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Friendzone Print 470 Seiten + 14 Illustrationen Genre: Contemporary, coming of age, gay romance, first time, coming out Teenager sein ist schon unter normalen Umständen hart. Alles ist neu und aufregend: der erste Freund, das erste Mal, die erste große Liebe ... Doch wenn man dann noch bemerkt, dass man gänzlich anders tickt als alle Klassenkameraden und sich darüber hinaus vom gleichen Geschlecht angezogen fühlt, kann die Pubertät zur Zerreißprobe werden. Wären sie sich nur auf dem Schulhof über den Weg gelaufen, hätten sie wohl niemals miteinander gesprochen. Johnny, ein lebenslustiger Punk, der immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat, und der brasilianische, introvertierte Goth Canaio, der ständig in irgendwelche Prügeleien verwickelt ist, haben nämlich nicht viel gemeinsam. Durch einen Zufall landen beide jedoch in derselben Pflegefamilie und müssen sich dort ein Zimmer teilen. Sie brauchen zwar eine ganze Weile, um zu bemerken, dass ihnen nichts Besseres hätte passieren können, doch letztlich freunden sie sich an. Selbst nachdem sich Can als homosexuell outet, reagiert Johnny sehr verständnisvoll, aber als sich sein neuer Radaupflegebruder kurz darauf leichtsinnig mit einem ihm völlig fremden Mann aus dem Internet verabredet, klingeln bei Joh sämtliche Alarmglocken. Wie sich herausstellt auch zu Recht und trotzdem laufen die Dinge ganz anders als erwartet.
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Klappentext
Teenager sein ist schon unter normalen Umständen hart. Alles ist neu und aufregend: der erste Freund, das erste Mal, die erste große Liebe ... Doch wenn man dann noch bemerkt, dass man gänzlich anders tickt als alle Klassenkameraden und sich darüber hinaus vom gleichen Geschlecht angezogen fühlt, kann die Pubertät zur Zerreißprobe werden.
Wären sie sich nur auf dem Schulhof über den Weg gelaufen, hätten sie wohl niemals miteinander gesprochen. Johnny, ein lebenslustiger Punk, der immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat, und der brasilianische, introvertierte Goth Canaio, der ständig in irgendwelche Prügeleien verwickelt ist, haben nämlich nicht viel gemeinsam. Durch einen Zufall landen beide jedoch in derselben Pflegefamilie und müssen sich dort ein Zimmer teilen. Sie brauchen zwar eine ganze Weile, um zu bemerken, dass ihnen nichts Besseres hätte passieren können, doch letztlich freunden sie sich an. Selbst nachdem sich Can als homosexuell outet, reagiert Johnny sehr verständnisvoll, aber als sich sein neuer Radaupflegebruder kurz darauf leichtsinnig mit einem ihm völlig fremden Mann aus dem Internet verabredet, klingeln bei Joh sämtliche Alarmglocken. Wie sich herausstellt auch zu Recht und trotzdem laufen die Dinge ganz anders als erwartet.
Akira Arenth
Vaelis Vaughan
Johnny
Mein bester Freund ist eine Schlampe!
Um genau zu sein, eine schwule, extrem selbstsichere, massiv exhibitionistische Megaschlampe!!!
Woher ich das weiß? Vielleicht weil der Typ, mit dem er gerade lauthals im Nebenzimmer poppt, nicht derselbe ist wie der gestern? Und er ist auch keiner von den beiden, die am Wochenende mit uns auf der Couch abhingen und die halbe Nacht mit unserer Konsole zockten, bevor er ihnen in der Küche das letzte bisschen Verstand rausvögelte. Ach ja, und den vier Kerlen, die er vorige Woche angeschleppt hat, sieht er auch nicht ähnlich.
Was der ganzen Sache, also Canaio, noch das Krönchen aufsetzt, ist sein verboten gutes, exotisches Aussehen, das ihm einen heißen Typen nach dem anderen beschert und dass er auf jede neue Eroberung äußerst stolz zu sein scheint.
Hab ich erwähnt, dass er eigentlich fest vergeben ist? Ja! Das ist er! Doch sein Daddy ist ständig auf irgendwelchen Weiterbildungen, also vertreibt sich Can alias Boytoy de luxe die Zeit mit anderen Kerlen. Er pimpert sich durch ganz fucking Berlin undseinen Lover kümmert es keinen verdammten Deut. Im Gegenteil!DieArschkrampeist noch stolz drauf, dass sein Liebster so selbstbestimmt ist!!!
›Durchatmen ... gaaaaanz ruhig!‹
Schnaufend lockere ich meine Finger, die sich seit einer Stunde um den Stift und in die Tischkante krallen, haue mir dann auf die Schenkel und trinke ein Glas Wasser auf ex.
Nein, mir geht’s gut und ich bin auch wirklich kein bisschen eifersüchtig!
Wirkt es so?
Hm ... Muss an meiner leicht verzweifelten Ausstrahlung liegen.
Mein Name ist übrigens Johnny. Johnny Herbst. Wie Winter, nur früher. Meine Freunde nennen mich Joh, bis auf Can, der sagt aus Spaß meistens Joy zu mir, was ich eigentlich überhaupt nicht leiden kann. Derzeit sitze ich an meinen Prüfungsvorbereitungen und danach folgt meine Bachelorarbeit, weshalb ich viel zu Hause lernen muss.
Während ich also gerade mal wieder dem alltäglichen Stöhnkonzert meines WG-Mitbewohners lausche, versuche ich mich auf meine Unterlagen zu konzentrieren, die ich fein säuberlich auf dem großen Esszimmertisch vor mir ausgebreitet habe. Allerdings schaffe ich nichts und male eigentlich nur auf meinen Händen herum, statt zu arbeiten. Leider fällt es mir nämlich extrem schwer, Cans Stimme zu ignorieren, denn zwischen seinen Brunftschreien und seiner teilweise äußerst hektischen Schnappatmung vernehme ich häufig imaginäre Rufe meines Namens, die ich mir selbstverständlich einbilde. Das ist auch nicht immer so. Wie ich leider bereits anschaulich dargeboten bekam, switcht er, ist also mal aktiv und mal passiv, je nachdem ob er mit seinem Freund oder mit einem One-Night-Stand bumst. Doch jedes Mal, wenn er hinhält, klingt seine Stimme so verletzlich, geradezu herzzerreißend, dass ich ihm am liebsten zur Hilfe eilen würde. Täte ich das, würde er mich vermutlich auslachen, mir einen Vogel zeigen und mir raten, einen Lolly zu lutschen, um wieder runterzukommen.
»Jooooy?«
Oh nein. Die Stimmlage kenne ich.
»Was?«, knurre ich und versuche, möglichst genervt aufzusehen, doch als ich seinen verstrubbelten Kopf entdecke, der da rot glühend um die Ecke linst, muss ich leider schon wieder grinsen. »Was willst du? Ich muss hier büffeln!«
»Du und deine blöde Lernerei!« Er schnauft und kommt schließlich einfach nackt zu mir rüber. »Ich kann meine Kette nicht finden. Hast du sie irgendwo gesehen?«
»Wozu brauchst du denn jetzt eine – ah, warte! Du meinst deine Analkette, oder?«
»Klar, was denn sonst? Von einer normalen hätte der Arsch wenig. Seine Einflugschneise könnte ’nen Zeppelin aufnehmen, wenn du verstehst ...«
Muss ich das kommentieren? Nein. »Die metallicblaue liegt irgendwo unter den Kissen vom Sessel.«
»Nein, die schwarze. Die neue! Die man beim Ficken drinbehalten kann, du weißt schon. Hab ich dir doch gezeigt!«
»Ach so, die.« Über das Ding hab ich mich noch beömmelt, weil er meinte, die gab es zum Einführungspreis. »Die hast du mit Natron eingeweicht, weil sie so nach Chemie gestunken hat. Schon vergessen? Die Schüssel steht in der Badewanne!« Warum weiß ich eigentlich besser über seine Sexspielzeuge Bescheid als er?
»Aaah, stimmt! Danke Schlaufuchs!«
Damit drückt er mir einen Kuss auf die Wange und läuft flugs in Richtung Badezimmer. Ein paar Sekunden schaue ich ihm hinterher und bleibe mit dem Blick an seinen nackten Pobacken hängen, die nur aus Muskeln zu bestehen scheinen und an den Seiten so süße Grübchen haben, doch dann schüttle ich den Kopf und versuche mich wieder zu konzentrieren.
Ich verstehe bis heute nicht, was mich so an Canaio fasziniert. Wir haben uns als Teenies unter sehr unglücklichen Umständen kennengelernt und ich hatte schon immer irgendwie das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Kein Vergleich zu heute ... Also Can ist jetzt kein Bodybuilder oder so, aber er hat eine super definierte Figur, ist einen Meter zweiundachtzig groß und besitzt diesen rebellischen Rockstar-Charme, der in Kombination mit seinen schwarzen Klamotten auf Männlein wie Weiblein sehr mystisch und anziehend wirkt.
