Entscheidung an der Weichsel - Wolfgang Schreyer - E-Book

Entscheidung an der Weichsel E-Book

Wolfgang Schreyer

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Beschreibung

Die Vorbemerkung des Autors Wolfgang Schreyer zu diesem erstmals bereits 1960 im damaligen Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR Berlin veröffentlichten Reports ist sehr aufschlussreich: „Die Leser des Romans „Unternehmen Thunderstorm“ mögen sich fragen, weshalb der Verfasser dieses Buches heute jene Vorgänge wiederum aufgreift und sie in der vorliegenden Form darstellt. Ihm ging es darum, verlogenen Schilderungen, wie sie besonders vom westdeutschen Rundfunk und in Westillustrierten beharrlich verbreitet werden, erneut entgegenzutreten: Diesmal unter Verzicht auf jede erfundene Einzelheit oder romanhafte Episode, an Hand unwiderlegbarer Dokumente. Auch ist in den sechs Jahren, die seit der Niederschrift des Buches verstrichen sind, von polnischer Seite viel neues Tatsachenmaterial veröffentlicht worden, mit dem er, um das früher gegebene Bild zu ergänzen, seine Leser bekannt machen möchte.“ Schreyer hat intensiv recherchiert und lässt den Leser an seinen Erkundungen teilhaben. Dieses Buch schildert den Warschauer Aufstand, wie er war, es verschweigt nichts. Der Autor enthüllt die Methoden internationaler Spionagedienste, beschreibt das von den Engländern geplante militärische Großunternehmen im Detail, die Rolle der Generale, Konzerndirektoren und Diplomaten, die Gräueltaten der SS, Verhandlungen in Moskau ebenso wie Operationen der Roten Armee. Und der Leser ist immer gut informiert – auch was zum Beispiel das widersprüchliche Verhältnis zur damaligen Sowjetunion betrifft: „Das Verhältnis der Londoner Emigrantenregierung zur Sowjetunion schwankte mehrfach, blieb aber im Wesen stets ablehnend. Anfangs erklärte sie sich als mit der UdSSR im Kriegszustand befindlich, weil diese die westukrainischen und belorussischen Gebiete wieder besetzt hatte, die ihr 1921 von Pilsudski entrissen worden waren. Zu dieser Zeit verbreiteten die Londoner ihre „Theorie der zwei Feinde“, wonach Deutschland und die UdSSR gleichermaßen als Gegner betrachtet werden sollten. Als Hitlerdeutschland im Juni 1941 auch die Sowjetunion überfiel, korrigierte Premierminister Sikorski diese Linie und entsandte einen Botschafter nach Moskau. Dort kam man am 14. August überein, in der UdSSR aus entlassenen polnischen Internierten eine Streitmacht zu bilden, die an der Seite der Roten Armee bei der Befreiung Polens mitwirken sollte. Diese Truppe wurde, acht Divisionen stark, auf Wunsch ihres Befehlshabers, General Anders, weit hinter der Wolga aufgestellt.“

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Impressum

Wolfgang Schreyer

Entscheidung an der Weichsel

Dokumentarbericht über Vorgeschichte und Verlauf des Warschauer Aufstandes

ISBN 978-3-86394-359-2 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1960 im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorbemerkung

Die Leser des Romans „Unternehmen Thunderstorm" mögen sich fragen, weshalb der Verfasser dieses Buches heute jene Vorgänge wiederum aufgreift und sie in der vorliegenden Form darstellt. Ihm ging es darum, verlogenen Schilderungen, wie sie besonders vom westdeutschen Rundfunk und in Westillustrierten beharrlich verbreitet werden, erneut entgegenzutreten: Diesmal unter Verzicht auf jede erfundene Einzelheit oder romanhafte Episode, an Hand unwiderlegbarer Dokumente. Auch ist in den sechs Jahren, die seit der Niederschrift des Buches verstrichen sind, von polnischer Seite viel neues Tatsachenmaterial veröffentlicht worden, mit dem er, um das früher gegebene Bild zu ergänzen, seine Leser bekannt machen möchte.

