Fliederblüten im Juli - Oliver Grudke - E-Book

Fliederblüten im Juli E-Book

Oliver Grudke

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Beschreibung

Am Ende seines Lebens blickt der greise Philip Klaar zurück an seine Liebesaffäre von der er noch niemandem je erzählt hat. Eine Affäre die sein ganzes Leben verändert hat und eigentlich nicht möglich war....

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OLIVER GRUDKE

***

FLIEDERBLÜTEN IM JULI

© 2019 Oliver Grudke

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:     978-3-7482-5511-6

Hardcover:     978-3-7482-5512-3

e-Book:          978-3-7482-5513-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Geschrieben und vielleicht erlebt

von Oliver Grudke

„Es war ein heißer Sommer! Der Sommer 2003!“

Es ist heiß! So heiß wie damals! Morgen ist der 25. Der 25. Juli 2046 und ich habe Geburtstag. Schon wieder! In den letzten Jahren ging die Zeit zu schnell dahin, und doch bin ich zufrieden und glücklich. Unsere 3 Enkel spielen im Garten und an unserem kleinen Bächlein, das friedlich dahinplätschert. Noch nie war es versiegt. Nicht einmal damals im trockensten Sommer, den ich je erleben durfte. Ich sitze unter unserem großen Nussbaum, der kühlen Schatten spendet. Vielleicht ist er in den letzten Jahren zu groß geworden. Doch ich schaffe es nicht mehr, ihn zu schneiden. Und Philip, unser Sohn, hat einfach zu viel um die Ohren. Ein stattlicher Baum ist es geworden. Und doch war er so klein, als ich ihn im Wald hinter dem Schloss gefunden habe und in einer kleinen Tüte, die eigentlich für meine Vesper gedacht war, mit nach Hause gebracht habe. Zuerst war er klein und mickrig. Viele Jahre kümmerte er dahin. Doch ich war immer sicher, dass er mir eines Tages Kühlung und Schatten spenden würde. Und Erinnerungen!

„Opa, Opa, Opa! Das musst du dir ansehen!“ Kalle, unser ältester Enkel, hält eine dicke Kröte in den Händen.

„Mensch, wo hast du die gefunden!“, sage ich voller Stolz.

„Ja, da unten im Bach! Ich glaube, da gibt es noch mehr!“ sagt er und greift sich einen gelben Eimer und stapft wieder die Böschung hinunter.

„Sei froh, dass Oma das nicht gesehen hat!“, rufe ich ihm hinterher.

„Kröten sind doch ungefährlich!“, schreit Kalle und springt in den Bach. Ich lächle. Ich habe eine gute Frau. Sie und meine Familie sind nicht selbstverständlich. Nein, vielmehr ist dies ein Glück. Glück gefolgt von Angst, dieses Wunder einmal verlieren zu können. Doch nun bin ich alt und genieße den Schutz meines Nussbaumes. Meine Frau ist eingeschlafen und ihr Kopf ruht auf meiner Schulter. Ich halte ihre linke Hand fest umschlossen.

Es ist ein schöner Tag hier in dem kleinen friedlichen Tal auf der schwäbischen Alb. Natürlich hat auch hier die Hektik Einzug gehalten, doch nun kann sie mir nichts mehr anhaben. Morgen habe ich Geburtstag. Und ich werde älter, als ich es mir je erträumt habe. Doch es war und ist noch immer wichtig für die Familie. Ich bin wichtig, denn sie lieben mich. Den Mann, den Vater und den Großvater.

Wichtig!

So wichtig, wie es ist, immer aufrichtig, ehrlich und seinen Grundsätzen treu zu bleiben. Ich habe viele Fehler, doch meinen Grundsätzen war und bin ich immer treu geblieben.

„Oma, schau, ich habe dir einen Sandkuchen gebacken!“, sagt Lucia und streckt meiner Frau eine Hand voll Sand hin. Ich lache laut, was mir einen bösen Blick von Lucia einbringt.

