Glauben ist einfach - oder einfach glauben - Walter W. Braun - E-Book

Glauben ist einfach - oder einfach glauben E-Book

Walter W. Braun

3,9

Beschreibung

Glauben ist ein Kompass im Leben und das nicht nur im religiösen Kontext. Nach der Flucht aus dem Elsass, Ende des Zweiten Weltkrieges, wurde der Autor als Kind in der Neuapostolischen Kirche aufgenommen und versiegelt. Die Geleitworte zur Konfirmation und zur Hochzeit zeigten Hinweise auf Wege; gemeint sind Lebens- und Glaubenswege. Sein Leben verlief im Spannungsfeld der "Botschaft" von J.G.Bischoff und von Hans Urwyler geprägter "Eigenverantwortung". Der Autor war über 40 Jahre in verschiedenen Ämtern innerhalb der Kirche aktiv und erlebte Sonnen- wie Schattenseiten hautnah, ohne sich von dem einen oder anderen beirren zu lassen, nach der Devise: "Schauet ins Licht und nicht in die Finsternis". Neben der Erfüllung im Glauben fand er wohl manche Merkwürdigkeiten - bedingt durch menschliche Eigenheiten. Sie waren wie Steine auf dem Weg, wurden aber nie zum Hindernis. Dagegen waren glaubensstarke, aufopfernd wirkende Persönlichkeiten prägend, die sich nie abgehoben gaben, die aufrichtig und ehrlich Vorbild im Glauben wurden.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ein schlechtes Gewissen

Eintritt in die Neuapostolische Kirche

Die Neuapostolische Kirche entwickelt sich rasant

Regelmäßige Kirchenbesuche

Neue geistige Heimat in der Kirche

Ein Mann mit weltmännischem Format

Wissen ist Macht

Gottesdienste bei uns zu Hause

Gebietsveränderungen in der Kirche

Kirchenneubau in Offenburg

Umzug in eine bessere Wohnung

Gottesdienste auch in Zell

Konfirmation in Nordrach

Lehre in Biberach

Ungeeigneter Sänger im Kirchenchor

Stammapostel J. G. Bischoff ist gestorben

Ende der Lehrzeit

Der erste Amtsauftrag

Ein „mea culpa“ war fällig

Ausbildung bei der Marine

Hochzeit am Freitag, den 13

Weitere Beauftragungen

Vielfältige Aufgaben als Priester

Engagierter Einsatz als Priester

Umzug nach Offenburg

Verlagerung der kirchlichen Arbeit nach Zell

Die Gemeinde Zell wird selbständig

Höhepunkte in der Gemeinde und zu Hause

Dunkle Wolken ziehen auf

Neue berufliche Aufgaben

Strafrechtliche Konsequenzen

Ein neuer Zeitabschnitt beginnt

Die Gemeinde Bühl unter neuer Leitung

Vielfältige Aufgaben in der Seelsorge

Das Blatt wendet sich

Die Gemeinde Bühl feiert ein Jubiläum

Schuld war der Nikolaus

Es brodelt unter der Decke

In Lichtenau ist der Himmel blau

75 Jahre Gemeinde Lichtenau

Veränderungen stehen an

Leben im Unruhestand

Wie geht es weiter?

Anhang 1 Biblischer Schöpfungsbericht – Gedanken zu Adam und Eva

Anhang 2 Herz und Gesinnung

Anhang 3 Ewiges Leben

Anhang 4 Moses und das Volk Israel - 40 Jahre Wüstenwanderung

Anhang 5 Gedanken zur künftigen, zielgerichteten Gästearbeit

Anhang 6 Die Gedanken als schnellste Informationswege

Anhang 7 Stellungnahme zu einem Leserbrief im Internetforum „mediasinres“

Anhang 8 Stellungnahme zu einem Leserbrief zum „Uster-Abend“ im Internet in „mediasinres“

Anhang 9 Korrespondenz mit einem Website-Betreiber

Epilog

Vorwort

Die Wege des Lebens sind ungemein vielfältig, manchmal geheimnisvoll und nicht immer kalkulier- oder vorausschaubar, sie sind wie verschlungene Pfade in den Bergen, gehen mal steil aufwärts und dann wieder steil bergab, zwischendurch im Zickzack der Serpentinen, sie führen stückweise über steile, schmale Felsgrate oder unangenehm durch dichtes Gestrüpp. Die Erfahrungen lehren uns, sie verlaufen nie einfach nur bequem von A nach B, und es ist schon gar nicht immer sofort erkennbar, wohin sie führen wollen, welcher Weg gewählt werden muss, um ohne Umwege ans gewünschte Ziel zu gelangen.

Betrachten wir aber einmal die Wegverläufe nicht nur horizontal, sondern in der Vertikalen. Vor Jahren hatte ich die Gelegenheit, mit einem Heißluftballon zu fahren und hier staunt der Laie, wie die physikalischen Gesetze wirken. Sind es auch nur einige Quadratmeter Stoff, feste Seile und ein tragfähiger Korb, doch durch die mit der Gasflamme erhitzte Luft füllt den Ballon, er stellt sich auf, beginnt zu steigen und gewinnt mit Leichtigkeit immer mehr an Höhe. Von oben ist es dem staunenden Betrachter möglich, in Areale zu sehen und Bereiche zu überblicken, die dem Auge vom Boden aus durch Mauern oder andere Hindernisse verdeckt sind.

Der Heilige Geiste wird nach dem Wort der Bibel als Flamme gekennzeichnet und in Bildern dargestellt. Wer nun die Kraft des Heiligen Geistes in sein Leben einbezieht, wird geistig emporgehoben und sieht viele Dinge aus einer anderen Perspektive, schwebt sozusagen über den Beschwernissen des Alltags. Der Heilige Geist kann dem gläubigen Menschen ein Tröster sein und ein Beistand in allen Lebenslagen. Ist die Last und Bürde des Lebens nun des Menschen Bestimmung oder einfach ein unabänderliches Schicksal?

Jeder erwachsene Mensch hat primär das Recht, sein Leben gemäß seinen eigenen Vorstellungen gestalten zu dürfen, sei es als Christ oder überzeugter Atheist. Wie immer er sich aber entscheidet, es sollte konsequent und ehrlich sein. Zudem darf und muss eine Entscheidung auch einmal korrigiert werden können, wenn neue Erkenntnisse das gebieten.

Ohne Frage war es für mich einfacher, meinen Lebensweg im Glauben innerhalb der Neuapostolischen Kirche zu gehen. Glauben wird – bewusst oder unbewusst – überall und zeitlebens gefordert. Wenn wir uns ernsthaft Gedanken über Gott und die Welt machen, stellen wir zwangsläufig fest: „Wir wissen viel zu wenig – im Grund nichts – und müssen manche Dinge einfach glauben.“ Wie könnten wir ohne Glauben an die eigenen Kräfte den tausendfach gehörten Grundsatz leben: „Du kannst im Leben alles erreichen, wenn du es nur willst und unerschütterlich daran glaubst“? Oder Jesus sagte es so: „Alles ist möglich dem, der da glaubt“ (Markus 9, 23). Viele vertrauten auf diese Grundsätze und stellten fest, es funktioniert. Sie hatten Erfolg, erreichten mit eisernem Willen und festem Glauben an sich selbst ein hohes Ziel. Verborgene Kräfte konnten sich entfalten und so wurden plötzlich Kranke auf unerklärliche Weise wieder gesund? Sie wurden es, weil sie felsenfest daran geglaubt hatten; dem viel gepriesenen Placebo-Effekt sei Dank, oder war es ein Wunder?

Während meiner Sanitätsausbildung in der Bundeswehr lernte ich spannende Zusammenhänge über das vegetative Nervensystem des menschlichen Organismus kennen, das nicht bewusst steuerbar ist. So nehmen der Sympathikus und der Parasympathikus, die sich als Gegenspieler verstehen, auf körperliche Vorgänge Einfluss und steuern lebenswichtige Vorgänge. Der Idealzustand ist dann erreicht, wenn beide in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander wirken, wenn ein inneres Gleichgewicht besteht.

Näher betrachtet ist der „Homo sapiens“ ein überaus kompliziertes, komplexes Wesen und den vielfältigsten Stimmungen unterworfen. Wir können uns schon morgens darin beeinflussen, dass der Tag entweder freudig optimistisch beginnt und wir positiv in den Tag starten, oder missmutig aus dem Bett steigen – sozusagen mit dem linken Fuß aufstehen – und der Tag ist versaut. Wer will solche Phänomene rational erklären?

Wer kennt nicht in seinem Umfeld den geborenen Pessimisten und andererseits die lebensbejahenden Optimisten? Fraglos tut sich ein Optimist im Leben viel leichter, gleich in welcher Lebenslage er sich aktuell befindet. Kurzum, im Leben kann jedem der Glaube an Gott eine wertvolle Hilfe, eine Stütze sein. Glauben gibt in beschwerlichen Lebenslagen Halt, die Kräfte aus dem Gebet und einer Predigt, oder einem Gespräch mit dem Seelsorger seines Vertrauens können Sicherheiten vermitteln und Orientierung geben. Die Verbindung zu Gott lässt Hoffnung schöpfen und bewahrt uns die Bodenhaftung zu behalten. Hilfreich ist, wenn man sich bewusst macht: „Ich bin nur ein winziges Teilchen in einer unermesslichen grandiosen Schöpfung.“ Das macht demütig und hilft zudem die Schöpfung gut zu bewahren.