Ich hingegen habe mich kaum verändert. Na ja, schon ein wenig – immerhin habe ich keine grünen Haare mehr und meine Klamotten halten durch Nähte anstelle von Sicherheitsnadeln. Aber davon abgesehen? Für Sport bleibt mir einfach keine Zeit, wobei er auch nur einmal die Woche in die Muckibude geht. Dort muss aber mehr als kollektives Eierschaukeln stattfinden, denn der Penner hat Muskeln, von denen ich Schmalhans kaum zu träumen wage. Ungerecht ist das!
Also, ich bin stattliche sieben Zentimeter größer als er, weil meine Beine länger sind, und auch meine Schultern sind um vier Zentimeter breiter. Trotzdem sind unsere Arme gleich lang, was bedeutet, dass entweder er eine Art Orang-Utan ist oder ich eine Art Bernd das Brot, aber ansonsten sind wir uns ziemlich ähnlich. Selbst unsere Schwänze unterscheiden sich nur um einen Zentimeter! Woher ich das alles so explizit weiß? Tja ... ähm ... es gab da diesen einen Abend. Wir waren besoffen und uns war langweilig und da fand Can dieses Maßband und ... Na ja, da kam eben eins zum anderen. Unsere Messergebnisse liegen jetzt tief vergraben in meinem Schreibtisch, aber ich kriege die Zahlen einfach nicht mehr aus dem Kopf, ebenso wenig die Erinnerung an die Verrenkungen, die wir bei einigen Abgleichen gemacht haben. Ob die Maße wohl immer noch stimmen? Ach ist doch wurscht!
Jedenfalls hätte ich niemals gedacht, dass aus klein Can, dem verschlossenen, introvertierten Gothicjungen, der von allen nur gemobbt wurde, später mal ein solch kontaktfreudiger Aufreißer wird.
Und dabei weiß ich noch ganz genau, wie es war, als ichihm vor gut vier Jahren das erste Mal in seine faszinierenden, rebellischen Augen sah.
Berlin Neukölln – März 2001.
Kein Aufzug.
Während ich schnaufend die Treppen in den fünften Stock des Plattenbaus hinaufsteige, denke ich noch einmal darüber nach, ob ich das, was ich gerade im Begriff bin zu tun, wirklich tun will.
Meine Mutter war eine liebevolle, großherzige Frau, die völlig unerwartet noch vor ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag verstarb. Sie hinterließ keine Sorgerechtsverfügung, die irgendwen zum Vormund bestimmte, und andere Verwandte, zu denen ich hätte gehen können, gab es leider nicht. Also wurde ich per Gesetz zu meinem Erzeuger geschickt, einem Mann, dessen Name zwar in meiner Geburtsurkunde steht, der mich aber nie als seinen Sohn angenommen hatte. Auch als ich gezwungen wurde, bei ihm einzuziehen, ließ er mich deutlich spüren, dass er mich nie wollte. Ein paar Monate hielt ich seine täglichen Wutanfälle und sein permanentes, cholerisches Gemecker aus, doch irgendwann wurde es unerträglich und ich floh auf die Straße. Nach ein paar Wochen fand ich einen Zufluchtsort bei meiner neuen Freundin, doch die hat mich dann für einen Skinhead sitzen lassen und somit war dieser dann auch dahin. Also der Schlafplatz, nicht der Skin. In den Monaten danach wurde es deutlich kälter und ich wäre mehrmals beinahe erfroren, denn die nächtlichen Temperaturen sanken bereits im Herbst auf Minusgrade. Aus diesem Grund musste ich immer wieder in einer Obdachlosenunterkunft nächtigen und dann war irgendwann der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr ging.
Diese saalartigen Räume sind mit zehn bis zwanzig Betten ausgestattet und es stinkt so extrem nach Fäkalien, dass man glauben könnte, man schliefe auf einem Bahnhofsklo! Die Hälfte der Besucher schnarcht lautstark, hustet oder röchelt, und alle zehn Minuten steht irgendwer zum Rauchen auf, knallt das Licht an oder rempelt im Dunkeln an andere Betten. Außerdem passiert es auch nicht selten, dass man morgens irgendeinen dieser Säcke hinter sich liegen hat, weil der zu besoffen war, zurückzufinden ... oder einfach nur mit jemandem kuscheln wollte. In solchen Unterkünften kriegt man also höchstens das kalte Kotzen, einen Wutanfall obendrein und vielleicht auch noch eine neue Krankheit, aber definitiv keinen Schlaf!
Eigentlich hatte ich mir geschworen, nie in ein Heim oder in eine Pflegefamilie zu gehen, da ich von meinen Freunden allerlei Horrorstories darüber gehört hatte. Aber ich war das ständige Frieren und Betteln leid, konnte und wollte so auch einfach nicht mehr leben. Im Dezember kehrte ich meiner Straßen-Clique endgültig den Rücken und ging zum Jugendamt, die mich erst mal in eine Jugendschutzstelle brachten. Klar, dass meine alten Freunde das nicht verstanden und mich von diesem Schritt abhalten wollten, aber ich war so fertig, dass ich irgendwann einen Scheiß auf deren Meinung gab. In der Notunterkunft für Jugendliche blieb ich fast zweieinhalb Monate, zusammen mit zehn anderen abgewrackten Teenies, mit denen ich sogar ganz primitiv Weihnachten feierte. Mein Aufenthalt dort war deutlich länger als geplant, aber die Wohngemeinschaften der Berliner Heime sind alle voll und freie Pflegestellen gab es auch keine ... bis jetzt.
Keuchend erreiche ich eine abgeschrabbelte Tür, die mit halb abgerissenen Aufklebern übersät ist, und schiebe mir verschwitzt einige Strähnen meines hochgegelten, leuchtend grünen Kurt Cobain Nichthaarschnitts hinter die Ohren.
Auf dem Türschild steht Schnatz, in geschwungenen Buchstaben mit einem lila Schmetterling darüber. Dreckige Schuhe liegen im Hausflur, einige davon haben eine ähnliche Größe wie meine und dazwischen stehen hochhackige Stiefel.
»So, da wären wir!«, japst auch Hannah, die Sozialarbeiterin, die mich die letzten Tage betreut hat und mit der ich gestern noch den Übergangsbogen durchgegangen bin. Ich versuche, meine rasselnde Lunge zu beruhigen, und stelle aufgeregt meine Tasche ab. Dumpfe, raue Stimmen sind zu hören, als würden sich zwei streiten, doch ich kann nicht zu hundert Prozent sagen, ob das aus der Nachbarwohnung oder aus der vor uns kommt.
Ein ungutes Gefühl steigt in mir auf.
Hannah ringt sich ein schiefes Lächeln ab und scheint vom vielen Treppensteigen wirklich erschöpft zu sein, denn sie hängt wie ein Schluck Wasser am Türknauf. Ein Schluck Wasser in einer Ökotüte ... aus Leinen. Mit Hanfponcho drumherum. Ich erwidere ihre Gesichtsentgleisung mit einem kurzen Grinsen, doch auch ich bin ganz schön aus der Puste, denn ich musste ja nicht nur die Treppen steigen, sondern auch noch meinen Rucksack und die zigfach geflickte Sporttasche schleppen. Darin ist alles, was ich besitze.
Plötzlich rumpelt etwas hinter der Tür und eine sehr aufgebrachte Stimme schallt dumpf durch das Holz, als würde jemand wütend brüllen. Nein, das kam ganz eindeutig nicht aus der Nachbarwohnung. Gleich darauf ertönt schrilles Gezeter einer Frau und dann scheppert es, dass man es bis in den Hausflur vibrieren spürt, als hätte jemand mit ganzer Kraft eine Tür zugeknallt.
›Was tue ich mir hier bloß an? Vielleicht sollte ich doch zurück auf die Straße.‹ Mein Herz rast. ›Bin ich nicht genau vor solchen Leuten geflohen? Und jetzt komme ich wieder wohin, wo nur geschrien wird?‹ Muss am Prinzip der milieunahen Unterbringung liegen[Fußnote 1].
Frau Schnatz hat vor zwei Wochen eine freie Stelle angemeldet und ist auch bereit zu dem Teenager, den sie schon hat, einen weiteren aufzunehmen. Sie bietet eine Vollzeit-Pflegestelle, die Kinder und Jugendliche infamiliären Verhältnissen, wie es genannt wird, betreut. Es ist jedoch ein sehr komisches Gefühl, in die Wohnung einer Person zu ziehen, die man noch nie vorher gesehen hat, und dann soll man diesen Ort von heute auf morgen sein Zuhause nennen. Zwar habe ich das schon einmal bei der Unterbringung bei meinem Erzeuger erlebt, aber skurril ist es trotzdem, denn mit ihr bin ich ja nicht mal irgendwie verwandt.