W. S. 1960

Eine Stadt widersteht

Im Morgengrauen des 1. September 1939 drang die Wehrmacht in Polen ein. Der zangenförmige Grenzverlauf ermöglichte ihr einen Umfassungsangriff, wie zuvor im Falle der Tschechoslowakei. Deutsche Soldaten, zu Revanche und Völkerhass erzogen und durch monatelange Hetzpropaganda aufgeputscht, zerbrachen triumphierend Zollschranken, stürzten Grenzpfähle um und überfluteten nun auch dieses Nachbarland.

Auf die Untätigkeit der Westmächte bauend, setzten Hitlers Generale die Masse ihrer aktiven Verbände und alle motorisierten Truppen im Osten ein. So hatte die nagelneue Kriegsmaschine des deutschen Imperialismus leichtes Spiel: 58 faschistische Divisionen warfen sich auf 32 polnische, 2000 moderne Flugzeuge zerfetzten 900 veraltete, Panzer mähten Kavallerie nieder. Von England und Frankreich völlig im Stich gelassen, ging Polens Armee nach tapferer Gegenwehr unter. Die Goebbelspropaganda höhnte: „Mit Mann und Ross und Wogen, hat sie der Herr geschlagen."

Hitlers Blitzsieg schien vollkommen. Denn rascher noch als die Armee zerfiel der polnische Staat. Schon am 6. September floh die reaktionäre Regierung, an ihrer Spitze Marschall Rydz-Smigly, aus der Hauptstadt. Fünf Jahre hindurch hatte sie mit Nazideutschland Freundschaft gepflegt, im März 1939 noch an der Zerstückelung der Tschechoslowakei teilgenommen - nun entwich sie mitsamt dem Goldschatz über die rumänische Grenze.

Am 8. September erreichte die Vorhut der 10. Armee, das Panzerkorps Hoepner, den Südwestrand Warschaus. Sie griff aus dem Marsch heraus an. Ihr Versuch aber, quer durch die Arbeitervorstadt Ochota ins Zentrum zu stoßen, scheiterte am Widerstand von Garnison und Bevölkerung. Die Warschauer rissen das Pflaster auf, stürzten Straßenbahnwagen um, schossen aus Kellern und Dachluken. Dutzende Panzer blieben auf der Strecke, der Rest machte kehrt.

Die Wehrmacht biss auf Granit. Drei Wochen lang hielten die Verteidiger aus, eingekreist und ohne Hoffnung. Ihr Heldenkampf reizte die Nazigenerale zum ersten brutalen Zerstörungswerk des Zweiten Weltkriegs. Sie ließen Warschau erbarmungslos bombardieren -  wie bald darauf Rotterdam, London und Belgrad. Die brennende Stadt behauptete sich bis zum 28. September; dann erlag sie der Übermacht. Und über die Ujazdowska-Allee, über den trümmerbedeckten Pilsudskiplatz, auf dem inmitten seiner Generale Hitler stand, knallten faschistische Paradestiefel.

„Das Schicksal hat entschieden ..."

„Polen ist als Kriegsschauplatz ein guter Bekannter unserer alten Heere", schreibt um diese Zeit der Wiener Generalmajor Kerchnawe, und er macht den geraubten Bissen als künftige Militärprovinz genussvoll schmackhaft: „An Unterkünften ist kein Mangel. Verpflegung, auch für große Heere, ist in Polen ausreichend aufzubringen. Die klimatischen und sanitären Verhältnisse sind bei guter Witterung günstig. Das vielfach gehörte Urteil, Polen bestehe nur aus Wald und Sumpf, ist vollkommen unrichtig ..."

Als sie diese Sätze drucken, haben die Eroberer längst gehandelt. Auf der Krakauer Burg, auf dem Warschauer Brühlpalais weht die Hakenkreuzfahne, und auch vom letzten Marktflecken haben sie Besitz ergriffen. Noch während des Vormarsches hat der Oberbefehlshaber des Heeres als Inhaber der vollziehenden Gewalt das polnische Verwaltungspersonal verhaftet oder verjagt und es durch Nazis ersetzt: Je ein Landrat mit zwei Hilfsbeamten und sechs Gendarmen rückt hinter der angreifenden Truppe in die oft noch brennenden Kreisstädte. Es folgt die Gestapo. Man schafft „Ordnung".