Einstein formulierte es so: „...an der Grenze des Wissens beginnt der Glaube.“ 1) Ein anderer Wissenschaftler sagte: „Religion und Naturwissenschaft schließen sich nicht aus, sondern ergänzen und bedingen sich einander.“ 2 )

Mein Weg in der Neuapostolischen Kirche verlief in wesentlichen Phasen im Spannungsfeld zwischen der „Botschaft“ von Stammapostel J. G. Bischoff und der Fokussierung auf die persönliche Eigenverantwortung, wie sie 1986 Stammapostel Hans Urwyler als neue Ausrichtung für die Kirchenmitglieder artikuliert hat. Dabei bin ich mir durchaus bewusst, die Institution Kirche – gleich welcher Konfession – ist nur der Rahmen. Entscheidend und Maßstab ist alleine das Evangelium Jesu Christi. Die Kirche wurde und wird von Menschen geleitet und der Mensch an sich unterliegt Irrtümern. Die handelnde Person dient einzig zum Zweck in der Sache. Solange man es mit Menschen zu tun hat, wird es keine absolute Vollkommenheit geben, keine geben können. Schon Apostel Paulus klagte über sich: „Das Gute, das ich tun wollte, tat ich nicht, das, was ich nicht tun wollte, das tat ich.“ Früher hatte die Neuapostolische Kirche, wie andere Kirchen ihrerseits auch, das Alleinstellungsmerkmal als Kirche zum Heil betont. Das hat sich geändert: „Von der Einheit der Christen in der Vielseitigkeit“, bis hin zur offiziellen Verlautbarung der NAK: „Die Tatsache, dass wir von unserer Glaubenslehre überzeugt sind, hindert uns nicht, sowohl den geistlichen Reichtum anderer Kirchen, wie auch die Verdienste ihrer Mitglieder anzuerkennen.“

Mit Bedauern muss man heute feststellen, dass sich immer mehr Menschen von den Kirchen und von Gott abwenden. Sie schaffen sich stattdessen – vielleicht unbewusst – Ersatzgötter in Materialismus, Egoismus, dubioser Esoterik und narzisstische Selbstverwirklichung. Das Streben nach Erfolg, Anerkennung und der Umsetzung eigener Träume, lässt im Leben keinen Raum mehr für einen Gott. Und es stören sich viele an Äußerlichkeiten, an menschlichen Unzulänglichkeiten innerhalb der Institution Kirche, deshalb wenden sie ihr enttäuscht den Rücken zu. Da ist die Neuapostolische Kirche nicht ausgenommen. Doch wer geht, hat keinen Einfluss mehr auf eine Veränderung zum Guten oder die Möglichkeit, es besser zu gestalten. Natürlich ist es leichter, enttäuscht das Schiff zu verlassen, anstatt sich mit aller Kraft in die Riemen zu legen, sich einzubringen, mühsam an Verbesserungen zu arbeiten. Nirgends ist der Begriff „Dickbrettbohrer“ angebrachter als in diesem Zusammenhang. Der Schlüssel zum Erfolg ist einzig: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Niemand sollte Vollkommenheit erwarten, aber jeder darf auf die Gnade Gottes hoffen und vertrauen.

Gerne zitiere ich den Hohepriester Gamaliel. Er mahnte im Kreise der Pharisäer (sinngemäß, im Blick auf die rasant wachsende Sekte der Christen): „Ist sie von Gott, dann könnt ihr sie nicht aufhalten, ist sie von Menschen, wird sie untergehen.“ Wer gottgläubig ist, sollte darauf vertrauen: Der Allmächtige steuert und lenkt alles. Zeigen sich Entwicklungen, die in die falsche Richtung gehen, kommt sicher der Tag, wo ER korrigierend eingreifen wird. In diesem Kontext sehe ich in Martin Luther als ein prägnantes Beispiel. Man sollte sich also nicht so sehr an den Äußerlichkeiten oder an menschlichen Schwächen reiben und aufhalten, sondern mehr auf den Kern achten, das ist das angestrebte Heil der Seele, das Evangelium Jesu Christi, und im Mittelpunkt steht seine Verheißung: „Ich werde wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit auch ihr da seid, wo ich bin.“ 3) Das ist einer von drei Zentralpunkten der Neuapostolischen Glaubenslehre:

1. Sendungsauftrag Jesu Christi an die Apostel: „So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott vermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott. 4)

2. Die Erlösung und Vermittlung von Heil an unsterblichen Seelen ist nicht auf das zeitlich begrenzte Leben beschränkt, es schließt das Jenseits – die geistige Welt – mit ein, ist somit umfassend für die unsterbliche Seele.

3. Die Wiederkunft Christi in der „Ersten Auferstehung“ und Heimholung der Brautgemeinde.

Mit diesem Ereignis endet der Sendungsauftrag an die Apostel. Jesus Christus selbst wirkt danach im „Tausendjährigen Friedensreich“ mit dem Ziel, jedem Menschen – den Lebenden und den Toten – Heil anzubieten. Gott ist kein rächender, sondern ein liebender Gott, und sein Wille ist, so hat es Jesus Christus unmissverständlich vermittelt, dass allen Menschen Heil angeboten wird, egal in welchen Zeiten sie gelebt haben. Damit bietet er – so wie er es von Anfang an wollte – eine ewige Gemeinschaft mit ihm und in seinem Reich an. Gott hat den Menschen als „Krone der Schöpfung“ geschaffen, weil er mit ihm die Ewigkeit teilen und von ihm geliebt werden will.

Ein entscheidender Aspekt in diesem Zusammenhang ist die zielgerichtete Vorbereitung auf das Leben nach dem körperlichen Tode. Wenn hier sich auch die Geister scheiden, zeigen doch zahlreiche wissenschaftliche Studien: Das Bewusstsein bleibt dem Menschen nach dem Tode erhalten. Dabei sollte jeder bedenken: Es gibt nichts in dieser Schöpfung, was dauerhaft verloren geht. Energie ist nicht zerstörbar, sie bleibt bestehen, wenn auch in veränderter Form. Warum sollte also ausgerechnet das höchstentwickelte Gut, der menschliche Geist sein, der für immer ins Nirwana verschwindet?

In diesem Kontext gewinnt wahre Bedeutung, was Stammapostel Johann Gottfried Bischoff einst so formulierte: „Lerne im Leben unterlassen, was du im Jenseits nicht vorsetzen kannst.“ Der stoffliche Leib vergeht, Geist und Seele bleiben, und nach meiner Glaubensüberzeugung damit auch alle im Leben gesammelten Erfahrungen, Wünsche und Sehnsüchte. In diesem Kontext ist es gut vorstellbar, wie bisher gepflegte Süchte nach dem körperlichen Tod immer noch Sehnsüchte wecken, die befriedigt werden wollen, deren Mangel nun aber seelische Qualen verursachen? Vielleicht hatte die katholische Kirche aus dieser Sichtweise den Begriff „Fegefeuer“ geprägt. Nehmen wir einen abhängigen Raucher, der nicht von den Zigaretten lassen kann, oder den süchtigen Trinker, der ohne Alkohol nicht leben will. Welche bleibenden Qualen wird es solchen im anderen Leben ohne den stofflichen Leib bereiten, wenn ihre Leidenschaft nicht mehr befriedigt oder bedient werden kann? Das Verlangen wird weiterhin noch da sein. Dazu äußerte sich Jesus Christus unmissverständlich: „Jeder kommt in den Bereich seinesgleichen“. Der Geist bleibt, und damit auch das Verlangen, das von ihm ausgeht. Und hinter jeder Idee steht zudem ohne Zweifel ein Geist, sei er gut oder böse.

So wie ich es sehe und verstehe, wirkt der Glaube in zwei Bereiche hinein. Einmal kann er ein helfender Begleiter in unserem Alltag sein, der mit Gottvertrauen, Liebe zum Nächsten und zu sich selbst, ein wenig leichter und sinnerfüllter sein kann. Und andererseits im Hinblick auf das Leben danach, in der uns unbegreiflichen geistigen Welt, das wir Jenseits nennen. Dafür gilt es in diesem Leben frühzeitig die Weichen richtigzustellen.

Sowohl zur Konfirmation als auch zur Hochzeit erhielt ich ein Bibelwort als Geleit, das in die gleiche Richtung weist. Das habe ich nie als Zufall empfunden, sondern darin einen Fingerzeig Gottes für meinen künftigen Lebensweg und meine Lebenseinstellung gesehen.

Wort zur Konfirmation:

Weise mir, HERR, deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit; erhalte mein Herz bei dem einen, dass ich deinen Namen fürchte. Psalm 86.11

Wort zur Hochzeit:

Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn; er wird's wohl machen Psalm 37.5

1 ) Albert Einstein, 14.03.1879 - 18.04.1955, deutscher Physiker, Nobelpreisträger, Physik1921

2 ) Max Planck, 1858-1947, deutscher Physiker

3 ) Johannes 14:3 (Lutherbibel 1912)

4 ) 2.Korinther 5:20 (Lutherbibel 1912

1

Ein schlechtes Gewissen

Das 2000-Seelen-Dorf Nordrach liegt idyllisch in einem Nebental der Kinzig im Mittleren Schwarzwald, weitab aller Verkehrswege. Mitten im Ort ragt weithin sichtbar der markante Turm der im neugotischen Stil erbauten katholischen Kirche St. Ulrich empor. Rund um die Kirche und zum Friedhof in der Nachbarschaft gab es einst große Freiflächen. Das war für uns Buben ein idealer Platz zum Bolzen (Fußball spielen) und anderem Freizeitvergnügen. Und wenn das Dorf jährlich traditionelle Feste wie die Kilwi (Kirmes-Kirchweihfest) feierte, stand auf der nordwestlichen Seite der Kirche ein großes Festzelt und in dessen Umfeld boten ein Kettenkarussell und ein Autoskooter dem vergnügungssüchtigen Publikum großen Spaß, da waren Schießbuden, Luftballonverkäufer und mehr, die uns anlockten. Das zog uns Buben magisch an, da waren wir mittendrin, wenn die karge Freizeit das zuließ. Stände mit Lebkuchenherzen und gebrannte Mandeln verströmten einen unwiderstehlichen Duft, die Losverkäufer versprachen verlockende Gewinne. Schreiende Händler priesen den Kindern heißbegehrte, bunte Luftballons an langen Schnüren an und dutzende Stände boten eine bunte Vielfalt an allem möglichen Haushaltsbedarf, die Begehrlichkeiten bei den Bäuerinnen geweckt haben.

