Verschollen am Großvenediger - Walter W. Braun - E-Book

Verschollen am Großvenediger E-Book

Walter W. Braun

4,8

Beschreibung

Willy war seit Jahrzehnten ein begeisterter Bergsteiger und erfahrener Hochgebirgstourenführer der alten Schule; bärenstark, mit Kondition ohne Ende. Auf wechselnde Modeerscheinungen und die Meinung anderer legte er keinen Wert. Nachdem ihn seine Frau nach 25 Ehejahren von einem Tag zum anderen verlassen und die Scheidung eingereicht hatte, wurde er zum Eigenbrödler. Genervt von seinen Schrullen und exzentrischem Verhalten zogen sich zuletzt auch seine alten Bergkameraden zurück und niemand mehr wollte seine Touren mit ihm gehen. Das war für den Protagonisten dieser Fiktion kein Problem. Er war eh lieber alleine unterwegs und liebte die Stille in den Bergen. Handlungsort sind faszinierende Berge und Hütten in den europäischen Alpen. Sein Entschluss, alleine den Großvenediger zu besteigen, war fahrlässig und - wie es kommen musste - hatte es für ihn unangenehme Folgen. Wie wird es am Ende ausgehen?

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Inhaltsverzeichnis

Traum oder brutale Wirklichkeit

Kapitel 1 - Leidenschaft Berge und Klettern

Kapitel 2 - Mit Freunden im Montafon unterwegs

Kapitel 3 - Eklat am Großglockner

Kapitel 4 - Alleine auf die Zugspitze

Kapitel 5 - Solo-Klettereien in den Dolomiten

Kapitel 6 - Begegnung mit König Ortler

Kapitel 7 - Der Sonderling

Kapitel 8 - Alleine am Großvenediger auf Tour

Kapitel 9 - Gipfelglück am Großvenediger

Kapitel 10 - Ein verhängnisvolles Ereignis

Kapitel 11 - Unerwartete Wende

Traum oder brutale Wirklichkeit

In dünnen Strahlen fiel bleiches Licht von oben in das eisige Gefängnis. Zwischen Wachen und Träumen zogen in Willys Gedanken wieder und wieder Passagen seines Lebens wie in einem fiebrigen Wahn vorüber. Glockenhell hörte er das Lachen seiner beiden Kinder Hans und Edith. Zwischendurch vernahm er das Klagen seiner Frau Susanne, die sich schon oft halb weinend beklagte, dass er so häufig unterwegs ist, dauernd in die Berge rennt und nie Zeit für sie hat. „Hab ich das richtig wahrgenommen? Was ist los, wo befinde ich mich denn?, mir ist so entsetzlich kalt. Warum ist mein Platz so unbequem?“ Wieder erlöste ihn ein kurzer Dämmerschlaf aus seinen Albträumen.

Minuten später wachte er erschreckt wieder hoch. Hatte er eine Stunde geschlafen, war es länger, waren es nur 10 Minuten? Willy hatte kein Zeitgefühl mehr. Nur noch das Licht am Tage und die Dunkelheit in der Nacht gaben ihm grobe Orientierung. „Wie lange bin ich schon hier, was ist eigentlich passiert?“, versuchte er krampfhaft sich zu erinnern. Siedend heiß fiel ihm ein: „Ich muss um Hilfe rufen, ich muss Signale geben.“ So laut er konnte, schrie er immer wieder um Hilfe. Wenn die Stimme zu versagen drohte, nahm er die Trillerpfeife zur Hand und pfiff damit, was die Lungen hergaben, minutenlang, immer in Intervallen. Dann übermannte ihn erneut bleierne Müdigkeit. Das grausame Spiel begann aufs Neue.

Sein Kopf fiel plötzlich zur Seite, und davon wurde er wieder halbwach. Alles schmerzte, er konnte kaum noch sitzen – und liegen ging gar nicht – oder er empfand das noch schlimmer. Mit aller Kraft schälte er sich aus seinen nur mäßig wärmenden Hüllen und versuchte aufzustehen. Kurz gelang es ihm halbwegs und er fühlte, wie das Blut in seine sich wie abgestorben anfühlenden Beine strömte. Dabei wurde ihm leicht schwindelig, und dann verließen ihn die Kräfte und er musste sich setzen. Ihm war so fürchterlich kalt. Ihn schüttelte es und seine Zähne klapperten, ohne dass er sich dagegen wehren konnte.

