Und, hast du sie?“, fragte sie ihn so bald wie möglich.

„Ja – ich hab die Zeitung in meinem Rucksack. Willst du sie haben?“

„Nein, lass sie erstmal drin. Später. Und wo ... wo können wir es machen?“

„Du meinst...“

„Ja, was denn sonst?“

„Ich meine nur ... ,machen’ klang etwas...“

Sie unterhielten sich wieder so leise, dass sie unter sich blieben.

„Stefan!“, zischte sie. „Ich hab dir schon mal gesagt, du sollst nicht immer alles auf die romantische Goldwaage legen. Wenn du Romantik willst, such dir jemand anderen. Ich meinte schon nicht ,es machen’. Es war schon mehr ,Romantik’ dabei, als du denkst. Aber eben nicht übertrieben. Müssen wir jetzt um die Worte streiten?“

„Nein...“, lenkte er ein.

„Ich meinte es wirklich nicht so“, wiederholte sie.

„Okay.“

„Also?“

„Also was?“

„Wo können wir es ... wo können wir – zusammen schlafen?“

„Meine Eltern sind über das Wochenende weg. Ich bin das ganze Wochenende allein zuhause. Willst du zu mir kommen?“

„Anders geht’s ja wohl nicht!“

Die vorsichtige Art von ihm fand sie einerseits immer wieder sehr süß. Andererseits reizte sie sie fortwährend zu Widerspruch und Zurechtweisung.

„Heute schon...?“, fragte Stefan.

Sie spürte, dass er selbst kaum daran glaubte.

„Ja, heute schon...“, erwiderte sie vielversprechend.

Er schwieg. Er war total süß...

*

Als sie sich schon gegen elf Uhr verabschiedeten, fiel dies natürlich auf. Thorsten war es, der bemerkte:

„Nachtigall, ich hör dir trapsen!“

Wütend ging sie zu ihm und blaffte ihn an:

„Halt deine blöde Klappe! Deine blöden Sprüche sind so was von unnötig. Sie nerven einfach nur, und niemand will sie hören. Behalt deinen Scheiß für dich!“

„Lisa, lass ihn doch...“

Stefan wollte sie wegziehen.

Sie riss sich wieder los – und er ließ sie sofort los.

„Nein, lass ich nicht! Nachtigall, ich hör dir trapsen! Ich hör dir trapsen!“, äffte sie ihn nach. „Was hörst du denn trapsen? Hä? Na, was? Was denn?“

Sie war jetzt voll auf Angriff eingestellt. Wäre es hell gewesen, hätte sie ein rotes Tuch vor sich gesehen.

Thorsten erwiderte in aller Ruhe genüsslich:

„Na, was wohl? Das kann sich doch jeder denken...“

„Eben!“, stieß sie nach. „Denken kann sich das jeder! Aber du musst es natürlich ausplaudern. Weil du deine Klappe nicht halten kannst. Klapper, klapper, plapper, plapper. Du kannst es einfach nicht lassen! Du bist einfach nur...“

Ihr fiel kein geeignetes Wort ein. Aber sie hatte es auch so wegwerfend genug gesprochen.

„Ja, ich lass ihn“, sagte sie nun. „Er ist es nicht wert...“

„Was?“, Thorsten sprang auf, „sag das noch mal!“

Nun wurde Dorit aktiv.

„Könnt ihr nicht mal aufhören!“, rief sie wieder. „Das ist ja unerträglich. Ihr seid beide unerträglich! Ihr habt ab sofort Sprechverbot. Keiner sagt mehr was zu dem anderen. Das wird hoffentlich helfen!“

„Ist mir sehr recht!“, konterte sie sofort. „Sehr sogar!“

„Mir auch!“, erwiderte Thorsten. „Dann hat das endlich ein Ende!“

Sie wusste, dass er das nur sagte, um auch einen Scheinsieg davontragen zu können. Sie wusste, dass das Problem damit gelöst war.

„Danke, Dorit“, sagte sie daher noch einmal lächelnd. „Die beste Idee des heutigen Abends...“

„Idiot!“, zischte Thorsten.

„Ich hab was gesagt!“, herrschte Dorit ihren Freund an, auf ihrer Autorität bestehend.

Zufrieden zog sie ab, umfasste Stefan sogar demonstrativ an der Taille.

Als sie den Hauptweg erreichten, ließ sie ihn wieder los.

Sie merkte, dass ihn das auch wieder beschäftigte. Deshalb sagte sie:

„Stefan, kannst du bitte nicht immer alles auf die Goldwaage legen?“

„Was meinst du?“

„Zum Beispiel diese Umarmung. Arm da, Arm weg – du denkst einfach viel zu viel über alles nach!“

„Und du machst immer alles einfach so.“

„Genau. Einfach so. Darüber muss man doch nicht nachdenken."

„Ja, aber man fragt sich dann schon – –"

„Was fragt man sich?“, entgegnete sie, wieder leise angriffslustig.