Binnen weniger Wochen macht der Faschismus aus Polen ein Zuchthaus und aus Warschau eine „deutsche Stadt". 3000 „Volksdeutsche" hat es beim Einmarsch dort gegeben, nun schwillt die Zahl an. Eine vieltausendköpfige Bürokratie, Parteidienststellen, Besatzerfamilien und das Personal deutscher Firmen machen sich breit. An Kinos, Droschken, Restaurants und Straßenbahnen erscheint das Schild NUR FÜR DEUTSCHE. Geschäfte firmieren zweisprachig, die 98 Hauptstraßen erhalten deutsche Namen.

Im Spätherbst 1939 treffen sich Warschaus neue Herren im Hotelrestaurant „Europa" am Adolf-Hitler-Platz, sie sitzen - meist gestiefelt und graugrün, braun oder schwarz uniformiert - in Weinstube, Bar oder Tearoom des Café-Club-Cabarett oder speisen in der „Silbernen Rose" („geführt von deutschem Besitzer"). Sie bewohnen Barockpaläste. Die besten Kinos und sämtliche Theater sind für sie. Sie planen Schlosskonzerte, Ballettabende, Weichselregatten. Im Fußballstadion spielt Schalke 04 gegen die „Deutsche Sportgemeinschaft Palais Brühl". Man beschlagnahmt Schwimmbäder und Tennisplätze, reitet, saust im Auto durch die Stadt und kauft die Läden leer. Gefragt sind Pelzwerk, Schmuck und Schuhe. Man zahlt mit Besatzungsgeld; ist der Geschäftsinhaber Jude, wird beschlagnahmt oder erpresst.

Zum Statthalter beruft Hitler seinen „bewährten Mitkämpfer, Reichsminister Dr. Frank", und ermächtigt ihn mit Erlass vom 12. Oktober 1939 „innerhalb seines Machtbereichs Recht zu setzen". Von nun an ist das Wort dieses später in Nürnberg gehenkten Faschistenhäuptlings für ein ganzes Volk Gesetz.

„Kein Pole soll über den Rang eines Werkmeisters hinauskommen", schärft er schon Anfang 1940 seinen Beamten ein. „Das Schicksal hat entschieden, dass wir hier die Herren sind, die Polen aber die uns anvertrauten Schutzunterworfenen sind ... Bei dem geringsten Versuch des Polentums, etwas zu unternehmen, würde es zu einem ungeheuren Vernichtungsleidzug kommen; dann würde ich vor keinem Schreckensregiment zurückscheuen!"

Frank scheut auch ohne besonderen Anlass davor nicht zurück. Bald häufen sich die Hinrichtungen derart, dass er einem Nazijournalisten, der ihn im Auftrage des „Völkischen Beobachters" interviewt, bei einem Glase Wein verrät: „Wenn ich für je sieben erschossene Polen ein Plakat aufhängen lassen wollte, dann würden die Wälder Polens nicht ausreichen, das Papier herzustellen für solche Plakate."

Die grausamste Terrorwelle schwemmt im Juni/Juli 1941 über das gequälte Land, als die Wehrmacht über den Bug setzt und in jene Gebiete einfällt, die die Sowjetunion bis dahin vor dem faschistischen Zugriff hat bewahren können. Unter dem Rauchschleier des neuen Großangriffs will man ungesehen morden und das Verbrechen der Roten Armee zur Last legen. Hauptziel ist jetzt die Ausrottung der polnischen Intelligenz.

In Weißrussland, Galizien, der Karpatoukraine, am Ufer des Dnestr sinken Zehntausende in hastig ausgehobene Massengräber. Horden ukrainischer Krimineller -  nationalistisch verhetzt, von deutschen Kontrolloffizieren angeleitet - leisten der SS Henkersdienste. Mit Handgranaten, Spaten und Pistole machen sie wehrlose Menschen nieder. Politischer Chef und Adjutant des Vernichtungsbataillons „Nachtigall", das sich besonders hervortut, ist Dr. Oberländer, ein Geheimdienstoffizier, Naziprofessor und langjähriger Ostexperte des deutschen Imperialismus. Unter seiner Aufsicht bringt man im eben eroberten Lemberg namhafte Wissenschaftler und Schriftsteller mitsamt ihren Familien um, werden 11 000 Zivilpersonen allein bei Kamensk-Podolsk erschossen und verscharrt.