Mit sechs Jahren war es endlich so weit, ich durfte in die Schule gehen und wurde Erstklässler in der Volksschule im Dorf. Das mächtige und mehrstöckige Schulgebäude war nur einen Steinwurf vom Kirchplatz entfernt. Nach Schulende jagte ich an einem sonnigen Nachmittag, wie so oft zuvor, mit ein paar Schulkameraden über den Kirchplatz. Wir spielten „fangis“ und einer war der Jäger, der einen von uns fangen musste, während wir in alle Richtungen davon stoben. Ich schon als Kind wieselflink, da gelang es selten, mich einmal einzufangen. Während einer kurzen Verschnaufpause sahen wir eine alte Frau, wie sie mühsam mit Fahrrad von Zell her die Dorfstraße talaufwärts radelte. Wobei „alte Frau“ relativ zu sehen ist, denn für mich als Kind waren alle Frauen jenseits der dreißig alte Omas. Die Straße verläuft von der Dorfmitte in Richtung Hintertal leicht ansteigend, die Frau musste deshalb kräftig in die Pedalen treten und quälte sich ein wenig mit ihrem Uralt-Fahrrad mit hochgestelltem Lenker, ähnlich denen, die man heute als „Alt-Holland-Lenker“ kennt und bei uns nicht mehr so gebräuchlich sind.

Die fremde Frau lenkte uns unbewusst kurzzeitig vom Spiel ab und wir amüsierten uns köstlich über das ungewöhnliche Vehikel. Spottend rannten wir eine Zeitlang hinter ihr her, so wie es eben freche Lausbuben in ihrem kindlichen Übermut manchmal unüberlegt tun. Doch schon bald hatten wir die Lust verloren, wir trollten zurück zum Platz und gingen wieder unserem gewohnten Spiel nach.

Zwei Stunden später musste ich nach Hause gehen. Damals wohnten wir etwa einen Kilometer vom Ortskern und dem Kirchplatz entfernt in einem alten Gebäude, direkt an der Dorfstraße ins Hintertal. Hinter dem aus drei Häusern bestehenden Ensemble stieg der Hang teils felsig, teils bewaldet steil bergan, die Häuser schienen wie am Hang zu kleben oder in den Fels hinein gebaut zu sein. Dieser Straßenabschnitt nannte sich: „Am Schrofen“, was die Lage auch treffend beschrieb, denn Schrofen steht für steile und felsige Hänge. Vom Dorfplatz nach Hause brauchte ich allenfalls eine Viertelstunde und im alten Gebäude war ich schnell die schmale Holzstiege nach oben gestürmt und ich trat in die Wohnstube. Und wen sah ich da?, die „alte Frau“, die mit meiner Mutter am Wohnzimmertisch saß. Mir ist ein gehöriger Schrecken in die Glieder gefahren und mein schlechtes Gewissen regte sich nun, mein ungutes Verhalten mit den Spielkameraden wurde mir jetzt sehr peinlich. Ob sie mich wiedererkannt hat oder etwas zu meinem Benehmen erwähnt hat, weiß ich nicht mehr. Später war sie mir jedenfalls nie böse, die Sache kam nie auf den Tisch und sie hat mir niemals Vorhaltungen gemacht. Im Gegenteil, Tante Schaumburg – wie wir sie nannten – war mir sehr wohlgesonnen. Wir waren befreundet bis sie starb, und da war sie weit über 80 Jahre und somit wirklich „alt“.

Zwischen diesen beiden Häusern gab es damals einen Zwischenbau, in dem wir von 1951 an wohnten, danach „auf der Bind“ hier im hinteren Haus

2

Eintritt in die Neuapostolische Kirche

Der überraschende Besuch von „Tante Schaumburg“ hatte eine besondere Vorgeschichte. Etwa fünf Jahre zuvor, im November 1945, sind meine Mutter und ich in Schopfheim durch Bezirksapostel Karl Hartmann in der Neuapostolischen Kirche versiegelt worden. Etwa ein Jahr zuvor musste meine Mutter mit mir und weiteren Angehörigen spektakulär das Elsass verlassen, wo ich 14 Tage zuvor auf die Welt gekommen war. Zum Ende des Zweiten Weltkrieges lebten meine Mutter und ich danach in den Ortschaften Bürchau und Holl im „Kleinen Wiesental“ am Fuße des mächtigen Belchens im Südschwarzwald. Dort war die ursprüngliche Heimat der Verwandtschaft mütterlicherseits, und dort sind meine Großeltern, Tanten und ein Onkel, nach der Flucht und wochenlangen Internierung in der Schweiz alle wieder untergekommen. Im kleinen Weiler Holl versorgten Tante Frieda und Onkel Max fürsorglich und hilfsbereit meine Mutter und mich als Kleinkind. Sie waren Geschwister des Großvaters und bewirtschafteten zeitlebens ein kleines landwirtschaftliches Anwesen in diesem engen Tal.

Mein Großvater Rudolf Binoth war Ende der 1930er-Jahre samt kinderreicher Familie ins nahe Elsass umgesiedelt, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Vorausgegangen war ein verlockendes Angebot des Nazi-Regimes, das den deutschen Bauernsöhnen, die keinen Hof erben konnten, verlassene Höfe im Elsass zur Bewirtschaftung überließ. Die ursprünglichen Besitzer waren vertrieben worden, sind in den Süden oder Westen Frankreichs ausgewichen oder man hatte sie verhaftet, nachdem das Elsass wieder eine deutsche Verwaltung hatte. Fünf Jahre später eroberte die französische Armee das Elsass zurück. Jetzt wurden die neuen Hofbesitzer vertrieben oder inhaftiert. Meine Geburt kam, wie man mir später sagte, vierzehn Tage früher als berechnet. Durch diese göttliche Fügung war es der Mutter möglich, mit mir als Kleinkind und mit ihren Angehörigen von Hesingen (franz.: Hésingue) im Sundgau, über die nahe Grenze nach Basel zu flüchten und sich dort in Sicherheit zu bringen. Sie erreichten gerade noch rechtzeitig erreichten das nur wenige Kilometer entfernte Schweizer Territorium. Die Schweiz galt als neutral, dort wähnten sie sich vor den über die Vogesen und durch die Burgundische Pforte heranrückenden nordafrikanischen Soldaten der französischen Armee sicher, denn deren Vorhut war in der Bevölkerung wegen der ihnen zugeschriebenen grausamen Gräueltaten gefürchtet und gehasst.

Nach unserem Grenzübertritt wurde die einzige Brücke gesprengt. Das war also Rettung in letzter Minute. In der Schweiz waren wir, wie alle die es irgendwie über die Grenze geschafft hatten, überhaupt nicht willkommen. Die Frauen wurden letztlich nur geduldet, weil ich als Kleinstkind dabei war. Erst nach sechs Wochen Internierung durften sie schließlich von Basel auf die deutsche Seite wechseln und in die ursprüngliche alte Heimat weiterziehen, dem nicht weit entfernten „Kleinen Wiesental“.

Den Großvater hatte das Militär inzwischen das arrestiert, der mit den Frauen nicht fliehen konnte. Im Stall stand sein Vieh und auch anderes musste versorgt werden. Er war nie Nazi und war sich keiner Schuld bewusst, aufgrund dessen er hätte sich in Sicherheit bringen müssen. Die Haft dauerte allerdings nicht sehr lange, dann kam er mit mehr Glück als Verstand und unter besonderen Umständen wieder frei, was einem Wunder gleichkam (siehe mein Buch: „Leben ist Glück genug“). Auf der Flucht hatten meine Angehörigen nichts von ihrer Habe mitnehmen können, und weder meine Mutter, noch die Großeltern, verfügten vorerst über ein Einkommen. Sie besaßen kaum das Nötigste zum Leben und waren dringend auf die Unterstützung der Verwandtschaft angewiesen. Die Rückkehrer besaßen nichts mehr, aber alle halfen sich in jenen Tagen, jeder war für den anderen da, und so ließ sich auch diese schwere Zeit irgendwie und in Würde überstehen.

Tante Frieda war eine tiefgläubige Frau und ging in Schopfheim schon länger in die Gottesdienste der Neuapostolischen Kirche. Die Eltern der Mutter und die übrige Verwandtschaft der Großeltern, ebenso der mit Tante Frieda im Haus lebende Onkel Max, hatten dagegen mit Kirche überhaupt nichts im Sinn. Öfters spotteten sie ein wenig über die religiös-spinnige Tante. Um ihr den weiten Weg nach Schopfheim zu ersparen, waren später und bis zu ihrem Tod in den 1960er Jahren, vierzehntäglich Gottesdienste in der Stube des großen Bauernhofes. Leider hatte Onkel Max daran nie teilgenommen, wenngleich er dies geduldet hatte oder gegen den Willen seiner Schwester nicht ankam. Der Großvater Rudolf Binoth blieb zeitlebens auch ein überzeugter Atheist. Später wurde er ohne die üblichen religiösen Rituale beerdigt, so hatte er es vorher bestimmt und sich gewünscht. Ob es feierlich war, darüber konnte man geteilter Meinung sein, das war für mich auch nicht so wichtig, denn ich konnte unabhängig vom äußeren Rahmen für seine unsterbliche Seele beten. Wenn die Großmutter in meinen Kindertagen einige Wochen bei uns in Nordrach weilte, ging sie gerne mit in einen Gottesdienstl. Sie war eine gläubige Frau und fühlte sich in der Kirche wohl und seelisch angesprochen. Sicher wäre sie irgendwann auch Neuapostolisch geworden, wenn sie nicht den Zorn ihres Mannes gefürchtet hätte, so verzichtet sie wahrscheinlich um des lieben Friedens willen zeitlebens darauf. Es ist zu hoffen, und das kann ich mir gut vorstellen, dass ihr in der geistigen Welt eine Möglichkeit zum Heil eröffnet wurde, denn sie war eine bescheidene, gottesfürchtige und liebenswerte Frau.

