Gespenster-Krimi 16 - Earl Warren - E-Book

Gespenster-Krimi 16 E-Book

Earl Warren

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Beschreibung

Nebelschleier wogten am Ufer des Vänersees, ließen Bäume und Büsche unwirklich schemenhaft erscheinen. Christine Bengtsson stand im hohen, taufeuchten Gras und sah hinaus auf das schwarze Wasser. Ihr Herz hämmerte. Sie war ganz allein und hatte die schwerste und endgültigste Entscheidung ihres jungen Lebens zu treffen. Des Lebens, das sie sich in dieser Nacht nehmen wollte.
Langsam ging sie zum See. Sie faltete die Hände über ihrem hohen, gewölbten Leib. Ihr ungeborenes Kind regte sich, Tränen sickerten aus ihren Augen über die blassen Wangen.
Christine Bengtsson ging durch das Schilf. Leise schluchzte sie auf, als ihre Füße in das eiskalte Wasser traten ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Seehexe

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati/BLITZ-Verlag

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-8062-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Die Seehexe

von Earl Warren

Nebelschleier wogten am Ufer des Vänersees, ließen Bäume und Büsche unwirklich schemenhaft erscheinen. Christine Bengtsson stand im hohen, taufeuchten Gras und sah hinaus auf das schwarze Wasser. Ihr Herz hämmerte. Sie war ganz allein und hatte die schwerste und endgültigste Entscheidung ihres jungen Lebens zu treffen. Des Lebens, das sie sich in dieser Nacht nehmen wollte.

Langsam ging sie zum See. Sie faltete die Hände über ihrem hohen, gewölbten Leib. Ihr ungeborenes Kind regte sich, Tränen sickerten aus ihren Augen über die blassen Wangen.

Christine Bengtsson ging durch das Schilf. Leise schluchzte sie auf, als ihre Füße in das eiskalte Wasser traten …

»Edmund Martensen«, flüsterte sie, »ich verfluche dich und deine ganze Familie. Mein Fluch, ausgestoßen in der Stunde meines Todes, soll dich und deine Nachkommen treffen für das, was du mir angetan hast. Ihr sollt sterben, wie ich gestorben bin!«

Christine Bengtsson senkte den Kopf, ihre schmalen Schultern bebten. Als ziehe das schwarze, tiefe Wasser sie magisch an, ging sie vorwärts, Schritt für Schritt, hinein in den See, hinein in den Tod.

Schon ließ der Nebel das Ufer hinter ihr verschwimmen, und sie watete hinaus in die Bucht. Nur das leise Plätschern war zu hören, das Christine selbst verursachte. Sie spürte die Kälte des Wassers wie einen eisigen Biss.

Höher und höher stieg es, umfing ihre Hüften, ihren Leib und stieg ihr bis zum Hals. Christine war es, als sei der See der Tod selbst. Da war nichts mehr um sie als wogender Nebel und schwarzes Wasser.

Ihr letzter Gedanke galt Edmund Martensen, dem reichen Gutsherrn, dem Vater ihres ungeborenen Kindes. Mit der Peitsche hatte er sie vom Hof gejagt, als sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger war, und als Hündin und Hure beschimpft.

Das trieb Christine Bengtsson in den Tod, die seinen Versprechungen und Schwüren von Liebe und Treue geglaubt hatte.

Jäh fiel der Grund unter ihr ab. Christine hatte keinen Boden mehr unter den Füßen. Sie konnte nicht schwimmen, und ihr dickes Kleid hatte sich voll Wasser gesogen. Wie ein Stein ging sie unter an dieser gefährlichen Stelle.

Ein paar Luftblasen stiegen auf. Eine bleiche Hand fasste noch einmal aus dem schwarzen, eisigen Wasser, als wolle sie sich an das entschwindende Leben klammern. Kreise liefen auseinander, zerrannen zitternd.

Die Hand versank.

Nichts mehr war da, nur Nebel und schwarzes Wasser. Noch einmal schrie das Käuzchen klagend, unheimlich hallte sein Ruf über das Wasser. Christine Bengtsson hörte ihn nicht mehr.

