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Beide Großeltern sind seit Generationen alteingesessene Schwarzwälder. Der Autor, Ende 1944 im damals deutsch verwalteten Elsass geboren, war als Kleinkind ein Türöffner für Mutter und Verwandtschaft, die nur so in die neutrale Schweiz einreisen durften, um nach der Internierung von dort in die ursprüngliche Heimat der Großeltern ins Wiesental und damit in Sicherheit zu kommen. Dass wegen des Geburtsortes im Elsass später Probleme bei der Staatsbürgerschaft entstehen würde, war weder abzusehen noch erwartet. Die bewegte Kindheit wurde von der Notwendigkeit geprägt, schon in jungen Jahren mitverdienen zu müssen, eigenes Geld für die notwendige Kleidung oder den Schulbedarf zu haben, sowie sich kleine Freuden leisten zu können, ohne die Eltern damit zu belasten. Kaum als Jugendlicher selbständig rief die Bundeswehr zum Wehrdienst bei der Marine. Nach einem unglaublich brutalen militärischen Drill folgte die Ausbildung zum Sanitäter. Nach den bestandenen Prüfungen wurde das Trossschiff "Dithmarschen" neues Tätigkeitsgebiet. Nun kam die spannendste Zeit auf See. Der Schwarzwälder war ein Seemann geworden und durfte Gebiete und Häfen im Ausland sehen, die für den Normalbürger damals noch unerreichbare Ziele waren.
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Seitenzahl: 459
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„Alles Lebendige zeichnet sich durch eine zielgerichtete, formende Lebenskraft (vis vitalis) aus“, lehrt uns der Idealismus.
„Unser Leben währet siebzig Jahre und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre und was daran köstlich erscheint, ist doch nur vergebliche Mühe, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon“. Psalm 90, 10. (Luther-Bibel 1912)
Ist das Leben Schicksal und der Weg vorgegeben? Ist es die führende Hand Gottes, die uns von Anfang an begleitet und unser Leben von Anfang an lenkt? Oder welche Veränderung nimmt es aus Begegnungen mit Menschen, die unsere Wege kreuzen, durch prägende Ereignisse und Zufälligkeiten?
Viele Fragen müssen unbeantwortet bleiben oder finden alleine eine Antwort im Glauben.
Blicke ich auf meinen Lebensweg zurück, so erkenne ich, mir wurde weder etwas geschenkt, noch ist mir das Glück einfach so in die Wiege gelegt worden. Auch war kein Weg vorgezeichnet, aber es fanden sich viele markanten Punkte – ich bezeichne sie besser Wegkreuzungen – wo entscheidende Weichstellungen erfolgten. Nicht alles war von mir so geplant oder gewollt, aber im Rückblick betrachtet ist es in Ordnung und konnte angenommen werden.
„C’est la vie“ sagen die Franzosen: „so ist das Leben“.
Vorwort
1
Im Elsass
Hanni, ein junges Mädchen
Wilhelm wird schwer verletzt
Walter wird geboren
Opa Binoth im Arrest
Hanni und Wilhelm heiraten
2
Eine junge Mutter muss sich behaupten
Größte Gefahr für den kleinen Walter
Mein Bruder wird verletzt
Umzug ins Dorf
Entwicklung in Bürchau
Die Schulzeit
Erneuter Schicksalsschlag für den Vater
Massive gesundheitliche Beeinträchtigungen
Erneuter Umzug
Verdienstmöglichkeiten
Ein Schulwechsel stand an
Freuden in der spärlichen Freizeit
Weihnachten ist mehr als nur ein Fest
Kur in Friedenweiler
Ende der Schulzeit
3
Lehrzeit
Probleme mit dem Vater
Abends in Haslach
4
Auf eigenen Füßen
Die erste eigene Wohnung
Das Kinzigtal als Urlaubsparadies
Wehrdienst bei der Marine
Ausbildung zum Sanitäter
Fachlehrgang in Wilhelmshaven und Bad Zwischenahn
Neues Kommando
In Wilhelmshaven zu Hause
Es war sehr verlockend, was das Hitlerregime um das Jahr 1939 den Bauernsöhnen im süddeutschen Raum offerierte. Viele hatten keine Aussicht auf Erbe des elterlichen Hofs, stattdessen sollten sie, wie nach alter Sitte und Brauch, als Arbeiter oder Knechte ihr Brot verdienen. Nach überlieferter Schwarzwälder Tradition durfte das Erbe nicht geteilt werden, damit jeder Hof als lebensfähige Einheit erhalten blieb. Demzufolge bekam der jüngste Sohn in der Regel das Erbe. So blieben Hof und Grund in einer Hand und mit dem jüngsten Sohn war dem Altbauer eine längere Altersversorgung sicher. Die älteren Geschwister mussten sich als Knechte und Mägde verdingen. Viele suchten in der aufkommenden Textilindustrie im Wiesen- und Elztal eine Arbeitsstelle oder in der Uhrenindustrie rund um Villingen und Furtwangen. Manche zogen hausierend durchs Land und Wagemutige wanderten nach Amerika aus.
Nun bekamen Bauernsöhne im Elsass ein verlassener Hof angeboten, den sie selbständig bewirtschaften durften. Das Elsass war wieder in deutscher Hand. Viele Elsässer Hofbesitzer hatten im Blick auf die politischen Verhältnissen das Elsass verlassen, waren in den Süden oder ins Hinterland von Frankreich gezogen und die Höfe lagen verweist. Auf das Angebot ging auch mein Großvater Rudolf Binoth ein. Er löste in der alten Heimat alles auf und zog mit der Familie, das waren seine Frau Amalie – der Großmutter mütterlicherseits – und die Kinder, vom Wiesental über den Rhein in den Sundgau nach Häsingen, (französisch: Hesinque). Das kleine idyllische Dorf findet sich einen Steinwurf von der Schweizer Grenze, in einer leicht hügeligen fruchtbaren Landschaft. Bisher war Heimatort der Binoth's ein 200-Seelen-Dorf im hinteren „Kleines Wiesental“, etwa 20 Kilometer von Schopfheim entfernt, am Fuße des mächtigen „Belchen“, dem schönsten Berg im Schwarzwald, wie die Werbung behauptet. Sehr weit entfernt war die neue Heimat also gar nicht. Man blieb außerdem durch verwandtschaftliche Bande der Heimat verbunden. Zudem lebte man am neuen Wohnort im gleichen Sprachraum, es wurde alemannisch gesprochen.
Für Opa Binoth sah es wie ein Lottogewinn aus. Deshalb zog er, ohne Bedenken eines Risikos, mit der kompletten Familie, mit Sack und Pack ins Elsass hinüber. Der Sundgau, im südlichen Bereich des Départements Haut-Rhin, ist klimatisch begünstigt. Das liegt einerseits an der warmen Luft, die vom Mittelmeer durch das Rhonetal und die Burgundische Pforte ins Rheintal strömt, und andererseits ist es geschützt durch die Vogesen, mit dem Ballon d'Alsace im Vordergrund und dem Grand Ballon im Hintergrund. Nicht weit entfernt fließt der Rhein, erhebt sich der Kaiserstuhl, sind die Metropolen Freiburg und Basel. Demzufolge darf man wirklich von einer gesegneten Gegend sprechen.
Doch zuerst war viel Arbeit nötig. Die brachliegenden Felder und Wiesen mussten auf Vordermann gebracht werden. Sie galt es für einen auskömmlichen Ertrag zu bestellen. Schnell hatten sich die „Binoths“ in die dörfliche Gemeinschaft eingelebt und waren integriert. Dies wunderte nicht, denn die Bevölkerung sprach und verstand Deutsch, oder eigentlich mehr Schwyzerdütsch. Die Bewohner im Dreiländer-Dreieck sind Alemannen, die vorwiegend im Vorarlberg, der nördlichen Schweiz, im Südwesten Deutschlands und Elsass angesiedelt sind.