Doch noch einmal zurück zu Tante Frieda. Sie nahm sich in diesen für meine Mutter schweren Tagen ihrer Nichte fürsorglich an und kümmerte sich um uns beide, dabei nahm sie uns auch in die Gottesdienste nach Schopfheim mit. Die Kirche war relativ weit entfernt und in der Nachkriegszeit gab es kaum öffentliche Verkehrsmittel. Die Frauen besaßen auch kein Geld, aber die Tante hatte ein altes Fahrrad. Mit drei Personen auf dem Fahrrad, da ging nicht gut, doch sie arrangierten sich und behalfen sich auf pragmatische Weise. Die Tante fuhr eine Strecke mit dem Fahrrad, während meine Mutter zu Fuß die rund 15 Kilometer gelaufen ist und den Kinderwagen geschoben hat. Auf dem Rückweg wurde gewechselt und man machte es nun umgekehrt. So musste immer nur eine Wegstrecke gelaufen werden.

Der Vater war noch im Elsass beim Militär, er erlitt aber Mitte des Jahres 1944 bei einem nie endgültig geklärten Verkehrsunfall schwerste Verletzungen. Zuerst lag er über Wochen im Koma und danach waren monatelange Behandlungen im Lazarett notwendig. Die Mutter war mit mir somit auf sich alleine gestellt und musste zusehen, wie sie zurechtkam. Das schreckliche Unglück hatte außerdem die geplante Heirat verhindert und somit hatte meine Mutter auch keinen Versorgungsanspruch. Möglicherweise bekam sie nicht einmal Geld, weil der Vater in der Zeit nicht in der Lage war, ihr von seinem Sold etwas zukommen zu lassen. Da war sie mit mir wohl oder übel auf die Hilfe der Eltern und Verwandtschaft angewiesen. Ich denke aber, durch ihre Mitarbeit auf dem Hof in der Holl waren Kost und Logis abgegolten. Erst in einer günstigen Phase während des langwierigen Genesungsprozesses konnten meine Eltern im April 1945 in Bürchau heiraten und gleichzeitig wurde ich als eheliches Kind legitimiert. Einen Monat später war auch der unsägliche Krieg dann endlich beendet und die Hoffnung keimte auf, dass nun alles endlich besser würde.

Die herzliche Gemeinschaft in der Kirche, der seelische Zuspruch und die Zukunftsverheißungen, taten der Mutter seelisch gut. Hier fühlte sie sich angesprochen, in der Gemeinde fand sie eine geistige Heimat. Bald fasste sie den Entschluss und wollte dazugehören und aufgenommen werden. Tags zuvor erfolgte während einer Hausandacht meine Taufe in der Wohnung meiner Tante und anderntags wurde ich mit der Mutter versiegelt.

Schon kurz darauf musste meine Mutter nach Nordrach kommen. Dort war noch Cäzilia Braun, die andere Großmutter und Mutter meines Vaters. Sie war pflegebedürftig geworden und da war es selbstverständlich, dass sich die Schwiegertochter sich um sie zu kümmern hatte. Die Geschwister meines Vaters wohnten mit ihren eigenen Familien ausnahmslos außerhalb und zum Teil weiter entfernt und der Großvater Karl war lange zuvor schon nach einem Arbeitsunfall im Wald an Blutvergiftung gestorben. Das Jahr, das Datum ist mir nicht bekannt und im Einwohnermeldeamt habe ich nie recherchiert; es war mir nicht wichtig.

Die Pflegezeit währte für die Mutter zum Glück nicht sehr lange und die Großmutter beendete ihr irdisches Dasein. Das mag sarkastisch klingen, die andere Oma soll aber altersbedingt in ihnen letzten Lebensjahren eine sehr dominante, herrschsüchtige Frau gewesen sein. Dies verschlimmerte sich dem Ende zu ins Unerträgliche und sie schikanierte ihre Schwiegertochter nach Strich und Faden. Sie war auch noch krankhaft geizig und gönnte ihrer Schwiegertochter nichts. Die übrige Verwandtschaft des Vaters war da aber auch nicht besser.

Von Vaters Geschwistern und dem Werdegang der Braun‘schen Verwandtschaft ist uns heute nur wenig bekannt. Die familiären Bande waren nie sonderlich ausgeprägt, weil wir für sie nur als die „arme Verwandtschaft“ galten. Dabei hatten die Geschwister des Vaters, nach dem Tode der Großmutter, alles, was nicht niet- und nagelfest war, an sich gerissen und unter sich aufgeteilt. „Nicht einmal die Nähmaschine haben sie mir gelassen, womit ich für die Bauern im Tal hätte nähen und damit etwas Geld verdienen können“, klagte die Mutter später ohne Verbitterung.

Nicht unerwähnt darf in diesem Zusammenhang auch bleiben, dass mein Vater, der vor dem Krieg freiwillig zum Militär ging, ein gutes Einkommen hatte, aber wenig für sich brauchte. Das ermöglichte es ihm, seiner Mutter zweimal den Kaufpreis für das Haus, in dem die Familie lebte, zu übergeben, damit sie es kaufen sollte. Sie hat es nicht getan, lieber gab sie die „Grand Dame“ und verbrauchte alles für sich. Der Großvater lebte zu dieser Zeit schon nicht mehr, der hätte vielleicht anders gehandelt.

Schließlich kam der Vater aus der Rekonvaleszenz mehr krank als gesund nach Hause. Doch an den Folgen des Unfalls und den körperlichen Schäden litt er bis zum Ende seines Lebens. Seine Lebensqualität war, bis er mit 57 Jahren relativ jung gestorben ist, massiv eingeschränkt. Jetzt aber war die Familie aber erst einmal komplett und es bestand Hoffnung, alles würde besser werden. Das alleine zählte. Schnell bekam er auch einen Arbeitsplatz und konnte für ein bescheidenes Einkommen sorgen.

Die Großeltern väterlicherseits waren schon länger in Nordrach-Kolonie ansässig. Es ist ein Teilort und etwa sechs Kilometer vom Dorfkern entfernt. Wir wohnten somit weit abgelegen am Ende des engen Tals. Das gemietete alte Häuschen blieb nach dem Tod der Großmutter vorerst die Wohnung meiner Eltern. Selbst wenn das Haus alt und baufällig war, waren sie froh darum, denn Wohnungen waren kurz nach Kriegsende überall knapp, sogar in einem kleinen Dorf wie Nordrach. Zahlreiche Flüchtlinge drängten in diesen Jahren in die Städte und Dörfer und alle mussten irgendwo unterkommen. Jedermann war froh, der ein bescheidenes Dach über dem Kopf hatte und eine Bleibe sein Eigen nennen durfte. Die Lage oder ein gewisser Wohnkomfort waren da eher zweitrangig. Erschwerend erwiesen sich auch die Verkehrsverhältnisse jener Tage. Es gab wohl den Linienbus, der ein oder zweimal täglich ins Dorf fuhr und weiter nach Zell am Harmersbach. Dort verkehrte das „Zeller Bähnle“, eine Kleinbahn, die zwischen Oberharmersbach und Biberach pendelte. In Biberach war der Umstieg in die Schwarzwaldbahn möglich, um nach Offenburg oder in Richtung Bodensee zu kommen. Doch wer hatte in jenen kargen Jahren das Geld für Reisen und konnte sich einen solchen Luxus leisten? Meine Eltern hatten es nicht, mussten überwiegend überallhin zu Fuß gehen oder mit einem alten klapprigen Fahrrad den Weg zurücklegen.

Bei diesen widrigen Verhältnissen ergab es sich zwangsläufig, dass meiner Mutter der Kontakt zu ihrer Kirche verloren gegangen war. Die nächstgelegenen Gemeinden befanden sich in Hornberg oder Offenburg und wie hätte sie dorthin kommen sollen? Die Amtsträger und Seelsorger waren ebenso wenig mobil. So vergingen die Jahre und die Neuapostolische Kirche geriet mehr und mehr ins Vergessen und in den Hintergrund. Dafür waren andere Dinge drängender, es ging schlichtweg um die Existenz. Nur in schweren Stunden suchte sie die Nähe Gottes und suchte dazu die kleine Kapelle auf, die zum Lungensanatorium Kolonie (heute Rehaklinik Klausenbach) gehört.

Jeder Tag war geprägt im Kampf um die Versorgung der nach und nach größer gewordenen Familie. Im Jahr 1946 wurde mein jüngerer Bruder geboren und weitere zwei Jahre später kam meine Schwester zur Welt. Wie viele der ungelernten Arbeiter verdiente der Vater damals relativ wenig. Im Hitler-Regime hatte die „verlorene Jugend“ ja nur das Töten gelernt. So bestand die tägliche Sorge ausschließlich darum, für die mehrköpfige Familie ein Essen auf dem Tisch zu bringen, sowie Kleidung und Schuhe zu haben.

Mit vier Jahren hing mein Leben sprichwörtlich mehrfach am seidenen Faden. Unmittelbar beim Haus verlief ein schmaler Wassergraben und der mündete in einen Stauweiher oder „Gumpen“. Mit dem aufgestauten Wasser wurde im rund hundert Meter entfernten Gasthaus Adler Strom erzeugt. Das Gasthaus Adler und das Sägewerk Echtle, in dem mein Vater arbeitete, und vielleicht noch ein weiteres Sägewerk, erzeugten mit Wasserkraft den Strom für den eigenen Bedarf und versorgten auch noch weitere Häuser im Tal. Ein öffentliches Stromnetz bestand noch nicht und längst nicht alle Häuser hatten schon elektrischen Strom.