Das geschah an einem Abend im Spätherbst des Jahres 1869, gerade an dem Tag, an dem Christine Bengtsson, Magd auf dem Martensen-Hof, achtzehn Jahre alt wurde.

Gunnar Berg steuerte seinen Volvo auf der Asphaltchaussee am Ufer des Vänersees entlang. Das Schilf rauschte im Sommerwind, Mückenschwärme tanzten über dem See, und weiße Schönwetterwolken trieben am blauen Himmel.

Die Augustsonne meinte es gut.

Rechts von der Straße erstreckten sich Korn- und Weizenfelder und Kartoffeläcker bis zum Horizont. Es gab nur wenige Bäume in dieser flachen Landschaft.

Der See glänzte wie ein Spiegel, das jenseitige Ufer war nicht zu erkennen. Gunnar Berg legte den Arm um Ulla Martensens nackte Schultern. Sie trug eine Sonnenbrille, ein rotes Sommerkleid und ein Kopftuch, und sie lachte ihm zu.

Ihre Zähne waren weiß und gesund, ihr Gesicht frisch und hübsch, die Augen blau und das Haar blond. Ulla war ein richtiges Schwedenmädel, groß, schlank und mit Rundungen an den richtigen Stellen, die jedem Mann den Pulsschlag höher trieben.

Gunnar Berg war mit ihr nicht offiziell verlobt, davon hielt er nichts. Aber sie kannten sich schon lange, und sie hatten schon über Heirat gesprochen. Es gab keine endgültigen Abmachungen, aber beide nahmen an, dass sie eines Tages Mann und Frau sein würden.

»Wo ist denn jetzt euer berühmter Gutshof, seit über zweihundert Jahren im Familienbesitz, mit ein paar hundert Morgen Land der größte in Värmland?«, fragte Gunnar Berg. »Wir werden doch nicht daran vorbeigefahren sein?«

»Nach der Biegung der Straße dort vorn kannst du Martensen sehen«, antwortete Ulla. »Jetzt wirst du endlich einmal meine Familie kennen lernen, Gunnar. Ich hoffe, du benimmst dich anständig, damit sie nicht die Hunde auf dich hetzen. Das wird bei uns nämlich mit unliebsamen Besuchern gemacht.«

»An mir beißen sie sich nur die Zähne aus«, witzelte Gunnar.

Der Volvo schwang um die Straßenbiegung, und dann sah Gunnar Berg Martensen den Gutshof, der den Namen der Familie trug, die ihn seit Jahrhunderten besaß. Gunnar Berg war beeindruckt, obwohl er sich nichts anmerken ließ.

Martensen befand sich nicht mehr als einen halben Kilometer vom Ufer des Sees entfernt. Das mächtige Gutshaus, das noch aus der Zeit um 1880 stammte, war weiß angestrichen, renoviert, modernisiert und vergrößert worden.

Die Vorderfront der beiden Obergeschosse war mit Holz verkleidet, es gab Balkone, und das Dach stand weit über. Um das Gutshaus gruppierten sich die anderen Gebäude, das Gesindehaus, die großen, modernen Ställe und Scheunen, die Lagerhalle, der Futtersilo und die Maschinenhalle, zu der auch eine Werkstatt gehörte.

Außer den älteren gab es auch moderne, großzügige Bauten. Man konnte Gut Martensen eine landwirtschaftliche Fabrik nennen, und keine kleine. Gunnar Berg fuhr vor das Haupthaus, wo schon ein paar andere Wagen standen. Ein Traktor mit Anhänger tuckerte über den Hof und nahm den Weg in die Felder.

In der Werkstatt wurde gearbeitet.

Zwei Männer fuhren mit Schubkarren Futter in einen Stall, und ein Monteur arbeitete an einem auf dem Hof stehenden Mähdrescher.

Gunnar Berg rückte die Sonnenbrille zurecht und stieg aus. Seine Koffer ließ er vorerst im Wagen, das Gepäck von Ulla auch. Gunnar war über einsachtzig groß, schlank und dunkelhaarig. Er hatte ein scharf geschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht, dunkle Augen und ein energisches Kinn.

Seine drahtige Figur und seine elastischen Bewegungen verrieten den passionierten Sportler. Ulla Martensen lächelte zu ihm auf.