„Ob ... man dir etwas bedeutet.“

Sie stöhnte innerlich leise und verdrehte die Augen – auch nur innerlich.

„Bedeutet? Was bedeutet denn was? Wenn du nicht immer über alles nachdenken würdest, würdest du viel besser wissen, was was bedeutet. Aber jetzt mal ehrlich, Stefan – muss ich wirklich jede Bewegung begründen, verteidigen, entschuldigen ... oder sogar beantragen?“

„Nein...“, widersprach er, „es ist nur...“

„Was? Was ist es nur? Ist es wieder nicht romantisch genug?“

„Nein, es ist...“

Sie wartete.

Schließlich sagte Stefan:

„Ich müsste mich wiederholen...“

„Dann lass es lieber. Denk einfach nicht so viel nach. Sei lieber etwas spontan! Ist das nicht auch romantisch? Probier einfach mal, nicht über alles so viel nachzudenken.“

Sie spürte, wie er jetzt erst recht nachdachte, während sie schweigend weitergingen.

„Ich bin einfach, wie ich bin“, sagte sie. „Und du bist, wie du bist.

Meinetwegen. Aber ich ändere mich nicht. Versuch’s also bitte nicht.“

„Ich versuch’s ja gar nicht. Ich meine nur, dass man bei dir manchmal die Frage hat, ob –“ „Das ist es aber, Stefan! Man muss doch nicht immer Fragen haben. Man kann doch mal ganz ohne Fragen leben. Einfach so! Ich will dir ... ja nicht wehtun, aber ganz bestimmt werden wir nicht unser Leben lang zusammen bleiben und all das. Wer weiß schon, wie lange? Ein Jahr ist schon lange! Vielleicht ja auch nur diese Nacht? Ich hab’ keine Lust auf alles, was mit ... mit dem allen zu tun hat, was Andere so ,Romantik’ und so weiter nennen. Romantik ist ein Gefängnis. Und schon bevor sie ein Gefängnis ist, ist sie übertrieben, künstlich... Ich will das einfach nicht. Entweder du willst mit mir schlafen oder nicht. Ich will schon mit dir schlafen.

Ist dir das nicht genug? Das ist doch genug? Wir schlafen heute miteinander. Und vielleicht nicht nur heute. Ist das nicht genug?

Ich will einfach nicht begründen müssen, wann ich wohin meinen Arm lege und wann ich ihn wieder wegnehme. Kannst du das nicht verstehen?“

Sie spürte, wie er leicht überwältigt war.

Schließlich sagte er:

„Ist schon gut, Lisa. Es ... tut mir leid...“

Das war wieder dieses Gefühl. Süß war er...

„Es braucht dir ja nicht gleich leid zu tun...“

Er schwieg.

Sie war versöhnt.

„Wenn ich für dich so ... schwierig bin“, fragte sie versöhnlich, „was magst du dann eigentlich an mir...?“

Er hatte diese Frage nicht erwartet.

„Was ich an dir mag?“, stotterte er fast.

Dann vergingen mehrere Sekunden.

„Du bist ... einfach sehr schön, Lisa...“, sagte er dann.

Es klang fast kleinlaut.

Sie überlegte eine Weile. Seine Antwort schmeichelte ihr – obwohl sie selbst wusste, dass sie ziemlich schön war. Sie würde nie ,sehr’ sagen. Aber ziemlich schön – ja, das war sie. Und, ja, vielleicht war sie die schönste in ihrer Clique. Wer konnte das schon beurteilen? Sie fand Rada auch ziemlich schön. Aber die war mit Dirk zusammen. Sie überlegte, ob Stefan auch für Rada etwas übrig haben könnte. Aber das hatte sie nicht bemerkt.

„Weil ich schön bin, willst du mit mir schlafen?“

Sie wusste, dass sie ihn mit solchen Fragen in die Enge trieb. Aber das gerade genoss sie. Das machte Jungen wie ihn so süß.

„Ja...“

Sie fühlte sich wohl. Sie ging hier mit einem süßen Jungen in die Nacht – und sie würde ihm eine wundervolle Nacht schenken. Eine Nacht, die er nicht vergessen würde...

Das Leben war schön.

Sie lag auf ihrem Bett und schaute an die Decke. Was machte sie nun mit diesen beiden Meldungen? Es war Samstagvormittag, die Sonne schien durch ihr Fenster herein. Ein schöner früher Septembertag.

Ihre Gedanken schweiften zurück zum gestrigen Abend. Mit einem leisen Lächeln erinnerte sie sich an die Umstände, unter denen sie wieder in den Besitz der ersten Zeitung gekommen war. Sie hatte die ganze Situation sehr genossen. Es war schön gewesen. Nur, dass sie nicht wirklich auf ihre Kosten gekommen war, weil Stefan viel zu schnell seinen Höhepunkt bekommen hatte. Es war bedauerlich, dass Jungen danach einfach nicht mehr konnten. Aber so war es eben. Sie hatte es trotzdem genießen können – wie es ihm leid tat; wie er sie anhimmelte. Es war schon schön, einen solchen Verehrer zu haben. Aber wahrscheinlich nicht auf Dauer. Es war nicht die gleiche Ebene.

