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Elf Monate liegen zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Die Politik steht vor einem gewaltigen Berg an Arbeit und unter einem enormen Druck, dem Ruf nach Freiheit nachzukommen. Die Justiz- und Strafsysteme von BRD und DDR müssen für die Wiedervereinigung aneinander angepasst werden. In kürzester Zeit entscheiden die Verantwortlichen: Wer ist zu Unrecht verurteilt worden? Welche Urteile müssen neu bewertet werden, und wer kommt frei? Wo ist Gnade angebracht? Wenn die Justiz sich irrt, kann sie Leben zerstören und das Vertrauen in sie erschüttern. Ob falsche Aussagen, fehlerhafte Gutachten oder einseitige Ermittlungen: Gründe für Fehlurteile sind vielseitig. Selbst nach dem Freispruch sorgen hohe bürokratische Hürden und niedrige Abfindungen dafür, dass Justizopfer nur schwer wieder zurück ins Leben finden.
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Seitenzahl: 89
Walter Brendel
Fehlurteile
Impressum
Texte: © Copyright by Walter Brendel
Umschlag: © Copyright by Gunter Pirntke
Verlag:
Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag
Gunter Pirntke
Mühlsdorfer Weg 25
01257 Dresden
Inhalt
1. Falsche Gnade
2. Die Freiheit der Mörder durch Gnadenerlasse
3. Unschuldig verurteilt
Der Todesfall des Rudolf Rupp
Der Fall des Lehrers Horst Arnold
Der Fall Harry Wörz
Der Fall Peggy Knobloch
Der Fall Gustl Mollath oder die Rolle der Beate Merk
Der Fall Günther Kaufmann
Der Fall Monika de Montgazon
Quellen
Elf Monate liegen zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Die Politik steht vor einem gewaltigen Berg an Arbeit und unter einem enormen Druck, dem Ruf nach Freiheit nachzukommen. Die Justiz- und Strafsysteme von BRD und DDR müssen für die Wiedervereinigung aneinander angepasst werden. In kürzester Zeit entscheiden die Verantwortlichen: Wer ist zu Unrecht verurteilt worden? Welche Urteile müssen neu bewertet werden, und wer kommt frei?
Mit der friedlichen Revolution im Oktober 1989 kommen in einer ersten Amnestie Tausende politische Gefangene aus den DDR-Gefängnissen frei. Doch es folgen auch Gewalttäter, die von den Straferlassen profitieren. Mithilfe von individuellen Begnadigungen, weiteren Amnestien oder neu bewerteten Urteilen können auch diese Täter ihr Leben im wiedervereinigten Deutschland in Freiheit beginnen. Ein fataler Fehler, denn manche werden rückfällig.
Herbert M. ist einer dieser Täter, die freikommen und dann rückfällig werden. Nachdem er bereits in der DDR zwei Menschen getötet hat, tötet er in der Silvesternacht 1991/1992 wieder. Diesmal fallen ihm zwei junge Schwestern zum Opfer, auf die er eigentlich aufpassen sollte.
Gründe für Rückfälle der Täter nach der Wiedervereinigung sind zum einen in der stark abnormen Persönlichkeit zu sehen, die nicht therapiert wurde. Auf der anderen Seite geraten gerade diese Menschen in gesellschaftliche Verhältnisse, die sie nicht kennen und im Grunde genommen auch ablehnen, und das kann nicht gut gehen.
Hat als die Justiz zur Wendezeit versagt? Steht die Justiz, steht der Rechtsstaat in Deutschland kurz vor dem Zusammenbruch? Fällen Richter am laufenden Band Fehlurteile?
Dabei steht die Richterschaft im Mittelpunkt, der man zu wenig Selbstbewusstsein einerseits und Arroganz andererseits attestiert. Mangelhafte Ausbildung, schlechte Ausstattung, ein intransparentes Beförderungswesen, schlechte Bezahlung und gefährliche Überlastung.
Der Rechtsstaat sei in derart schlechtem Zustand und stehe vor dem Abgrund, was ihm „sehr große Sorgen“ bereite, sagte ein Jurist der Deutschen Presse-Agentur. Das Misstrauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung wachse.