Na ja, mir soll’s egal sein, solange ich ein sauberes, warmes Bett zum Schlafen habe, einigermaßen Ruhe herrscht und ich was zu essen kriege. Außerdem bin ich im Januar sechzehn geworden und wenn ich mich hier bewähre, kann ich bald einen Wechsel ins Betreute Wohnen beantragen. Dann bekomme ich sogar meine eigene Bude! Bis dahin heißt es ruhig bleiben und kooperativ sein, denn ich muss zeigen, dass ich reif genug dafür bin, alleine zu wohnen, hat mir Hannah erklärt.
Diese streicht sich gerade die gewellten, sandfarbenen Haare aus der Stirn und drückt mit ihrem schlanken Zeigefinger die Klingel. So zaghaft, wie sie das macht, könnte man fast denken, sie habe Angst hineinzugehen ... oder ihr Schuldbewusstsein plagt sie, weil sie mich in eine asoziale Pflegefamilie vermittelt, wer weiß. Die Tür wird geöffnet und eine Frau Ende vierzig streckt den Kopf heraus, um sie dann komplett aufzureißen und mit kratziger Stimme zu blöken: »N`Abend Frau Baumann, da sind Se ja endlich ma! Dachte schon, Sie bringen den Kleenen ja nich` mehr.«
›Den Kleenen? Ich bin größer als sie!‹
Frau Schnatz sieht so aus, wie sie sich anhört: billig und wenig gebildet. Ihre relativ kurzen, rotblonden Haare haben babyblaue Strähnen und sind zu einer Tolle auf dem Kopf toupiert. Sie trägt Goldglanzleggins, gelbe Sternchensocken und ein hautenges weißes Sportshirt, auf dem in Neonpink Sport steht. Sehr hilfreich. Kann man ja schließlich auch mal vergessen. Allerdings scheint sie nicht viel davon zu machen, denn sie ist ordentlich kurvig und ihr Hüftspeck ist auch nicht ohne. Ihre Oberarme haben den Umfang meiner Schenkel und ihr Make-Up sieht aus, als käme sie gerade aus einem Amateur-Porno.
»Guten Abend Frau Schnatz, bitte entschuldigen Sie die Verspätung«, buckelt Hannah und reicht ihr die Hand.
»Ja, ja, is jut. War nur schon beinahe vor der Glotze wegjerazt, dann hätt ick Se jar nich mehr jehört!«
›Genau. Und der Streit eben kam aus dem Fernseher oder wie? In Dolby Surround? Inklusive Vibrationseffekten beim Türzuschmeißen?‹
Hannah quetscht sich an ihr vorbei in den Wohnungsflur. »Wir haben ewig keinen Parkplatz gefunden und mussten uns sechs Straßen entfernt hinstellen. Dann noch die Treppen -«
»Seh`n Se? Deswejen hab ick keen Auto! Nur Scherereien hat man mit die Scheiße!« Frau Flodder dreht sich um und folgt Hannah zur Garderobe.
›Super! Sie ignoriert mich. Geiler Anfang!‹
Die Frau ist mir ungefähr so sympathisch wie ein goldfarben angesprühter Hundehaufen und mit denen hab ich leider eine Menge Erfahrung, denn ein Kumpel von mir hat diese Form der Kunsttherapie mal hobbymäßig betrieben. Viel schlimmer als ihre grauenvolle Teenager-Kleiderwahl, die nur noch von ihrem opulenten, goldfarbenen Modeschmuck übertroffen wird, ist jedoch der penetrante Geruch nach kaltem Rauch. Dieser wabert mir mitsamt einer Welle ihres Billigparfums entgegen und lässt meinen Kopf unangenehm puckern, als ich mich in den mit Deko überladenen Flur wage, in dem sich der Gestank jetzt auch noch mit Bohnensuppenaroma mischt.
Ich reiche ihr auch nicht die Hand, als ich direkt neben ihr stehe. Zum einen, weil ich mein Gepäck trage und zum anderen, weil ihre Fingernägel arg scharfkantig aussehen und ich keine Lust auf Schnittwunden habe.
»Mensch, so viel Zeuch. Wo soll`n dit allet unterkomm`?«, motzt sie weiter, statt mich zu grüßen, als ich meine Sachen an die Seite stelle. Doch ich reagiere nicht, denn ich bin kurz von dem pink glitzernden Wackeldackel hypnotisiert, der neben ihr auf einer goldfarbenen Kommode vor sich hin wippt. Selbst Hannah ignoriert ihr Gemaule und hängt ihren Mantel an die Garderobe, die ich als Nächstes bemerke.
›Muss ich jetzt ernsthaft meine Jacke ausziehen?‹
Besorgt zupple ich an meinem durchlöcherten NOFX-Shirt herum, denn alles in mir weigert sich, meine mit Buttons überladene Nietenjacke an einen dieser Flamingo-Haken zu hängen.
»Haben Sie denn das Zimmer freigeräumt, Frau Schnatz?«, fragt Hannah und deutet auf die angelehnte Tür gleich hinter der Pflegemutter. »Dann kann Johnny sich schon in Ruhe einrichten, während wir noch die restlichen Unterlagen abhaken.«
Plötzlich druckst Frau Schnatz herum, zieht auffällig die Zimmertür zu und dreht sich weg, derweil sie murmelt: »Ja, also ... dit ging nich so schnell. Ick muss ja och wo pennen.«
»So war aber die Vereinbarung, Frau Schnatz. In dem Fall müssen wir dann leider wieder gehen.«
Innerlich jauchze ich auf. ›Jaaaa bitte! Sofort!‹ Aber meine Kurzzeitmutter in spe zerrt eilig eine Rechnung aus dem Schubfach der Kommode.
»Ne, ne!!! Ick hab’n Doppelstockbett im Sozialkaufhaus jekooft, dit hat mein Freund jestern extra uffjebaut, im Kinderzimmer! Außerdem jabs ’n kleenen Schrank dazu, der steht jetz och drin, plus ’n Rejal! Wennse jetze gehen, war dit allet umsonst und laut Norm is der Raum groß jenuch für zweje!«
Hannah seufzt. »Ja, das mag sein. Aber wir hatten doch besprochen, dass es für Canaio besser ist, wenn er sein Zimmer nicht teilen muss. Er braucht einen Rückzugsort für sich!« Trotz ihrer eindeutigen Worte sehe ich leider, wie sie überlegt. »Na gut, ich schaue es mir mal an und werde mit Canaio darüber sprechen.«
Würde mich nicht wundern, wenn das auch der Grund des Streits war, den wir gehört haben. Echt eine super Basis! Noch geschickter hätte es die Madame nur noch einfädeln können, wenn sie ihm zum Kennenlernen Hausarrest und Muckeverbot aufgedrückt hätte! Jetzt schnauft sie leicht angepisst, scheint aber zu merken, dass sie mit der Sache durchkommt, also hält sie sich zurück.
»Klar, machen Se dit. Der sitzt in sein Bett. Macht ja sonst nüscht, der Bengel. Jehn Sie durch, kenn` ja den Weech. Ick muss mir erstma ’n Kaffee machn oder ick penn glei wech hier.«
Die Sozialarbeiterin nickt und geht zielgerichtet auf das hintere Zimmer zu, aus dem gehaltvolle Basstöne wummern. Ich nehme mein Gepäck und folge ihr, weil ich keinesfalls alleine in diesem Flur bleiben will und irgendwie hoffe, dass ich doch noch aus der Sache herauskomme. Auf jeden Fall werde ich gleich jedes noch so winzige, unpassende Müh breittreten, das auch nur ansatzweise dazu führen könnte, dass ich wieder in ihrem Auto sitze.
Natürlich ist anfangs jede Umgewöhnung in solcher Größenordnung schwierig, aber das hier ist schon sehr gewöhnungsbedürftig! Mit Frau Schnatz und ihrer Motivation, als Pflegemutter zur Verfügung zu stehen, fange ich gar nicht erst an, doch die hässlichen kleinen Jahrmarktautomatenplüschtiere, die überall kreuz und quer herumliegen, sind absolut gruselig! Im Vorbeigehen erhasche ich einen Blick auf die grausam gemischten Neonfarben der Wohnzimmermöbel, vom orangeschwarzen Zebra-Sofa bis hin zum violetten Couchtisch, die sich mit der grellpinken Pünktchen-Tapete und den roséfarbenen Blumenvorhängen beißen und spontan Augenkrebs verursachen. Aber wesentlich schlimmer ist der Zuckerparfumbohnenrauchmixgestank, der sich jetzt auch noch mit einer Wolke Katzenpisse mischt, als wir an der offenen Badezimmertür vorbeikommen. Offenbar wurde das Katzenklo, das neben der Badewanne steht, schon seit Tagen nicht mehr saubergemacht, denn es quillt bereits über. Andererseits hätte es sicher auch noch unangenehmer werden können. Immerhin ist die Wohnung gut geheizt und es scheint keinen versoffenen Ehemann zu geben, der gerne handgreiflich wird.