Mühsam wickelte er sich mit dem Hüttenschlafsack zum zigsten Mal in die Alufolie – seine Rettungsdecke – und zwängte sich damit unbeholfen in den Biwaksack. Warm wurde ihm dabei nur mäßig. Längere Zeit hatte er in regelmäßigen Zeitabständen mit Kniebeugen und angedeuteten Liegestützen – soweit das in seiner Lage überhaupt ging – versucht den Kreislauf anzuregen und sich damit ein wenig zu wärmen. Dafür reichten jetzt seine Kräfte nicht mehr aus. „Ich muss um Hilfe rufen“ schoss es Willy blitzartig durch den Kopf und er schrie so laut er konnte, „...und mit der Trillerpfeife Signale geben“; er pfiff eine halbe Stunde in Intervallen. Dann übermannte ihn erneut bleierne Müdigkeit, die sich wie ein langer Schatten über ihn legte. Dagegen konnte er sich nicht mehr wehren und wieder schlief er sitzend ein.

Nein, schlafen konnte man das nicht nennen, eher dämmern. Halluzinationen verfolgten ihn im gedämpften Bewusstsein. Immerzu hörte er anklagende Stimmen. „Willy, du bist stur und unbelehrbar“, höhnte es aus dem Hintergrund. Heftige Wortgefechte folgten, ohne dass er eingreifen konnte. „Willy, du gehörst zu einer aussterbenden Spezies“, sagte ihm unvermittelt einer seiner Vorgesetzten direkt ins Gesicht. „Du solltest Rente beantragen und in den Ruhestand gehen.“ Von allen Seiten wurde wirr auf ihn eingeredet, und nebelhaft vorbeiziehende, fratzenhafte Gesichter sprachen und lachten wild durcheinander. Dazu gab das teuflische Gelächter im Hintergrund ein schauriges Echo. Sein Kopf rutschte ihm zur Seite, und das riss ihn aus dem Dämmerschlaf. „Du musst rufen, du musst Signale geben“, wurde ihm bewusst. Sein Lebenswille, seine innere Kraft, trieben ihn immer wieder und wieder neu an.

Wasser tropfte von oben auf ihn und lief ihm unangenehm kalt über das Gesicht, den Hals entlang und in die Kleidung. „Was mache ich bloß hier?“ fantasierte er sich fragend. Nur verschwommen wurde ihm bewusst, „ich bin in dieser verdammten Gletscherhöhle gefangen.“

Wie lange das schon ging, wusste er nicht mehr. Nur eines wusste er genau, „es ist schon sehr, sehr lange und mir ist so verflucht, erbärmlich kalt.“

Wieder rief und schrie er laut und pfiff mit der Trillerpfeife, bis er nicht mehr konnte, bis sein Bewusstsein schwand und ihn gnädig erlöste und so die Kälte nicht mehr spüren ließ. Personen tauchten im wirren Traum vor ihm auf und wechselten mit Bildern von Ereignissen aus der Vergangenheit ab. Er sah sich in bunten Blumenwiesen liegen, übersät mit blauem Enzian, Alpenveilchen und großblütigem Edelweiß. Hier ist es schön, dachte er und fühlte sich in völliger Harmonie geborgen, während ihn im Hintergrund neugierig eine Herde Kühe beobachtete und andere unbeirrt grasten.

Eine Stimme von oben riss ihn plötzlich aus diesem traumhaften, harmonischen Bild. „Ist da wer? Hat jemand gerufen?“ „Was war das, habe ich recht gehört? Ist das wieder nur ein Traum?“ Willy konnte es nicht mehr bewusst zuordnen und reagierte mehr mechanisch aus dem Unterbewusstsein. Dann überstürzten sich die Ereignisse.