Diese habe längst Probleme, geeigneten Nachwuchs zu finden, alles, was im Berufsleben benötigt wird, vermittelt das Studium nicht. Die Aus- und Weiterbildung sei mit „erbärmlich“ sehr wohlwollend beschrieben.
Im Strafrecht sei das größte Manko, dass die Richter in Aussagepsychologie kaum geschult seien: Ein Richter ist bei der Beurteilung einer Zeugenaussage kaum kompetenter als ein Laie. Die Gefahr sei groß, dass er während seines gesamten Berufslebens die Glaubhaftigkeit einer Aussage nicht richtig beurteilen kann. Hierdurch sind Fehlurteile vorbestimmt.
Dennoch seien die Richter von ihren eigenen Fähigkeiten überzeugter als Angehörige anderer Berufe - eine gefährliche Kombination aus „Ignoranz und Arroganz“. Je erfahrener der Richter, desto größer seine Selbstüberschätzung.
Auch um die Unabhängigkeit der Justiz sei es schlechter bestellt als in vielen anderen europäischen Ländern: Die Spitzenposten würden hierzulande in vielen Bundesländern von der jeweiligen Landesregierung bestimmt. Angepasste Ja-Sager aus der Justizverwaltung machten regelmäßig das Rennen. Damit sei die Justiz als dritte Staatsgewalt erschreckend schlecht gegen Missbrauch gefeit.
Unzureichende Bezahlung, Nachwuchssorgen, hohe Belastung, immer längere Verfahrensdauer und Personallücken. Die Landgerichte müssten in fast jedem dritten Wirtschaftsstrafverfahren einen Strafrabatt geben, weil das Verfahren zu lange gedauert hat.
Nach Ansicht eines Juristen sprechen die Richter sogar reihenweise Skandalurteile. Aus Unsicherheit, aber auch, um vom Bundesgerichtshof keine Rechtsfehler attestiert zu bekommen, verhängten sie möglichst milde Strafen. Das Risiko, dass eine überlastete Staatsanwaltschaft Revision einlegt, sei nämlich viel geringer als bei einem unzufriedenen Angeklagten. Manche Richter hängten Bewährungsstrafe an Bewährungsstrafe, obwohl Verurteilte rückfällig wurden und die Bewährung eigentlich widerrufen werden müsste.
Amtsrichter Thorsten Schleif hat ein Buch mit dem Titel „Urteil: ungerecht“ veröffentlicht.
Auch Ralph Knispel, Berlins Oberstaatsanwalt für Kapitalverbrechen, hat sich seinen Frust von der Seele geschrieben. „Rechtsstaat am Ende“ sorgt für jede Menge Zündstoff. Es ist die schonungslose Abrechnung mit dem Zustand von Justiz und Polizei.
Die Kernthemen, die Knispel behandelt:
den Strafrechtsstaat: „Ein uneingeschränkt funktionsfähiger Strafrechtsstaat besteht nicht mehr“. Das liegt u.a. an „Unterfinanzierung der Justiz, Mangel an qualifiziertem Personal, klägliches Bild der räumlichen und technischen Ausstattung“.
► das Berliner Desaster: 14 086 registrierte Straftaten pro 100 000 Einwohner (2019), so viele wie sonst nirgends in Deutschland. Hohes Dunkelfeld. Alle 17 Minuten wird zum Beispiel ein Fahrrad gestohlen, nicht einmal vier von hundert Fällen werden aufgeklärt.
► die Aufklärungsquote: „Jeder zweite Straftäter kommt davon!“ Die Aufklärungsquote liegt deliktübergreifend bei nur 44,7 Prozent!