»Ich weiß, es ist gewöhnungsbedürftig«, flüstert Hannah plötzlich, als habe sie das dringende Bedürfnis sich zu entschuldigen, ehe wir durch die zerschlissene Zimmertür gehen. »Aber deine neue Schule ist nur eine Station entfernt und Antonia, also Frau Schnatz, ist im Grunde eine verträgliche Frau. Das mit dem Zimmer regeln wir später, bis dahin wird es erst mal so gehen müssen.«
Das sagt sie, als hätte sie es bereits entschieden, ohne die Bedingungen der Unterbringung überhaupt gesehen zu haben. Andererseits bleibt mir tatsächlich keine große Wahl, denn es ist ja keine andere Stelle frei, die Jugendliche in meinem Alter aufnimmt.
»Wenn’s sein muss ...«, schnaufe ich daher resigniert und lege den Kopf in den Nacken.
Sie nickt zuversichtlich, doch als sie ihre linke Hand auf die Klinke legt, hält sie noch einmal inne. »Ach so, noch was: Canaio, der Junge, der hier schon wohnt, ist sehr ... ähm eigenwillig und auch recht ... individuell in seinem Äußeren. Aber du wirst dich sicher mit ihm arrangieren können. Er ist im Grunde ein ganz friedlicher Typ ... meistens.«
»Aha.« Ich ziehe meine gepiercten Augenbrauen hoch und sehe sie an. »Na ja, solange er mir nicht blöd kommt, wird’s wohl gehen.«
»Sei bitte einfach freundlich, ja?« Sie wirkt schon beinahe flehend, was ich gar nicht verstehe, denn immerhin bin ich eine der verträglichsten Zecken[Fußnote 2] auf diesem Planeten. »Er ist sehr sensibel und hat viel durchgemacht, also sei nicht gemein zu ihm!«
»Jaaa dooch!«, antworte ich lachend. »Nun machen Sie doch nicht so ein Drama drum! Selbst wenn er ein einäugiger Emo-Einhorn-Nerd mit vier Armen und drei Eiern ist, werde ich nett sein und mir jeden spitzen Kommentar verkneifen.«
Sie seufzt und nickt lächelnd, dann klopft sie an und öffnet die Tür einen Spalt breit, durch den sie ins Zimmer lugt.
»Hey Can! Na, alles gut bei dir?« Die laute, düstere Musik übertönt ihr Rufen beinahe vollständig. »Ich hab hier deinen neuen Mitbewohner im Gepäck.« Ihre Worte klingen gespielt fröhlich, doch sie benimmt sich wie eine reuevolle Zoowärterin, die gerade eine Gazelle ins Löwengehege bringt.
»Raus!«, brüllt plötzlich eine junge, männliche Stimme und Hannah weicht zurück. »Ich mach da nicht mit! Verpisst euch!!! Ich will keinen scheiß Mitbewohner in meinem Zimmer!!!«
*Rumms* wird die lädierte Tür vor unserer Nase wieder zugeschmissen, ohne dass ich jemanden sehen konnte.
»Na wunderbar«, seufzt Hannah frustriert, ehe sie laut durch den Flur ruft: »Frau Schnatz, haben Sie Canaio irgendwie positiv darauf eingestimmt, dass Johnny heute kommt?«
Ich möchte eigentlich gar nicht wissen, ob sie das nur rhetorisch oder ernsthaft fragt.
»Ick diskutiere doch nich mit dem!«, antwortet meine Pflegemutter in spe zögerlich. »Man stellt solche Kinder besser vor vollendete Tatsachen und jut is!«
›Solche Kinder?‹
An und für sich müsste sie wissen, dass Teenager keine Kinder mehr sind, und auch die Tragweite ihrer mangelnden Vorbereitung scheint ihr vollkommen wurscht zu sein. Dank ihr nimmt mich dieser Canaio jetzt als Eindringling wahr und ein friedliches Zusammenleben dürfte äußerst schwierig werden.
Hannah sieht verzweifelt aus. Sie schaut auf ihre Armbanduhr und wirkt nervös, doch schließlich schüttelt sie nur noch den Kopf.
»Das wird nichts. Ich kann dich jetzt nicht auf Krampf da hineinzwingen und riskieren, dass ihr euch noch prügelt. Ich denke, es wird das Beste sein, wenn ich dich zurück in die Jugendnotunterkunft bringe. Dein Bett ist zwar schon wieder vergeben, aber zur Not kannst du ja auch ein paar Tage auf der Couch im Gemeinschaftsraum schlafen. Warte bitte kurz hier, ich lese eben nochmal Frau Schnatz die Leviten.«
»Okay.« Ich nicke und stelle meine Sachen ab. Im Grunde müsste ich jetzt erleichtert sein, denn immerhin wollte ich ja die ganze Zeit weg, seit wir einen Fuß in diese Bude gesetzt haben. Eine kleine Stimme in meinem Kopf sagt mir jedoch, ich sollte Canaio vielleicht wenigstens einmal Hallo sagen.
›Das ist doch absurd! Wozu? Der Typ hasst mich!‹
Ich wünschte, ich hätte jetzt einen Stift griffbereit. Immer wenn ich nervös bin, male ich mir irgendwelchen Blödsinn auf die Hände, denn das lenkt mich gut ab. Je länger ich hier nun doof in diesem stinkenden Flur herumstehe, desto größer wird mein Bedürfnis, die Klinke runterzudrücken.
›Genau genommen kann er mich ja gar nicht hassen. Er hat mich schließlich noch nie gesehen, geschweige denn kennengelernt. Außerdem gehe ich ja gleich wieder und bin keine Bedrohung mehr für seine Privatsphäre.‹
Ehe ich weiter darüber nachdenke, klopfe ich schon und öffne dann einfach die Tür.
»Ey!!! Ich hab gesagt, ich will nieman-«
»Keine Angst, wir sind gleich weg!«, unterbreche ich ihn und luge in das schmale Räumchen hinein. »Frau Schnatz hat dem Jugendamt Scheiße erzählt. Sie hat versprochen, dass ich ein eigenes Zimmer kriege und nicht, dass wir hier zusammengesperrt werden, also düsen wir wieder ab. Darf ich trotzdem kurz reinkommen? Wir sind ab morgen in derselben Klasse, daher wollte ich wenigstens mal Hallo sagen.«
Erst antwortet er nicht, doch dann scheint er sich zu beruhigen und brummt schließlich »Na schön, komm rein.«
»Danke.« Ich schließe die Tür hinter mir und erahne mehr, als dass ich etwas erkenne. Das ganze Zimmer ist sehr düster eingerichtet: Teppichläufer, Lampen, blickdichte Vorhänge, ein Doppelstockbett, und selbst der Klamottenberg, welcher sich halb in und halb vor dem Kleiderschrank stapelt, sind schwarz. Licht spenden nur einige rote Kerzen und eine kleine Leselampe, die am oberen Bett angebracht ist und zur Decke gedreht wurde. Ein Schulmalkasten liegt auf dem Boden, daneben mehrere breite Pinsel, und nun erkenne ich auch, dass Canaio alle neuen Möbel, die ursprünglich sicher mal eine Standard-Kiefernholz-Optik hatten, mit schwarzer Wasserfarbe angemalt hat. War wohl eine Trotzreaktion auf den unverfrorenen Stilbruch seiner einheitlichen Farbwahl.
Ich entdecke Canaio erst, als er sich bewegt, um seine Anlage leiser zu drehen, die auf dem Schrank neben dem Bett steht. Als sich unsere Blicke kreuzen, setzt mein Herz einen Schlag aus.
›Wow ...‹
Von der oberen Matratze des klapprigen Doppelstockbettes, das rechts neben der Tür an der Wand steht, nur minimal angeleuchtet von der kleinen Lampe, schaut ein Junge auf mich herunter, bei dessen Anblick mir ernsthaft der Atem wegbleibt. Er ist so hübsch, dass er beinahe etwas unecht, ja fast schon puppenhaft aussieht. Seine schwarzblauen Haare, die vollen Lippen und seine milchkaffeefarbene Haut deuten darauf hin, dass er zumindest ein farbiges Elternteil haben muss. Zottelige, brustlange Dreads hängen ihm in verschiedenen Längen ins Gesicht und sehen aus wie filzige, fingerdicke Spinnenbeine, die seinen Kopf wie eine Krone umgeben. Diese und der schwarze Strich, den er sich um die Augen gezogen hat, lassen ihn fast wie eine junge ägyptische Gottheit aussehen. Viel faszinierender finde ich jedoch das einzige, was so gar nicht ins Bild hineinpasst: seine zwei glasig wirkenden, ozeanblauen Augen, die trotz des spärlichen Lichts zwischen all den dunklen Farben hervorstechen ... neben den violetten Flecken in seinem Gesicht. Er wirkt etwas verheult, seine Lippen sind so gerötet, als hätte er darauf herumgekaut und seine Wangen glühen fiebrig.
Seine Miene spiegelt recht widersprüchliche Emotionen: aggressive Erregung im Wechsel mit Melancholie – eine atemraubende Mischung, die mich fasziniert.