1

Leidenschaft Berge und Klettern

Willy Schwarz ist hochgewachsen, ein Mann im fortgeschrittenen Alter oder genauer, er ging mit großen Schritten auf den Ruhestand zu. Den Vorruhestands-Vertrag mit Wirkung zum Ende des Jahres hatte er bei seinem Konzern schon unterschrieben.

Mit einer Körpergröße von 1,92 Meter überragte er die meisten Menschen seines Umfelds; dazu war er muskulös und kräftig gebaut. Seine Unterarme erinnerten eher an die eines Schmiedes. Überdies verfügte er über Bärenkräfte und eine unbändige Kondition, die nie zu erschöpfen schien.

Seit sich seine Frau nach 25 Jahren Ehe vor fünf Jahren scheiden ließ, wurde er noch verschlossener und immer mehr zum Alleingänger und Eigenbrötler. Dabei war sein Verhalten durchaus ambivalent. Einerseits suchte er die Gespräche mit Bergsteigern und Kletterkameraden oder allen Menschen, denen er in den Bergen begegnete, andererseits mied er so gut es ging jeglichen Kontakt mit Bekannten und Freunden und suchte oft die Einsamkeit und Stille in der Natur. Geblieben sind seine Leidenschaft für die Berge und Natur, worin sicher der Auslöser für das Scheitern seiner Ehe lag.

Zu viele Wochenenden und seit Jahrzehnten fast den gesamten Jahresurlaub verbrachte er in den Bergen, für die sich seine Frau nie so recht begeistern konnte. Sie war auch nicht in der körperlichen Verfassung, bei seinen Gewalttouren mithalten zu können.

Schon in jungen Jahren schloss er sich der Jugendabteilung des Alpenvereins an. Wenn er mit seinen Kumpeln nicht in die Berge fahren konnte, dann traf sich die Clique am Alten Schloss bei Baden-Baden. Gleich oberhalb beginnen die westlichen Ausläufer der imposanten Battert-Felsen. Unterhalb am Parkplatz traf er sich mit zwei, drei oder gelegentlich mehr Gleichgesinnten. Besonders an schönen Wochenenden in den Sommermonaten, wenn Willy nicht zu einer alpinen Tour in die Berge gefahren ist, zog es sie dorthin.

Die markante Felsengruppe am Battert ist nicht nur ein kleines Naturparadies. Sie bietet über 300 Routen zum Klettern an den bis zu 60 Meter hohen Wänden und das in allen Schwierigkeitsgraden. Die Felsen wurden für ihn und seine Freunde geradezu zum idealen Trainingsfeld und – das war ein zusätzlicher Vorteil – sie waren schnell erreichbar. So konnte an langen Sommerabenden immer noch eine Klettereinheit eingelegt werden. Man blieb solange es hell war, und hinterher ließ man irgendwo in der Stadt in einem Biergarten den Tag ausklingen.

Treffen war meistens am Parkplatz bei der Schlossruine, und von da eilten sie zügig auf dem unteren oder oberen Felsenweg zu einem der senkrecht, hoch aufragenden Wände. Einer von ihnen trug das Seil, anfangs noch ein schweres Hanfseil, und erst viel später hatte jemand Geld ein modernes, leichteres Zwillingsseil aus Polyamid zu kaufen. Doch regelmäßig gab es lange, unnötige Diskussionen darüber, wer an diesem Tag das Seil tragen muss. Das wurde beinahe zum festen Ritual, und wer es als Außenstehender hörte, konnte meinen, es gehe ums Überleben. Dabei wog so ein Seil nun wirklich nicht die Welt. Lästig war eher, es tragen zu müssen.

Der Weg dauerte kaum eine Viertelstunde. Vor Ort am Fuß eines der mächtigen Felsen legte jeder schnell einen Sicherungsgurt an, stülpte den Helm auf den Kopf und dann wurde geklettert bis es dunkelte oder die Kräfte versagten. Dabei benützte man vor Jahrzehnten noch ganz normale Bergschuhe. Erst viel später kamen spezielle Kletterschuhe auf den Markt, mit denen der Kletterer an steilsten Felswänden mit den Füßen regelrecht zu kleben schien. Das ermöglichte ein paar heikle Passagen zusätzlich zu wagen.