„Waas? Oh, ja schön. Für mich?“ Meine Frau spielt die Überraschte und nimmt die Hand voll Sand. Sie tut so, als würde sie davon essen.

„Gut! Sehr gut, meine Kleine!“

„Wirklich? Dann mache ich dir noch mehr, liebe Omi!“

Ich lache wieder.

„Oh, da muss ich wohl eingenickt sein!“, sagt meine Frau. „Soll ich uns einen Kaffee machen!“, fragt sie mich.

„Ja, das wäre toll!“

Mühevoll steht sie auf. Wir sind nicht mehr die Jüngsten und doch hatten wir ein tolles erfülltes Leben.

Ich bin dankbar und rekle mich in meinem kleinen Stuhl. Langsam sauge ich die schwüle und doch duftende warme Luft in mich auf. Fast meine ich, den Duft des Flieders wie damals zu riechen. Doch der Flieder ist längst verblüht. Und dennoch, noch immer blüht er in meinem Herzen.

Früher, als ich noch selber Auto gefahren bin, fuhr ich in der Woche zwei Mal hin. Hinaus zum Schloss. Ich kaufte mir eine Eintrittskarte und nahm an der Führung teil.

Heute bitte ich Philip, mich wenigstens einmal im Monat hinzufahren.

„Was willst du denn immer hier?“, fragt er dann immer. Doch ich kann es ihm nicht erklären. Noch nicht. Ich habe niemandem davon erzählt.

Warum nicht?

Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich mich etwas schäme, dass ich nicht ganz meinen Prinzipien treu blieb, oder weil es mir niemand glauben würde.

Doch ich möchte euch jetzt davon erzählen. Erzählen von der Liebe und von wundersamen Dingen. Aber auch von Hass und Rache und davon, dass es mehr gibt, als wir uns in unserer kühnsten Phantasie vorstellen können.

Doch eines ist sicher:

Seit damals war ich nie mehr allein.

Alles begann im Mai. Im Mai 2003, einem der trockensten Jahre, die ich je erlebt habe. Damals, in einer für mich dunklen Zeit…..

Ich schwitze aus allen Poren. Es ist heiß und trocken.

Das ist gut so. Mehr als das, es ist meine Chance zum Überleben. Um 4 Uhr bin ich aufgestanden und habe bereits die erste Ladung Wasser mitgenommen, um die von mir gesetzten Pflanzen zu gießen. Ein Spitzenauftrag und gleichzeitig mein einziger.

Doch das ist egal. Ich habe den heutigen Auftrag beendet und kann gleich eine Rechnung schicken. Der Gedanke daran steigert meine Stimmung und ich singe irgendeinen blöden Hit. Das Gute daran ist: Ich kann mich nicht einmal selber hören, da der Traktor einen solchen Lärm verursacht und ich wegen der Hitze alle Fenster geöffnet habe.

„Wenn ich noch einmal einen neuen Traktor kaufe, dann nur mit Klimaanlage!“, sage ich laut zu mir selber.

Doch das wird nicht geschehen. Im Gegenteil, ich muss Angst habe, dass sie mir meinen roten Traktor wegnehmen.

Doch nicht jetzt und heute. Heute war ich wieder erfolgreich und habe Geld zum Tilgen der Schulden hereingearbeitet. Ich bin stolz und müde. Und hungrig. Ich habe nichts gegessen, seit ich aufgebrochen bin. Kaufen kann ich mir nichts, da ich nicht einmal einen Euro in der Tasche habe.

Mit jedem Meter, dem ich meinem Haus näherkomme, steigt die Angst, bis diese kurz vor meiner Einfahrt einen panischen Höhepunkt erreicht.