► Einbrecher, die kaum bestraft werden: Nur in 15 Prozent der Einbrüche wird überhaupt ein Täter ermittelt, nur bei 2,6 Prozent kommt es zum Prozess. Knispel: „Ein Einbrecher kann also zu 97,4 Prozent davon ausgehen, unbestraft auf freiem Fuß zu bleiben!“
► den Justiz-Alltag: Knispel listet auf: „Beschuldigte, die nicht angeklagt werden; Strafprozesse, die nicht stattfinden können, weil wegen hoffnungsloser Überlastung der Gerichte über Monate kein Hauptverhandlungstermin anberaumt werden kann; dringend verdächtige Großdealer, Mörder und Vergewaltiger, die wegen einer Fristverletzung aus der Untersuchungshaft entlassen werden müssen – das ist Justizalltag in Deutschland.“
► den Polizei-Alltag: Auch hier rechnet Knispel schonungslos ab: „Polizeiliche Ermittler, die mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu Einsatzorten oder Gerichtsterminen fahren müssen, weil gerade kein Dienstfahrzeug zur Verfügung steht, die mit veralteter Computertechnik gegen international agierende und technisch hochgerüstete Kriminelle vorgehen sollen, die monatelang auf Ergebnisse der Kriminaltechnik warten müssen und personell so unterbesetzt sind, dass die Überwachung der Corona-Maßnahmen zu offenen Flanken etwa bei der Bekämpfung von Drogendelikten führt – das ist Polizeialltag in Deutschland.“
► Clan-Kriminalität: „Vor allem in Berlin, Essen und Duisburg kontrollieren kriminelle Banden ganze Stadtviertel. In Duisburg sind es etwa siebzig Großfamilien, meist arabischen Ursprungs, denen 2800 Personen angehören; in Berlin werden fünfzehn bis zwanzig Clans mit mehreren Hundert Mitgliedern für ein Viertel der Fälle Organisierter Kriminalität verantwortlich gemacht: Drogen- und Menschenhandel, Mord und Totschlag, Schutzgelderpressung, Prostitution, Sozialbetrug, um nur einige zu nennen.“
► Geld, das die Welt regiert: „Sind manche 'gleicher' vor dem Gesetz als andere?“ so der Staatsanwalt. „Tatsächlich deckt sich dieses Gefühl der Ungleichbehandlung mit meinem langjährigen Erfahrungsschatz an vorderster Front der Justiz.
Denn natürlich stehen Beschuldigte oder Angeklagte mit größerem finanziellen Hintergrund deutlich besser da als andere. Sie sind nämlich in der Lage, sich von Beginn an gleichermaßen gute wie teure Verteidiger und externe Sachverständige zu leisten, die alle mit entsprechendem Selbstbewusstsein und gerade bei großen Prozessen in beeindruckender Stärke auftreten.
Schon während des Ermittlungsverfahrens konfrontieren sie Polizei und Staatsanwaltschaft mit unzähligen Anträgen und Rechtsmitteln, deren Bearbeitung vielfach sehr aufwendig ist. Und das setzt sich in etwaigen Hauptverhandlungen fort.
Immer wieder erweist sich das als deutlicher Hemmschuh für zügige Verfahren und Urteile.“
► das verlorene Vertrauen: „26 Prozent der Richter und Staatsanwälte haben keinen guten Eindruck von der Justiz- und Rechtspolitik der Regierenden. Sie fühlen sich im Stich gelassen … 82 Prozent aus der Richterschaft und 92 Prozent aus der Staatsanwaltschaft bewerteten die Personaldecke als unzureichend. In Berlin gaben nur 8 Prozent die personelle Ausstattung mit »gut« an, in Bayern waren es immerhin 33 Prozent.“
► Angriffe auf Beamte: Jeden Tag werden in Deutschland 200 Polizisten Opfer von Gewalt.
► gefährliche Ignoranz: Die Bevölkerung wird über die tatsächliche Kriminalitätslage im Unklaren gelassen. Beispiel Sexualdelikte und Cybercrime: Über 90 Prozent werden gar nicht erst angezeigt. Furcht vor Kriminalität in allen Bundesländern erhöht im Vergleich zu 2012: von 17,3 auf 21,4 Prozent!