Jeweils einer von ihnen sicherte seinen Partner, während sie die Zeit der Freunde in noch schwierigeren Routen zu verbessern suchten. Im Laufe von Jahren hatte sich dabei immer mehr ein sportlicher Wettlauf mit bekannten Kletterern entwickelt. In jungen Jahren sprühten sie nur so vor Ehrgeiz, wie sich Willy gerne an diese alte Zeit zurück erinnerte.

Das ging ein Jahrzehnt so; sie wurden dabei älter und von seinen einstigen Kletterkameraden verzog einer nach dem anderen. Welche heiraten und hatten fortan weniger Zeit oder kein Interesse mehr, andere hatten sich beruflich anderenorts orientiert. Willy dagegen übernahm mehr Aufgaben innerhalb der Sektion, gab nebenbei Kurse in Fels und Eis und qualifizierte sich als Hochgebirgstourenführer. Seither stand er über 3 Jahrzehnte als Bergführer den Mitgliedern für anspruchsvolle Hochgebirgstouren in den europäischen Alpen zur Verfügung. Nebenbei machte er in den Bergen alleine zahlreiche private Unternehmungen oder nahm Arbeitskollegen und Freunde dazu mit.

Willy arbeitete seit Abschluss eines Studiums als Maschinenbau-Ingenieur bei Mercedes-Benz in Gaggenau und wechselte von da später in das Montagewerk nach Rastatt.

Von seinem Wohnort in Haueneberstein – ein Ortsteil von Baden-Baden – hatte er nie sonderlich weit zu fahren; weder früher nach Gaggenau noch jetzt nach Rastatt. Eigentlich bei jedem Wetter, selbst im Winter, fuhr er mit dem Fahrrad. In der Saison schwang er sich nach Feierabend noch einmal auf den Sattel und radelte die steile Straße hoch zum Alten Schloss. Da gab es die Möglichkeit über die Förcher Kreuzung nach Ebersteinburg oder mit dem Mountainbike über Balg oberhalb der Klinik entlang. Nicht selten verausgabte er sich einfach auf anderen, schweren Bergstrecken im Nordschwarzwald. Die gefahrenen Kilometer summierten sich jährlich so in die Tausende.

Seine Bärenkräfte, sein Zähigkeit und sein Ehrgeiz hatten durchaus aber auch negative Seiten. Im Verlauf der Jahre blieben Willy nur noch eine Handvoll Freunde, die bereit waren, seine exzessive Kletterei, schwierige Bergtouren und extrem lange Wanderungen – selten unter 40 Kilometer – mitzumachen oder die überhaupt in der Lage waren, da mithalten zu können. Er schonte weder sich noch andere – und so kam es wie es kommen musste; viele fühlten sich überfordert. Sie wollten lieber die Berge genießen „und nicht nur von A nach B hetzen“, wie später in Gesprächen herauszuhören war.

Mit fünfundzwanzig lernte er seine spätere Frau kennen. In den ersten Jahren blieb dann nicht mehr ganz so viel Zeit für seine Freunde und die geliebte Kletterei. Willy ließ es sich aber trotzdem nicht nehmen, immer wieder ein Wochenende für sich frei zu machen und mindestens vier oder fünf Mal im Jahr 2- bis 3-tägige Bergtouren über das Wochenende einzulegen. Zusätzlich verbrachte er mindestens eine Woche seines Urlaubs im Montafon, im Stubai- und Ötztal oder in den Bergen Südtirols. In Südtirol waren es vor allem der Ortler, die Königsspitze und Monte Cevedale. Das sind Berge, die es ihm sehr angetan hatten, ja geradezu ans Herz gewachsen waren. Sie zählten nicht zu den Modebergen, wie unter anderem das Matterhorn – und waren außerhalb der Saison weniger überlaufen, dafür aber durchaus anspruchsvoll.

Dann gab es jährlich ein Dutzend Sektionsabende, an denen er in seiner Funktion teilnahm, Kurse und Weiterbildungen ergänzten es, und das alles ging zeitlich zu Lasten seiner Familie.