Die gleiche Ebene wollte sie aber wiederum auch nicht. Damit hatte sie auch keine guten Erfahrungen gemacht. Jungen auf der gleichen Ebene wurden einfach irgendwann lästig, es ging einfach nicht lange gut. Irgendwann bildeten sie sich etwas ein – und dann war es eigentlich vorbei. Dann schon lieber jemanden wie Stefan.

Wie auch immer – sie wusste es selbst nicht genau. Im Moment war es in Ordnung. Wie lange, das würde sie schon wissen, wenn es so weit war. Stefan würde ihr nicht weglaufen. Er würde ihr eher fortwährend hinterherlaufen. Sie lächelte wieder. Es war lästig und süß zugleich...

Aber was war nun mit den beiden Meldungen? Sie las die erste Nachricht noch einmal. Am Wochenende wurde in diesem kleinen Kaff ein fünfzehnjähriges Mädchen vergewaltigt. Vom Täter fehlt bislang jede Spur und so weiter...

Und dann, zwei Tage später, war der Täter gefasst. War schon über alle Berge – und vertat sich dann auf dieser einen Tankstelle. Seltsam, wie sich solche Geschichten entwickelten. Täter unbekannt – Täter bekannt und gefasst... Aber das Mädchen! Das war ihr noch immer unbekannt. Es wurde in beiden Meldungen nicht mit Namen genannt. Nicht mal der Vorname. Manchmal machte man das doch? Lisa B. aus X oder so hieß es dann. Aber hier – nichts. Und dann aber diese merkwürdige Bemerkung, dass das Mädchen erst auf Drängen der Eltern eine Täterbeschreibung gegeben hatte.

Sie ließ beide Meldungen wieder sinken und starrte von neuem an die Decke. Was sollte sie nun machen? An der Decke schien eine kleine Fliege zu laufen. Sie schaute genauer hin – es war offenbar eine Täuschung gewesen. Ihre Gedanken kehrten zu dem Mädchen zurück. Im Grunde wusste sie ja längst, was sie machen wollte.

Aber es war eben verrückt. Völlig verrückt. So was von verrückt.

Sie erhob sich ruckartig und setzte sich auf die Bettkante. Dort ließ sie noch eine Sekunde lang den Gedanken in sich wirken – dann erhob sie sich entschlossen, um keinesfalls wieder zurückzufallen.

Sie schnappte sich ihre Jacke, rief ihren Eltern kurz zu, dass sie sich mit einigen Freundinnen treffen würde – und war draußen.

*

Als sie die leicht frische Luft auf ihrem Gesicht fühlte, wurde aus dem verrückten Gedanken immer mehr eine verrückte Sache. Was tat sie hier? Aber ihre Beine gingen weiter und führten sie Richtung Bushaltestelle. Sie würde auf den Bus warten, sich dann hineinsetzen und durch die Dörfer fahren, zehn Kilometer weiter, bis in das Örtchen, das es jetzt zweimal hintereinander in die Regionalzeitung geschafft hatte.

Als sie an der Haltestelle stand, kam es ihr noch immer verrückt vor. Neben ihr standen schon zwei alte Frauen, die sonstwohin wollten. Sie kam sich ein wenig blöd vor. Was hatte sie mit diesen Frauen zu tun? Nichts. Aber wer sonst fuhr am Samstagmorgen durch die Dörfer? Keiner. Eine der Frauen schaute sie jetzt an. Sie guckte weg. Als ihr die Warterei zu lang wurde, holte sie ihr Handy heraus...

Schließlich kam der Bus. Sie zeigte ihre Dauerkarte vor und ging ganz nach hinten durch. Es war ihr Stammplatz – immer so weit hinten wie möglich.

Sie steckte das Handy wieder ein und sah aus dem Fenster. Diese Strecke fuhr sie in der Regel nie. In dieser Richtung wurden die Orte eigentlich immer kleiner, kam es ihr vor. Jedenfalls kam hier nichts Interessantes mehr. – Aber jetzt lag in dieser Richtung etwas, jetzt kam hier etwas Interessantes, etwas, dem sie unbedingt begegnen wollte.

Sie wusste selbst nicht, warum. Gerade das war ja das Verrückte.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie unbedingt diese zwei Meldungen haben wollte – und warum sie unbedingt wissen wollte, wer dieses Mädchen war. Dass es zu dieser Täterbeschreibung gedrängt werden musste, konnte doch nicht der Punkt sein! Nein, das war es einfach nicht. Vielleicht auch, aber nicht eigentlich. Aber was es dann war, was dieses ,eigentlich’ dann war – sie wusste es nicht.