Während meine Mutter den kleinen Bruder badete, trieb ich mich draußen herum und entdeckte im Gumpen einen Igel. Das Tier war schon tot, davon hatte ich aber keine Ahnung und einer Gefahr war ich mir auch nicht bewusst, deshalb wollte ich den Igel bergen und fiel prompt ins Wasser. Im Reflex bekam ich zum Glück noch ein Grasbüschel zu fassen, der mich hielt und garantiert hatte ich einen wachsamen Engelsschutz. In der Not schrie ich Zeder und Mordio, trotzdem verging es gefühlt eine Ewigkeit, bis die Mutter mich hören konnte, schleunigst kam und aus dem Wasser zog. Vermutlich lief die Turbine zu diesem Zeitpunkt nicht, sonst hätte mich der Sog nach unten gezogen.

Zwei Jahre später folgte das nächste Malheur. Durch unglückliche Umstände überschüttete mich die Mutter mit kochendem Wasser und ich erlitt großflächige Verbrühungen vom Kopf bis zu den Füßen. Nur dank meiner damals schon vorhandenen guten körperlichen Konstitution und der Hilfe Gottes habe ich dieses Desaster überlebt. Über ein Vierteljahr wurde ich von Nonnen der katholischen Schwesternstation gepflegt, behandelt und medizinisch versorgt, bis ich wieder einigermaßen auf den Füßen war, und zuerst musste ich wieder laufen lernen. Davon blieben zeitlebens sichtbare Narben zurück, doch sie haben mich nie beeinträchtigt, behindert oder gestört, sie waren und sind seither ein Teil von mir. Die Betreuung von Kranken und Pflegebedürftiger durch Nonnen war damals im dörflichen Bereich nicht ungewöhnlich. Sie nahmen in der katholisch geprägten Bevölkerung vielfältige Aufgaben wahr, waren in der Krankenpflege ausgebildet, und ärztliche Hilfe stand sonst kaum zur Verfügung, und wenn, dann waren Arztbesuche eher sporadisch. Die Siedlungen und verstreut weit abseits liegenden Häuser und Höfe in den entlegenen Tälern waren zu weit entfernt, und nur wenige Ärzte hatten so kurz nach Kriegsende ein Auto und genügend Benzin zum Fahren.

Ob mich die Mutter manchmal in die Kapelle mitgenommen hat, ist mir nicht mehr bewusst. Doch ich war öfters für ein paar Tage oder vielleicht sogar Wochen bei einer älteren Bäuerin, die vermutlich zur Verwandtschaft zählte. Sie war eine praktizierende Katholikin und ging regelmäßig in die erwähnte kleine Kapelle und betete dort den Rosenkranz oder nahm an einer Messe teil. Öfter hat sie mich mitgenommen und ich erinnere mich auch noch, dass ich eines Tages einen Rosenkranz geschenkt bekam. Vielleicht sogar auch ein Gebetbuch, obwohl ich noch nicht lesen konnte? Das gehörte in der Bevölkerung aber selbstverständlich dazu. Ich war stolz wie Bolle, der Rosenkranz mit vielen bunten Perlen ist mir sicher aber nur deshalb in guter Erinnerung geblieben, weil er mit den glitzernden Kugeln vermutlich nur ein faszinierendes Spielzeug war.

Die kleine Kapelle in Nordrach-Kolonie

Wie es in der traditionsbewussten katholischen Bevölkerung Sitte und Brauch war, gab es in der Wohnstube dieser Oma einen geschmückten Herrgottswinkel. In einer Ecke im dunklen, holzgetäfelten Raum stand ein holzgeschnitztes Kruzifix mit dem gekreuzigten Jesus, dazu allerlei Devotionalien, wie Marien-Bildchen, geweihtem Rosenkranz und reich verzierter Schmuckkerze. Daneben hing ein prächtiger Hochzeitskranz im schwarzglanzlackierten Rahmen. Solche Hochzeitskränze waren ein kostbarer Teil der bäuerlichen Tracht. Damals heiratete das Hochzeitspaar in der örtlichen Tracht und das ist heute auch wieder zunehmend so. Die reich geschmückte Brautkrone war dabei die Zierde jeder Braut. So eine wertvolle, schmucke Krone wurde nach der Hochzeit im reich verzierten Bildrahmen hinter Glas geschützt, aufbewahrt und über Generationen weitervererbt.

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Die Neuapostolische Kirche entwickelt sich rasant

Im Jahr vor meiner Einschulung sind wir vom hinteren Ende des Tales, der Kolonie, in die zentralere Dorfmitte umgezogen. Die „Am Schrofen“ gemietete Wohnung im alten, etwas baufälligen Haus vom Emil-Sepp Ficht war zwar nicht viel besser, wie es bisher war, wir wohnten jetzt aber nicht mehr so weit abseits, so abgeschieden und gefühlt am Ende der Welt.

Inzwischen gab es im etwa 20 Kilometer entfernten Haslach im Kinzigtal eine Neuapostolische Gemeinde. Sie gehörte zum Bischofsbezirk Süd und wurde von Bischof Karl Weiss geleitet. Im August 1950 ist Bezirksapostel Karl Hartmann während eines Erholungsaufenthalts überraschend in der Schweiz gestorben und Stammapostel Johann Gottfried Bischoff ordinierte den Bezirksevangelisten Friedrich Hahn zum Bezirksapostel für Baden. Mit Friedrich Hahn bekam der Apostelbezirk einen außergewöhnlich charismatischen Mann, gepaart mit einem schier unerschöpflichen Arbeitspensum. Schon mit 30 Jahren hatte er es zum Direktor eines großen Industrieunternehmens gebracht. Seine auffallenden Merkmale waren eine große Ausstrahlung, seine gewinnende Persönlichkeit und ein phänomenales Personengedächtnis.

Die Kirchengemeinde Haslach umfasste die politischen Gemeinden Hausach, Zell, Ober- und Unterharmersbach, Biberach, Steinach, Welschensteinach und letztlich auch Nordrach. Allerdings wohnten damals nur sehr wenige Neuapostolische in diesem flächenmäßig großen Gebiet. Da mag man ermessen, welche Opfer die Amtsträger und Seelsorger in jenen Tagen gebracht haben, wenn sie die Geschwister betreuen wollten. Sie gingen die Wege entweder zu Fuß oder mussten sie mit dem Fahrrad zurücklegen. Mitte des 20. Jahrhunderts konnte man sich nur wenige ein Motorrad oder Moped leisten, nur die Minderheit hatte ein Auto oder nur wenige privilegierte.

Der stetige Zuwachs an Mitgliedern war überwiegend dem Zuzug sogenannter „Flüchtlinge“ zu verdanken, den Strömen der Vertriebenen, die aus dem Osten zu uns gekommen sind. In den ehemaligen Ostgebieten, insbesondere in Ostpreußen, bestanden vor dem Krieg schon große, mitgliederstarke neuapostolische Gemeinden. Noch vor dem Kriegsende hatten viele Ostpreußen und Schlesien, später auch die Ostzone – wie die DDR genannt wurde – verlassen müssen oder wurden, wie die Sudetendeutschen, über Nacht ausgewiesen. Sie landeten zuerst in Sammellagern in Dänemark und anderswo, dann wurden sie von den Behörden verteilt.

Die der Heimat entwurzelten Menschen wurden erst einem Bundesland und dann den Städten und Dörfern zugewiesen. Zu zigtausenden gelangten sie so auch in den Südwesten Deutschlands und hier auch in die entlegensten Täler des Mittleren Schwarzwaldes. Jede auch noch so weit entfernte freie Wohnung in den entlegensten Bauernhöfen war noch recht, ob im schlicht ausgebauten Kellerraum oder im zugigen Dachgeschoss. Die Ankömmlinge fanden zuerst hier eine Irdische, und natürlich suchten sie am neuen Wohnort auch nach ihrer Kirche, der geistigen Heimat. Andererseits war das seelische Verlangen in den Nachkriegsjahren nach Frieden und Geborgenheit unter der geschundenen Bevölkerung übermächtig. Die Menschen suchten die Wärme der kirchlichen Gemeinschaft und den seelischen Trost im Wort Gottes und in der Predigt. Gemeinsam lobten sie Gott und im Kreis der Gläubigen beteten sie ihn an.

Nach Jahren bekam der Haslacher Vorsteher aus Schopfheim die Information, dass Kirchenmitglieder, eine junge Frau und ihr Kind, in Nordrach wohnen sollen. In Unterharmersbach bei Zell am Harmersbach wohnten Else und Kurt Schaumburg, die es von Wuppertal-Elberfeld nach dem Krieg auch in den Schwarzwald verschlagen hatte. „Onkel Schaumburg“, wie wir ihn nannten, ist der Auftrag zugefallen, nach der Mutter und ihrem Kind zu suchen.

In der kleinen Wohnung der Schaumburgs war 1950 auch der erste Gottesdienst der Neuapostolischen Kirche, der als Novum für das Nordrach- und Harmersbachtal oder die weitere Region in die Annalen einging. Onkel Schaumburg war Anzeigenvertreter für das Offenburger Tageblatt und viel unterwegs. Zur inserierenden Kundschaft im Kinzigtal und seinen Nebentälern kam er anfangs mit einem alten Motorrad. Da er wochentags vermutlich keine Zeit hatte, übernahm seine Frau den Auftrag, nach den Brauns in Nordrach zu suchen. So kam es, dass Tante Schaumburg mit ihrem Uraltfahrrad die Dorfstraße aufwärts radelte. Ihr war aber nur die alte Anschrift bekannt und deshalb sie sich quälte unnötig noch die sechs Kilometer in die Kolonie, wo sie hören musste: „Die Familie ist nach draußen ins Dorf umgezogen.“

Der zusätzliche, beschwerliche Weg in den abseits gelegenen Ortsteil war umsonst gewesen, doch das hielt sie nicht davon ab, weiter nach uns zu suchen, sie fuhr zurück, erkundigte sich im Dorf und hörte da, wo wir untergekommen sind. Die gesuchte Frau war meine Mutter und ich das Kind, das kurz nach „Tante Schaumburg“ in die Wohnung gestürmt kam. Ich war der Bengel, der die Radlerin mit den anderen Lausbuben im Dorf gehänselt hatte.