Ich biege in meinen Hof ein und stelle den dröhnenden Traktor ab. Die Stille tut gut. Zitternd steige ich ab. Kurz wird mir schwarz vor Augen und ich stütze mich am Traktor ab. Ich schließe das Büro auf und ignoriere den Anrufbeantworter. Ich hole mir eine kleine Cola aus dem Gewölbekeller. Ich muss jetzt etwas trinken. Doch als ich zurückkomme, klingelt es an der Bürotür.

Die Panik erfüllt jetzt alles in meinem Körper. Fast kann ich nicht mehr klar denken. Meine Augen erkennen den dunklen Audi. Den Audi, der fast jeden Freitag kurz in meiner Einfahrt parkt. Seit der Insolvenz.

Ich öffne die Tür, denn ich habe keine andere Wahl.

„Grüß Gott, Herr Klaar, wie geht es?“, sagt der Gerichtsvollzieher und stellt seine dunkelbraune, lederne Mappe auf meinen Bürotisch ab. Er ist freundlich und nie vorwurfsvoll oder herablassend. Ich bin froh, dass er so ein netter Mensch ist.

„Er macht ja nur seinen Job“, denke ich und lächele auch.

„Gut, es geht gut!“, sage ich und spiele über die Tatsache meiner Panik hinweg.

„Ja, warm ist es! Zu warm! So, da habe ich heute gleich zwei Sachen. Das sollten Sie mir dann schnell überweisen, ja?“

„Oh, ja klar, mache ich gleich anschließend!“, lüge ich und schaue nicht einmal auf die Unterlagen, die er auf den Schreibtisch legt.

Wozu auch? Ich kenne ja alle, denen ich Geld schulde. Wenn ich das jetzt bezahle, dann kann ich den anderen Verpflichtungen nicht nachkommen und dann kommt Herr Wunderlich nächste Woche wieder.

Doch das tut er sowieso.

„Ich mach mir Sorgen um meinen Wald“, sagt er und schaut sorgenvoll zum Himmel.

„Oh, für mich ist es gut! Ich gieße jeden Tag, das bringt Geld.“

„Ja, dann!“, sagt er, gibt mir die Hand und fährt weiter den Ort hoch. Also gibt es in meinem kleinen Dorf noch jemand, der Probleme hat.

„Probleme!“, murmele ich und ziehe den Taschenrechner heraus und tippe Zahlen ein.

534 Euro brutto habe ich heute verdient. 1.238,90 Euro muss ich bis Montag an Herrn Wunderlich überweisen, sonst ist er gezwungen, andere Maßnahmen anzuwenden. Die Cola ist mir zu warm. Ich beschließe nach oben in die Wohnung zu gehen und mir eine Kalte aus dem Kühlschrank zu besorgen.

Die Wohnung ist angenehm kühl. Meine Frau hat Spätschicht. Sie weiß von den meisten Problemen nichts.

Warum nicht?

Vielleicht, weil ich Angst habe, sie dann zu verlieren. Und bestimmt, weil ich mich unheimlich dafür schäme. Niemand will mit einem Versager zusammen sein, da bin ich mir sicher.

Ich öffne den Kühlschrank und entnehme eine eiskalte Cola.

Es läutet an der Wohnungstür. Panik! Zittern! Angst!

Verstohlen schaue ich durch die Ritzen der Jalousie.

Da steht ein Mann! Mit einer braunen ledernen Mappe. Er schaut grimmig!

Ich kenne ihn nicht! Doch sicherlich schulde ich ihm Geld.

Er läutet erneut.

Weglaufen geht nicht.

Ignorieren geht nicht.

Ich bin vieles, doch nicht feige.

Ich öffne die Tür.

„Finanzamt. Herr Klaar?“

„Ja?“

„Ich muss eine Forderung vollstrecken!“, sagt er und schaut mich herablassend und mitleidig an. Als wollte er sagen: „Natürlich bei einem wie dir! Versager!“

Das Wort vollstrecken lässt alles in mir erzittern. Mir wird schwindelig. Der Gerichtsvollzieher kramt in seiner Tasche. Ich hasse diese Taschen. Er legt einige Unterlagen auf meinen Küchentisch. Der Ort, an dem ich esse. Ich weiß nicht, wo diese Unterlagen schon überall gelegen haben. Ich finde das ekelig.