»Hi«, quetsche ich wortkarg hervor und reiche ihm meine Hand hoch, da ich das dringende Bedürfnis verspüre, ihn einmal anzufassen und zu fühlen, ob er wirklich echt ist. Canaio reagiert skeptisch, fast schon scheu. Sein trotziger, fiebriger Blick löst sich von meinem Gesicht und schwenkt auf meine Finger, als würde er prüfen, ob ich ihn verarschen will. Schließlich lehnt er sich jedoch zögernd über die Bettkante und berührt mit seiner Hand vorsichtig die meine. Sein Händedruck ist schwach, fast als hätte er dabei Schmerzen, und ich spüre auch gleich den Grund dafür, denn seine Fingerknöchel sind verschorft.
»Wie heißt du?«
»Johnny«, sage ich leise und kann den Blick nicht von seinen Augen lassen, was anscheinend sogar auf Gegenseitigkeit beruht.
Der Ausdruck in seinem Gesicht wird etwas sanfter, dann nickt er. »Ich bin Can. Sorry für die Anmache, ich hab nur einfach ungern Fremde in meinem Zimmer.«
»Verstehe ich voll und ganz!«, bestätige ich und versuche zu lächeln. »Und ich will auch noch gleich in dein Bett ... Sauerei so was.« Ich glaube, er versteht erst, dass ich den unteren Teil des Doppelstocks meine, als ich ihm grinsend die Zunge rausstrecke. Trotzdem verzieht er nur träge die Oberlippe und weicht wieder ein Stück zurück.
»Bist`n Scherzkeks, hm?«
»Nur donnerstags von acht bis dreiundzwanzig Uhr. Normalerweise bin ich ein Vollzeit-Trauerkloß.«
»Oh Mann.« Er prustet und sieht zur Seite, doch ich sehe, wie sich kurz darauf seine Mundwinkel heben. »Wer hätte denn ahnen können, dass sie mir einen albernenPunk schicken? Und dann auch noch einen mit grünen Haaren!«
»Ey, nix gegen meine Schimmelmatte! Die ist sehr schön und im Wald bin ich damit gut getarnt.« Ich frage lieber gar nicht erst nach, wen er mit sie meint, vermutlich das Jugendamt, aber ist ja auch wurscht. »Na ja, ich fahr jetzt mit Hannah zurück in die Auffangstelle und warte darauf, dass ein anderer Platz frei wird. Hat mich trotzdem gefreut dich kennenzulernen und ich hoffe, dass Frau Schnatz ihr Schlafzimmer freigeräumt haben wird, bevor sie sich den nächsten Karteikastenteenager aussucht. Bye, bye.«
Ich drehe mich zur Tür, doch als ich die Klinke drücken will, lehnt sich Canaio über die knarzende Reling und hält die Hand an die obere Türkante.
»Schnarchst du?«
Oho! Ändert da etwa jemand seine Meinung?
»Nicht dass ich wüsste. Zumindest hat sich noch keiner beschwert.«
»Hast du Blähungen?«
Ich lache und schüttle den Kopf. »Wenn es nicht gerade Chili con Carne gibt, dann nicht.«
»Wie lange willst du hierbleiben?«
»Nur so lange wie unbedingt nötig«, antworte ich wahrheitsgemäß und komme mir langsam vor, als wäre ich bei einem Verhör. »Maximal ein halbes Jahr, dann wechsel ich ins betreute Einzelwohnen.«
»Hrmpf.« Ich sehe förmlich, wie er überlegt, doch schließlich seufzt er und sieht mich kritisch an. »Na schön, kannst hierbleiben. Aber wehe, du fasst meinen Kram an, und keine rassistischen Sprüche in meiner Gegenwart!«
»Gut, dass du es sagst, normalerweise haue ich im zehn Sekunden Takt Mein Kampf-Zitate raus.« Ich ziehe zynisch die Augenbrauen hoch und schaue kopfschüttelnd an mir herunter. »Mal ernsthaft, seh ich so aus, als wär ich rassistisch?«
»Nein«, giggelt er nun und wirft mir eines seiner kleinen Kissen in meine formschöne Visage. »Aber bekloppt bist du auf jeden Fall.«
»Pöh! Ich geb dir gleich bekloppt!«
Kurz darauf beschmeißen wir uns gegenseitig mit sämtlichen Nackenpolstern, die da sind.
Nein. Ich möchte hier nicht mehr weggehen.
~~★☠★~~
Als Hannah zurückkommt, staunt sie nicht schlecht, als sie realisiert, dass wir uns plötzlich doch zu vertragen scheinen. Sie schickt mich sogar nochmal raus und spricht allein mit Canaio, doch der bestätigt ihr nur, dass er einverstanden ist. Dann ruft sie mich samt meinem Gepäck wieder rein und sieht sich noch seine Blessuren an. Zumindest versucht sie es, doch bei den spärlichen Lichtquellen ist es eine echte Herausforderung und Can will partout nicht, dass sie die grelle Lampe an der Zimmerdecke anmacht. Außerdem bleibt er beharrlich auf seinem Bett oben sitzen und weigert sich herunterzukommen. Auf Hannahs Frage, woher er die Verletzungen habe, flüstert er, dass er einfach hingefallen sei. Man kann jedoch an seinem Verhalten deutlich erkennen, dass die Antwort gelogen ist und daran gibt es wohl auch für die Sozialarbeiterin keinen Zweifel. Sie senkt ihren Kopf, dreht sich zur Tür und verkündet, dass sie noch einmal mit Frau Schnatz sprechen müsse. Danach käme sie ein letztes Mal zu uns, bevor sie losfährt. Die Tür fällt ins Schloss und ich bleibe mit meinem Kurzzeit-Irgendwie-Bruder allein zurück. Der beobachtet mich noch immer wie ein schwarzer Rabe von seiner Aussichtsplattform und dreht die Musik wieder lauter.
Zuerst überlege ich, ihn zu fragen, ob er wirklich nur hingefallen ist und nicht was anderes dahintersteckt, doch dann verkneife ich es mir. Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich mit lockeren Themen anfange.
»Ich bin übrigens sechzehn, hatte im Januar Geburtstag. Wie alt bist du?« Unverfänglich genug?
»Werde diesen Juli auch sechzehn«, antwortet er knapp, lehnt sich wieder an die Wand und senkt den Blick auf seine Beine, als sei er jetzt nicht mehr an einer Unterhaltung mit mir interessiert.
›Vielleicht wäre es gut, ein gemeinsames Feindbild zu schaffen, damit er sich mir anvertraut?‹
»Kommst du gut mit Frau Schnatz klar? Wie lange lebst du schon hier?«
Canaio seufzt auf und sieht mich leicht genervt an. Er scheint jedoch zu realisieren, dass ich ihm auch ein Schnitzel an die Backe labere, wenn er nicht antwortet. »Seit sechs Jahren und ja, sie ist okay. Die Familie, in der ich davor war, ist viel schlimmer gewesen. Die lebten in einem runtergekommenen Bauernhaus in Brandenburg, hatten vier eigene Gören und neben mir weitere fünf Pflegekinder. Wir quetschten uns alle in drei Dachgeschosszimmer und es gab weder warmes Wasser noch eine richtige Heizung, nur Kachelöfen im Erdgeschoss, in die ab achtzehn Uhr nichts mehr nachgelegt wurde. Wir mussten von klein auf im Haus und auf dem Hof mitarbeiten: Putzen, Wäsche waschen, Ställe saubermachen, Felder bestellen, Schlachten ... und den Pflegeeltern wollte man nicht mal über den Weg laufen, wenn sie gute Laune hatten, geschweige denn, wenn sie besoffen waren. Es wurde viel gestritten, war immer extrem laut und alle nannten mich nur Bimbo. Ich glaube, die wussten überhaupt nicht, wie ich wirklich heiße.«
»Früher sagten die Leute ständig Bleichkäse zu mir«, werfe ich ein, um die Stimmung zu lockern, denn ich merke, dass er immer niedergeschlagener wird. »Kalkstange fanden die Jungs aus der Nachbarschaft besonders witzig, weil ich sie damals schon alle überragt hab. Ach ja, und Minimalpigmentierter haben sie mich oft genannt, auch weil ich wegen meiner blonden Haare überhaupt keine Konturen im Gesicht hatte. Wie ein Schwamm sah ich aus. Na ja, seitdem färbe ich mir die Mecke und meine Augenbrauen eben grün.« Meine Anekdote heitert ihn leider nicht so auf, wie ich gehofft hatte. »Also, was ich damit sagen will: Mir persönlich ist es vollkommen wurscht, welche Hautfarbe jemand hat, solange er oder sie kein Arsch ist. Bist du denn in Deutschland geboren?«
»Ja.« Mehr sagt er dazu nicht.
Natürlich sehe ich, dass er eine deutlich dunklere Hautfarbe hat als ich, aber er ist auch nicht wirklich schwarz und seine Augen sind ja nun auch eindeutig hell. »Hast du deine Eltern mal gefragt, woher sie stammen?«
»Ich habe keine Eltern mehr. Säße ich sonst hier?«
Oh, oh ... jetzt driftet seine Stimmung in Aggression ab. Ich sollte lieber zurückrudern.