Häsingen – heute Hesinque – im Sundgau, südliches Elsass
Dieses Anwesen bewirtschafteten die Binoths rund 5 Jahre
Wie es in einem überschaubaren Dorf guter Brauch ist, die Bevölkerung half sich gegenseitig so gut es ging. Viele männliche Bewohner waren als Elsässer während dem Krieg zum Militärdienst in der deutschen Wehrmacht verpflichtet und eingezogen. Im Ort sind nur wenige arbeitsfähige Männer verblieben. Dem Opa blieb der Militärdienst erspart, da er zeitlebens an den Folgen einer Verwundung aus dem 1. Weltkrieg litt und nicht mehr wehrtauglich war. So half Opa Binoth bereitwillig den Bäuerinnen im Ort bei der Feldarbeit und oft bestellte er deren Felder zuerst, und erst danach die eigenen. Das rettete ihm später möglicherweise sein Leben, wie wir noch lesen werden.
Eines der Kinder der Binoths ist die junge Johanna, „Hanni“ genannt. Sie war ein bescheidenes, fleißiges und hochbegabtes Mädchen. Allerdings hatte man im Elternhaus dafür wenig Sinn, als man ihr wiederholt eine Hochbegabtenförderung anbot und sogar ein Stipendium möglich war. Sie wurde auf dem Hof und bei der Arbeit auf den Felder gebraucht. Da blieb dem jungen Mädchen nicht viel mehr, wie neben der harten Arbeit im Haus, auf dem Hof und den Feldern, ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen: Bücher lesen.
Hochverehrt war ihr der Heimatschriftsteller Johann Peter Hebel. Der berühmte Dichter und Schriftsteller ist in Basel geboren, lebte viele Jahre in Hausen im Wiesental, das heißt ganz in der Nähe des einstigen Wohnorts. Sie liebte seine in alemannischer Mundart verfassten Gedichte und Geschichten. „Der Mann im Mond“, gehört dazu, und noch im hohen Alter konnte sie dieses Gedicht und andere vollständig und in alemannischer Mundart rezitieren.
Hanni als junges Mädchen
Dann gab es auch noch den BDM (Bund deutscher Mädchen), der junge Frauen hauswirtschaftlich ausgebildete. So eine Ausbildung war, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, wichtig und ein Muss für Heim und Herd. Eine perfekte Hausfrau in Küche und am Herd entsprach dem Idealbild der deutschen Frau. Unter diesem Vorzeichen bekam Hanni eine hervorragende solide hauswirtschaftliche Ausbildung in einer Schule im Odenwald. Hier lernte sie nicht nur kochen, sondern auch die Verwendung von Kräutern aller Art aus heimischen Wiesen und Gärten, sowie traditionelle Kochrezepte der einfachen Bevölkerung umsetzen. Die einbrannte Mehlsuppe gehörte dazu, die später bei uns öfters auf den Tisch kam. Kartoffeln in allen Variationen waren ein unverzichtbarer variabler Bestandteil der Küche. Ihre Schweizer Rösti – wir sagten „Bregili“ – schmeckten wie vom Sternekoch. Das was auf den Tisch kam musste kostengünstig sein, schmackhaft und sättigend. Die Ausbildung half ihr später sehr, Spinat aus jungen Brennnesseln machen, oder mit Sauerampfer und jungem Löwenzahn ein Salat, womit sie den Speisezettel der eigenen Familie bereicherte.
Ab Anfang der 40er Jahre war die deutsche Wehrmacht geradezu in Siegeslaune. Die Soldaten ließen es sich in der Etappe gut gehen und lebten sprichwörtlich wie „Gott in Frankreich“. Einer von ihnen war Wilhelm, ein junger Mann mit 28 Jahren aus dem Schwarzwald – oder genauer – aus Nordrach. Das Dorf liegt eingebettet in einem langgezogenen Seitental der Kinzig im Mittleren Schwarzwald.
Schon reifer und erfahren hatte er es beim Militär ein Stück weit gebracht. Draufgängerisch war es ihm unter anderem in einer Funker-Einheit gelungen, einen kleinen Teil für die Vernichtung des Feindes beizutragen, wofür er mehrfach geehrt wurde. Auszeichnungen wie das „Eiserne Kreuz“ 2. Klasse mit Band und 1. Klasse, sowie weitere militärische Orden schmückten seine Brust. Solche Ehrungen waren in der Bevölkerung hoch angesehen. Die Heimatzeitung berichtete von den Heldentaten und der Übergabe eines solchen Stück Blech, und der Sohn der Heimat wurde gebührend geehrt.
Natürlich kamen die Reife und Erfahrung auch bei jungen Mädchen gut an. Er lernte Hanni kennen und eroberte ihr Herz im Sturm. „Ich war – was Männern anging – völlig unerfahren, kannte nur meine Brüder, und gefallen hat mir der Wilhelm schon“, verriet sie uns Kinder später den Grund der Eile. In diesen Tagen hielt man sich allgemein nicht lange bei Nebensächlichkeiten auf. Wer wusste schon, was morgen ist und ob man noch lebt. So kam es zwischen Wilhelm und dem 19-jährigen Bauernmädchen zu intimen Beziehungen. „Das erste Zusammensein hatte schon Folgen“, verriet die Mutter später. Sie war schwanger und es meldete sich Nachwuchs an.
Wir Kinder haben nie genau erfahren, was im Sommer 1944 wirklich passiert ist. Der Vater wusste es vermutlich selbst nicht oder nicht mehr. Offiziell hat man gesagt: „ein Panzerspähwagen hat ihn angefahren.“ Danach lag er mit schwersten Verletzungen 6 Wochen im Koma. Die Folge von Kopfverletzungen ließen ihn für den Rest seines Lebens leiden.
Nicht ausgeschlossen ist – so vernahmen wir es später unter der Hand und bei Recherchen –, dass er sich auf dem Nachhauseweg zur Einheit befand und ihn ein Auto erfasste. Weil man den schuldigen Fahrer nicht ermitteln konnte, versuchte man möglicherweise den Unfall als Verletzung im Militärdienst darzustellen, damit zumindest die finanzielle Versorgung gesichert war. Wie gesagt, es ist nicht ausgeschlossen, dass der Vater – wegen der Schwere seiner Verletzungen – selber nicht wusste, was eigentlich wirklich geschehen ist. Wie es auch war, eine finanzielle Entschädigung oder Rente hat er zeitlebens in dieser Sache nie erhalten und nicht einmal eine Anerkennung.
Wilhelm in Militäruniform
Der Herbst 1944 brachte dem Süden von Deutschland – und da war das Elsass besonders hart betroffen – viel Leid über das Land. In der gleichen Zeit sah Hanni den Tagen der Geburt ihres Kindes entgegen. Die Franzosen rückten massiv vom Westen her über die Vogesen und die Burgundische Pforte an. Sie kamen dem Sundgau immer näher, und schon bald kursierten allerorts schaurige Gerüchte und Geschichten von schlimmsten Gräueltaten der französischen Soldaten unter der Zivilbevölkerung. Vor allem die militärische Vorhut, die Marokkaner, waren gleichermaßen gefürchtet, wie verhasst. Angeblich sollen sie alle Frauen vergewaltigt haben und nahmen sämtliche Wertgegenstände ab, denen sie habhaft werden konnte. Bekam jemand einen Ring nicht vom Finger, schnitten sie ohne viel Federlesens den Finger ab. Währenddessen war Wilhelm, der Vater ihres Kindes, mehr tot als lebendig und brauchte noch viele Monate Pflege und Re-habilitation. Er konnte der jungen Mutter keine Hilfe sein.
Die junge Frau – oder mehr noch ein Mädchen – war keine zwanzig, ledig, ein Kind unterwegs und das in solchen Zeiten. Das war keine schöne Situation, dazu war die Zukunft völlig ungewiss.
Der Tag der Geburt kam, und wie man mir später erzählte: „War es 14 Tage früher wie berechnet“. Ich erblickte am Sonntag den 5. November das Licht der Welt. War es ein gnädiges Schicksal? Schon zwei Tage später, am 7. November, erfolgte die Registrierung in der Mairie, dem Bürgermeisteramt. Damals ahnte noch niemand, welche Verwicklungen oder Folgen der Geburtsort für mich noch haben sollte. Dieses Problem bekam ich erst viel später mit, nachdem das Elsass, und damit auch mein Geburtsort, längst wieder ein ungeliebter Teil, ein Departement Frankreichs war. Nach französischem Recht war ich, da in Frankreich geboren, französischer Staatsbürger. Dass der Ort zum Zeitpunkt der Geburt gerade in deutscher Hand war, spielte keine Rolle.