„Das kann nicht sein! Und im Übrigen war gerade ein Gerichtsvollzieher da!“, sage ich mit belegter Stimme, die nicht nach meiner Stimme klingt.

„Das Finanzamt hat seine eigenen Vollstreckungsbeamten!“, sagt er kühl und unterschreibt auf der Rückseite eines der Formulare.

Ich werfe einen Blick darauf und alles beginnt sich zu drehen. Dort stehen über 20 000 Euro an Forderungen. Forderungen, die nun bei mir vollstreckt werden sollen. Doch ich habe keine Schulden beim Finanzamt. Meine in Insolvenz befindliche GmbH schon. Es ist ein Fehler. Ja, es muss ein Fehler sein!

„Das ist falsch! Der Schuldner bin nicht ich, sondern die Klaar Service GmbH!“, sage ich und meine Stimme wird brüchig. Mein T-Shirt klebt an mir.

Der Mann beachtet mich nicht. Er würdigt mich nicht einmal eines Blickes.

„Das hat schon seine Richtigkeit. Das Finanzamt macht keine Fehler! Schönen Tag noch!“, sagt er kühl und verlässt mein Haus. Als er unten an der Treppe kehrt macht und zu seinem Auto geht, wirft er mir noch einmal einen mitleidigen Blick zu. Ich kann diesen Blick erkennen, als würde ich in einem Buch lesen:

„Du Versager hast keine Chance!“, steht da.

Ich zittere und setze mich an den Küchentisch. Ich lese. Nach den Unterlagen schulde ich, Philip Klaar, dem Finanzamt 22.345,40 Euro Umsatzsteuer plus Zinsen. Die gleiche Summe, die die Klaar Service GmbH, dem Finanzamt schuldet. Es ist ein Fehler! Es muss ein Fehler sein!

Als ich umblättere, sehe ich, dass nun alle meine Konten gepfändet wurden! Schlimm ist dies nicht, da auf keinem ein Guthaben war. Doch nun kann ich keine Überweisungen mehr ausführen. Und somit nicht die anderen Schuldner bedienen. Das Kartenhaus stürzt zusammen. Die Panik in mir erreicht einen noch nie dagewesenen Höhepunkt. Ich möchte schreien und weglaufen.

Doch wohin?

Es gibt keinen Ort, wo ich hinlaufen könnte.

Es gibt niemanden, der mir hilft.

Da ist niemand, dem ich diese Dinge erzählen könnte.

Ich bin allein.

Doch, es gibt einen: Sepp Birkner! Mein Steuerberater. Er hilft mir. Hat er immer gemacht und dies, obwohl ich seit 3 Jahren keine seiner Rechnungen mehr bezahlt habe. Er hat nie gemahnt, gedroht oder mir gekündigt.

Nein, im Gegenteil, er hilft.

Er ist ein Freund und ich werde alle seine Rechnungen bezahlen.

Dafür kämpfe ich!

Ich steige die hölzerne Treppe hinunter zurück in das Büro. Ich sollte etwas essen, doch der Hunger ist weg. Dafür hat sich in meinem Magen ein Stein breit gemacht. Zumindest fühlt es sich so an. In meiner linken Hand halte ich krampfhaft die Unterlagen, die der Vollstreckungsbeamte vom Finanzamt auf meinen Küchentisch gelegt hat. Ich bin erleichtert, dass meine Frau bei der Arbeit ist.

Spätdienst.

Als ich die Papiere auf meinen Schreibtisch lege, sind sie zerknüllt. Ich habe diese wohl zu fest in meiner Hand gehalten. In meinem Inneren möchte ich sie zerreißen oder verbrennen.

Doch das ändert nichts.