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Regelmäßige Kirchenbesuche

Nun konnte meine Mutter wieder mit Einschränkungen in die Gottesdienste der Neuapostolischen Kirche gehen, und sie erhielt dabei vom Ehepaar Schaumburg sehr hilfreiche Unterstützung. Wenn es die Umstände zuließen, radelte sie sonntags mit einem alten Fahrrad bei Wind und Wetter nach Haslach.

Die Mutter war noch jung und noch nicht einmal dreißig, hatte aber schon schwerste Zeiten hinter sich. Sie war erst zwanzig, da kam ich zur Welt und gleich darauf folgten die beschwerlichen Umstände der Flucht. Anschließend musste sie eine Zeitlang die herrschsüchtige und schwierige Schwiegermutter pflegen und ertragen und ihr Mann kam über ein Jahr nach Kriegsende gesundheitlich schwer angeschlagen aus den Sanatorien zurück. Dazu fehlte es immerzu am nötigen Geld, und die gebotenen Verdienstmöglichkeiten waren spärlich. Wie es so geht, wuchs auch noch die junge Familie im Abstand von jeweils 2 Jahren um zwei Kinder. Von den lebensbedrohenden Vorfällen, die ihr gehörige Schrecken einjagte und große Sorgen bereitete, habe ich schon berichtet und mein kleiner Bruder blieb auch nicht vom Unglück verschont. Das Leben hatte es bisher keinesfalls gut mit der Mutter gemeint. Das alles erträgt ein Mensch auch nur mit viel Optimismus und einer positiven Natur, wenn er belastbar und geduldig ist und außerdem, wenn meine Mutter, über einen unerschütterlichen Glauben verfügt. Daraus entstand ihr großes Verlangen nach seelischem Zuspruch, Wärme und Geborgenheit innerhalb einer lebendigen Kirchengemeinde und genau das fand sie in jenen Jahren in Haslach, da wurde sie akzeptiert, wertgeschätzt und angenommen. Das Ehepaar Else und Kurt Schaumburg und andere waren ihr wertvolle Stützen. Sie gaben ihr Trost, wenn es nötig war und zeigten sich als ehrliche und unverzichtbare Ratgebern.

Von Nordrach nach Haslach waren es rund 20 Kilometer, somit hin zu zurück 40 Kilometer, und das war mit einem alten Fahrrad eine sportliche Leistung. Berücksichtigt man zudem noch, dass die Straßen keineswegs flach verliefen, weder auf dem Hinweg nach Haslach, noch auf dem Rückweg von Zell nach Nordrach. In jeder Richtung gibt es moderat ansteigende Abschnitte und die damals gesplitteten Straßen machten es auch nicht leichter, sondern manchmal gefährlich rutschig. Trotzdem ließ sie es sich nicht mehr nehmen, möglichst oft in ihrer Kirche zu sein. Sehr hilfreich war ihr die Natur eines abgehärteten Schwarzwaldmädchens, sie war ungemein zäh und drahtig, somit fiel es ihr nicht sonderlich schwer, oder wenn doch, dann hat sie es sich nicht anmerken lassen und nicht zugegeben. Sie nahm den beschwerlichen Weg einfach nur unverzagt immer wieder in Kauf.

Ob sie mich schon von Anfang an auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads mitgenommen hat, weiß ich nicht mehr, möglich ist es aber schon. Sicher ist jedoch, Onkel Schaumburg ich durfte ab und zu auf dem Motorrad mitgefahren und das nicht nur zu den Gottesdiensten. Mehrmals nahmen sie mich für ein oder mehrere Tage zu sich nach Hause. Die Zeit bei dem kinderlieben Ehepaar behielt ich in bester Erinnerung und ich genoss sie. Das war wie Urlaub. Bei ihnen wurde ich sehr verwöhnt, und es war mir, seit ich denken konnte, immer ein drängendes Bedürfnis von daheim wegzukommen. Schon bald darauf konnte sich Schaumburg ein Auto kaufen, auch wenn es nur ein alter Opel aus der Vorkriegszeit war, und das machte fortan die Mitfahrgelegenheiten für mich jetzt noch interessanter. Immer wenn ich mitfahren durfte, war das für mich ein willkommenes Abenteuer; ob kurz oder weit, egal, wenn ich im Auto saß, fühlte ich mich wie ein König.

Während den Sommermonaten und weit in den Herbst hinein legte die Mutter unverdrossen den Weg mit dem Fahrrad zurück und das ging lange Zeit auch gut. Dann kam aber der Winter, es lag Schnee auf den Straßen und stellenweise war es glatt. Dabei ist es passiert, sie ist unglücklich gestürzt und brach sich das Schlüsselbein. Für unsere Familie war das eine mittlere Katastrophe, denn wer sollte ihn und uns drei Kinder versorgen? Die Mutter war über Wochen gehandicapt und der Vater musste arbeiten. Da wurde die jüngere Schwester der Mutter zur Helferin in der Not. Die Tante kam für ein paar Wochen aus dem Wiesental zu uns, wie sie es schon bei den Geburten meiner Geschwister gerne getan hatte und versorgte den Haushalt und sie ist geblieben, bis sich wieder Normalität eingestellt hatte.

Nach mehreren Wochen war die Mutter wieder genesen, der Vater wollte aber nicht mehr, dass sie alleine mit dem Fahrrad zur Kirche fährt: „Entweder du bleibst zu Hause oder du fährst nur, wenn ich dabei bin“, entschied er, und wenn er etwas durchsetzen wollte, konnte er ein richtiger Sturkopf sein, doch die Mutter war es auch. Sie hatte im Glauben wieder Feuer gefangen und ließ sich nicht mehr und durch niemand abhalten. Was blieb dem Vater anderes übrig? Er musste sie fortan begleiten. Inzwischen besaßen sie ein zweites, auch gebrauchtes und ebenso altes Fahrrad und so konnten sie gemeinsam miteinander fahren. An das Fahrrad wurde ein Kindersitz am Lenkrad montiert und wenn sie gemeinsam nach Haslach fuhren, setzte er Waltraud vorne in den Kindersitz und Rudolf hinten auf den Gepäckträger. Ich fuhr bei der Mutter auf dem Gepäckträger mit und so erreichten wir in der Regel nach einer Stunde zu fünft wohlbehalten die Stadt Haslach.

In der Dorfbevölkerung hatte sich schnell herumgesprochen, wohin die Brauns an jedem Sonntag geradelt sind und die Eltern werden auch kein Geheimnis daraus gemacht haben, was sicher für den Vater etwas Mut erforderte. Die Nordracher Bevölkerung war damals überwiegend traditionell konservativ und streng katholisch, und da sahen sie es nicht gerne, wenn Bürger aus dem Dorf einer Sekte angehörte. Spöttisch bekam der Vater „Apostel“ als Spitznamen und der ihm dauerhaft geblieben.

Wir waren wieder einmal an einem schönen sonnigen Sonntagnachmittag mit den Fahrrädern unterwegs. Doch während wir das Dorf hinausradelten, spielten halbwüchsige Buben Fußball auf der gemähten Wiese links der Straße unterhalb des mächtigen Muserhofes. Sie sahen und riefen spöttisch im Chor: „Apostel, Apostel“. Der Vater hielt an, ließ das Fahrrad fallen und die jüngeren Geschwister lagen lauthals heulend im Gras am Straßenrand. Wütend rannte der Vater den in alle Richtungen davon eilenden Kindern nach und bekam auch einen der Burschen am Schlafittchen zu fassen. Der bekam links und rechts zwei kräftige „Backpfeifen“. Hinterher belegte ihn die Gemeinde wegen dieses Vorfalls mit einer 150 Mark-Strafe. Wir haben danach aber nie mehr Kinder spotten hören, das muss sich also im Dorf herumgesprochen schnell haben. Hingegen wurde er, offen und hinter herum, an den Stammtischen des Ortes weiter „Apostel“ geheißen, was jedoch eher scherzhaft gemeint war, und das hat in diesem Kreis meinen Vater anscheinend weder geärgert noch gestört. Zumindest hat es sich nie dazu aufbegehrend geäußert. An manche unabänderlichen Dinge gewöhnt man sich bald, das war vielleicht auch bei ihm so, oder er hat es ignoriert und nahm das den Stammtischbrüdern nicht übel. In der dörflichen Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt, hatten sowieso alle männlichen Einwohner einen Spitznamen. So redete man sich im Umgang untereinander an, nicht mit dem eigentlichen Namen. Die Braun‘sche Sippe kannte man, vom Spitznamen „Apostel“ einmal abgesehen, seit alters her nur als die Korbers. Der Großvater war der Korber-Karl, den Vater nannte sie Korber-Wilhelm und einen Korber-Schneider gab es auch noch, die aber nur weitläufig mit uns verwandt war. Warum, und woher dies kam, ist mir nicht bekannt. Vielleicht war einer unserer Vorfahren ein Korbmacher von Beruf. Den gab es in meiner Kinderzeit auch immer noch.