Auf wenigen Touren begleitete ihn anfangs seine Frau Susanne. Doch ihr fehlte die nötige Kondition und Freude „an dieser Schinderei“, wie sie es nannte. Dann kamen im Jahresabstand zwei Kinder, Sohn Hans und Tochter Edith. Fortan blieb die Mutter lieber zu Hause und kümmerte sich um Wohnung, Haushalt und Kinder. Viele Jahre ging das gut oder sie hatten sich arrangiert. Selbst wenn seine Frau es gerne anders gehabt hätte, redete sie nicht darüber, denn sie kannte die Dickköpfigkeit ihres Mannes und wusste, wie wichtig ihm neben dem Beruf seine Leidenschaft war – und vielleicht sogar als Ausgleich brauchte.

Die Erziehung der Kinder füllte die Mutter völlig aus. Ab und zu machte man einen gemeinsamen Urlaub, vielfach auf einem familiengerechten Bauernhof im Schwarzwald, wo es Tiere gab und die Tochter reiten konnte. Einmal waren sie im gemeinsamen Urlaub an der Nordsee und badeten im Meer. Ein anderes Mal ließ sich Willy zu einem Badeurlaub in Calpe, an der Orangenküste südlich von Valencia in Spanien überreden. Das versöhnte Susanne kurzzeitig für Entbehrungen in der Freizeit. Das gab ihr neue Kraft, und Hoffnung auf Veränderung keimte auf. Doch seit die Kinder eigene Wege gingen, blieben für Willy und seine Frau leider keine Gemeinsamkeiten mehr. Sie lebten sich immer mehr auseinander, gingen eigene Wege und schließlich kam Knall auf Fall die Trennung.

Die Gegensätze waren im Grunde schon lange unüberbrückbar geworden. Willy war ein Frühaufsteher und häufig morgens schon um 5 oder spätestens um 6 Uhr unterwegs, selbst wenn er nicht arbeiten musste. Seine Frau Susanne dagegen blieb lieber bis 7 oder 7.30 Uhr im Bett. Sein übertriebener Ehrgeiz kam auch im häuslichen Bereich immer wieder durch. „Wenn ich nicht erster bin, dann ist das für mich wie eine Niederlage“, war sein gerne geäußerter Anspruch, der auf andere eher arrogant wirkte und sie nicht selten den Kopf schütteln ließ. Das galt im übertragenen Sinne für berufliche wie private Dinge. „Immer erster sein, immer Sieger.“ Das sagte er nicht nur so daher; das war seine Lebensphilosophie, seine innere Einstellung. Das diente weiß Gott nicht dazu viele Freundschaften zu fördern.

Beruflich war Willy erfolgreich seinen Weg gegangen. Nach Abschluss der Mittleren Reife und einer Mechanikerlehre holte er im Abendstudium die Fachhochschulreife nach und studierte anschließend in Offenburg Maschinenbau. Um es finanzieren zu können, arbeitete er wöchentlich 3 oder 4 Tage in der Spätschicht bei Mercedes, überwiegend an den Wochenenden. Von Montag bis Freitag studierte er tagsüber und die zeitaufwendige Fahrerei kam erschwerend hinzu. Oft musste er sich durchbeißen und stand am Rande der Erschöpfung. Diese Zeit prägte ihn in gewisser Weise und machte ihn härter und widerstandsfähiger, vielleicht aber auch unbequem – besonders anderen gegenüber. Was er von sich forderte, erwartete er ganz selbstverständlich von jedem in seinem Umfeld.

Er war nicht nur ausgesprochen ehrgeizig, sondern in vielem speziell eigenwillig, ja beinahe schon ein wenig skurril und starrsinnig. Dabei war er ein begnadeter Tüftler und hatte die Gabe und Fähigkeit mit einfachsten Mitteln etwas zu konstruieren oder sein Ziel zu erreichen; Hauptsache es erfüllte seinen Zweck. Schön mussten seine Werke nicht sein und ob es modisch war und gefiel, war ihm völlig gleichgültig. Aus dieser Sicht konnte man Willy ohne Übertreibung einen Minimalisten nennen.