Ich atme tief ein und wähle die Nummer, die ich auswendig kenne.

„Kanzlei Birkner Müller!“, meldet sich die freundliche Stimme meiner Buchhalterin.

„Philip Klaar hier, hallo Frau Müller! Könnte ich wohl den Chef sprechen?“

„Klar, der ist gerade frei! Ich verbinde!“

„Danke!“

Eine klassische Musik läuft, während ich in der Warteschleife bin. Sie soll beruhigen, doch bei mir erzeugt sie nur noch mehr Panik. Ich frage mich, warum er nicht abnimmt.

Doch ich könnte es ihm ja nicht verdenken? Warum sollte er auch nur noch 1 Minute für mich tätig sein? Ich, der Versager, der nicht einmal eine seiner Rechnungen bezahlt.

Er nimmt ab.

„Ich grüße Sie!“

„Ja hallo, ähm, ich habe da ein Problem!“

„Ich höre?“ Seine Stimme klingt freundlich und gespannt.

„Das Finanzamt möchte die Steuerschulden der Klaar GmbH nun von mir haben!“, sage ich mit einer Stimme, die nicht meine ist.

„Nein, das geht überhaupt nicht! Da kommen die nicht mit durch!“

„Doch, da war gerade einer da und hat sogar alle Konten gesperrt!“

Stille!

„Hmmm! Also alle Unterlagen mir faxen! Ich werde sofort Einspruch einlegen! Damit haben die keine Chance!“, sagt Herr Birkner, mit dem ich immer noch per Sie bin.

„Echt?“, frage ich, da ich kaum glauben kann, dass es ein Fehler ist.

„Sicher! Alles mir schicken, aber gleich, dann regele ich das!“

„Auch das mit den Konten?“

„Auch das! Tschau!“

Er hat aufgelegt. Eine enorme Welle der Euphorie durchströmt meinen Körper. Ich lege alle Unterlagen auf das Fax und gebe die Nummer ein, die ich auswendig kenne.

Die Euphorie wird stärker und ich hüpfe, während das Fax durchgeht.

Es war ein Fehler.

Es musste ein Fehler sein.

Ich möchte meine Frau anrufen. Ihre Stimme hören, nur kurz. Ich brauche sie, ich liebe sie.

Ich wähle die Nummer, die ich auswendig kenne.

Doch schnell lege ich auf, noch bevor das Freizeichen ertönt.

Zweifel ringen die Euphorie nieder.

Was, wenn ich störe?

Was, wenn sie keine Zeit hat.

Ihr Beruf fordert sie stark. Sie hat viel Verantwortung.

Sicher störe ich nur!

Doch ich möchte sie sprechen, nur kurz! Das Gefühl nach Nähe und Geborgenheit verdrängt die Zweifel und gewinnt die Oberhand.

Das Freizeichen ertönt lange! Fast zu lange, doch gerade als ich auflegen will, nimmt jemand ab.

„Station 3, Pfleger Markus!“ Die Stimme klingt gehetzt. Meine eigene Stimme klingt wieder belegt und unsicher.

„Ja, hallo, ich bin es, der Philip! Kann ich meine Frau sprechen?“

„Oh, du, die Susanne ist gerade bei der Visite. Soll ich was ausrichten?“

„Nein, war nicht so wichtig!“

„Ja, oder soll sie zurückrufen?“

„Nein, nein, war nicht so wichtig! Also bis dann!“, sage ich und lege auf. Nun habe ich rote Wangen und bin nervös. Ich habe gestört, und das wollte ich nicht! Hätte ich doch nicht angerufen. Die Zweifel sind zurück und lähmen alles in mir.

Ermattet falle ich zurück auf den Bürostuhl. Erst jetzt richtet sich mein Blick auf den alten Anrufbeantworter, der oben rechts an meinem Schreibtisch steht. Er blinkt! Jemand hat eine Nachricht hinterlassen.