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Neue geistige Heimat in der Kirche

Die Neuapostolische Kirchengemeinde in Haslach im Kinzigtal gehörte Anfang der 1950er-Jahre noch zum Bischofsbezirk Süd. Die seelsorgerische Betreuung oblag überwiegend wenigen priesterlichen Ämtern, die dazu aus Triberg und Hornberg angereist sind. Die Gemeinde Haslach bekam erst später mit Onkel Schaumburg den ersten Amtsträger, nachdem er zum Diakon ordiniert worden war. Damals kam es gelegentlich schon noch vor, dass er als Diakon den Gottesdienst leiten musste, weil kein Priester gekommen war. In solchen Fällen begann und beendete er den Gottesdienst mit Gebet und Segen, hielt eine kurze Andacht, jedoch ohne die sakramentale Handlung des Heiligen Abendmahls. Allgemein reisten die Amtsträger sonst von Hornberg und Triberg mit der Eisenbahn an. In guter Erinnerung blieb mir – schon wegen seines ausgefallenen oder für einen Kirchenmann ungewöhnlichen Namens – der Priester Teufel aus Triberg. Allerdings findet sich dieser Namen im Hochschwarzwald häufiger. Erinnert sei nur an den ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, und in der Neuapostolischen Kirche wirkte viele Jahre der Bischof Karl Teufel aus Tuttlingen im südlichen Baden. Ungewöhnlich war und ist der Name also keineswegs; eher gewöhnungsbedürftig eben.

Zu besonderen Anlässen und Festgottesdiensten, wenn Bezirksapostel Friedrich Hahn in den Schwarzwald kam, waren wir Haslacher nach Hornberg oder Triberg eingeladen. Solche größeren Gottesdienstveranstaltungen fanden meistens in angemieteten Stadthallen statt, in denen mehrere hundert oder tausend Teilnehmer Platz fanden. Zu den Highlights der 1950er-Jahre zählte der Besuch des Stammapostels J. G. Bischoff, der einmal nach Hornberg kam, in die durch das „Hornberger Schießen“ bekannten Stadt und wir aus Nordrach waren bei diesem außergewöhnlichen Ereignis mit dabei.

Diese Stadt hatte in der Neuapostolischen Welt einen besonderen Klang, denn von Stammapostel Hermann Niehaus, bei der Eisenbahn beschäftigt, wurde berichtet: Während einer Bahnfahrt über den Schwarzwald legte der Zug einen außerplanmäßigen Halt in Hornberg ein. Daraufhin prophezeite er: „In dieser Stadt wird eine blühende Gemeinde entstehen.“ Nur wenige Jahre später hatte sich seine Vision schon erfüllt. Die Neuapostolische Kirche Hornberg zählte zu den ältesten Kirchengemeinden im Schwarzwald, ist aber heute, wie viele andere Traditionsgemeinden auch, vor einigen Jahren mit Triberg fusioniert worden, was man sehr bedauern muss.

Zu diesen Großveranstaltungen in Hornberg oder Triberg reisten meine Eltern mit uns Kindern ab Biberach mit der Schwarzwaldbahn an. Da bei uns jedoch das Geld stets knapp war, versuchte der Vater wo es ging zu sparen. Die Kinder durften bis 4 Jahren bei den Eltern noch kostenlos mitfahren, und das Alter eines Kindes ist allgemein schwer einschätzbar. Kurzerhand gab der Vater meinen jüngeren Bruder noch längere Zeit mit vier Jahren aus, obwohl er schon älter war. Eines Tages saßen wir wieder im Zugabteil und der Vater hatte Fahrkarten für zwei Erwachsene und ein Kind gelöst. Der Kontrolleur kam, wollte die Fahrscheine prüfen und dabei wollte er wissen: „Wie alt sind die jüngeren Kinder?“ „Die sind zwei und vier“, antwortete mein Vater. „Nein, ich bin doch schon sechs“, protestierte Rudolf. Das war jetzt doch sehr peinlich, der Vater musste die fehlende Fahrkarte nachlösen und vielleicht auch noch einen Strafzuschlag bezahlen. Nach dieser Blamage hat der Vater nie mehr getrickst, dafür fand er eine andere Lösung, wie ich noch erwähnen werde.

Mein Vater wurde 1951 in Triberg mit meinem jüngeren Bruder Rudolf und der kleinen Schwester Waltraud durch Bezirksapostel Friedrich Hahn versiegelt. Diesmal waren wir von Haslach mit dem Bus zu diesem besonderen Gottesdienst in der Stadthalle angereist. Für mich ist dieser Tag in besonderem Maße in Erinnerung geblieben. Jene Jahre waren durch ein rasantes Wachstum der Neuapostolischen Kirche geprägt. Sicher waren die Gründe in der noch nicht lange zurückliegenden Kriegszeit und der Kargheit jener Tage zu sehen, die Menschen hungerten nach seelischem Zuspruch, der ihnen in den etablierten Kirchen oft fehlte. Jährlich kamen zigtausende Mitglieder neu hinzu und das sogar im katholisch geprägten Süden oder im erzkonservativen Schwarzwald. Bei der Verabschiedung strich mir der Bezirksapostel mit der Hand über den Kopf und sagte: „Lieber Walter, ich wünsche dir Gottes Segen.“ Das beeindruckte mich und ich wunderte mich, woher kennt der Apostel denn meinen Namen? Wie sollte ich als Kind wissen, dass er natürlich informiert worden war und wusste: Der Versiegelte hat neben den zwei Kindern, die mit ihm am Altar standen, auch noch eine Frau und ein weiteres Kind, die schon länger der Kirche angehörten.

Der charismatische Bezirksapostel war eine prägnante Persönlichkeit mit großer Ausstrahlung. Schon in jungen Jahren schaffte er es bis zum Direktor in einem weltweit agierenden Industrieunternehmen. Es war sogar vorgesehen, so wurde berichtet, dass er Generaldirektor dieses Unternehmens werden sollte, das würde heute dem Vorstandsvorsitzenden entsprechen. Das lehnte er unerwartet ab und gab, für alle unverständlich und überraschend, seinen Posten auch noch auf, nachdem er als Bezirksapostel ordiniert geworden war. Niemand im Unternehmen hatte seine Entscheidung verstanden und nichts wurde unversucht gelassen, ihn noch umzustimmen. Garantiert hätte ihn eine grandiose Karriere erwartet, mit deutlich besserer Dotierung als in der neuen Funktion als Leiter der Neuapostolischen Kirche in Baden.

Im Kreis der Jugend wurde gerne eine Begebenheit aus seiner aktiven Zeit als Direktor kolportiert. Im beruflichen Auftrag und als Repräsentant seines Unternehmens weilte er am ägyptischen Hof, und bei den Verhandlungen ging es um einen bedeutenden Auftrag. Zu seinen Ehren gab der ägyptische König Faruq der Erste ein Festbankett und eine Prinzessin wertete das Ereignis mit ihrer Anwesenheit gebührend auf. Gemäß dem Protokoll war bestimmt, dass Friedrich Hahn mit ihr den Tanz eröffnen sollte, was als besondere Ehre galt. Doch damals war Tanz in der Neuapostolischen Kirche noch verpönt. Schweren Herzens und in Sorge, die Verhandlungen könnten scheitern, offenbarte Friedrich Hahn der Prinzessin: „In meinem Glauben gilt Tanz als gottlos und ist nicht erwünscht.“ Seine Furcht war unbegründet. Im Islam haben streng gelebte Glaubensgrundsätze einen hohen Stellenwert, und so bekam das Unternehmen doch oder gerade deshalb den Auftrag für das lukrative Geschäft.

So wie er sich im Unternehmen mit ganzer Kraft engagiert hatte, tat er es über viele Jahre auch für die Kirche im Apostelbezirk Baden, den er souverän führte. Innerhalb kurzer Zeit hatte er ungemein viel bewegen können und er war überall präsent. Noch Jahrzehnte später schwärmten die Kirchenmitglieder von denkwürdigen Begegnungen mit dem Apostel, und auch beim Stammapostel war er höchst angesehen. Es ist durchaus vorgekommen, dass Friedrich Hahn mit dem Auto durch die Stadt fuhr, irgendwo auf der Straße ein bekanntes Gesicht sah, spontan anhielt, das Auto kurzerhand stehen ließ und über die Straße rannte, um das Geschwister zu begrüßen. Ob eine Straßenbahn deswegen anhalten musste, das war ihm egal.

Oft arbeitete er weit über seine Kräfte, war für jeden und für alle ansprechbar. Doch gesundheitlich wirkte sich vermutlich nicht nur sein Arbeitspensum negativ aus, sondern vielmehr wird es sein exzessiver Zigarettenkonsum gewesen sein und das sollte sich später rächen. Seine Leidenschaft für die Zigarette war im Apostelkollegium nicht unumstritten. Im Norden war Bezirksapostel Karl Weinmann aus Hamburg ein strikter und erklärter Gegner des Nikotingenusses und er wollte das Rauchen auch gerne den Amtsträgern seines Bezirkes verbieten. Sogar im Kreis der Apostelkollegen regte er an, alle sollten das Rauchen überwinden. Bei diesem Thema fand er bei Hahn kein Gehör und deshalb machte folgendes Gespräch humorvoll die Runde: Der Bezirksapostel Hahn erhielt die Anfrage: „Wenn ich das Rauchen aufgebe, bin ich dann ein Überwinder?“ Da soll Hahn geantwortet haben: „Nein, ein Nichtraucher.“ So war er auch durchaus pragmatisch.

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Ein Mann mit weltmännischem Format

Von Onkel Schaumburg und Els’chen – wie er seine Frau liebevoll nannte – war schon die Rede und auch, dass ich öfters von ihnen zu sich nach Hause mitgenommen wurde. Aus mir unbekannten Gründen waren sie kinderlos und litten unter dem ungewollten Umstand. So war ich für sie vielleicht ein Kindersatz, was mir nicht unrecht war. Ich war gerne bei ihnen und noch wichtiger war mir, eine Weile von zu Hause weg zu sein, weit aus dem Bannkreis meines strengen und stets an mir nörgelnden Vaters.