»Komm, Gunnar, drück dich nicht. Stell dich den prüfenden Blicken meiner Familie.«

Gunnar nickte ihr zu, und sie wollten ins Haus gehen. Da flog die Tür auf. Ein schlaksiges Mädchen von dreizehn Jahren rannte heraus, auf Ulla und Gunnar zu.

»Ulla, Ulla!«, rief es. »Endlich bist du wieder zu Hause.«

Das Mädchen hatte Sommersprossen und, blonde Zöpfe, und es trug eine Zahnspange. Gunnar wusste, dass es Ullas Schwester Karin sein musste. Er fragte sich, ob Ulla vor sechs Jahren, als sie dreizehn gewesen war, auch so ausgesehen hatte.

Das konnte er sich gar nicht vorstellen.

Karin umarmte Ulla, nahm sie an den Händen und tanzte mit ihr herum.

»Ulla, Ulla, ich freue mich so!«

Gunnar stand dabei, grinste und kam sich im Moment überflüssig vor. Da traten ein großer, grauhaariger Mann, zwei Frauen und zwei junge Männer aus dem Gutshaus auf den Vorplatz. Der grauhaarige Mann trug eine Cordhose und ein blaues Hemd. Er hatte eine Pfeife im Mund, die er in die Linke nahm, als er Gunnar die Hand schüttelte.

Sein Händedruck war fest, fast schmerzhaft, sein Gesicht offen und freundlich. Trotzdem war es Gunnar, als sei es von etwas überschattet, als habe dieser hochgewachsene Mann Sorgen, die er zu verbergen suchte.

»Willkommen auf Martensen«, sagte der grauhaarige Mann. »Ich bin Stig Martensen, der Gutsbesitzer, Ullas Vater. Darf ich vorstellen: Sigrid, meine Frau, und Anna Martensen, meine unverheiratete Schwester. Das sind meine Söhne Tage und Bertil. Der Wildfang mit den Zöpfen heißt Karin, und Ulla kennen Sie ja wohl bereits.«

Gunnar schüttelte Hände, nannte seinen Namen und bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu machen und einen guten Eindruck zu erwecken. Er war sich klar darüber, dass er begutachtet wurde.

Ullas Mutter hatte dunkelblondes Haar und war noch fast so schlank wie ihre Tochter, wenn auch ein Stück kleiner. Tage und Bertil, Ullas Brüder, wiesen große Ähnlichkeit mit ihrem Vater auf.

Sie hatten die Martensen-Blondschöpfe und blitzende blaue Augen. Anna Martensen wirkte mit ihrem dunklen Haar und dem ein bisschen knochigen Gesicht etwas streng. Der Blick ihrer dunklen Augen war prüfender als bei den andern.

Anna hatte den vierzigsten Geburtstag bestimmt schon erreicht und war von Männern nicht angetan, wenn sie nicht Martensen hießen. Mir kannst du nichts vormachen, schien der Blick ihrer Augen zu Gunnar zu sagen.

Er wurde durch die Halle in das große Wohnzimmer geführt. Die Martensens zerstreuten sich nun wieder, nachdem sie Gunnar Berg einer ersten Musterung unterzogen hatten, bis auf Stig, den Gutsherrn, und seinen ältesten Sohn Tage.

Sie blieben bei Gunnar und Ulla. Stig Martensen schenkte einen Aquavit ein. Er wollte nichts davon hören, dass Gunnar nichts trinken wollte.

»Einen werden Sie doch wohl vertragen, ob es nun heiß ist oder nicht. Skol!«

Gunnar trank. Es war ein scharfes Zeug, das ihm wie Feuer durch die Kehle lief. Ulla lächelte spitzbübisch, und Stig und Tage betrachteten Gunnar erwartungsvoll. Er schüttelte den Kopf.

»Kein schlechter Tropfen. Aber für meinen Geschmack viel zu mild. Der trinkt sich ja wie ein Weinchen.«

Tage lachte, denn er hatte bemerkt, wie Gunnar die Augen aufriss, als er den Aquavit trank.