Der Bus hatte das nächste Dorf bald erreicht. Sie hasste diese kleinen Kaffs. Wieder wünschte sie sich, so bald wie möglich ganz woandershin ziehen zu können. Sie würde sich demnächst endlich überlegen müssen, was sie nach der Schule machen wollte. Hauptsache, es war in einer anderen Stadt – überhaupt in einer Stadt.

Ihre Abneigung wurde aber immer mehr verdrängt von einer inneren Aufregung. Jetzt lag nur noch ein Dorf dazwischen...

Der Bus durchfuhr ein größeres Waldstück. Sie schaute die vorbeieilenden Bäume an. War der gefasste Junge etwa durch solche Wälder geflohen? Blödsinn! Wenn er zwei Tage später schon hundert Kilometer weiter war! Etwa per Anhalter? Was hatte ihn dann überhaupt hierher verschlagen?

Das nächste Dorf. Überall die gleichen Häuser, Einfamilien- und Zweifamilienhäuser, manche etwas anders gebaut als die anderen, aber überall die gleichen Familien, alte Leute, ein paar Jugendliche – aber die wollten alle woandershin, letztlich, zählten die Jahre, vielleicht auch die Tage...

Ihre Aufregung stieg weiter, als der Bus ihren Zielpunkt erreichte.

Er würde noch weiter fahren. Irgendwann, nach so-und-so-viel weiteren Dörfern, kam tatsächlich auch auf dieser Strecke wieder eine größere Ortschaft, aber sie würde hier aussteigen. Jetzt am Wochenende hatte sie nur jede Stunde einmal die Gelegenheit, wieder zurückzukommen. Mit klopfendem Herzen stieg sie aus.

Sie blickte dem Bus hinterher. Niemand sonst war ausgestiegen – es hatte auch kaum jemand im Bus gesessen! Als sie sich umsah, sah sie auch jetzt keinen Menschen. Zum ersten Mal wurde ihr das Verrückte ihres Planes real bewusst. Wie sollte sie das Mädchen hier denn finden? Es gab in diesem verdammten Kaff wahrscheinlich nicht mal ein Geschäft, in dem man hätte fragen können! Zu allem Überfluss war heute auch noch Samstag. Sie schaute auf die Uhr. Zwanzig nach zwölf. Wenn es ein Geschäft gegeben hätte, hätte sie noch ein klein wenig Zeit gehabt – so aber war die Uhrzeit ohnehin egal. Ratlos stand sie an der Haltestelle und versuchte, sich eine Art Plan zu machen.

Sie konnte kaum irgendwo klingeln und fragen, wo das vergewaltigte Mädchen wohnte. Selbst wenn sie es herausfinden würde – was dann? Einen Moment lang kam sie sich unendlich blöd vor, wie ein albernes Kind, das einen idiotischen Plan gefasst hatte.

Zum Beispiel den Himmel anfassen, den Mond! Das war sie. Das hatte sie eben getan. Sie hatte sich in den Bus gesetzt, um zu dem Mädchen zu fahren, und jetzt stand sie da. Sie stand hier in dem Kaff, an der Bushaltestelle, und dachte, sie könnte mal eben den Mond anfassen...

Eine blöde Idee. Für eine kleine Meldung hatte sie sogar mit Stefan geschlafen... Was wollte sie hier!?

Unschlüssig setzte sie sich in Bewegung.

Ein Ort mit ein paar hundert Einwohnern war nicht groß. Es gab eine Hauptstraße und ein paar Abzweige – mehr nicht.

In einem Vorgarten arbeitete eine alte Frau. Wieder eine alte Frau.

Aber jetzt stand sie nicht an der Bushaltestelle. Ratlos verlangsamte sie ihren Schritt, und als sie auf Höhe der Frau an dem Gartenzaun stand, blieb sie stehen. Die Frau beachtete sie nicht, sie stand gebückt und machte sich an den Blumen zu schaffen – und kehrte ihr gerade ... ihr Hinterteil zu.

Als sie sich innerlich ermutigt hatte, sie zu fragen, räusperte sie sich. Die alte Frau kam hoch und drehte sich zu ihr um.

„Ich ... äh ... ich wollte fragen, na ja ... hier ist doch ein Mädchen vergewaltigt worden...“

Die alte Frau sah sie mit dieser seltsamen Mischung alter Frauen an – ein wenig feindselig, ein wenig mürrisch, ein wenig nichtssagend. Schließlich sagte sie:

„Scher’ dich weiter, Mädchen! Keine Ahnung, was du willst...“

Die Alte beugte sich wieder zu ihren Blumen.

„Aber ich...“, machte sie noch einen Versuch. „Ich möchte doch nur...“

Die Alte machte keine Anstalt, mit irgendetwas darauf hinzuweisen, dass sie noch irgendwie zuhörte. Sie arbeitete einfach weiter.

„Blöde Kuh!“, murmelte sie leise vor sich hin und ging weiter.

In der nächsten Seitenstraße sah sie am Ende ein Kind spielen.