Auf den ersten Blick gesehen hatte es das Schicksal noch gnädig mit allen gemeint, doch die Ereignisse überschlugen sich geradezu in diesen Tagen. Das französische Militär rückte näher und näher und nahm schon das halbe Dorf ein. Oma Amalie, die Tanten Olga, Mathilde und meine Mutter mit mir – dem Neugeborenen – gelang noch rechtzeitig die Flucht. Sie überschritten unbehelligt die nur wenige Kilometer entfernte Staatsgrenze zur Schweiz. Schon wenige Minuten später wurde die einzige Brücke in diesem Bereich zur Grenze gesprengt, somit war auch dieser Fluchtweg fortan passé.
Wer kann heute verstehen und begreifen, dass eine deutsche Familie in der neutralen Schweiz überhaupt nicht willkommen war. Die Schweizer wollte keine Flüchtlinge mehr ins Land lassen. Die Grenzer wiesen alle zurück oder übergaben sie gnadenlos den deutschen Behörden. Da waren sie unerbittlich und verschlimmerten das Leid, vor allem unter jüdischen Flüchtlingen. Wir wurden nur aufgenommen, weil ein Säugling dabei war, etwas schwächlich oder halbtot scheinend. So durfte meine Mutter und die Verwandten vorerst bleiben und wurden interniert.
Sie beabsichtigten eigentlich nur den Transit über das nahe Riehen bei Lörrach und hatten nicht erwogen schwimmend oder im Boot den Rhein zu passieren. Vielleicht war dieser Abschnitt der Grenze auch gut überwacht. Möglich ist, man hat auch gar nicht mit Problemen durch die Schweizer gerechnet? Erst nach 6 Wochen Internierung wurde den Frauen mit Kind der Übertritt und auf die deutsche Seite erlaubt. Von Basel ist es nicht weit nach Schopfheim und ins nahe Wiesental. Dort, in der ursprünglichen eigentlichen Heimat, kamen die Flüchtlinge mit nichts an, wenn man von mir, dem Kleinkind absieht und dem wenigen, was sie auf dem Leibe trugen. Das war aber vorerst das geringere Problem. Wichtiger war, die Frauen befanden sich in Sicherheit. Sie waren wieder da, wo sie vor Jahren ausgezogen sind; zurück in heimatlichen Gefilden.
Meine Mutter mit mir fand bei Tante Frieda und Onkel Max – den Geschwistern vom Opa – in der Holl eine neue Bleibe und die anderen kamen in Bürchau unter. Olga, die ältere Schwester meiner Mutter, hatte während des Krieges den Bürchauer Albert Roser geheiratet. Sein Elternhaus war ein über 300 Jahre alter stattlicher Bauernhof. Noch war Albert im Kriegseinsatz, aber im großen Haus gab es vorerst genügend Platz für alle, und es sollte – zumindest zeitweise – auch das neue Domizil der Großeltern werden.
Der Großvater und Bauern konnte nicht einfach so den Hof verlassen und alles stehen und liegen lassen. Das Vieh im Stall musste versorgt sein. Hier war außerdem die neue, erst in wenigen Jahren mühsam aufgebaute Existenz. Später sagte er mit Wehmut in der Stimme: „Nachdem die Felder und der Hof endlich Ertrag abwarfen, mussten wir wieder gehen, da hat man uns einfach raus geschmissen.“
Einer Schuld war er sich nicht bewusst. Weder war er Nazi, noch diente er beim Militär. Wie schon erwähnt, hatte man ihn wegen einer Verwundung im 1. Weltkrieg nicht mehr einsetzen können. So hoffte er, die Plünderungen und all das Schlimme und Negative, was der Einzug durch feindliches Militärs mit sich bringt, würde ohne allzu schlimme Folgen für ihn vorbei gehen, und alle würden später im Dorf wieder in Frieden leben können.
Beinahe wäre es auch gut gegangen, doch zu allem Unglück fand man in der Hosentasche seines 15-jährigen Sohnes Patronen. Wie sollte es bei einem Burschen dieses Alters und im Krieg auch anders sein? Das war allerdings Grund genug den Vater, meinem Opa, zu verhaften. Er wurde in der Mairie, dem Rathaus, in Arrest genommen. Das Urteil war schon absehbar, ein Leben galt in diesen Tagen nicht sonderlich viel. Zum Glück für ihn gab es aber die Frauen im Dorf, denen der Großvater in den zurückliegenden Jahren hilfreich war. Sie gingen für ihn sozusagen „auf die Barrikaden“, und es gab ja auch beim Gegner noch ein paar vernünftige Leute. Dank dem Engagement der Frauen kam Binoth frei. Danach gelang ihm mit dem Rest der Familie auch noch den Wechsel auf die andere Rheinseite, und unbeschadet kamen sie ebenfalls in der alten Heimat an, wo die Familie schon wartete. Vielleicht wurde er auch einfach über die Grenze abgeschoben. Wie es genau lief, werden wir nicht mehr in Erfahrung bringen.
Die Verwandten und meine Mutter mit mir waren erst einmal in der Holl und in Bürchau in Sicherheit. Man hatte zwar nichts mehr, doch alle halfen sich in diesen Tagen gegenseitig so gut es ging. Schnell kam ein neues Jahr und mit ihm ein kalter und langer Winter, der nur unwillig verzog. Trotzdem war er irgendwann vorüber und ein neuer Frühling zog ein. Bei Wilhelm verlief die Erholung nur schleppend. Immer wieder gab es Rückschläge infolge der schweren Kopfverletzung.
Exemplarisch ist ein Vorfall während einer ärztlichen Visite. Bei einem der öfters auftretenden schweren Anfälle konnten ihn fünf Pflegekräfte kaum bändigen. Mit ungewöhnlicher Kraft hatte er bei so einem Anfall einen Arzt mit dessen Krawatte fast erwürgt. Nur mit vereinten Kräften wurde Schlimmeres verhindert. Es bedurfte noch einer langen Genesungsphase, und die war in der zu Ende gehenden Zeit des Krieges alles andere wie optimal.
Die Mutter und ich als Kleinkind
Eine günstige Zeit während der Rekonvaleszenz ließ es zu, und die Eltern heirateten am 4. April 1945 auf dem Standesamt in Bürchau. Gleichzeitig wurde ich als gemeinsames, eheliches Kind legitimiert und registriert. Vielleicht nützten sie die erstbeste Gelegenheit zur Heirat, damit erstens die Mutter „im Falle eines Falles“ versorgt war, und zweitens war meine eheliche Legitimation auch nicht unwichtig. Das Fürsorgeamt mischte sich damals noch gerne ein.
Noch war der Krieg nicht zu Ende, der dauerte immer noch über einen Monat und was konnte jeden Tag passieren? Zum Glück waren alle im Wiesental weiter entfernt oder weit weg vom Schuss, und die Bewohner wurden nicht mehr allzu sehr von Kriegsfolgen tangiert.
In diesen Tagen wurde meine Mutter von Tante Frieda in der Holl umsorgt, und möglich ist – oder es ist wahrscheinlich, sie half dort bei Arbeiten auf dem Hof, soweit dies einer Mutter mit Kleinkind möglich war. Die Holl, der kleine Nachbarort und 4 Kilometer von Bürchau entfernt, war eine Ansiedlung einiger Häuser, mit Gasthaus und Bauernhöfen. Von Tante Frieda und Onkel Max bekam die Mutter vielfältige Hilfe, vor allem für mich, und nebenbei kümmerte sich meine Tante liebevoll um das Seelenheil ihrer Nichte.