Fünfzehn Jahre später aber wird Oberländer dem Kabinett Adenauer als Westdeutschlands „Vertriebenen"-Minister angehören. Als im Oktober 1959 unwiderlegbare Dokumente die Schwere seiner Mitschuld offenbaren und sich ein Proteststurm gegen ihn erhebt, bricht der ukrainische Hauptbelastungszeuge, „Nachtigall"-Kommandeur Bandera, unter geheimnisvollen Umständen in München vor einem Fahrstuhlschacht tot zusammen. Oberländer bleibt zunächst im Amt, bis er im April 1960 unter dem Druck der Weltöffentlichkeit den Ministersessel räumt -  nachdem seine Pensionsansprüche gesichert sind. Mit seinem Sitz im Bundestag behält er jedoch Einfluss auf die Politik Westdeutschlands.

Wie der Profit es befahl

Damals wie heute brauchten Deutschlands Imperialisten Männer, die zugunsten ihrer Geschäftsinteressen nicht nur imstande waren, unseren Nachbarn finsterste Gewalt anzutun, sondern auch fähig, geplantes und schon begangenes Unrecht akademisch zu begründen. Henkersknecht Dr. Oberländer rechtfertigte ihre Expansionspolitik nachträglich, als er im April 1940 in Heft 45 einer „landwirtschaftswissenschaftlichen" Nazizeitschrift schrieb: „Rom und Griechenland sind an der Vergiftung der rassischen Struktur zugrunde gegangen. England und Frankreich gehen einen ähnlichen Weg. Die Eindeutschung der Ostgebiete muss in jedem Falle eine restlose sein. Solche Maßnahmen vollständiger Aus- und Umsiedlung mögen für die Betroffenen hart erscheinen ..., aber eine einmalige Härte ist besser als ein durch Generationen währender Kleinkampf. Reinhaltung der Rasse und eigenvölkische dichte agrarische Unterschicht sind nur möglich, wenn das fremde Volkstum voll und ganz das Land verlässt."

Inzwischen hatten die Nazis Westpolen kurzerhand dem Reich einverleibt. Oberländers Thesen und das Schlagwort vom „Lebensraum" sollten schrankenlose Annexionen bemänteln. Bis auf wenige Kilometer schob man die deutsche Grenze an Warschau heran. Die Bewohner der geraubten Provinzen wurden in ein südpolnisches Restgebiet gewiesen, das sogenannte Generalgouvernement. Es war als Slawenreservat gedacht. Die Polen sollten dort arbeiten oder sterben.

Fünf Jahre lang regierten hier Armut und Furcht. Kein Pole durfte eine Mittelschule besuchen, geschweige denn studieren. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte niemand die Wohnung zu verlassen. Es wurde ohne Warnung geschossen. Auch tagsüber jagte man Menschen. Polizei und SS griffen wahllos Passanten auf und schleppten sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Hunderttausende Warschauer gingen, durch ein „P" als „minderrassig" gekennzeichnet, diesen bitteren Weg. In der Stadt selbst schufteten 35 000 Metallarbeiter für die deutsche Rüstung. Ihr Lohn: wertlose Zlotys.

„Wir denken hier imperial im größten Stil aller Zeiten", verkündete Generalgouverneur Frank im alten Königssaal der Krakauer Burg. „Dem Imperialismus, wie wir ihn entwickeln, ist kein Vergleich vergönnt mit jenen kläglichen Versuchen früher in Afrika ... Wir haben hier ein gigantisches Arbeitslager, wo alles, was Macht und Selbstständigkeit bedeutet, in den Händen der Deutschen ist." Die anwesenden Distriktchefs, Regierungsdirektoren, Wehrmachtsoffiziere, Arbeitsdienst-, HJ- und SS-Führer, Ministerialräte, Amtsleiter, Bankdirigenten und Vertreter der deutschen Großindustrie spendeten Beifall.