Weil sie sonst niemanden sah, bog sie in die Straße ein. Wo ein Kind war, waren auch Erwachsene.

Als sie das Kind erreicht hatte, sah sie keineswegs eine andere Menschenseele. Das Mädchen, das da auf dem inzwischen nur noch sandigen Fahrweg mit einem Stock Bilder in die Erde malte, mochte vielleicht fünf oder sechs sein. Sie war nicht so gut im Schätzen. Wussten die Leute hier überhaupt, dass vor ein paar Tagen in ihrem Ort ein Mädchen vergewaltigt worden war? Würde man dann ein Kind allein auf der Straße spielen lassen? Nun ja, wenn man Zeitung las, wusste man, dass der Täter gefasst war – aber trotzdem...

Sie lächelte, als sie sich vorstellte, dass das Mädchen vielleicht genauso wie sie darauf bestanden hatte, alles machen zu dürfen, was es wollte. Das war natürlich Unsinn, aber genau so sollten Mädchen sein.

„Na, du?“, fragte sie nun, noch immer belustigt, „wo sind denn deine Eltern?“

Das Kind, das bis jetzt singend vor sich hingemalt hatte, blickte auf, sah sie kurz an und zeigte dann mit seiner freien Hand am Haus vorbei.

„Im Garten.“

„Danke.“

Sie überlegte. Sie konnte jetzt schlecht in den Garten irgendeiner Familie spazieren und nach einem vergewaltigten Mädchen fragen.

Es sei denn ... sie hätte einen besseren Grund als im Moment.

Das kleine Mädchen sah sie wieder an.

„Willst du denn gar nicht hingehen?“

„Doch, doch“, antwortete sie schnell. „Oder ... kannst du vielleicht deine Mama holen? Ich will nur kurz was fragen.“

„Was denn?“

„Was Wichtiges. Das verstehst du noch nicht.“

„Vielleicht ja doch.“

„Ja, aber es ist nichts für dich.“

„Okay, ich hol’ sie.“

Die Kleine lief zum Gartentor, machte es auf und lief um das Haus herum.

Während sie ihr belustigt hinterherblickte, überlegte sie gleichzeitig aufgeregt, wie sie es am besten anstellen konnte. Dann beruhigte sie sich selbst. Die Aufregung musste sie auf alle Fälle schon mal lassen, das ging gar nicht!

Wenig später kam das Mädchen mit einer Frau von Anfang dreißig wieder zurück. Sie war erleichtert, dass es eine recht sympathische, fröhliche Frau zu sein schien. Unwillkürlich fragte sie sich sogar, wie so eine Frau in solch einen Ort kam... Aber diese fragte nun bereits ihrerseits verwundert:

„Ja?“

Sie holte einmal tief Luft und sagte dann:

„Ich ... äh ... wollte sie etwas fragen...“

Unschlüssig blickte sie einmal auf die Kleine. Daran hatte sie nicht so ganz gedacht – dass sie ja ebenfalls hier war und blieb.

„Also, letztes Wochenende, sie wissen schon...“

Mit ihren Augen versuchte sie, herauszufinden, ob die Frau wusste, was doch ganz gewiss jeder hier wissen musste, und dehnte die Pause so lange wie möglich – aber sie konnte in den Augen der Frau nicht lesen, so offen diese auch waren.

„Also das Mädchen... Das ... Sie wissen doch, oder...?“

„Was willst du?“, fragte die Frau nun, spürbar reserviert auf einmal.

„Ich will gar nichts!“, sagte sie hastig. „Ich meine – ich will nur...

Ich will... Ich will dem Mädchen ... nur einmal begegnen.“

„Und warum?“

Die Frau wurde nicht freundlicher, im Gegenteil.

Warum? Das wusste sie ja selbst nicht.

Sie blickte zu Boden. Setzte ihre Unschuldsmiene auf. Motto ,geprügelter Hund’. Der Gedanke war ihr ganz spontan gekommen – und einen besseren Plan hatte sie nicht. Sie schwieg schuldbewusst und tat ratlos, reuevoll.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Frau zugänglicher wurde.

„Wie kommst du auf so eine Idee? Was heißt das: ,ich will dem Mädchen nur einmal begegnen’? Was soll das?“

„Ich weiß nicht...“, sagte sie noch immer mit Unschuldsmiene.

„Ich...“

Plötzlich kam ihr der rettende Einfall. Sie spielte ihre Rolle ohne Übergang weiter.

„Ich ... bin auch einmal... Also ... verstehen Sie?“

Der Blick der Frau verwandelte sich völlig. Von abwehrend zu mitleidig.

„Oh...“, sagte sie nun mit großen Augen. „Das tut mir leid...“

„Ist schon gut...“, sagte sie schnell.