»Tut mir leid, es geht mich ja auch gar nichts an«, entschuldige ich mich gleich. »Ich hatte nur gehört, dass die meisten, trotz der Unterbringung in einer Pflegefamilie, noch Kontakt zu ihren Eltern haben, aber ich wollte dir echt nicht zu nahe treten.« Damit belasse ich es und wende mich meinem Gepäck zu. Eine Weile schweigen wir beide und alles, was die Stille zwischen uns füllt, ist die schaurig-rockige Musik aus seiner kleinen Anlage.
»Meine Eltern kommen aus Brasilien«, sagt er plötzlich und ich schaue auf.
»Ach so?«
Er nickt. »Ja. Mein Vater ist schwarz, stammt aus Bahia, meine Mutter ist eine Spanierin aus Piauí. Ich weiß nicht viel über die beiden, eigentlich gar nichts, aber ich wurde hier geboren und wuchs bei ihnen auf, bis ich drei war. Eines Tages holten sie mich jedoch nicht mehr aus der Kita ab und ich wurde dem Jugendamt übergeben, das mich in ein Heim steckte, bis die Ermittlungen abgeschlossen waren. Das dauerte zweieinhalb Jahre. Ich habe später meine Akte lesen dürfen, aber da steht auch nur drin, dass unsere Wohnung so aussah, als sei siehektisch verlassen worden. Meine Mutter war eine normale Angestellte in einem Callcenter, doch mein Vater soll einige krumme Dinger gedreht haben. Vermutlich ist was schief gegangen oder die beiden schuldeten irgendwem Geld. Keine Ahnung. Jedenfalls haben die Ermittlungen ergeben, dass sie in einen Flieger gestiegen und abgehauen sind.«
Ein dicker Kloß macht sich in meinem Hals breit und ich spüre, wie ich kaum daran vorbeischlucken kann. Er sitzt da oben wie ein Häufchen Elend und ich verspüre gerade das große Bedürfnis, ihn einfach mal in den Arm zu nehmen, auch wenn der Gedanke ziemlich bescheuert ist.
»Ich weiß, es bringt dir einen Scheiß, wenn ich dir sage, dass ich dich verstehe, aber ... es tut mir wirklich leid, was dir passiert ist, und ja, ich verstehe, wie du dich fühlst.«
Canaio sieht mich zunächst eine Weile schweigend an, fast so wie in dem Moment, als ich ihn begrüßt habe: prüfend, als wolle er herausfinden, ob ich es ernst meine. Schließlich nickt er jedoch. »Was ist mit dir? Hast du noch Kontakt zu deiner Familie?«
Mein Herz zieht sich zusammen. Der Gedanke an meine Mutter ist nach wie vor sehr schmerzhaft für mich, aber jetzt wäre es unfair, wenn ich ihm nicht genauso offen begegnen würde wie er mir.
»Meine Mum ist vor vier Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie brachte mich in ein Ferienlager am Meer, von dem ich ihr vorschwärmte, seit die Tochter ihrer besten Freundin dort gewesen war und bei jedem Treffen von nichts anderem mehr erzählte. Also sparte meine Mutter, machte Doppelschichten und brachte mich schließlich für drei Wochen in das idyllische Dünencamp. Danach sah ich sie nie mehr wieder.« Ich schlucke schwer und blinzle mehrmals, um meine aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, doch dann lache ich und sehe zu Can hoch. »Ich weiß noch, dass sie tiefe Augenringe hatte, als sie sich von mir verabschiedete, denn sie war von all den Überstunden völlig übermüdet. Die Polizei vermutet, dass sie auf der Autobahn eingeschlafen und dadurch in die Leitplanken gekracht ist. Sie soll auf der Stelle tot gewesen sein. Unnötig zu erwähnen, dass ich mir die Schuld daran gebe, oder?«
Canaio schüttelt den Kopf und sagt leise »Verstehe ich, auch wenn’s Blödsinn ist.« Er scheint nun ebenfalls zu erkennen, dass unsere Vergangenheiten eine gewisse Parallele haben. »Und danach? Wo bist du hin?«
»Och, ich war hier und da. Frei wie ein Vögelchen.«
»Du hast auf der Straße gelebt? Vier Jahre lang?«
Warum hört sich das aus seinem Mund so viel unschöner an? Allerdings höre ich auch einen gewissen Funken Bewunderung aus seiner Stimme heraus.
»Nicht die ganze Zeit«, erwidere ich. »Anfangs lebte ich noch bei meinem Erzeuger, aber der ist ein hysterischer Wichser, da war mir die Gesellschaft meiner Clique bald lieber. Hab gelagert, wo es gerade ging: bei Kumpels, meiner Exfreundin oder im Sommer auch einfach draußen. Gibt nichts Schöneres, als unter freiem Himmel zu pennen!« Ich grinse und hoffe inständig, dass er das Zittern in meiner Stimme nicht bemerkt.
»Na ja, also solange es warm ist, okay, aber besonders gemütlich ist es sicher nicht. Dagegen ist das Leben hier ja dann purer Luxus für dich. Anti, also Antonia, lässt einen auch großteils in Ruhe und arbeiten muss man bei ihr auch nicht. Es ist mehr wie in einer WG. Jeder macht sein Ding.«
»Sicher, an solchen Extremen gemessen, wie du und ich sie vorher hatten, mag es okay sein, aber ein fürsorgliches Zuhause ist trotzdem was anderes. Verglichen mit meiner Mum ist Antonia eine grauenvolle Ersatzmutter. Sie ist weder besonders nett noch kommt sie mir irgendwie liebevoll vor. Eher ruppig.«
»Ist doch völlig egal!«, schnauzt Can plötzlich aufgebracht und ich befürchte, ich habe gerade einen wunden Punkt getroffen. »Was genau erwartest du eigentlich?« Er klappt grantig etwas auf seinem Schoß zusammen und erst jetzt sehe ich, dass er die ganze Zeit über ein Buch in der Hand hatte. »Wenn du einen Mutterersatz suchst, bist du bei der an der falschen Adresse! Ich sag’s dir, wie es ist: Sie kocht nicht, sie liest keine Geschichten vor und Liebe kriegen nur ihre ständig wechselnden Typen. Es ist ihr auch scheißegal, ob deine Klamotten sauber sind oder ob du in der Schule klarkommst. Ihr ist alles egal! Sie hat noch nie was für mich getan oder mir was geschenkt, nicht mal zu Weihnachten oder zum Geburtstag! Sie sackt die Kohle vom Jugendamt ein und behält sie für sich. Ende! Wenn kein Fressen im Tiefkühler ist, klau ich mir Geld aus ihrer Potte und kauf mir selbst was. Ansonsten gehen wir uns einfach aus dem Weg. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie ein inniges Verhältnis zu irgendwem und du bist ein Vollidiot, wenn du glaubst, dass du in deinem Alter noch in eine Pflegefamilie kommst, die dich lieben könnte!«
Autsch. Das nenne ich mal resigniert. In seinen Worten schwingt so viel Bitterkeit mit, dass ich erahne, wie ihn dieses gefühlskalte Leben abgestumpft haben muss, und so langsam kann ich mir auch erklären, woher seine Aggression kommt. Aber ganz so abgebrüht, wie er tut, ist er nicht, denn er klingt, als würde er jeden Moment losheulen. Der Gedanke daran zieht mich ziemlich runter und obwohl ich weiß, dass es absurd ist, überkommt mich erneut das Bedürfnis, ihn einfach mal in den Arm zu nehmen und ihm zu sagen, dass alles gut wird ... weil ich ab jetzt für ihn da bin.
›Das ist doch völlig bescheuert. Ich hatte noch nie einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, also warum ausgerechnet jetzt?‹
Ehe ich mich versehe, stehe ich schon auf der ersten Sprosse der Leiter zu seinem Bett und lehne mich mit den Ellenbogen auf seine Matratze.
»Kann ich mal raufkommen?«
Er glotzt mich so schockiert an, als hätte ich gefragt, ob ich ihn anpinkeln darf. »Wozu?«
»Um die Aussicht zu genießen«, antworte ich lachend und steige nach oben. »Mann, einfach so! Ich krieg ’nen steifen Hals, wenn ich die ganze Zeit zu dir hochgucken muss.« Da krabble ich schon auf allen vieren zu ihm rüber.
»Na, solange dir nicht was anderes steif wird, wenn du mich ansiehst ...«
»Ha, Ha!« Sobald ich angekommen bin, pflanze ich mich dicht neben ihn. Man kann gerade noch so aufrecht sitzen, ohne mit dem Kopf gegen die Zimmerdecke zu stoßen. »Nett hast du es hier oben!«
»Nett ist die kleine Schwester von Scheiße.«
»Okay, gemütlich! Besser?«
»Ja.«
Eine Weile sitzen wir nur da und hören Musik, zu der ich mit dem Kopf wippe. Pogen[Fußnote 3] geht ja hier schlecht und die Mucke ist auch ziemlich schwergängig, weshalb sich mein Genicke in Grenzen hält. So von Nahem betrachtet, fallen mir weitere Details an Can auf: Er hat ein mittig gestochenes Lippenpiercing, mehrere Ringe in den Ohren und an der rechten Augenbraue scheint er sich mal geschnitten zu haben. Zumindest fehlen ihm da ein paar Haare ... oder hat er die dort absichtlich wegrasiert? Meine drei Ringe in der linken Braue hab ich mir von einem Kumpel stechen lassen und danach sah sein Bad aus wie eine Maya-Opferstätte.