Franks unglaubliches Tagebuch schildert, wie von Jahr zu Jahr höhere Ernteaufkommen aus dem Generalgouvernement herausgepresst wurden. Das 142 000 Quadratkilometer große Land hätte seine 17 Millionen Einwohner ernähren können: Doch die Lebensmittel rollten nach Deutschland. Drei Scheiben Brot am Tag blieben für die Polen übrig. Wem das nicht reichte, der konnte auf dem schwarzen Markt ein Pfund Fleisch für 40, ein Brot für 18 oder ein Pfund Speck für 80 Zloty kaufen - bei einem Monatslohn von 90 bis 230 Zloty.

Während das Volk verelendete, griffen Deutschlands Wirtschaftsführer nach der polnischen Industrie. Vor Kriegsausbruch hatten 43 Prozent des Gesamtkapitals aller polnischen Aktiengesellschaften ausländischen Firmen gehört, meist französischen. Kraft Mehrheitsbeteiligung kontrollierten westeuropäische Banken Polens Steinkohle, sein Erdöl, seine Stromerzeugung, Bahnen und Zinkgruben. Nach dem Einmarsch änderte sich das Bild. Deutsche Konzernbeauftragte, genannt Treuhänder, besetzten die Betriebe.

Ende 1939 schon fielen Milliardenwerte den deutschen Unternehmern als erste Kriegsfrucht in den Schoß. Durch Scheinkäufe brachten sie nach und nach fast alle Aktien an sich. Das Großkapital war der eigentliche Nutznießer des Polenfeldzugs. 10 000 deutsche Soldaten kamen bei diesem Raubzug um; die Industrie stieß sich gesund.

Am Beispiel des IG-Farben-Konzerns wird deutlich, welch entscheidende Rolle Deutschlands Großindustrie bei der Ausbeutung des unterjochten Landes spielte. Keineswegs begnügte sich die IG-Farben damit, drei der größten chemischen Fabriken Polens (Boruta, Wola und Pobjanice) für einen Spottpreis zu erwerben und an dem Lohngefälle zu verdienen. Vielmehr setzte sie die Errichtung betriebseigener KZ-Lager durch und ließ sich von enormen Häftlingsarmeen neue Anlagen, besonders zur Produktion synthetischen Kautschuks, bauen.

Als einer der Standorte zur Bunaerzeugung wurde das südpolnische Monowitz gewählt, weil Kohle, Kalk und Weichselwasser nahe waren und des benachbarte KZ Auschwitz den Arbeitskräftebedarf billigst deckte: 4 Mark zahlte der Konzern dem Reich für jeden gelernten, 3 Mark für den ungelernten Häftling pro Tag, was einem Stundenlohn von 30 Pfennigen entsprach. Keine Staatsstelle zwang die IG-Direktion dazu, sich dieser Arbeitssklaven zu bedienen. Sie handelte ganz aus eigner Initiative, im Interesse weiterer Profiterhöhung.

Etwa 400 000 Häftlinge gingen durch das IG-Lager Monowitz, einen Ableger des sieben Kilometer entfernten Todeslagers Auschwitz. Nur ein winziger Bruchteil hat die grausamen Antreibermethoden, die barbarischen Unterbringungs- und Ernährungsbedingungen überlebt. Allein beim Bau eines der hundert Meter hohen Bunaschornsteine kamen 3000 Menschen um.

Die Werkleitung weigerte sich grundsätzlich, schwache Häftlinge zu beschäftigen. Die Erschöpften wurden nach Birkenau oder Auschwitz in die Gaskammern geschafft; ebenso jene, die von IG-Aufsehern beim Rauchen ertappt wurden. Das Verwaltungsgebäude lag im Schatten der Verbrennungsschlote, und manchmal klagten die IG-Direktoren über den üblen Geruch. Dennoch scheuten sie sich nicht, für eine Gruppe polnischer Frauen, deren Haftentlassung bevorstand, verlängerte Strafzeit zu fordern, damit sie der Firma als Ausbeutungsobjekt erhalten blieben.