„Nein, wirklich. Wenn ich das gewusst hätte...“

„Ja, danke...“

„Ich weiß auch nicht, wer das Mädchen ist. Ich wollte mich da nicht reinmischen – nicht, dass du denkst, es hat mich nicht interessiert! Aber ... ich denke, so ein Mädchen braucht dann vor allem Ruhe... Also, alles, was ich weiß, ist, dass es am Ende des Ortes sein muss. Die Polizei fuhr bis vorne durch...“

Sie drehte sich um.

„Da vorne ... links?“

„Ja...“

„Und...“

Noch einmal setzte sie ihre Unschuldsmiene auf. Jetzt nicht mehr ,geprügelter Hund’, sondern ,vergewaltigtes Mädchen’.

„...wer kann mir dann weiterhelfen?“

Die Frau mit dem schönen Mitleid in den Augen überlegte noch einmal. Sie tat sich fast selbst leid, so sehr ging sie in ihrer Rolle auf.

„Warte mal kurz, ich geh mal nach hinten. Vielleicht kann ich dir dann weiterhelfen.“

Sie nickte schweigend, während die Frau sich umdrehte und zurück in Richtung Garten ging.

Einen kurzen Moment stieg in ihr die Furcht auf, dass das eine Falle war – dass die Frau doch Verdacht geschöpft hatte und jetzt ihren Mann oder wen auch immer holte und sie dann riesigen Ärger bekam. Aber das passte gar nicht zu dem, was sie bei der Frau gesehen hatte. Und außerdem ... sie wäre nicht Lisa, wenn sie nicht mit welchem Ärger auch immer zurechtkam. Sie kehrte also zurück in ihre Rolle...

Als die Frau zurückkam, blickte sie sie mit treuen Augen an, und die Frau sagte:

„Also ... wir haben Bekannte da hinten. Ich denke, es ist in Ordnung, wenn du dort nochmal fragst. Du kannst sagen, dass du vorher hier gefragt hast. Klingel einfach bei Rehfeld, Hauptstraße dreiundvierzig.“

„Rehfeld, Hauptstraße dreiundvierzig“, murmelte sie brav. „Und Sie? Wie heißen Sie?“

„Wir heißen Winkler.“

„Danke, Frau Winkler“, verabschiedete sie sich höflich – und auch wirklich dankbar.

„Bitte. Alles Gute...“

Sie blickte noch einmal zurück, mit ihrem treuesten Lächeln.

„Danke...“

Während sie die Straße wieder zurückging, hörte sie, wie die Kleine fragte:

„Mama, was wollte das Mädchen?“

„Es wollte nur was wissen...“

Sie ging weiter und dachte, wie interessant es war, dass man sich über zwei Vergewaltigungen unterhalten konnte, ohne das Wort auch nur einmal zu benutzen...

*

Das Ende des Ortes war schnell erreicht. Fast früher, als ihr lieb war, stand sie vor der Nummer dreiundvierzig. Tatsächlich. ,Rehfeld’ stand an der Klingel.

Sie atmete einmal tief durch und klingelte.

Ein Mann öffnete.

„Ja?“

Sie hatte fast vergessen, wieder in ihre Rolle zu schlüpfen.

„Guten Tag, ich ... ich komme gerade von den Winklers.“

Treuherzig drehte sie sich zur Straße und zeigte die Hauptstraße wieder hinab.

„Da hinten...“

„Ja, und?“

„Sie haben mir gesagt, dass ich zu Ihnen kommen könnte. Ich wollte nämlich fragen ... also, wegen dem Mädchen... Dem Mädchen, das am Wochenende...“

Sie sah an den Augen des Mannes, das er wusste, wovon sie sprach.

„Also, das ... es stand ja in der Zeitung... Und ich muss ... mit ihm sprechen, weil ich ... weil ich auch mal ... verstehen Sie?“

Tief verlegen schaute sie ihn an, in ihrer Rolle.

Der Mann war reservierter als die Frau.

„Nein, ich verstehe nur die Hälfte. Wir haben auch mit dem Mädchen gar nichts zu tun.“

„Ich weiß...!“, sagte sie schnell. „Aber Frau Winkler sagte mir, dass Sie wissen, wo das Mädchen wohnt. Bitte... Ich muss sie sprechen... Sie können das dem Mädchen auch sagen. Ich warte dann hier. Oder wo Sie wollen. Ich –“

„Ja, nun mal langsam! Ich sagte ja schon: Wir haben mit dem Mädchen gar nichts zu tun. Wenn du mit ihm sprechen musst, wie du sagst, dann tu das. Das heißt, frag dort. Es ist da hinten: Lambert heißt die Familie.“

„Danke! Vielen Dank! Und das Mädchen? Wie heißt das Mädchen?“

„Das musst du auch schon dort fragen...“

„Ja, gut, mache ich. Vielen Dank nochmal. Danke vielmals...“

Der Mann schloss die Tür ohne einen richtigen Abschied.

Sie atmete tief durch, wurde wieder Lisa und ging zu dem Haus, auf das der Mann gezeigt hatte: auf der anderen Straßenseite, drei Häuser weiter.