Plötzlich leuchtet etwas schwach neben seinem Oberschenkel und er schiebt es auffällig unauffällig unter die Decke. Ich habe aber schon gesehen, was es ist: ein kleines Handy, genau genommen ein Nokia 3310. Meine Ex hat sich auch so ein Ding gekauft, gleich als es auf den Markt kam. Wie konnte er sich bloß so ein Teil leisten? Soweit ich weiß, kosten die um die sechzig Tacken! Wahrscheinlich mopst er regelmäßig was aus der Potte seiner Pflegemutter und nicht nur, wenn nichts zu essen da ist. Für das Handy wird er wohl lange gehortet haben, bis es gereicht hat, aber ist ja auch äußerst praktisch, hab ich mir sagen lassen. Zumindest, wenn die Freunde ebenfalls welche haben.
Ob er gerade die ganze Zeit heimlich mit irgendwem gesimst[Fußnote 4] hat? Nein, ich frage lieber nicht, das ist sicher wieder zu persönlich.
»Sag mal, hast du nicht noch irgendwas zu tun?«, fragt er auf einmal äußerst verdächtig und scheint dringend auf den kleinen grünen Bildschirm gucken zu wollen. Er ist es ganz offensichtlich nicht gewohnt, dass jemand einfach mal chillig neben ihm abhängt.
»Wer ist das?«, kontere ich lieber mit einer Gegenfrage und zeige auf den Ursprung der Musik.
»Mister CD-Player.«
»Mann!« Ich lache und stoße ihn an. »Die Mucke! Welche Band ist das?«
»Type O Negative«, gibt er schnaufend von sich, doch das Thema scheint ihm besser zu gefallen als das vorherige, denn sein Gesichtsausdruck hellt sich wieder auf. »Das Album heißt October Rust und gerade läuft ... ähm -« Schnell schnappt er sich die CD-Hülle vom Schrank, die noch ziemlich neu zu sein scheint. »Ah! Wolf Moon!«
»Cool! Gefällt mir! Darf ich mal?« Er nickt zögernd, zuppelt das Booklet heraus und reicht es mir, damit ich ein wenig darin blättern kann. Ich muss mich jedoch erst mal darauf konzentrieren, denn durch die schwunghafte Bewegung ist Canaio ein Träger seines viel zu großen, schwarzen Tanktops heruntergerutscht und so habe ich jetzt einen freien Blick auf eine seiner Brustwarzen. Das allein würde mich wohl wenig irritieren, doch sie ist mit einem kleinen, silbernen Stab gepierct, was mir schon beim Hingucken wehtut.
›Booklet!‹
»Coole Type. Bisschen zombiemäßig, aber sonst ... Ist der dein Vorbild?«
»Blödsinn«, protestiert er. »Der Kerl ist ein selbstherrliches Totalarschloch.«
»Na super«, kommentiere ich kichernd. »Aber um gute Musik zu machen, muss man ja zum Glück nicht freundlich sein. Wäre für deine böse Grufti-Sparte wahrscheinlich sogar eher kontraproduktiv.«
»Ich geb dir gleich Grufti-Sparte!«, grunzt er und knufft mich. »Die meisten Künstler sind sehr nett in dem Genre.« Als sei ich nicht würdig, es weiter zu beäugen, reißt er mir empört das Heftchen aus der Hand und fummelt es wieder fein säuberlich in die Hülle. Danach folgt zwei Songs lang bockiges Schweigen, doch als er merkt, dass ich trotzdem nicht gehe, tippt er mir schließlich gegen die Brust. »Ist das da deine Lieblingsband?«
»Na aber vollstes Möhrchen!« Dabei deute ich mit beiden Zeigefingern leicht posierend auf mein Shirt. »NOFX, die coolsten Sackratten, die jemals eine Bühne zusammengeplärrt haben! Ich liebe sie!«
»Noch nie von denen gehört, aber hab ich mir fast schon gedacht.« Canaio kichert kurz, wahrscheinlich eher wegen meines machohaften Gehabes als der Band selbst, doch so von Nahem betrachtet steht ihm der fröhliche Ausdruck unheimlich gut. »Ein so potthässliches Shirt kann man auch nur tragen, wenn man absoluter Fan ist. Passt allerdings zu deinen Haaren.«
»Ey!« Ich klatsche seine Hand weg, die angewidert eine meiner Kiwi-Strähnen hochhält, übel nehme ich es ihm aber nicht, denn der Punkkopf, dessen Iro den Bandnamen bildet, ist tatsächlich nicht besonders gut gezeichnet. »Und wie sieht’s bei dir aus? Ist die arschige Nachtigall dein Favorit?«
»Ne«, schnauft er grinsend und schaut weg, als würde er überlegen, ob er mir so eine wichtige Info wirklich anvertrauen will, doch dann rückt er mit der Sprache raus. »Ich steh eigentlich mehr auf Glenn.«
»Glenn? Ich kenn keine Band, die Glenn heißt.«
»Mann! Glenn Danzig, der Sänger von den Misfits.«
»Ach so ...« Kichernd lasse ich den Zeigefinger in der Gegend umherkreisen und zeige damit auf die unzähligen Misfits-Poster, mit denen er so gut wie alle Schränke und Wände tapeziert hat. »Hätte ich niemals erraten.«
»Ja, ja, du mich auch!« Nun streckt er mir sogar kindisch die Zunge raus und wirkt wieder fast so locker wie bei unserer anfänglichen Kissenschlacht. Erst jetzt sehe ich, dass selbst der weiße Aufdruck auf seinem Top das Totenkopflogo der Band ist.
So viel zum Thema hässliche Oberteile.
»Ich hab letztens erst wieder das Musikvideo von Dig Up Her Bones gesehen«, versuche ich das positive Gesprächsthema zu erhalten und lehne mich diskussionsbereit vor. »Geiler Track, aber ganz schön adonisch die Typen.«
»Ja, die haben hammermäßige Körper.« Can lacht leicht verlegen. »Ich will unbedingt auch mal so aussehen!« Auf einmal schaut er zu einem der Poster rüber, auf dem die Jungs alle in ihren schwarzen Lederhosen oberkörperfrei dastehen und ihre fetten Muskeln präsentieren. Dabei bekommt er einen richtig glasigen Ausdruck in den Augen. »Glenn ist mit Abstand der heißeste Kerl überhaupt ... und er hat ein ultrasüßes Lächeln.«
»Ach ...?« Nun bin ich es, der ihn etwas verwirrt ansieht, denn das hört sich ja fast schon verliebt an. »Na ja, auf sein Lächeln hab ich bisher nie so sehr geachtet, aber wenn du meinst.«
Erst durch meine Antwort scheint ihm plötzlich bewusst zu werden, dass er da gerade einen sehr intimen Gedanken ausgeplappert hat. Peinlich berührt läuft er rot an und klappt sofort wieder das Buch auf, um es sich vors Gesicht zu halten. Diese verschämte Reaktion passt irgendwie gar nicht zu ihm und ich muss mir ein Lachen verkneifen. »Hey, ist doch kein Ding. Ich bin als Kind ewig auf Lucky Luke abgefahren, weil der schneller schießen konnte als sein Schatten. Heute seh ich Schnellschießen eher als was Negatives ...«
»Schön für dich!« Er scheint meinen Wortwitz nicht zu verstehen, denn er versteckt sich weiter.
›Verdammt! Jetzt wurde er gerade ein bisschen lockerer. Ich muss die Situation irgendwie retten!‹
»Was ich damit nur sagen will, ist, dass sicher jeder Junge auch mal für ’nen Kerl schwärmt. Aber das ist nur eine Phase, die geht vorbei.«
»Ja, klar! Genau! Du gehst auch gleich vorbei!« Statt über mein Verständnis erleichtert zu sein, wirft er mir plötzlich einen sehr, sehr giftigen Blick über den oberen Buchrand zu und schnauzt mich an: »Könntest du dich jetzt endlich mal aus meinem Bett verpissen, damit ich in Ruhe lesen kann? Ich will dabei keinen Hinterhofadel auf meiner Matratze! Wer weiß, wo du mit den Drecksklamotten schon überall gesessen hast!«
Okay, also sensibel ist gar kein Ausdruck. Der Typ ist ein Megamimöschen!