Für Schlafmittelexperimente kaufte der Konzern von der SS weibliche Häftlinge für 200,-  RM auf, nicht ohne zu versuchen, den Kopfpreis noch herunterzuhandeln. Auch mit Giftgasen wurde experimentiert. Befragt, ob er Versuche an Menschen für gerechtfertigt gehalten habe, erklärte Dr. Fritz ter Meer, ein Hauptdirektor und Aufsichtsratsmitglied der IG-Farben, später vor dem Internationalen Militärtribunal: „Diesen KZ-Häftlingen ist dadurch kein besonderes Leid zugefügt worden, man hätte sie ja ohnehin getötet."

Das herzliche Verhältnis der IG-Direktion zu den Auschwitzmördern bezeugen folgende Briefzeilen, die Bunaproduktionsleiter Dr. Otto Ambros am 12. April 1941 an seine Konzernvorgesetzten richtete: „... außerdem wirkt sich unsere neue Freundschaft zur SS sehr segensreich aus. Anlässlich eines Abendessens, das uns die Leitung des Konzentrationslagers gab, haben wir weiterhin alle Maßnahmen festgelegt, welche die Einschaltung des wirklich hervorragenden Betriebs des KZ-Lagers zugunsten der Bunawerke betreffen."

Briefschreiber Ambros, Dr. Dürrfeld (Direktor des Auschwitzer Zweigwerks) und Dr. Bütefisch (Leunawerkleiter und Verantwortlicher für die polnischen Brennstofffabriken) wurden 1948 zusammen mit elf anderen IG-Farben-Verbrechern vom Nürnberger Tribunal zu insgesamt 56 Jahren Gefängnis verurteilt. Fast alle jedoch nahmen wenig später im westdeutschen Wirtschaftsleben wieder maßgebende Stellungen ein und waren damit beschäftigt, den aufgeteilten Riesenkonzern zusammenzuflicken.

Dürrfeld, der Hunderttausende von Arbeitssklaven buchstäblich zu Tode hetzen ließ, war 1956 Vorstandsmitglied der Scholven-Chemie-AG in Gelsenkirchen. Ambros ist heute dreifaches Aufsichtsratmitglied: bei der Bergwerksgesellschaft Hibernia AG in Herne, den Süddeutschen Kalkstickstoffwerken und der Grünzweig & Hartmann AG in Ludwigshafen. Bütefisch gehört den Aufsichtsräten der Deutschen Gasolin-AG, Westberlin und der Feldmühle Papier und Zellstoffwerke AG in Düsseldorf an; er leitet ferner das Technische Expertenkomitee der internationalen Konvention der Stickstoffindustrie.

Ausbeuten oder umbringen?

Seit dem Nürnberger Prozess weiß die Welt, dass Hitler und Himmler vorhatten, die »slawische Rasse" um 30 Millionen Köpfe zu dezimieren. Aber zunächst wurde die Judenausrottung ins Auge gefasst. Ab November 1939 kennzeichnet man die im Generalgouvernement ansässigen Juden mit dem Davidstern und treibt sie in Gettos zusammen. Dreieinhalb Millionen Menschen müssen ihre Wohnungen und Heimatdörfer verlassen. In Regen und Schnee wandern graue Elendszüge über Polens Landstraßen in besondere Stadtviertel, die von der Außenwelt abgeriegelt werden.

Fünfundfünfzig solcher Gettos entstehen in Polen: Sammelbecken, in denen die Mörder ihre Opfer griffbereit holten. Das größte liegt im Zentrum Warschaus. Fast eine halbe Million Menschen sind dort hinter einer neun Kilometer langen Mauer zusammengepfercht. Zu sechst hausen sie in einem Zimmer, und sie leben offiziell von dreißig Gramm Brot am Tag, hundert Gramm Marmelade und fünfzig Gramm Fett im Monat. Kinder schmuggeln Kartoffeln und Mohrrüben - unter Lebensgefahr. Die Wachmannschaft schießt auf jeden, der unbefugt das Getto verlässt.