Kurt Schaumburg in jungen Jahren

Die Schaumburgs fanden anfangs der 1950er-Jahre in Haslach eine größere Wohnung. Sie bezogen in der Innenstadt zwar nur eine Altbauwohnung, aber sie war größer und mit mehr Räumlichkeiten als bisher in Unterharmersbach. Nicht unwichtig war, sie wohnten nun, was die Kirche und deren Besuche anging, direkt vor Ort und nicht mehr so weit entfernt. Die größere Wohnung war auch noch aus einem anderen Grund wichtig. Häufig weilten Gäste bei ihnen und das waren nicht nur höhere Ämter, die in die Gemeinde Haslach kamen, bei ihnen einkehrten, bewirtet wurden und oft über Nacht blieben. Regelmäßig klingelten auch durchreisende Glaubensmitglieder an ihrer Türe. Noch immer waren unter den vielen sogenannten „Flüchtlingen“ auch Neuapostolische unterwegs. Zum einen waren es Rückkehrer aus der Kriegsgefangenschaft und andererseits, aus welchen Gründen auch immer, entwurzelte Menschen. Alle fanden bei dem Ehepaar ein offenes Haus und demzufolge waren sie weithin bekannt wie „bunte Hunde“. Schon damals wurden die Gemeinde-Adressen der Kirchen und Versammlungsstätten, sowie die Namen des zuständigen Vorstehers als mögliche Ansprechpartner dem Reisenden mitgegeben. Demzufolge war der Vorsteher immer die erste Anlaufstelle in einer Stadt. Bei den anderen Konfessionen war es nicht anders, dort waren es die Pfarrämter.

Seine Kontaktfreudigkeit und warme Ausstrahlung hatte „Onkel Schaumburgs“ Bekanntheitsgrad zusätzlich gesteigert. Er war weltgewandt, überaus belesen und rhetorisch ein geschulter Redner. Nach dem Ende des Krieges hatte er während der Arbeitslosigkeit die Zeit gut genützt und Rhetorikkurse belegt. So gut geschult, verstand er es geschickt zu formulieren und er konnte sprachlich die Zuhörer fesseln. Schon darin hob er sich von den vielen einfachen, meist mehr handwerklich geprägten Männern ab, die als Priester oder in höheren Ämtern predigten. Sie verstanden zwar gut ihr Handwerk, waren beruflich geschickt, aber eben keine geschliffenen Redner. Damit will ich keineswegs den aufopfernden Einsatz dieser Männer schmälern. Deren Predigtstil war einfach und völlig anders, kam mehr aus dem Herzen, der Seele, und wurde nicht rein vom Intellekt geprägt. Bei einer vom Dialekt gefärbten Predigt kam es bei den meisten der gläubigen Menschen auch nicht in erster Linie auf die perfekte Grammatik an und theologische Feinheiten, da war eher die blumige, beispielgebende Sprache gefragt.

Nachdem die Schaumburgs nun in größeren Räumlichkeiten wohnten, kaufte sie sich auch noch ein gebrauchtes Auto. Das war zwar ein Vorkriegsmodell, doch so eng sah man das damals nicht, wichtiger war mobil zu sein und nicht jeder ungünstigeren Witterung ausgesetzt. Das Auto bedeutete eine deutliche Verbesserung und war beruflich wichtig. Für die standesgemäßen Besuche bei der inserierenden Kundschaft gab ein Auto mehr her.

Anfangs der 1950er-Jahre ist die Gemeinde Haslach selbständig geworden und Kurt Schaumburg war der erste Priester. Anfangs leitete er die Gemeinde noch kommissarisch, wobei Robert Steiner als weiterer Priester hinzukam. Die Gottesdienste fanden ab 1950 zuerst in der Volksschule in gemieteten Räumen des „Fürstenberger Hof“ statt, denn ein eigenes Kirchenlokal besaß man noch nicht. Später versammelten sich die Gottesdienstteilnehmer kurzzeitig in einem Nebensaal der Wirtschaft „Bierkrämer“, was sich nicht als ideal erwies. Die laut grölenden Zecher störten die Andacht manchmal doch mehr als erträglich und sicher war das beabsichtigt. Den besten Leumund hatte die Kneipe auch nicht und so waren alle froh, als sich eine bessere Lösung anbot.

In der Haslacher Seegerstraße besaß die Familie Maus ein großes Anwesen und sie waren unserer Kirche wohlgesonnenen. Bei ihnen konnte das Dachgeschoss für Gottesdienstzwecke angemietet werden. Die Räume mussten jedoch zuerst noch passend und geeignet umgebaut werden. Die Umbauarbeiten des Kirchenraumes und der Nebenräume erfolgten von handwerklich geschickten Mitgliedern weitgehend in Eigenregie und die Kosten für das Material übernahm die Kirchenverwaltung. Der relativ große Versammlungsraum, mit separater Sakristei im Nebenraum und Sanitärräumen, war danach der Gemeinde über mehrere Jahre ein würdiger Gottesdienstsaal, bis 1960 in der Königsberger Straße eine schöne neue Kirche gebaut und eingeweiht werden konnte.

Damals wurden zahlreiche neue Kirchen in Baden gebaut und fast immer als Serienbauten. Die in Haslach bot regulär Platz für 200 Personen. Im Erdgeschoss gab es eine Sakristei und einen Nebenraum für Kindergottesdienste, Religionsunterricht, Gemeindezusammenkünfte und sonstige Veranstaltungen. In jenen Jahren gab es Festgottesdiensten, da waren durchweg sämtliche Räume bis auf den letzten Platz belegt und sogar im Treppenaufgang saßen noch die Gottesdienstteilnehmer. Dann wurden schon mal mehr als 400 Anwesende gezählt. Die neue Kirche und größeren Räumlichkeiten waren dringend nötig geworden, denn die Mitgliederzahl hatte Jahr für Jahr im zweistelligen Bereich zugenommen. Dafür mag es mehrere Gründe gegeben haben. Die Menschen waren noch empfänglicher für das Wort Gottes, es gab kaum Fernseher oder andere Zeitfresser, wie heute in der materialistischen, durch Events und Egoismus geprägten Zeit. Allgemein waren die Menschen noch dankbar für den seelischen Zuspruch. In der Neuapostolischen Kirche gab es jedoch noch einen anderen und ganz wesentlichen Grund, die unmittelbare Naherwartung von Jesu Christi und sogenannte „Botschaft“.

Die 1960 eingeweihte Kirche in Haslach

Im Weihnachts-Gottesdienst 1951 hatte Stammapostel Johann Gottfried Bischoff in Gießen verkündet: „Ich werde nicht sterben. Gott hat mir die Verheißung gegeben, dass Jesus Christus in meiner Lebenszeit wiederkommen wird.“ Das zog die gläubigen Menschen magisch an, die an die Verheißung Jesu Christi und sein Wiederkommen glaubten. Die „Botschaft“ war ein Ziel im überschaubaren Zeitrahmen und es gab den Mitgliedern einen unglaublichen Motivationsschub, diese frohe Botschaft allen Menschen kundzutun, sie aufzurütteln und in die Gottesdienste einzuladen. Das blieb nicht ohne Erfolg, und es erweckte auf das Wiederkommen Jesu Christi eine stimulierende Euphorie. Alles konzentrierte sich auf dieses hohe Ziel im verheißenen und herbeigesehnten Ereignis.

Die „Botschaft“ schaukelte sich nach und nach hoch, verselbständigte sich gewissermaßen und in den Folgejahren wurde sie – heute nicht mehr nachvollziehbar – zum Dogma erhoben und das nahm da und dort skurrile Züge an: Da ließen Eltern ihre Kinder nicht mehr studieren oder einen handwerklichen Beruf ergreifen. „Das brauchen sie nicht mehr, der Herr Jesus kommt bald“, so die etwas verblendete Begründung. Stattdessen sollte man die freie Zeit nützen und „Zeugnis bringen gehen“, wie die Missionstätigkeit bezeichnet wurde. Bei meiner Mutter fiel die Botschaft ebenfalls auf einen fruchtbaren Boden, das Wiederkommen Jesu Christi, die verheißene Hochzeit der Brautgemeinde im Himmel, das unendliche Glück einer unbeschwerten Ewigkeit mit Gott wurde ihr Lebensinhalt.

Die „Botschaft“ in allen Fassetten, wenn auch je nach Region und Verantwortlichen in der Ausprägungsform etwas differenzierter, nahm später Formen an, die selbst unserer gläubigen Mutter zu weit gingen. In einem Gottesdienst wurde dem „Gottesvolk“ nahegelegt: „Im neuapostolischen Heim gibt es keinen Weihnachtsbaum, das ist ein weltliches Brauchtum.“ Das machte sie nicht mit und wir Kinder schon gar nicht. So stand bei uns selbstverständlich jedes Jahr weiterhin ein reich geschmückter Weihnachtsbaum in der Stube. Eine andere Sache tangiert uns überhaupt nicht. Gegen Ende der 1950er-Jahre folgte die Verteufelung der neu aufgekommenen Fernsehgeräte. „Da holen wir nur die sündige Welt (ein Begriff für Vergänglichkeit und Gottlosigkeit) ins Haus.“ Bei uns zuhause gab es noch viele Jahre keinen Fernseher, doch wir Kinder waren dem neuen Medium nicht abgeneigt. Wenn wir fernsehen wollten, fanden wir in der Nachbarschaft oder anderswo dafür Gelegenheiten. Das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1954 verfolgte ich mit anderen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Nebensaal des Gasthauses „Stube“ im Dorf. Häufig ging ich zu einer benachbarten Familie und dort verbrachte ich stundenlang vor der „Klotze“. Damals schaute ich gespannt solche spektakulären Sendungen wie: „Soweit die Füße tragen“, aber auch an andere Klassiker der damaligen Zeit. Eine Möglichkeit ins Kino zu gehen hatte ich nicht, denn in Nordrach gab es kein Kino und nach Zell war es für uns Kinder in diesen Jahren noch zu weit. Ersatzweise durften wir mehrmals im Jahr im Turnsaal der Schule den Filmvorführungen mit Berg-, Land- oder Naturfilmen anschauen, die damals ab und zu Groß und Klein eine Gelegenheit boten, Filmerlebnisse der besonderen Art für 50 Pfennig zu genießen.