»Sie sind nach meinem Geschmack«, sagte er zu Gunnar. »Ich sehe schon, wir werden gut miteinander auskommen. Ich zeige Ihnen gleich mal den Gutshof, damit Sie einen ersten Eindruck bekommen. Ihr Gepäck wird auf Ihr Zimmer gebracht.«

»Das kann ich doch selbst besorgen.«

»Ach was, kommen Sie nur. In ein paar Tagen geht die Ernte richtig los. Dann habe ich keine Zeit mehr, Sie herumzuführen.«

»Geh nur, Gunnar«, sagte Ulla. »Tage brennt darauf, dir den Hof zu zeigen. Er ist Agrar-Ingenieur, und wenn man ihm zuhört, ist Gut Martensen der Nabel der Welt. Tage ist ein echtes Genie, was die Landwirtschaft angeht, ob es sich nun um hochwertiges Saatgut, neue Maschinen oder einen schwierigen Wurf Ferkel handelt. Dass er dich selbst herumführt, ist eine große Ehre, denn sonst hat er den ganzen Tag keine Zeit, nicht einmal, um sich eine Frau zu suchen und endlich zu heiraten.«

»Dein lockeres Mundwerk hast du immer noch, Ulla«, meinte ihr Bruder.

Gunnar folgte ihm. Draußen erzählte Tage Gunnar Näheres über Gut Martensen. Es war ein richtiggehender landwirtschaftlicher Betrieb mit über siebzig fest angestellten Leuten. Zwei Sägewerke gehörten dazu, eines in der Nähe und eines weiter entfernt am Mittellauf des Klarälven.

Tage war sichtlich in seinem Element und redete eine ganze Menge. Gunnar erfuhr, dass der Maschinenpark des Gutes gut zwei Millionen Öre wert war, dass es für die Milchrinderzucht eine eigene Molkerei und Käserei gab und dass außerdem noch eine Schweinezucht da war.

Eine Hühnerfarm gehörte auch noch zum Gut, aber die befand sich nicht beim Haupthaus, sondern beim Vorwerk. Tage führte Gunnar durch den Kuhstall, der die Ausmaße einer großen Werkshalle hatte. Es roch nach Kuhmist, Ketten klirrten, und ab und zu muhte ein Rind.

Hundertfünfzig Milchkühe standen in den Boxen. Drei Melker waren damit beschäftigt, die Kühe an die automatische Melkanlage anzuschließen. Gunnar hörte ein regelmäßiges, seltsames Ticken.

»Was ist denn das?«, fragte er.

»Das Umsteuergerät«, erklärte Tage. Er schilderte Gunnar, wie eine Melkmaschine funktionierte, und er führte ihn nun in den Nebenraum. »Hier kommt die Milch aus der Sammelleitung. Sie wird gekühlt und gefiltert, die Menge und der Fettgehalt werden bestimmt. Mit der Außenluft kommt sie nicht mehr in Verbindung. In den großen Sammeltanks dort wird sie dann zur Molkerei gefahren.«

Gunnar betrachtete interessiert die durch durchsichtige Röhren strömende Milch. Im Stall nebenan brüllte eine Kuh.

»Interessant«, sagte Gunnar. »Das wusste ich gar nicht, dass sieh auf einem Bauernhof so viel vollautomatisch machen lässt. Es ist ja toll, was ihr hier alles habt. Selbsttränker, Futterspender, Entmistungsanlagen. Da braucht man bald überhaupt nichts mehr zu tun, was?«

Tage lachte.

»Es fällt immer noch mehr als genug harte Arbeit mit der Hand an, das kannst du mir glauben, Gunnar.« Die beiden jungen Männer waren ungefähr gleichaltrig, und sie hatten das förmliche Sie schnell fallenlassen. »Aber ohne Maschinen kommt heute kein Bauer mehr aus, und wenn er die Automatisierungsmöglichkeiten nicht richtig ausnutzt, ist er selbst daran schuld. Gut Martensen ist natürlich ein Musterbetrieb auf diesem Gebiet. Zu uns kommen Bauern aus dem ganzen Land und auch aus Dänemark und Norwegen und schauen sich unsere Anlagen an. Bei manchen Investitionen hat es mich viel Mühe gekostet, Vater zu überzeugen.«

Tage Martensen hatte nicht umsonst die Agrarwissenschaften studiert. Er war froh, seine Kenntnisse einmal an einen Unvorbelasteten loswerden zu können. Gunnars Aufmerksamkeit erlahmte, als Tage ihm von Automatisierungsquoten und Maximalnutzung des Viehbestands erzählte.