Die Tante war gläubig und besuchte regelmäßig ihre Kirche. Bis dahin hatten weder Hanni, und schon gar nicht ihre Eltern oder Geschwister, für die Kirche etwas übrig. Im Gegenteil, der Großvater blieb zeitlebens ein überzeugter Atheist. Die Großmutter war dagegen der Kirche zwar nicht abgeneigt und ging später, wenn sie zu Besuch mehrere Wochen bei uns in Nordrach weilte, gerne mit in die Gottesdienste. Vielleicht wollte sie ihren Mann aber nicht unnötig provozieren und hielt sich deshalb damit weitgehend zurück, wenn sie wieder zu Hause war.
Die Mutter kannte bisher nichts von einer Kirche, begleitete aber gerne die Tante. Vielleicht hatten sie die besonderen Umstände dieser Zeit für einen seelischen Zuspruch empfänglich gemacht. In der kirchlichen Gemeinschaft nahm man sich jedenfalls ihrer fürsorglich an und das tat gut. Das war in dieser Phase sicher wichtiger wie Glaubensgrundsätze an sich. In der Neuapostolischen Kirche fühlte sie sich angesprochen, hier sie fand Trost und neue Hoffnung und das war Balsam für ihre Seele.
Die nächste Gemeinde der Neuapostolische Kirche war 15 Kilometer entfernt in Schopfheim. Für den Weg dorthin stand den beiden nur ein Fahrrad zur Verfügung. Öffentliche Verkehrsmittel fuhren in jenen Tagen kaum. Stattdessen haben die Frauen sich mit dem Fahrrad abgewechselt. Fuhr die eine, ging die andere zu Fuß und schob den Kinderwagen. Auf dem Rückweg wurde es dann genau umgekehrt gemacht.
Am 8. Oktober 1945 wurde ich während einer Hausandacht in der Wohnstube der Verwandten in der Holl getauft, und anschließend mit der Mutter von Bezirksapostel Karl Hartmann in Schopfheim versiegelt. Formal waren wir damit Mitglieder dieser Kirche.
Leider währte für die Mutter die Zeit der Ruhe und Geborgenheit nicht allzu lange. Ihr Mann war immer noch mehr in Behandlung abwesend, kam ein Ruf aus Nordrach. Der Großvater väterlicherseits, Karl Braun, war schon länger verstorben, die Mutter Zezillia Braun – die andere Großmutter – nun pflegebedürftig. Da war es selbstverständlich, dass die Schwiegertochter kommen musste, sich um sie kümmerte und versorgte. So zog Hanni als junge Frau in der Wohnung der Schwiegermutter in Nordrach ein, und ab da begannen für sie recht beschwerliche Tage und Monate. Der Wohnort in Nordrach-Kolonie war gefühlt am Ende der Welt. Ihr kam allerdings zugute, sie war schon vom Wiesental die Enge eines Schwarzwaldtales gewohnt. Darin unterschieden sich die Täler nicht sonderlich.
Den Großvater mit Familie kannte man in Nordrach nur als die „Korbers“. Er war der „Korber-Karle“ und mein Vater der „Korber-Wilhelm“. Wie die Familie zu diesem Übernamen kam, konnte mir in der Bevölkerung niemand mehr sagen. Solange der Vater lebte und ich hätte fragen können, hat es mich nicht interessiert, oder wenn er es einmal erwähnt haben sollte, dann ist es längst in Vergessenheit geraten.
Oma Braun in der örtlichen Tracht
Die Schwiegermutter starb im Jahr darauf. So lange sie aber lebte, muss sie sehr dominierend und herrisch gewesen sein, eben so, wie man sich eine böse Schwiegermutter vorstellt. Sie schikanierte die Schwiegertochter wo es ging und machte ihr das Leben schwer. Das dauert nicht allzu lange und war nun mit ihrem Tod vorbei. Etwas anderes war jedoch genauso schlimm oder noch schlimmer. Es war kein Geld im Haus und auch sonst war die Versorgung kurz nach dem Krieg äußerst schwierig.
Die Verwandtschaft, Brüder und Schwestern meines Vaters, hatten längst das Tal verlassen und lebten irgendwo weit verstreut. Sie verhielten sich zur Mutter nicht viel besser wie die Schwiegermutter und hielten von ihrer Schwägerin nichts. Die junge Frau hatte nichts, sie verdiente nichts, somit galt sie nichts. Unser Kontakt zur den Geschwistern des Vaters hielt sich später – mit wenig Ausnahmen – aus diesem Grunde sehr in Grenzen. Wir Kinder lernten persönlich nicht einmal alle kennen. Einer von ihnen war Schuhmachermeister in Tuttlingen. Die verwandtschaftlichen Bande innerhalb den „Korbers“ was nicht sehr ausgeprägt, was durchaus berechtigte Gründe hatte.
Nach dem Tod der Großmutter wurden schnell Wäsche, Geschirr und Einrichtung aus dem Haushalt raffgierig unter den Geschwistern von Wilhelm aufgeteilt. Wie Hyänen waren sie über alles Bewegliche hergefallen und hatte es fortgeschleppt. Der Mutter blieb nichts, „nicht einmal die Nähmaschine“, wie sie uns später ohne Verbitterung verriet. Damit hätte sie nicht nur für sich und die Familie nähen können, sondern auch für Bauern im Dorf und das hätte Geld eingebracht.
Ihr Mann war immer noch nicht anwesend, der vielleicht in der Lage gewesen wäre und hätte Ordnung schaffen können oder sich durchgesetzt. So ging es alle Tage schmal zu. Schon da wurde unsere Familie als die „arme Verwandtschaft“ stigmatisiert. In dieser Situation zahlte sich nun aus: Hanni konnte sparsam wirtschaften und aus wenig viel machen. Hinzu kam ihre angeborene Eigenschaften, sie war ungemein zäh und trotzdem geduldig und sehr leidensfähig.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang: Der Vater hatte während seiner aktiven Militärzeit im Elsass gut Geld verdient, doch wenig gebraucht und ausgegeben. Somit konnte er sparen und Rücklagen bilden. Zweimal schickte er seiner Mutter die nötige Summe, damit sie das gemietete Haus kaufen sollte. Doch Oma Braun lebte gerne „auf großem Fuß“ und gab das Geld für angenehme Dinge aus, vornehmlich für Kleidung. Sie liebte es, „Grand Dame“ zu spielen. So blieb es bei der Miete, bis das Haus 1950 abgerissen wurde und einem Neubau weichen musste.
Die Wohnung im alten Haus war den damaligen Verhältnissen entsprechend mehr als schlicht. Alles war alt, unmodern und die Einrichtung spärlich und einfach. Doch wen sollte dieser Zustand stören? Luxus kannte und erwartete in dieser Zeit niemand und schon gar nicht in einem kleinen Dorf, weit abseits gelegenen in einem engen Tal. Viele Mühe und Aufwand sowie ein glückliches Händchen waren nötig, bis alles einigermaßen wohnlich und gemütlich wurde.
Nordrach war schon damals ein weithin bekannter Kurort zur Heilung von Lungen- oder Tuberkulosekranken. Aus ganz Deutschland kamen Patienten hierher, die in der guten Schwarzwälder Luft und dem nebelfreien Tal Erholung suchten und wieder gesund werden wollten. Die Siedlung Kolonie ist weit abseits im hinteren Nordrachtal, 6 Kilometer vom Dorf entfernt. In diesem Zinken mit weit verstreuten Häusern, bot sich so gut wie keine Abwechslung für eine junge Frau.
Für sie war dieser Umstand allerdings die geringere Sorge. Erst Anfang 1946 kam der Vater endgültig nach Hause und gleichzeitig wurde ich aus Bürchau oder der Holl geholt. Bisher war ich bei den Verwandten geblieben, die mich in Obhut genommen und über ein Jahr lang gut versorgt haben. Nun war die kleine Familie komplett. Der Vater fand Arbeit im Sägewerk Echtle und seine Arbeitsstelle war kaum einen Kilometer von der Wohnung entfernt. So schien es, wie wenn sich alles normalisieren würde und letztendlich gut wird. Das normale Leben konnte beginnen und schön werden; dachte man vielleicht.