Am geringsten ist sie in Rheinland-Pfalz, Hessen, Schleswig-Holstein (17 Prozent) und Bayern (18 Prozent), am höchsten in Sachsen-Anhalt (30 Prozent), Sachsen und Berlin (28 Prozent).
Knipsels bitteres Fazit: „Zusammengenommen nicht weniger als eine angekündigte Chronik des Versagens des Rechtsstaats, der seinen Aufgaben zur Wahrung der inneren Sicherheit im Land längst nicht mehr nachzukommen vermag …“
Ein Richter und ein Staatsanwalt enthüllen den Zustand von Polizei und Justiz. Und es ist nicht nur der Zustand nach der Wendezeit gemeint, sondern derjenige, der bis heute existiert u8nd weiter existieren wird.
Betrachten wir dazu einige Fälle.
Es ist eine Chance auf ein neues Leben, ein neuer Anfang für einen Mörder. Als Klaus-Dieter S. freikommt, ist ihm die Welt draußen fremd. Inhaftiert wird er in der DDR. In die Freiheit entlassen, wir er aber in der Bundesrepublik Deutschland.
Nach der Wiedervereinigung müssen in Rekordzeit zwei Staaten und zwei Justizsysteme zusammengefügt werden. Täter werden vorzeitig auf freien Fuß gesetzt. Eine politische Entscheidung mit weitreichenden und teils fatalen Folgen. War es eine falsche Gnade, hat die Justiz in der Wendezeit versagt?
Am 9.November 1989 fällt die Mauer, einer des emotionalsten Wendepunkts der deutschen Geschichte. Nach 40 Jahren öffnen sich erstmals wieder die Grenzen, die Ost- und Westdeutsche streng voneinander getrennt hatten. Die ersehnte Freiheit ist da. Der schwächelnde SED-Staat hat den Demonstranten nachgegeben.
Fast gleichzeitig wird die Stimmung in den Ost-Gefängnissen immer explosiver. Auch die Insassen wollen raus und frei sein. In den kommenden Monaten wird die DDR-Übergangsregierung auch diesem Druck nachgeben du das mit teilweise tödlichen Folgen. Denn nicht nur politische Gefangene, auch Kriminelle wollen in die Freiheit.
Im März 1990 wählen die Bürger der DDR unter demokratischen Bedingungen ihre Volksvertreter. Der Alleinanspruch der SED ist Geschichte. Lothar Piche, der amt. Alterspräsident schwört die neu gewählte Volkskammer auf ihre Arbeit ein. Ein idealistischer Plan und eine Mammutaufgabe liegen vor den Abgeordneten.
Die Volkskammer muss wegen unzähligen anderen Aufgaben auch den Strafvollzug neu regeln und das Strafgesetzbuch der DDR an die bundesdeutschen Gesetze anpassen.
Einfache Lösungen gibt es nicht. Gregor Gysi, ein Rechtsanwalt, wechselt in die Politik. In der Volkskammer spricht er einen wichtigen Unterschied in der Rechtsprechung von Ost und West an, denn die Strafen in der DDR für Kriminelle waren in aller Regeln höher als die der Bundesrepublik. Nun war die Frage, wie bekommt man einen Ausgleich hin. Und das bekam man nicht hin.
In den wenigen Monaten zwischen der Wahl im März 1990 und der Wiedervereinigung in Oktober ist das Angleichen von Rechts- und Strafsystemen nur eines, von unzähligen Themen. Wie das gehen kann – dafür gibt es keine Anleitung. Vor der Volkskammer-Präsidentin Sabine Bergmann-Pohl liegt eine schwierige Aufgabe. 164 Gesetze innerhalb eines halben Jahres wurden erarbeitet und verabschiedet. Dazu drei Staatsverträge.
Der Strafvollzug in der DDR war ein Symbol für den Überwachungsstaat. Die Gefängnisse waren überfüllt und unter den Insassen sind auch politische Gefangene. Als das System zusammenbricht, stehen Verantwortliche von der Entscheidung zur Frage: Wer ist in der DDR zu Unrecht verurteilt wurden? Welche Urteile müssen neu bewertet werden und wer soll freikommen?