Er betrachtete die Röhren und Filteranlagen, durch die weiß die Milch strömte. Plötzlich kam ein roter Schwall. Gunnar blinzelte verwundert. Tage, der auf ihn einredete, bemerkte es nicht.

Gunnar packte ihn am Arm.

»He, Tage, was ist denn das? Ist mit den Kühen was nicht in Ordnung?«

Tage sah es nun auch. Er erbleichte, ballte die Fäuste.

»Schon wieder! Dieser verdammte Spuk!«

»Was ist denn, Tage? Ich verstehe nicht. Das sieht aus, als ströme Blut durch die Leitung. Die Kühe sind doch wohl nicht verletzt oder krank, oder?«

Tage schüttelte den Kopf. Jetzt bemerkte Gunnar auch bei ihm den Ausdruck tiefer Sorge.

»Die Kühe sind ganz in Ordnung«, sagte Tage. »Aber verschiedenes andere nicht. Die Kuhmilch wird in Blut umgewandelt. Wir können jetzt alles wegschütten. Das ist in den letzten Tagen schon ein paar Mal passiert.«

»Aber wie ist denn das möglich?«

Tage zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es, nicht. Wir hatten den Veterinär da. Unsere Kühe sind kerngesund. Es wird schon gemunkelt und geredet unter den Leuten auf dem Hof, in Vänerstett und in Karlstad. Irgendetwas geht bei uns vor, und nichts Gutes. Ich fürchte, du wirst noch mehr Bekanntschaft damit machen, Gunnar.«

»Womit? Ich verstehe jetzt gar nichts mehr.«

Tage Martensen näherte seinen Mund Gunnars Ohr. Über das, was er sagte, hätte Gunnar unter anderen Umständen gelacht. Aber Tages Gesicht war zu ernst, als dass er so etwas herausgebracht hätte.

Tage sagte: »Es spukt auf Gut Martensen, Gunnar. Bei uns geht es nicht mehr mit rechten Dingen zu.«

Am Abend saß Gunnar Berg mit den Martensens zu Tisch. Er war am Spätnachmittag angekommen und hatte sein Zimmer bezogen, nachdem er mit Tage den Hof besichtigt hatte. Nach dem Vorfall mit der Blutmilch wollte bei den Martensens am Tisch keine Stimmung aufkommen.

Die Familie und der Gast saßen in dem rustikalen Speisezimmer neben der Küche, in der eine Magd hantierte. Keiner hatte Gunnar weiter aufgeklärt. Draußen war es jetzt, im August, noch taghell.

Bertil Martensen, der älteste Sohn des Gutsherrn, sprach mit Gunnar über ihre beiderseitigen Berufe. Bertil, neunundzwanzig Jahre alt, war Arzt. Er hatte eine Praxis in dem Dorf Vänerstett, das zehn Kilometer von dem Hof entfernt lag. Tage, ein Jahr jünger als Bertil, würde das Gut einmal übernehmen.

Bertil wollte nicht Gutsherr sein. Gunnar arbeitete als Diplom-Chemiker bei den Carlstadt-Werken in Stockholm, einem Konzern mit ein paar tausend Beschäftigten. In Stockholm hatte er auch Ulla kennen gelernt, die Lehrerin werden wollte und in der Hauptstadt studierte.

Über den Spuk hatte noch keiner zu Gunnar gesprochen. Auch Tage hatte sich nicht weiter auslassen wollen.

Plötzlich schrie Karin auf, die gerade die dritte Portion Eis als Nachtisch verzehrte. Ihre Augen wurden kugelrund und weiteten sich vor Schreck. Sie deutete mit zitternder Hand auf das Fenster.

»Da, dort, seht! Die weiße Frau! Sie ruft mich!«

Alle wandten die Köpfe. Gunnar sah etwas wie einen Nebelstreif vor dem Fenster, einen hellen, verwaschenen Fleck. Es war etwas Unheimliches an diesem Streifen. Eine lähmende, unirdische Kälte strömte davon aus, eine Kälte, die nicht von dieser Welt zu sein schien.