Nach dem Maschinenbaustudium fand er eine Anstellung bei Mercedes-Benz in Gaggenau als Betriebsingenieur und arbeitete viele Jahre für dieses Unternehmen. Bald leitete er verantwortlich verschiedene Abteilungen, galt aber sowohl bei den Mitarbeitern wie bei seinen Vorgesetzten als schwierig und vor allem sehr direkt und unbequem. Seine fachliche Qualifikation wurde dagegen nie in Zweifel gezogen – im Gegenteil – die war allseits anerkannt und wurde geschätzt.

Dann siedelte sich Mercedes-Benz mit einem Montage-Werk für Pkws der A-Klasse in Rastatt an. Das Unternehmen bot ihm in diesem neuen Werk eine gute Position und er überlegte nicht lange und wechselte. Das war für ihn wie eine Beförderung. Nebenbei waren seine zusätzlichen Vorteile: Er hatte einen kürzeren Weg nach Hause und war fortan nicht mehr in den Schichtdienst eingebunden. Das schaffte ihm zusätzliche Freiräume.

Schon seit Jahren ist er jetzt Gruppenleiter in verantwortlicher Stellung. Das ermöglichte ihm eine weitgehende finanzielle Unabhängigkeit. Längst wohnte er im eigenen Haus, ein Einfamilien-Wohnhaus mit Einliegerwohnung. Die Einliegerwohnung bewohnt eine Frau mit ihrem erwachsenen Sohn, zu denen es kaum Kontakte gibt, wenn man vom „guten Tag“ und „wie geht es?“, einmal absieht. Hauptsache die Miete kommt pünktlich auf das Konto, und da hatte Willy bis heute wirklich keinen Grund zu meckern.

Seine Frau konnte sich immer um Haus und Garten, die Kindern und deren Erziehung widmen. Beide, Tochter und Sohn, hatten mit gutem Notendurchschnitt das Abitur gemacht, danach studiert, und inzwischen sind sie verheiratet. Es gab mit ihnen in der Kinder- und Jugendzeit nie größere Komplikationen. Für die Kinder war die Mutter Erzieherin und Ansprechpartnerin. Der Vater war ja nie da. So bekam er vieles erst gar nicht mit. Inzwischen wohnt die Tochter mit ihrem Mann und den beiden Enkelkindern in der gleichen Stadt im eigenen Haus, sein Sohn dagegen im Stuttgarter Raum, und da gibt es auch einen Enkel. Die Weihnachtstage, Ostern und Geburtstage feierte die Familien bisher abwechselnd mal hier, mal dort.

So gesehen war vermeintlich mehr als 20 Jahre alles im grünen Bereich, und Willy war der Ansicht, auf einen durchaus erfolgreichen Weg zurückblicken zu dürfen und mit sich zufrieden sein zu können – und das war er in der Tat, ohne nach außen hin groß darüber Worte zu verlieren. Man hätte meinen können, für ihn war alles ganz selbstverständlich. Umso mehr traf es ihn wie ein Keulenschlag, nachdem eines Tages seine Frau Susanne ohne Vorwarnung die Koffer packte und ausgezogen ist. Ein paar Tage später lag ein Brief vom Rechtsanwalt im Briefkasten, der die Scheidung einleitete.

Zuerst war Willy wütend, enttäuscht und tief gekränkt. „Warum hat sie nichts gesagt, nicht offen mit mir geredet? Sie hatte doch alles, es ging ihr doch gut“, redete er sich immer wieder in Rage. Doch nach einer gewissen Zeit hatte er sich mit der Situation abgefunden und arrangiert. „Gut, dann bin ich schon niemand mehr Rechenschaft schuldig und muss keine Rücksicht nehmen und keinen fragen“, tröstete er sich trotzig.

Für Willy war die Trennung – außer dem temporären Gekränkt sein – kein Beinbruch. Essen konnte er in der Kantine und zu Hause kam er gut alleine zurecht. So war es ihm insgeheim sogar lieber. Nun konnte er tun und lassen was er wollte und war keine Erklärung mehr schuldig, wenn er unterwegs sein wollte. Wollte er Familie, dann konnte er ja immer die Familie seiner Tochter oder die seines Sohnes mit den Enkelkindern besuchen. Da fühlte er sich stets eingeladen und willkommen, wenngleich er nicht häufig davon Gebrauch machte.