»Schon gut, schon gut, ich geh ja!« Wahrscheinlich ist es das Beste, ihn erst mal in Ruhe zu lassen, daher rutsche ich wieder zur Leiter. »Aber du machst dir die Augen kaputt, wenn du bei diesem Licht liest.« Ehe ich richtig bemerke, wie komisch eine solche Aussage aus meinem Mund klingt, fliegt sein Buch bereits haarscharf an meiner Nase vorbei und knallt gegen die Wand am Fußende des Bettes. »Ey! Man wirft nicht mit Schinken!«
Canaio sieht mich jetzt noch trotziger an als vorher. »Du bist nicht mein scheiß Vormund, also behalt deine blöden Ratschläge für dich!«
»Schön, dann lies, bis du blind wirst.« Ich hüpfe auf den Boden und lege stöhnend den Kopf in den Nacken, denn eigentlich habe ich meinen Ratschlag ernst gemeint, fast als würde ich mir Sorgen um ihn machen. Aber das wäre ja lächerlich. »Ich hab übrigens auch ´n paar CDs bei. Wenn wir uns das Zimmer zukünftig teilen, müssen wir uns mit der Mucke halt irgendwie abwechs-«
»Vergiss es, du Penner!«, brüllt er auf einmal schroff herunter. »Das ist mein Zimmer! Hier läuft meine Musik oder gar keine!«
Ich habe das leise Gefühl, er bereut jetzt, dass er mir gestattet hat, hierzubleiben.
In dieser Sekunde klopft es und Hannah kommt wieder rein. Sie lächelt vorsichtig und scheint erleichtert zu sein, dass wir uns trotz des Krachs noch nicht die Köpfe eingeschlagen haben. Mit Betonung auf noch, denn was nicht ist, kann ja noch werden und bei Canaios Hitzkopf scheint diese Option allgegenwärtig.
»So, ich hab eben zum wiederholten Mal ein sehr langes Gespräch mit Frau Schnatz geführt und sie hat mir versprochen, dass sie bis zu Cans Geburtstag das andere Zimmer freigeräumt haben wird.«
»Die weiß doch gar nicht, wann ich Geburtstag habe!«, motzt Can und zieht die Nase hoch, als würde er gleich über seine kleine Reling rotzen wollen, was er zum Glück nicht tut, denn ich stehe ja direkt davor.
»Doch, weiß sie«, kontert Hannah. »Ungeachtet dessen habe ich es auch gerade in den Küchenkalender eingetragen. Außerdem hat sie mir gesagt, dass deine Verletzungen aus der Schule sind. Wurdest du wieder verprügelt?«
Autsch. So was Peinliches vor dem neuen Zimmergenossen rauszuhauen, ist sicherlich nicht pädagogisch wertvoll und Can reagiert genau so, wie ich es erwarte. Er dreht sich weg und macht dicht.
»Du sollst mir doch sagen, wenn so was passiert!« Hannah tritt zu ihm ans Bett, aber Can schweigt sie an. »Soll ich mit dem Direktor sprechen? Ihr habt doch morgen euren Wandertag, oder? Dann hole ich euch beide früh ab, bringe euch zum Busbahnhof und danach fahre ich weiter zur Schule.«
›Mann! Will sie das jetzt ernsthaft vor mir mit ihm ausdiskutieren? Wie kann man so wenig Feingefühl haben?‹
Ich klopfe gegen den Türrahmen und räuspere mich. »Es ist ihm sicher unangenehm, wenn ich bei so einem Gespräch zuhöre. Also geh ich mal kurz ins Bad und lasse mich einstinken.« Schon bin ich raus. »Mann, Mann! Systemsklaven! Kein Taktgefühl!« Ich biege gleich nach links ins WC ab, stoppe jedoch abrupt, denn dort glotzt mich ein potthässlicher, fetter, rot getigerter Kater an, der balancierend auf der Kante des Katzenklos hockt und sich gerade eine frische Wurst aus dem Rücken drückt. Seine Augen platzen beinahe, scheint also ein hartes U-Boot zu sein ... oder er sieht immer so aus. Ich hebe entschuldigend die Hände und gehe rückwärts raus. »Verzeihung! Wollte nicht stören.« Meine Nase wird erneut von Lord Kackes Dampfwolke überrollt, deshalb verschwinde ich schnell zurück in den Flur.
Der Wohnungstiger kann einem richtig leidtun. Zum einen, weil er aussieht, als wäre er sehr wuchtig gegen eine Scheibe gelaufen und hätte sich damit die Nase komplett ins Gesicht hineingeschoben, und zum anderen, weil er sein Klo anscheinend selbst schon mehr als widerlich findet. In ein paar Tagen wirft er seine Knödel bestimmt von der Tür aus hinein. Vielleicht sollte ich einen kleinen Basketballkorb kaufen?
Direkt neben dem Bad ist die ebenso winzige Küche, in der noch nicht mal ein Tisch steht. Gerade als ich mich frage, wo die denn hier essen, sehe ich benutzte Teller auf dem Couchtisch stehen. Das einzig Große in dieser Wohnung ist das offene Wohnzimmer und dessen Knotenpunkt bildet ... natürlich die Glotze! Da läuft derzeit eine Talkshow mit C-Prominenten, die über ihre Schönheits-OPs sprechen.
Plötzlich sehe ich hinter dem Wohnzimmer, draußen vor dem Fenster, etwas aufflackern und entdecke eine Balkontür.
›Versteckt sich da jemand? Hm, ich kann ja mal rausgehen. Ein bisschen frische Luft kann ich jetzt gut gebrauchen.‹
Auf dem schmalen Balkon zuckt Antonia bei meinem Auftauchen erschrocken auf ihrem Gartenstuhl zusammen und hustet mir ihren Qualm entgegen. Das aufflackernde Licht stammte von einem Feuerzeug. »Wat machst du denn hier draußen? Jeh wieda rin, Junge!«
›Hat sie vergessen, wie ich heiße?‹ Ich muss aufpassen, dass ich nicht lache, denn in ihrer großflächig blau- und silberkarierten Plastikjacke sieht sie aus wie eine Red Bull Dose.
›Du musst mit der Ollen eine Weile klarkommen, also tu einfach so, als würdest du sie bemitleiden und sei übermäßig nett. Hat doch bei den Supermarkttussis auch immer geklappt, wenn die Ausweise sehen wollten.‹
»Tut mir leid, ich möchte Sie nicht in Ihrer wohlverdienten Ruhepause stören. Das Ganze muss ja auch für Sie eine große Umstellung sein, und die vielen Möbel wegen mir aufzubauen, war sicher sehr stressig. Sorry, ich geh dann wieder.«
Geheiligt sei der Sarkasmus.
Perplex glotzt sie mich an, doch dann lächelt sie und wedelt mit ihrer Zigarette. »Ne, ne, schon jut. Kannst och hierbleiben. Wollte ja nur nich, daste dich erkältest.« Ja ... sicher! Aber meine Tour wirkt und sie schiebt mir sogar mit dem Fuß den zweiten Plastikstuhl hin, ehe sie mir ihre Pall Mall Red Schachtel reicht. »Hier, aber mach hinne, die Hannah sieht dit nich so jerne.«
»Danke, aber ich will Ihnen nicht Ihre schwer erarbeiteten Zigaretten wegrauchen«, lehne ich freundlich ab. »Was machen Sie eigentlich beruflich?«
»Den Bengel da hinten hüten! Der tut jenuch Scherereien anstellen.« Und das antwortet sie, als wolle sie dafür einen Orden. »Der Haushalt macht sich ja och nich von alleene!«
Stimmt. Sonst wär’s ja sauber.
»Und ihr Freund? Wohnt der mit hier?«
»Neeee«, gluckst sie und schlägt die Beine übereinander. »Den Hartmut hab ick doch erst seit paar Wochen. Bei mir lass ick keen Freund einziehn. Is ja keen Platz! Ick warte nur druff, dass ick ma een kennlerne mitn Haus!« Dabei lacht sie. »Dann zieh ick aba sofort bei dem ein und nie wieda aus, dit kannste glooben! Und der Harti kann dann och guckn, wo der Pfeffer wächst!«
Scheint die große Liebe zu sein.
Auf jeden Fall bluten mir bei ihrem extremen Dialekt die Ohren und ich beschließe jetzt schon, so selten wie möglich mit dieser Frau zu reden. Berliner Slang ist ja schön und gut und ein bisschen berlinern wir sicher alle, aber so extrem ist es echt anstrengend.
»Ich habe gerade Ihren ... ähm ... Kater gesehen. Sieht der von Rasse wegen so aus oder hatte er einen Unfall?«
»Neeee!«, sagt sie entrüstet, lacht jedoch und zieht erneut den Rauch in ihre Lunge. »Hast nich viel Ahnung von Katzen, hm? Das issn reinrassiger Exotisch Kurzhaar! Die sind nich billich und noch dazu wat janz Besonderet!«
»Aha. Und wie heißt der kleine Humpen?«
»Prinz Plüschpo!«
Lord Kacke gefällt mir besser.
»Gute Nacht!«, schallt es versöhnlich von unten hoch, doch ich grummle nur zurück und drehe mich zur Wand.