Nun ist die Panik zurück!

Wer kann das sein?

Was will derjenige?

Es kann nichts Gutes sein. Sicher jemand, dem ich Geld schulde.

Ich zittere und möchte die Nachricht nicht anhören.

Ich könnte sie ignorieren!

Ich könnte sie löschen!

Doch das bringt nichts!

Ich kann nicht weglaufen, denn es gibt keinen Ort, wohin mich der Weg führen würde.

Ich zittere so stark, dass ich mit zwei Händen den Knopf der Wiedergabe drücken muss.

---------------------------

Es riecht modrig und nach kaltem Rauch. Es ist aber kein Zigarettenrauch, denn der würde angenehm nach Menthol duften. Denn es wäre mein Rauch. Die Sonne steht schon tief und lässt den Raum in einem goldenen Licht erscheinen.

Dies verstärkt den Prunk um ein Vielfaches. Selbst an dunklen Tagen im Winter leuchtet das Gold der Wände, als schiene die Sonne herein.

Ich gehe über den hellen Marmor, der zusammen mit dunklem Basalt in Rautenform den Raum noch größer erscheinen lässt. Die hohen Absätze meiner Schuhe erzeugen ein klackendes Geräusch.

Das gefällt mir.

Doch deswegen habe ich die Schuhe mit den fast 15 cm hohen Absätzen nicht angezogen. Mir geht es um die Größe. Ich möchte groß wirken!

Der erste Eindruck ist immer der Wichtigste. Und hier spielt die Größe eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Ich öffne die zweiflügelige Tür und trete auf die Terrasse.

Es ist heiß, aber nicht schwül. Eine trockene Wärme verspricht einen aufregenden Sommer.

Doch so weit ist es noch nicht.

Ich gehe über die Terrasse aus gelbem Sandstein. Am Ende steht ein dunkelroter Flieder.

Er blüht und duftet betörend und der Duft macht mich nervös. Aber es ist auch mein Duft. Deshalb gibt es überall um das Schloss herum und im Park Fliederbäume. Ich gehe zurück und atme tief ein.

Jetzt rieche ich den Duft des Flieders, der betörend überall in der Luft liegt. Ich gehe zurück in den Raum und öffne alle Fenster. Ich möchte, dass die Bibliothek nicht mehr modrig und nach kaltem Rauch riecht, sondern nach Flieder.

Der Geruch eines neuen Anfangs! Die Sonne hat nun den Weg direkt durch das geöffnete Fenster gefunden und beleuchtet die Bibliothek.

Ich gehe durch die Strahlen wieder hinaus auf die Terrasse.

Es ist lange her!

Zu lange, doch mein Herz hat mich hierhergeführt.

Ich habe die Menschen nie gemocht. Nein, ich möchte sogar weitergehen, ich habe sie gehasst. Und doch hat mein Herz mich hierhergeführt.

Ich weiß, dass ich verletzt werde.

Ich weiß, dass ich mir etwas nehme, was nicht mein ist.

Nicht für lange, vielleicht nur kurze Augenblicke, doch das ist es mir wert.

Wert, zurückzukommen.

Wert, die Gefahr auf mich zu nehmen.

Das Gefühl des Schmerzes und der Enttäuschung zu ertragen.

Doch mein Gefühl hat über die Vernunft gesiegt. Hier werde ich ihn finden. Den Einzigen unter all den Schlechten. Der, der es wert ist, all das auf sich zu nehmen.

Ich stecke mir eine Zigarette an. Das Menthol vertreibt den Duft des Flieders für einen Moment. Mein Blick schweift über den Park, der mit seinen alten und dicken Eichen im Schein der nachmittäglichen Sonne friedlich da liegt.