Die Monate gingen ins Land und nichts Nennenswertes ereignete sich. Wie es dann so kommt, bald war das 2. Kind unterwegs und Ende 1946 kam mein Bruder Rudolf auf die Welt. Natürlich war es noch allgemein üblich, dass Mütter die Kinder stillten. In der Lungenheilstätte Kolonie gab es infolge der Mangelernährung, eine Spätfolge während und nach dem Krieg, unter den Tuberkulose-Patienten junge Frauen und Mütter. Sie durften ihre Kinder wegen der ansteckenden Krankheit nicht stillen, dabei war Muttermilch für die Entwicklung der Babys wichtig. Milchpulver oder ähnliches hatte man nicht oder gab es nicht. Die Ärzte suchten deshalb in der Bevölkerung dringend nach Muttermilch. Da meine Mutter als gesunde junge Frau genug hatte und abgeben konnte, wurde mancher Deziliter abgezapft und der Klinik zur Verfügung gestellt. Als Gegenleistung bekamen wir Butter und andere wichtige Lebensmittel aus der Heilstätten-Küche.
Später erzählte die Mutter schmunzelnd eine lustige Anekdote aus der Großküche. Eine Küchenhilfe war beauftragt auf die Milch im Großkessel aufpassen, damit sie nicht überkocht. Nach einer Weile kam sie mit einem Löffel Milch ins Obergeschoss zur Oberschwester und wollte wissen: „Kocht die Milch schon?“ Bis beide in die Küche kamen, war sie natürlich übergekocht.
Nebenbei half sowohl der Vater, wie manchmal auch die Mutter, nebenbei Bauern als Aushilfen in der Ernte oder saisonalen Engpässen. Lohn gabs dafür in der Regel in Naturalien, das war mal ein schönes Stück Speck, ein Ring Schwarzwurst, Leberwurst und Kesselfleisch, vielleicht noch eine Büchse Schmalz. Irgendwie ging es auf diese Weise immer, selbst in kargen Zeiten.
Die Neugierde war mir anscheinend in die Wiege gelegt. Ständig erkundete ich als Knirps das Haus und erforschte die nähere Umgebung. Am Hang, ringsum im ansteigenden oder abfallenden Gelände, gab es immer etwas zu entdecken. Während die Mutter gerade den kleinen Bruder badete, hielt ich mich draußen auf. Nicht weit vom Haus entfernt floss an zwei Seiten Wasser. Etwas weiter unterhalb, zig-Meter entfernt der Dorfbach, und oberhalb näher am Haus, ein schmaler Graben, dessen Wasser in einem kleinen Wehr aufgestaut wurde. Von da führte eine Rohrdruckleitung zum Gasthaus Adler und trieb dort eine Wasserturbine zur Stromerzeugung.
Längs über das Stauwehr lag eine Holzbohle (dickes Brett) und ich entdeckte einen toten Igel im Wasser schwimmen, den Bauch nach oben. Vermutlich dachte ich, das Tier könnte man retten. Ein kleines Kind hat ja noch keine Ahnung von möglichen Gefahren. Den Igel zu bergen betrat ich das Brett und wollte darüber laufen. Doch es gab nach, kippte seitlich weg und ich landete im Wasser. Reflexartig griff ich nach einem Grasbüschel am Rand und bekam noch Halt. Daran hielt ich mich fest, schrie Zeter- und Mordio, bis es die Mutter hörte, schnell kam und mich klatschnass, doch heil aus dem Wasser zog. War es Schicksal oder ein wachsamer Engelschutz? Tatsächlich war das sehr knapp, ging aber zum Glück noch einmal gut. Sicher trug dazu bei: die Turbine lief gerade nicht und es bestand keine Sogwirkung. Der Sog hätte mich sonst unweigerlich unter Wasser an den Rechen gesaugt. Da hätte man lange nach mir suchen können.
Der Vater arbeitete im Sägewerk und damals durfte man noch Besuche am Arbeitsplatz machen. Täglich brachte ich dem Vater das Mittagsessen im speziellen Essgeschirr. Neben Wohnhaus und Büro nahe dem Sägewerk, vis à vis am Hang, befand sich ein Bienenhaus und unterhalb der Einfluglöcher hölzerne Querleisten, die für mich wie eine kleine Treppe aussahen. Natürlich wollte ich erkunden, ob auch hochklettern kann. Wieder war es ein besonderes Glück, Arbeiter im Sägewerk sahen mich, kamen und holten mich schleunigst weg, bevor die Bienen sich bedroht fühlten, sich wehrten und stachen.
Das Leben ist lebensgefährlich, vom ersten Tag an. Beim Blick aus dem Wohnzimmerfenster sah ich zur nicht weit entfernten Durchgangsstraße, die parallel zum hinplätschernden Dorfbach verläuft, der das Tal hinaus fließt und sich in Zell mit dem Harmersbach vereinigt. Zwischen Bach und Wohnung gab es einen schmalen Wiesenstreifen. Ich konnte sehen, wie ein Motorradfahrer mit Beifahrerin auf dem Sozius, von hinten aus dem Tal gefahren kam. „Die Beifahrerin hing in der Kurve auf die falsche Seite“, hörten wir später, deshalb stürzte der Motorradfahrer. Für mich sah es im Bild aus, wie wenn der Motorradfahrer durch ein Wasserrohr am Straßenrand hindurchgefahren wäre. Aufgeregt rannte ich zur Mutter und musste ihr sofort berichten: „Motorad hed hupeda g’macht“. Nicht bewusst wurde mir – und ich hätte es sich er auch nicht verstanden – der Motorradfahrer kam dabei tragisch ums Leben.
Dank des Arbeitsplatzes hatte der Vater ein regelmäßiges Einkommen, wenngleich der Lohn nicht üppig war. Um das Jahr 1947 lag der Stundenlohn knapp über einer Mark. Jedermann war aber so kurz nach Kriegsende froh, wenn er überhaupt einen Arbeitsplatz hatte und Geld verdienen konnte. Vor allem im ländlichen Raum, in Dörfern wie Nordrach und abseits größerer Städte, wo es nur wenig Handwerk und keine Industrie gab. Da waren gut bezahlte Arbeitsplätze Mangelware. Die junge Mutter hatte genug zu Hause zu tun. Der Haushalt mit allem Drum und Dran und die beiden Buben wollten versorgt sein. Wieder zeigten sich dunkle Wolken am Horizont, wenn auch nicht alles gleich spektakulär und existenzbedrohend war, Sorgen bereitete es doch. Sie fütterte morgens wie alle Tage das halbe Dutzend Stallhasen im Schuppen. Für Menschen die keine Kuh im Stall, kein Schwein oder zumindest eine Ziege hatten, waren Zuchthasen zur Selbstversorgung mit Fleisch wertvoll und wichtig.
Beim Füttern stellte sie schnell fest, mit einem der Hasen stimmt was nicht, und sie wusste, vom Gras verursachte Blähungen können für Hasen tödlich sein. Da musste sie sofort handeln, bevor das Tier einging. Schnell betäubte sie den Hasen mit einem Schlag auf den Kopf, tötete ihn und zog das Fell ab. Dann wurde der Hase ausgenommen und zerlegt, damit das Fleisch nicht verloren ging. Bis der Vater am Abend von der Arbeit nach Hause kam, wäre es längst zu spät gewesen. So lange durfte sie nicht warten, wenn es auch schade um das Tier war. Stellen wir uns heute eine junge Frau vor, so um die zwanzig, die einen Hasen schlachten soll!
Damals war selbstverständlich, dass auch die Kinder gewisse Aufgaben wahrnahmen und im Haus mithalfen. Der Begriff „Kinderarbeit“ war weder bekannt noch negativ besetzt. Mir oblag es es unter anderem, und schon erwähnt, dem Vater sein Mittagessen an den Arbeitsplatz bringen. Dann holte ich täglich in der Kanne Milch vom Bauern oder brachte Küchenabfälle zu den Nachbarn, die an die Schweine verfüttert wurden.