Gunnar glaubte nicht an okkulte Erscheinungen. Aber auch er war tief in seinem Innern seltsam berührt.

Karin wurde leichenblass und zitterte am ganzen Körper.

»Die weiße Frau sagt, sie will mich holen«, stammelte sie. »In den tiefen, kalten Vänersee, hinab in die schwarzen Grüfte am Grund, in die nie ein Lichtstrahl dringt. Edmund Martensen hat eine schwere Schuld auf sich und die Sippe geladen, und jetzt ist die Zeit der Abrechnung gekommen.«

Anna, Karins Mutter, sprang auf.

»Kind, was redest du da? Niemand spricht, wir hören nichts.«

Die Magd kam aus der Küche gelaufen, sah den hellen Fleck am Fenster und bekreuzigte sich ein ums andere Mal.

»Aber die weiße Frau redet doch ganz deutlich«, sagte das Kind: »Jetzt nennt sie auch ihren Namen. Christine. Sie wohnt in dem See, und sie hat ein kleines Kind. Es spielt mit Muscheln und mit den Fischen. Ich soll ihm Gesellschaft leisten.«

Anna nahm Karin und presste die Dreizehnjährige an sich.

»Kind, Kind«, sagte sie nur immer wieder.

Stig Martensen aber ging ans Fenster, das nach vorne hinaus führte und nicht geschlossen war. Das Fliegengitter war vorgespannt, der Vorhang zugezogen. Durch Vorhang und Gitter hindurch sah man eine nebelhafte Erscheinung. Der Gutsherr riss den Vorhang zur Seite, hob die Hand.

»Verfluchtes Ding, weg, weg! Du hast hier nichts zu suchen!«

Ein Lachen erscholl, das helle, klirrende Lachen einer Frau.

»Du hast mir nichts zu befehlen, Stig Martensen«, sagte eine Frauenstimme. »Zuerst hole ich mir deine jüngste Tochter. Dann die übrige Familie. Du kommst zuletzt an die Reihe.«

In großer Erregung stieß Stig Martensen die Hände vor, fasste in den weißen Nebel. Er schrie auf, wankte und griff sich ans Herz. Langsam sackte er zusammen, blieb an der Wand sitzen. Der Nebelstreifen aber wogte, nahm für Augenblicke eine Gestalt an, die der einer Frau ähnlich war.

Dann zerfaserte der Nebel wieder, zog über den Hof und verschwand durch die Hecke bei der Einfahrt wie eine weißliche, geisterhafte Schlange. Er nahm die eisige Kälte mit. Alle waren aufgesprungen, und alle sahen es. Keiner sagte ein Wort, bis der Nebel verschwunden war, und dann redeten alle durcheinander.

Schließlich setzte der bestimmt auftretende Tage sich durch. Er sagte seiner Mutter, sie solle Karin auf ihr Zimmer bringen. Das Mädchen schluchzte und war völlig aufgelöst. Bertil Martensen, der Arzt in der Familie, untersuchte bereits seinen Vater.

Stig Martensen, der Gutsherr, war bei Bewusstsein, aber sehr schwach. Als er sprach, blieben seine linke Gesichtshälfte und die linke Seite seines Mundes unbewegt.

Es sah schlimm aus. Stig Martensen hob den rechten Arm. Den linken vermochte er nicht zu rühren.

»Mein Kopf«, stammelte Stig Martensen mühsam. »Mir ist, als sei etwas in meinem – Kopf geplatzt. Dieser verdammte Nebel.«

Es war furchtbar, diesen vorher so großen, starken und selbstsicheren Mann hilflos wie ein Kind am Boden liegen zu sehen. Bertil, sein Sohn, hatte ihn auf dem Fußboden gebettet und seine Kleider geöffnet, damit sie ihn nicht beengten.

Er erhob sich jetzt.

»Ein leichter Schlaganfall«, sagte er. »Apoplexie mit Blutung in die rechte Gehirnhälfte.«

»Vater wird doch nicht sterben?«, rief Ulla voller Angst.

Bertil schüttelte den Kopf.