Auf der Wiese in der Mitte äst das Rudel der Hirsche. Der Große hat mich erkannt und stolziert um seine Gruppe herum. Sein Geweih ist noch nicht voll ausgebildet. Noch trägt er den Bast. Jetzt blickt er mich an, als könnte er über diese große Entfernung in meine Augen oder in mein Herz sehen. Vielleicht will er mich ermahnen und sagen:

Gehe zurück, die Menschen sind es nicht wert.

Doch, einer, werde ich ihm antworten. Genau der Eine!

Aber du wirst ihn nie besitzen, wird er dann sagen und ich weiß, dass er recht hat.

Jetzt reckt er seinen Hals, um dann sein Geweih und seinen Kopf leicht zum Gruß zu senken. Ich erwidere den Gruß und hebe die rechte Hand.

Auf einmal ist es da. So wie es immer war. Der Schmerz, den ich spüre. Es ist Angst, ja Panik und Furcht.

Er hat Angst, Panik und Furcht.

Doch nun bin ich da und werde das Böse vertreiben!

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Ich habe den Wiedergabeknopf gedrückt. Schweiß sammelt sich auf meiner Stirn und rinnt in einem kleinen Bächlein an meiner Schläfe herunter. Meine blonden Haare kleben an meinem Kopf.

Sicherlich sehe ich furchtbar aus.

Doch da ist keiner, der es sehen könnte. Ich halte den Atem an, während das Band zurückspult. Ein Klack gibt mir zu erkennen, dass es zurückgespult ist.

Es ist eine lange Nachricht.

Deshalb kann es nur etwas Schlechtes sein.

Ein Pfeifton zeigt den Beginn der Nachricht an.

„Kanzlei Dr. Rebermann! Hallo, Herr Klaar. Herr Klaar, ich würde gerne in einer dringenden Angelegenheit einen Termin mit Ihnen vereinbaren. Bitte rufen Sie mich umgehend zurück, wenn Sie die Nachricht abhören.

Sie erreichen mich unter 07075/8900.

Danke!“

Das Band pfeift wieder und ich drücke die Stopp-Taste.

Noch jemand, der Geld von mir möchte. Natürlich, was hätte es denn sonst sein sollen.

Ich drücke noch einmal die Wiederholtaste, da ich mir die Nummer nicht gemerkt habe.

Ich zittere und bin zu langsam. Also muss ich noch einmal die Ansage anhören.

Nun zum dritten Mal.

Ich wähle die Nummer, die ich mir nicht merken kann. Mir wird schwarz vor Augen. Ich werde versuchen, eine Ratenzahlung zu vereinbaren. Doch eigentlich ist dafür kein Spielraum mehr und die Konten sind gesperrt.

Das Freizeichen ertönt lange. Innerlich hoffe ich, dass niemand abnimmt. Doch was würde das bringen? Einen Aufschub? Wie lange, bis morgen früh? Eigentlich ist es egal.

Ich kann nicht weglaufen!

Es gibt keinen Ort!

An manchen Tagen denke ich, dass der Tod ein Ausweg wäre.

Heute ist so ein Tag!

„Dr. Rebermann!“, sagt eine freundliche Stimme plötzlich.

„Äh, ja, Klaar, Philip Klaar! Sie haben angerufen!“, sagt meine Stimme, die nun endgültig die Stimme eines anderen ist. Sie wirkt gedämpft, zittrig und schwach.

„Herr Klaar! Schön, dass Sie so schnell zurückrufen!“, sagt die Stimme, die einer Frau gehört.

„Ich möchte mich entschuldigen! Könnten wir eine Ratenzahlung vereinbaren!“, stottere ich in das Telefon.

Stille!

Vielleicht möchte sie keine Ratenzahlung. Doch das ist mir egal. Anders geht es nicht.

Dann stürzt das Kartenhaus zusammen.

Und ich? Ist der Tod eine Lösung?

„Jaaaa, also ich weiß jetzt nicht …!“

„Ich kann auch gleich die erste Rate überweisen!“, lüge ich.