Eines Tages im Sommer brannte die Sonne heiß vom Himmel. Sogar der Teer schmolz auf der Straße. Mir machte barfuß im warmen, zähflüssigen Teer waten einen Heidenspaß. Die warme Masse quoll so schon zwischen den Zehen hoch. Barfüßig und mit Teer an den Füßen stapfte ich dann ins Sägewerk und trug das Essgeschirr in der Hand. Nachdem der Vater meine Füße sah, wurde er ärgerlich und schimpfte über den Blödsinn. „Wo bisch wied'r rum glatscht?, (wo bist du gelaufen) wollte er wissen. Die doppelte Strafe folgte auf dem Fuße. Zuerst nahm er eine Holzlatte und versohlte mir den Hintern, und zu Hause musste die Mutter mühsam und schmerzhaft mit Sandseife den Teer entfernen. Den gängigen Trick, Teer mit Butter entfernen, kannte sie wohl nicht oder Butter zu schade, und Lösemittel oder Waschbenzin hatten wir nicht im Haushalt.
Inzwischen war ich 4 Jahre alt und passte auf meinen kleinen, zwei Jahre jüngeren Bruder auf. Gemeinsam spielten oder beschäftigten wir uns im Schuppen. Aber was machte der bloß? Flugs hatte er ein Hackbeil gegriffen – wir sagten: „Säßle“ oder „Haumesser“ dazu – und trug es triumphierend herum. Ich wusste, das Ding ist scharf, da konnte was passieren und er darf das nicht. Unter Protestgeschrei nahm ich es ihm weg und wollte es in den Hackklotz schlagen, wohin es gehörte. Just in dem Augenblick fuhr er mit seinem Ärmchen darunter. Vielleicht wollte er nur danach greifen, wollte es wiederhaben? Zum Glück war bei viel Kraft oder Schwung dahinter. Doch es reichte, und das dünne Ärmchen hing nur noch an Haut und Sehne. Ärzte der Lungenklinik leisteten erste Hilfe. Zur Klinik war es nur etwa einen Kilometer. Der Arzt im Dorf oder das Krankenhaus in Zell waren viel weiter entfernt. Die Wunde wurde genäht und versorgt, der Arm geschient und so blieb er dem Bruder „Gott sei Dank“ erhalten. Noch heute ist die Narben als Erinnerung sichtbar, eine Behinderung war es für ihn zum Glück nie.
Kann es für eine junge Familie noch schlimmer kommen? Ja, es kann! Wie schon erwähnt, das Haus war alt, das Plumpsklo – das Häuschen mit Herz – befand sich außerhalb im hinteren Bereich des Hauses, wie es damals bei vielen älteren Gebäuden war. Den Luxus eines Bades kannten wir schon gar nicht. Gewaschen wurden wir Kinder am Brunnen vor der Türe oder in der Küche im Bottich. In der Küche gab es weder einen „Schüttstein“ (Spüle) noch fließendes Wasser. Wurde nicht nur „Katzenwäsche“ gemacht, und die Mutter wollte uns Buben ganzkörperlich reinigen, stellte sie eine große Waschschüssel in der Küche auf und gab Warmwasser vom Herd hinein.
Es war schon später Abend und draußen dunkelte es langsam, das Tageslicht ging in die blaue Phase über. Wir Kinder waren längst schlaffertig gemacht und sollten im Bett liegen. Wie es auch heute noch bei munteren Kindern ist, wenn sie schlafen sollen, ich musste oder wollte nochmals raus aufs Klo. Leider hatte die Mutter das aber nicht mitbekommen. Auf dem Herd standen Töpfe und in einem köchelten Kartoffeln. Sie nahm ihn vom Herd und schütte die Kartoffel in ein Sieb, das kochende Kartoffelwasser wollte sie wie üblich nach draußen entsorgen. Das wurde immer mit Schwung nach draußen auf den Abfallhaufen vor der Tür geschüttet. Genau in dem Augenblick kam ich von der Toilette und wollte ins Haus und unglücklich lief ich voll in den Schwall heißes Wasser. Die Folgen waren fatal und schmerzhaft. Vom Gesicht bis zu den Füßen war ich mehr oder weniger schwer verbrüht. Besonders schlimm war es an bekleideten Stellen, wo das heiße Wasser länger auf die Haut einwirkte. Die heute gängige und empfohlene Methode: „sofort lange mit kaltem Wasser kühlen“, war unbekannt. Die Mutter versuchte anderweitig die betroffenen Stellen zu behandeln. Sie nahm Kamillenöl und anderen Kräutermixturen, die vorrätig waren. Manche streuten in so einem Fall sogar Mehl auf betroffene Brandwunden. Beides ist – wie man heute weiß – völlig falsch.
Das im Haus vorhandene Öl reichte nicht weit, bei den großflächig betroffenen Stellen nicht einmal annähernd. Mehr musste her und panisch rannte die Mutter zu den Nachbarn und holen, was vorrätig war. In dieser Zeit gab es ich jedem Haus noch diverse Heilmittel für den täglichen Gebrauch. Die nächsten Häuser, das Forsthaus und „Café Mooseck“, waren über hundert Meter entfernt. Auf dem Weg hastete sie übereilt am Vater vorbei, der gerade von der Arbeit kam. Vermutlich gab sie ihm auf die Frage: „was ist los?“, nur eine unverständliche Antwort oder gar keine und eilte einfach weiter. Schon deshalb mürrisch, kam der Vater durch die Tür ins Haus. Drinnen hörte er mich „wie am Spieß“ schreien. Wütend wollte er mich zur Räson bringen und schrie mich an. Damit endet meine Erinnerung an das schreckliche Ereignis. Das Machtwort vom Vater muss bei mir wohl einen Schock ausgelöst haben oder bei den unerträglichen Schmerzen eine Art künstliches Koma, was gut war. Später, nachdem irgendwann ein Arzt da war, „mussten Reste der Kleidung aus dem Fleisch gelöst werden“, schilderte man mir später. Die Behandlung und Wundversorgung über viele Wochen übernahmen Gemeindeschwestern, Nonnen der Katholischen Kirche.
Unüblich war das nicht, denn der Wohnort war für einen Arzt weit entfernt, und die Nonnen verfügten über beste Kenntnisse in der Krankenpflege. Sie waren geschult und wurden in allen möglichen Bereichen des dörflichen Lebens, vor allem in der Kinder- und Familienbetreuung, eingesetzt. Noch lange waren es vorwiegend Nonnen, die in den Krankenhäusern des Schwarzwaldes als Pflegekräfte Dienst taten, wie auch die Kinderbetreuung in Kindergärten versahen.
Mit Hilfe der Nonnen war eine regelmäßige und unter den damaligen Verhältnissen bestmögliche Nachsorge gewährleistet. Hauttransplantation, bei schweren Verbrühungs- und Brandverletzungen heute längst gängig Praxis, gab es im ländlichen Raum noch Jahrzehnte nicht. Den Schwestern gelang es über Monate tatsächlich, mich „über den Berg zu bringen“, die Wunden verheilten langsam nach und nach. Dabei betrachteten sie es durchaus als ein Wunder. Für den Rest des Lebens blieben sichtbare Narben an Schulter und Arm. Viele betroffene Stellen an Brust, Bauch und Bein zeigten sich später nur als Hautveränderungen. Alle Naben sind im normal durch Kleidung verdeckten Bereich und haben mich nie gestört, sie haben mich weder beeinträchtigt noch behindert. Die völlige Genesung dauerte Monate und ich musste dann erst wieder laufen lernen. Gute Hilfe bot mir die an drei Seiten umlaufende Bank (Chunscht im Alemannischen) am Kachelofen in der Wohnstube. Das war praktisch, daran konnte ich mich hochziehen, festhalten und entlang hangeln, bis die Füße wieder kräftig genug waren.