Es war ein ganz einfaches, kleines Haus mit grauer Wandfarbe und seitlichem Eingang. Eines dieser Häuser, die innen nicht besonders hell waren, weil die Leute zur Zeit ihrer Erbauung scheinbar noch nicht gewusst hatten, dass man auch mehr Fenster hätte nehmen können.

Da stand sie nun davor, und da stand tatsächlich ,Lambert’. Sie schaute sich verstohlen um. Es konnte sein, dass der Mann jetzt am Fenster stand und zu ihr herüberschaute. Sie musste jetzt etwas machen.

*

Sie klingelte. Sie wusste selbst nicht, was sie wollte. Es kam ihr alles irreal vor, auf einmal. Sie wusste nur, dass sie dem Mädchen hatte begegnen wollen – aber warum? Und was dann? Was tat sie hier eigentlich? Vielleicht konnte sie sich noch halbwegs ohne Schrammen aus der ganzen Situation retten – und trotzdem am Ende getan haben, was sie sich vorgenommen hatte.

Ein Mann kam heraus und schaute zum Gartentor, wo sie stand.

Sie konnte es nicht aufmachen.

„Ja?“

„Guten Tag. Darf ich reinkommen?“

„Was willst du?“

„Ich will ... ich muss Sie etwas fragen...“

„Und was?“

„Kann ich reinkommen?“

„Was willst du fragen?“

„Ich ... es geht um Ihre Tochter, ich –“

„Nein, wir brauchen keine Störung. Lass unsere Tochter einfach in Ruhe!“

Der Mann schloss die Tür wieder.

Sie war perplex. Das hatte sie nicht erwartet.

Nun ja, ausgeschlossen war eine solche Reaktion nicht gewesen, aber sie fühlte sich persönlich gekränkt, und ihr streitbarer Geist erwachte. Sie war nicht diese ganze Strecke gefahren, um sich so abfertigen zu lassen und das Mädchen nicht einmal zu sehen!

Sie entschied sich für die Strategie ,Wiederholung der bisher erfolgreichsten Methode’. Eigentlich war es nicht einmal eine Entscheidung – eine andere Methode hatte sie gar nicht.

Sie klingelte noch einmal.

Der Mann kam noch einmal heraus.

„Was ist noch?“, fragte er scharf.

Blitzschnell erinnerte sie sich an den Namen.

„Herr Lambert...“, sagte sie hastig. „Bitte warten Sie! Ich...“

Nun musste sie es eben vom Gartentor aus machen.

„Ich muss mit Ihrer Tochter sprechen – und sei es nur ganz kurz.

Ich ... weil ich nämlich auch...“

Sie machte eine Pause, schamdurchdrungen, vor einem Mann konnte man das kaum sagen...

„...ich bin auch mal...“

Sie sah sich um. Sie war ganz in ihrer Rolle.

„Hier auf der Straße kann ich das nicht sagen...“

„Unsere Tochter braucht Ruhe!“, erwiderte der Mann.

Sie hörte und sah sofort, dass er nicht mehr so entschieden war, es war eigentlich eher ein schwacher Versuch, die ursprüngliche Abwehr noch einmal irgendwie zu wiederholen.

Jetzt wurde der Mann von irgendetwas in dem Haus abgelenkt, vielleicht sprach nun seine Frau mit ihm. Er verschwand kurz hinter dem Windschutz, anscheinend gab es gerade ein Zwiegespräch.

Dann tauchte, noch ehe der Mann irgendetwas sagen konnte, ein zweiter Kopf hinter dem Windschutz auf.

Das Mädchen ... es war das Mädchen!

Nun sah es seinen Vater an und sagte etwas zu ihm. Der Vater erwiderte etwas, aber das Mädchen erwiderte auch wieder etwas, und daraufhin sah man den Vater gleichsam unfreiwillig nachgeben. Er verschwand hinter dem Windschutz, und gleich darauf ertönte ein summendes Geräusch. Geistesgegenwärtig öffnete sie das Tor.

Der Vater war wieder hinter das Mädchen getreten, und zögernd näherte sie sich nun den beiden und der kleinen Treppe, auf der sie standen. Der Anblick des Mädchens ließ sie nicht los. Es hatte ein unglaublich schönes Gesicht und lange, glatte braune, etwas ins Rötliche spielende Haare.

Das Mädchen sah sie an, mit einem Blick, der fast Angst machen konnte. Wie wenn sie sie kannte – und zugleich ein völliges Wunder erblickte.

Irritiert blieb sie am Fuß der Treppe stehen, irritiert, ratlos und verwirrt.

„Du bist auch ... vergewaltigt worden?“

Die Stimme des Mädchens war unbeschreiblich. Wie ihr Gesicht...

„Ja, ich, also...“, sie konnte dieses Gesicht kaum belügen, „ich meine – ja.“

Sie konnte ihre Methode nicht wechseln. Nicht, solange der Mann daneben stand.