Noch ist der Überlebenswille stark. Zu stark! Ich kämpfe wie ein Löwe. Das ist das Tier, dass ich als Sternzeichen habe: einen Löwen.

Bin ich deshalb genauso stark?

Nein, ich bin schwach und zittere jetzt am ganzen Körper.

Gut, dass dies niemand sehen kann. Ich muss jetzt mein linkes Knie mit der linken Hand festhalten, so stark zittert es.

„Hmmm! Wissen Sie, Herr Klaar, ich möchte eigentlich einen Termin wegen eines Auftrages mit Ihnen vereinbaren. Ich denke, da könnten wir schon in Raten zahlen, doch aber auch in einer Summe. Oder wenn Sie einen Vorschuss benötigen, dann …“

Es trifft mich wie ein Blitz. Als würde eine unkontrollierte Ladung Strom durch meinen ganzen Körper strömen.

Ein Auftrag! Sie möchte mir einen Auftrag erteilen.

„Ein Auftrag!“, schreie ich sicherlich zu laut in das Telefon. Ich entschuldige mich sofort dafür und lehne eine Vorschusszahlung dankend ab.

Sicherlich könnte ich diese gut gebrauchen, aber es wiederstrebt mir, Geld anzunehmen, wenn ich dafür noch nicht gearbeitet habe.

Was wäre, wenn ich sterben würde?

Was wäre, wenn ich krank werden würde?

„Könnten Sie denn heute noch?“, fragt die Stimme, zu der ich mir kein Bild machen kann.

Heute noch?

Nein, das kann ich nicht! Ich habe immer noch nichts gegessen und auch keine Kraft mehr. Nicht heute noch!

„Ich müsste mir die Sache erst einmal ansehen!“, sage ich schüchtern. Vielleicht wird sie jetzt absagen. Ich bekomme wieder Angst. Ich brauche doch jeden Auftrag. Vielleich kann man das Kartenhaus noch stützen.

„Selbstverständlich! Das heißt, Sie haben auf jeden Fall Kapazität frei!“, sagt sie mit einem freudigen Unterton.

Natürlich habe ich das! Mehr als genug! Doch das drückt den Preis. Wenn Auftraggeber merken, dass man alles um fast jeden Preis ausführt, hat man verloren.

„Ja, gut, also ich müsste da einiges noch abklären, aber irgendwie lässt sich das schon noch dazwischen schieben“, lüge ich und meine Stimme wirkt plötzlich kraftvoller.

„Schön! Meinen Sie, Sie könnten sich noch heute mit Frau von Löwenstein treffen?“

„Mit wem?“ Ich wirke wieder unprofessionell.

„Ihr Auftraggeber, oder besser die Auftraggeberin. Frau von Löwenstein benötigt eine zuverlässige Firma für Forstarbeiten. Und da wurden Sie uns empfohlen.“

Empfohlen! Mein Körper fühlt sich an, als schwebe er. Jemand hat mich empfohlen. Also ein Lob kommt nun doch sehr selten vor. Aber es tut gut!

Meiner Seele und meinen Nerven.

Vielleicht bin ich doch kein Versager.

Vielleicht geht es weiter!

„Und?“, sagt die sanfte Stimme der netten Frau. Ist sie nett? Ich weiß es nicht, da ich sie ja nicht kenne. Doch im Moment, da ich von ihr einen Auftrag vermittelt bekomme, ist sie nett.

Sehr sogar!

Ich habe immer noch nicht geantwortet.

„Ja, das ginge!“ sage, ich, ohne zu wissen, wo ich hinmuss.

„Fein! Sagen wir, so um 16.00 Uhr?“

„16.00 Uhr ist perfekt!“

„Also dann 16.00 Uhr! Ich gebe Frau von Löwenstein Bescheid. Sie erwartet sie dann.“

„Oh, ähm, ja, wo muss ich denn hinkommen?“, sage ich gerade noch rechtzeitig, bevor die nette Frau mit der sanften Stimme auflegt.