Die ärmlichen Verhältnisse im Elternhaus, die nach dem Krieg bescheidenen Lebensbedingungen, waren uns Kinder nie bewusst. Uns fehlte nichts, ganz andere Dinge waren wichtiger und zählten mehr. Die Umgebung am Haus und Hang bot mir, dem neugierigen Buben, unendliche Abenteuer und Abwechslung. In der weiteren Nachbarschaft wohnte und arbeitete ein Korbmacher. Sein Handwerk waren geflochtene Henkel- und Wäschekörbe aus Weiden, die er den Bauern im Tal verkaufte. Solche Körbe und „Zeinen“ (alemannisch Wäschekörbe) wurden für alles Mögliche zum Transport und Lagern gebraucht und benützt. Entlang dem schon erwähnten Wassergraben trieben jedes Frühjahr alte Weidenstöcke neue Ruten und der Korbmacher schnitt sie später regelmäßig. Er hat die geschmeidigen Triebe im Wasser verwahrt und dann zur Herstellung der Körbe verwendet.
Möglicherweise – oder ich bin sogar sicher – habe ich dabei zugesehen. Klever, wie Buben in dem Alter manchmal sind, will man alles nachahmen. Im Haus besorgte ich eine Schere und schnitt damit ein großes Bündel Ruten von den Stöcken. Ich wollte auch einen schönen Korb haben. So ein Korb erschien mir auch zum Spielen nützlich. Kunststoffformen für Sandkuchen waren noch unbekannt und welche aus Blech zu teuer. Wie aber sollte ich in dem Alter wissen, wie Weiden fachgerecht geschnitten werden, oder dass sie fremdes Eigentum sind? Die Haushaltsschere taugte auch wenig und die Weideruten, die ich abschnitt, waren zu jung zur Verwendung. Ausgewachsene Weidetriebe hätte ich mit der einfachen Schere wohl auch nicht geschnitten bekommen. Dem Korbmacher hatte mein Treiben überhaupt nicht gefallen und es gab mächtig Ärger. Der Vater verpasste mir ordentlich was auf den Po. Vermutlich hatte der Korbmacher aber hinterher doch ein gutes Herz oder Mitleid mit dem Knirps. Für er flocht einen kleinen, kindgerechten Korb und schenkte ihn mir. Vielleicht hatte ihm meine Initiative imponiert?
Vielleicht hundert Meter entfernt stand das stattliche Forsthaus. Außerhalb führte eine Treppe nach oben und innen kam – für mein kindliches Empfinden – eine große Eingangshalle. Dort im Treppenhaus hing oben an der Wand ein ausgestopfter kapitaler Wildsaukopf. Das Tier erschien mir riesig und machte mir Angst. Die mächtigen weißen Hauern des Keilers sahen gefährlich aus. Wenn es ging, mied ich diesen Eingang und nahm stattdessen ebenerdig den Nebeneingang mit Doppeltüre, auch Klöntüre“, wie die Norddeutschen sagen. Da musste ich nicht an dem furchteinflößenden Keiler vorbei.
Doch irgendwann muss ich den Eindruck gewonnen haben, das Türholz bräuchte dringende Pflege oder frische Farbe. Schnurstracks bepinselte ich – so hoch ich reichen konnte – die Eingangstüre mit Wagenschmiere. Dem Förster gefiel meine Arbeit überhaupt nicht und er zitierte meinen Vater her. Zuerst bekam ich wieder den Hosenboden versohlt (eine Tracht Prügel) und dann verdonnerte mich der Förster zur Türreinigung mit einer Bürste. Ich glaube allerdings nicht, dass ich die Wagenschmiere mit Bürste und Schmierseife abgewaschen bekam.
Das Jahr 1948 zog ins Land und die Mutter erwartete ihr drittes Kind. Im September kam Schwester Waltraud zur Welt. Während ihrer Niederkunft half Mathilde, die Schwägerin des Vaters und Schwester der Mutter aus dem Wiesental, ein paar Wochen aus. Sie war extra nach Nordrach gereist, kümmerte sich um Haushalt und uns Kinder. Der Vater hatte seine tägliche Arbeit und konnte nicht auch noch kleine Kinder versorgen. In diesen Tagen entwickelte sich ein inniges Verhältnis von Mathilde zum Vater, wenn es nicht schon vorher schon bestand.
Forsthaus oben und Café Mooseck unten in Nordrach-Kolonie
Sie war im Grunde ein „armer Tropf“ und hatte es bisher in ihrem jungen Leben nur schwer gehabt. Noch lag die Vertreibung oder Flucht aus dem Elsass nicht lange zurück, und dann bekam sie als ledige Frau einen Sohn. Der Bub war von Geburt an behindert und schwierig, war „Autist“ – nach heutiger Diagnose. Das Jugendamt nahm ihr den Buben weg und gab ihn in eine Pflegefamilie. Die Fürsorgeämter machte nach dem Krieg mit ledigen Müttern nicht allzu viel Federlesens, und Mitleid oder Gefühle kannten Verantwortliche staatlicher Stellen schon gar nicht. Eine ledige Frau mit Kind war unmoralisch. Die Väter solcher Kinder trugen dagegen keinen Makel, den Männern war offensichtlich alles gestattet, sie mussten lediglich bezahlen, wenn ihrer habhaft wurde und der Namen des Erzeugers feststand.
Das Kind war wegen der Behinderung verhaltensgestört, der Umgang kompliziert. Häufig wechselten deshalb die Pflegefamilien und irgendwann war eine normale Erziehung so nicht mehr möglich. Die Behörden gaben den Jungen in die anerkannte Einrichtung für Behinderte in Rheinfelden-Herden. Wie wir später hörten: „ist er dort im Alter von etwa 35 Jahren gestorben.“
Uns gegenüber haben sich die Großeltern zu diesem Enkel zu keinem Zeitpunkt geäußert. Die Sache wurde offensichtlich totgeschwiegen. Vielleicht war es ihnen und der Verwandtschaft peinlich? Kontakte zum Enkel sollen aber bestanden haben. Leider wurde Mathilde mit ihrem Schicksal, und vielen anderen Widrigkeiten des Lebens nicht fertig und nahm sich wenige Jahre später mit Gas das Leben.
Wir zählten in der Familie nun fünf Personen und der Vater verdiente immer noch zu wenig. Nicht ausschließen will ich auch, er war zeitweise krank und zur Arbeit vollumfänglich nicht in der Lage. Geld von der Krankenkasse gab es im Krankheitsfalle immer nur für eine sehr begrenzte Zeit, dann musste Stempelgeld bezogen werden (heute Sozialhilfe) und das war nicht üppig. Tatsächlich hatte er häufige Zeiten, wo er Stempelgeld bezog. Die Unfallfolgen wirkten immer noch nach und folglich fehlte es im Haushalt nie an Essen aber an Geld.
Dank ihrer Fähigkeiten verstand die Mutter bestens, aus Allerlei was die Natur hergab essbares zu machen. Sie suchte Kräuter, Sauerampfer und junger Löwenzahn, die den Tisch bereichern sollten. Allerdings murrten wir Kindern sehr, wehrten uns mit Händen und Füßen, wenn wir das Grünzeug vorgesetzt bekamen. „M'r welle kei Bettseichersalat esse“ (Wir wollen keinen Löwenzahn essen), protestierte ich. Heute gehören solche Kräuter längst zur modernen Küche, werden von Spitzenköchen zubereitet und der Gast bezahlt viel Geld dafür.
Hungern mussten wir trotzdem nie. Die Eltern pachteten kleinere Äcker, auf denen die Mutter Kartoffeln pflanzte und Gemüse anbaute. Außerdem sicherten die erwähnen Stallhasen den Fleischbedarf. Das Futter mähten oder rupften wir mit der Sichel am Wegrand und Hängen, die sonst niemand mähte. In der Regel waren wir Kinder es, die sich täglich um Hasenfutter kümmerten und suchten.