„Deswegen wollte ich mit dir sprechen... Ich musste es einfach...“

„Gut, komm rein...“, sagte das Mädchen.

Dann sah sie ihren Vater an.

„Sie darf doch, Papa?“

Der Mann sagte nach einem kurzen Zögern:

„Wenn du das möchtest...“

Es gab dann noch einen etwas längeren Blick zwischen Vater und Tochter, den sie absolut nicht verstand. Was wurde da noch ohne Worte ,besprochen’? Noch irritierter als vorher ging sie in den dunklen Flur voraus und wartete etwas nervös, dass das Mädchen vorgehen würde – wohin auch immer.

„Ich heiße Marie ... und du?“

Es war unfassbar. Jetzt stellte sich das Mädchen erst einmal hier in der Dunkelheit vor! Mit einer Selbstverständlichkeit, die ihr fast wieder Angst über den Rücken jagte.

„Ich? Äh – Lisa...“

„Gut, Lisa. Wir können auf mein Zimmer gehen.“

„Ja ... gerne...“

„Aber zuerst musst du noch Mama guten Tag sagen.“

„Was? Ja...“

Hatte sie mit fünfzehn so geredet? Ganz bestimmt hätte sie nicht so etwas gesagt.

Im Wohnzimmer – das wie vermutet auch nicht besonders hell war – erhob sich eine Frau aus einem Sofa, die ziemlich unsicher wirkte. Der Mann übernahm das Wort und sagte:

„Tamara, das ist ein Mädchen, das Marie sprechen wollte. Marie sagte, es ist in Ordnung...“

Sie reichte der Frau die Hand.

„Guten Tag“, sagte sie, nun tatsächlich etwas verlegen. „Es tut mir leid, dass ich störe. Ich habe ... ich habe es ... Ihrem Mann schon erklärt...“

Sie überließ es dem Mann, die ,Begründung’ auch an seine Frau weiterzugeben.

„Ja...“, sagte die Frau, und sie wirkte dabei irgendwie nur halb anwesend. Wahrscheinlich war sie noch erleichterter als sie selbst, dass mehr als eine kurze Begrüßung nicht nötig war.

„Ist alles in Ordnung, Mama?“, fragte nun das Mädchen.

Was für eine verkehrte Welt spielte sich hier ab? Das Mädchen fragte seine Mutter? Wer war hier eigentlich vergewaltigt worden?

Die Mutter nickte nur – und man sah, dass nichts in Ordnung war.

In dem Blick lag so viel Unausgesprochenes, so viel Sorgenvolles – und in dem Blick des Mädchens gar nicht, nur Sorge um die Mutter... Ihr war ein bisschen unheimlich...

Das Mädchen sah nun seinen Vater an und fragte:

„Ich geh’ dann mit ihr in mein Zimmer, ja?“

„Ja“, sagte der Mann. „Und wenn du wieder allein sein willst, sag Bescheid...“

„Ja, das mach ich schon...“

Was heißt Bescheid? Dachten sie, sie müsste mit Gewalt wieder abtransportiert werden? Oder war das Mädchen nicht in der Lage, sich allein von ihr zu verabschieden, wenn sie das wollte? Wie sprach man hier miteinander? Es wurde ihr immer seltsamer zumute.

Das Mädchen ging eine schmale, auch recht steile Treppe hinauf in das obere Geschoss. Oben angekommen, ging sie einmal ganz zur anderen Seite des hier verlaufenden kleinen Flures und bat sie dann in das dort liegende Zimmer.

Es war auch nicht besonders hell, weil es nur ein kleines Fenster hatte, das wahrscheinlich auch noch nach Norden ging. Sonne schien hier jedenfalls nicht herein – und jetzt war es mitten am Tag.

Das Mädchen setzte sich auf das Bett.

„Willst du dich auch hierhersetzen? Oder willst du lieber auf meinem Stuhl sitzen?“

Sie sah, dass das Mädchen den Stuhl vor ihrem Schreibtisch meinte. Sie konnte nicht verstehen, wie vertraut das Mädchen mit ihr umging. Sie kannte sie überhaupt nicht – und außerdem war sie drei Jahre jünger. Das alles schien ihr kaum etwas auszumachen.

Und doch sah sie sie immer wieder wie eine seltsame Erscheinung an. Sie wurde aus diesem Mädchen nicht schlau...

„Ich sitz auf dem Stuhl, wenn ich darf, danke...“

Als sie sich gesetzt hatte, sahen sie sich einen Augenblick lang nur in die Augen. Das Mädchen hatte wunderschöne braune Augen und auch Augenbrauen – und dann wurde dieses Gesicht von diesen wunderschönen Haaren umgeben... Sie war wieder völlig verwirrt.

„Und du ... bist auch vergewaltigt worden?“, wiederholte das Mädchen, das Marie hieß, nun seine Frage.

Sie fragte mit Mitleid.

„Ja...“, sagte sie etwas gedehnt.