Im Café „Mooseck“ wurden Schweine im Stall aufgezogen. Küchenabfälle durften noch an Tiere verfüttert werden. Sie waren kein Sonderabfall – wie heute – und alles was im Haus und Garten anfiel, wurde irgendwie noch sinnvoll verwertet. Immer wieder sollte die Küchenabfälle und Reste aus dem Garten der „Mooseck-Wirtin“ bringen. Freundlich schenkte sie mir immer etwas und einmal einen Apfel. Später hat sie mich dann gefoppt, weil ich darum bat: „Mir doch bitte noch einen geben, ich muss sonst mit meinem Bruder teilen.“
Im Talgrund gab es relativ wenige Apfelbäume, die fanden sich eher weiter oberhalb, auf den Streuobstwiesen rund um die Höhenhöfe. Äpfel waren für uns Kinder immer etwas besonderes und heiß begehrt. Wie sehr, soll verdeutlichen: Die Mutter kam mit dem Fahrrad vom Dorf und war auf dem Nachhauseweg. Unterwegs sah sie auf der anderen Bachseite mehrere reife und bunte Äpfel im Gras liegen. Sie waren von einem oberhalb am Hang stehenden Baum heruntergekullert. Die wollte die Mutter dort nicht faulen lassen. Sie stieg vom Rad, watete durchs Wasser zur anderen Seite, las die Äpfel auf und brachte sie uns, mit nassen Füßen zwar aber glücklich, nach Hause.
Vielleicht war es in diesem Zeitraum, wo ich gelegentlich eine Tage oder Wochen außer Haus sein musste oder durfte. Den eigentlichen Grund weiß ich nicht mehr. Sicher war es für meine Eltern immer eine gewisse Entlastung, wenn ein Esser weniger am Tisch saß – und pflegeleicht war ich nie. Zeitweise verbrachte ich die Tage bei einer älteren Frau in der „Kolonie“. Möglicherweise war sie auch mit uns verwandt. Soweit geht aber die Erinnerung nicht mehr. Was anderes spielte eher eine Rolle, das war: ich verstand mich immer sehr gut mit älteren Frauen – und sie mit mir. Das galt auch Jahre später noch, nachdem ich älter war.
Die Bäuerin war eine gläubige und praktizierende Katholikin. Regelmäßig ging sie in die kleine Kapelle der Lungenheilstätte zur Messe. War ich bei ihr, nahm sie mich selbstverständlich mit. Zum Besuch einer katholischen Messe gehörte, neben dem Gebetsbuch, der Rosenkranz. Eines Tages bekam ich einen von ihr geschenkt. Nur damit konnte ich – ihrer Meinung nach – würdig an der Messe oder den Gottesdiensten teilnehmen. Nun hatte ich so ein eigenes Ding und war stolz darauf. Für mich dürften die kleinen Glaskugeln oder Glasperlen mit Kreuz aber eher ein nettes Spielzeug gewesen sein.
Wenn ich auf die Kinderzeit zurück blicke, wundere ich mich manchmal, an welche einfachen Details man sich in so einem Zusammenhang erinnern kann. Da war zum Beispiel eine Imker-Familie, die unmittelbar in der Nachbarschaft der Heilstätte wohnte. Sie besaßen mehrere Bienenvölker, die ihnen reichlich Honig bescherten. Die Menschen auf dem Land versorgten sich noch weitgehend selbst mit Gemüse und Obst aus dem eigenen Garten, nicht wenige hatten Ziegen oder Kühe im Stall. Kaum in einem Haus fehlte ein Schwein, das gut gemästet wurde und für die Familien wurde der Schlachttag, meistens im Herbst, ein Festtag. Davon profitierten selbst ein wenig auch die Nachbarn.
Die Mutter schickte mich mit Küchenabfällen nicht nur zum Café Mooseck, sondern auch zu jener Imker-Familie. Was ich brachte, verfütterten sie an die Schweine. Vermutlich bekamen die Eltern dann am Schlachttag dafür etwas Fleisch und ein, zwei Ringe Wurst. Sehr wichtig war das vielseitig einsetzbare Schweineschmalz. Butter war rar, deshalb verwendeten die Hausfrauen mehr Schmalz zum Kochen und Backen, und Griebenschmalz mit Salz war ein begehrter Brotaufstrich. Die hart arbeitende Bevölkerung vertrug nach dem Krieg noch eine ordentliche Portion Fett ohne auf das Körpergewicht achten zu müssen.
Nachdem ich wieder einmal Abfälle angeliefert hatte, wollte die Oma mir eine Scheibe Brot mit Honig geben. Geschickt klemmte sie einen frischen Brotlaib unter den Arm und schnitt mit scharfem Messer eine dicke Scheibe runter. Auf das frischknuspriges Bauernbrot gab sie einen dicken Anstrich Butter und Honig darüber.
Blick auf Nordrach – Kolonie
Frisches Brot wurde wöchentlich oder im vierzehn-Tage-Rhythmus bei fast jedem Bauern gebacken. Das war natürlich Sache der Frauen. Jede Bäuerin verstand sich auf dieses Geschäft und ihr ganzer Stolz war eigenes Brot. Die etwa einen Kilo wiegenden Laibe waren locker und luftig. Folglich gab es im Brot Luftlöcher wie beim Schweizer Käse. Damit der Honig nicht durch die Scheibe tropfte, brach die Oma aus einer zweiten ein Stückchen heraus und stopfte damit das Loch. Die Brotscheibe war perfekt und der Honig blieb drauf. Das leckere Brot verspeiste ich genüsslich auf dem Heimweg. Solche Köstlichkeiten bekam ich nicht jeden Tag.
Ein aufregendes Ereignis bewegte in diesen Tagen die Gemüter im Tal. Mitten in der Nacht entstand im Haus plötzlich große Unruhe. Der Vater war aufgestanden und verließ überstürzt die Wohnung. Wir Kinder waren wach geworden und wollten wissen was los ist. „Was ist passiert, Mutter?“ „Das Sonnenhaus brennt“, verriet sie uns. Da musste alles was laufen konnte hin, helfen oder retten, was noch zu retten ist. Das „Sonnenhaus“ war ein „Naturfreunde-Haus“ und stand weit oben im Wald in Richtung „Kornebene“. Voller Sorge wollte ich am Morgen von der Mutter wissen: „Wo schläft denn nun die Sonne, wenn das Sonnenhaus abgebrannt ist?“ So erzählte sie es mir jedenfalls später schmunzelnd.
Es kam der Zeitpunkt wo sich rächte, dass die Oma Braun das gemietete Haus mit Vaters Geld nicht gekauft hatte. Der Besitzer plante jetzt auf dem Platz einen Neubau mit integrierter Schuhmacherwerkstatt. Dazu musste das alte baufällige Haus weichen und sollte abgerissen werden. Er kündigte den Eltern und damit wurde ein Umzug fällig.
Meine Familie nützte die nun aufgezwungene Gelegenheit und wir zogen aus der sehr entlegenen „Kolonie“ ins Dorf, getreu dem Motto: „Jede Veränderung birgt eine Chance.“ Autos sah man in jenen Jahren kaum, und für die Benützung des Linienbus, der ein oder zweimal am Tag fuhr, fehlte es am Geld oder man wollte es nicht dafür ausgeben. Sparsam leben war oberstes Gebot und da blieb kein Raum für Bequemlichkeit. Alle Wege wurden entweder zu Fuß oder mit einem alten Fahrrad bewältigt. Und sowohl talwärts, wie bergauf, war es beschwerlich, erst recht bei schlechtem Wetter oder in den langen Wintermonaten. Gefühlt waren die Winter damals auch viel länger und kälter. Da war die Benützung eines klapprigen Fahrrads kein Vergnügen.
Oberhalb vom Dorfkern „am Schrofen“ gab es zwischen dem Anwesen vom „Emil-Sepp“ und dem Nachbarhaus vom Maurermeister Lehmann einen alten Querbau. Die Altbauwohnung darin bekamen wir vermietet. Zu wohnen war da zwar nicht viel besser, wie bisher im alten Haus, aber wir wohnten zentraler im Ort. Der Keller war direkt am Felsen angebaut. Im Wohngeschoss gab es bergwärts einen freien Innenplatz und darüber begann hoch aufragend blanker Felsen. Der Kellerboden erwies sich aus gestampftem Lehm – ein Naturboden also – und immer lief Wasser von der Wand. Daher kam, im Kellerraum war es ständig feucht und roch muffig-modrig. Hier fühlten sich nur die Ratten wohl. Nichtsdestotrotz, in dieses Domizil zogen wir 1950 ein. Schnell fand der Vater auch Arbeit bei einem örtlichen Bauunternehmer im Dorf.