Selbst bei Bergtouren war er bald nach den ersten Ehejahren im Grunde lieber alleine unterwegs. Das bezog sich auch auf Kontakte zu seinen einstigen Kletterfreunden. Die ehemals engen Verbindungen rissen nach und nach ab. So war er im Laufe der Zeit weitgehend zu einem Einzelgänger geworden.

Das hing ursächlich einmal mit seiner spartanischen Einstellung und Lebensweise zusammen. Sowohl im Beruf wie auch in seiner Freizeit war und blieb er – wie schon erwähnt – „ein Minimalist“. Nicht nur dass er seine Begleiter regelmäßig überforderte und aus diesem Grunde schon kaum noch irgendjemand bereit war, ihn zu begleiten. Bei Material und Kleidung war Schlichtheit und Zweckmäßigkeit für ihn gut genug. Auf Mode legte er schon gar keinen Wert. Wichtig war ihm, die Dinge erfüllten ihren Zweck, ob es unschön aussah oder nicht modisch war, ließ ihn völlig unberührt.

In seiner Kindheit hatte er nie Taschengeld bekommen, sondern musste sich alles Geld selber verdienen. Vor der Schule und sonntags trug er Zeitungen aus, und sein Studium konnte er nur durchziehen, indem er nebenbei arbeitete. So hatte er schon früh gelernt sehr sparsam zu sein, und blieb es selbst dann noch, nachdem er schon lange eine gutbezahlte Position hatte, mehr verdiente wie er verbrauchte und sparen eigentlich nicht mehr nötig hatte.

Nicht übersehen darf man, dass Bergtouren vor 40 und vor 30 Jahren noch ganz anders verliefen, wie wir es heute kennen. Auf den Hütten gab es nur das Allernötigste. Essen wurde für die ganze Zeit mitgenommen und mitgeschleppt. Bei längeren Touren war es vornehmlich Zwieback, Knäckebrot und ein großes Stück Speck oder Käse, dazu genügend Teebeutel, um täglich die Thermoskanne zu füllen, die neben einer verbeulten Wasserflasche zum unverzichtbaren Gepäck gehörte.

Willy, mit großer, kräftiger Statur brauchte immer ordentlich was zu futtern und das erst recht auf langen, anstrengenden Etappen in den Bergen bei hohem Kalorienverbrauch. So schleppte er regelmäßig – manchmal zum leichten Gespött seiner Kameraden – 10 Kilo und mehr nur an Essensvorräten mit. Dafür sparte er lieber an der Kleidung. „Warum soll ich unterwegs die Kleidung wechseln, wenn nach einer halben Stunde eh wieder alles verschwitzt ist“, war seine Devise und für ihn galt der alte Grundsatz: „In den Bergen wäscht man sich nicht.“

Noch etwas kam hinzu. Dank seinem seit den Kindertagen exzessiv betriebenen Sport verfügte Willy über eine unerschöpfliche Kondition, verbunden mit großer Ausdauer. Dies spielte er gerne hin und wieder gezielt aus, vor allem dann, wenn ihm seine Begleitung nicht so behagte. Damit überforderte er nicht selten seine Begleitung und am Ende wollte ihn niemand mehr mit. Die einen beschwerten sich: „Der Willy wäscht sich nicht und stinkt“, die anderen maulten: „Mit diesem Ross kann doch kein normaler Mensch mehr mithalten. Ich will mich doch nicht kaputt machen lassen.“

Dabei war Willy durchaus nicht mehr der Gesündeste. Seine Verantwortung in der Firma und der immer größere Druck von Seiten der Firmenleitung verursachten ihm Probleme mit dem Magen. Gegen die Übersäuerung nahm er regelmäßig Tabletten zur Neutralisation, und wenn er sich zu viel zumutete, neigte er gerne zum Erbrechen. Mehr als einmal hatten Mitglieder des Vorstandes der Sektion gutgemeint versucht die Probleme mit ihm zu besprechen, aber Willy schaltete auf stur. Ihm war völlig egal, was andere über ihn dachten, und „wenn jemand nicht mit mir gehen will, dann soll er es bleiben lassen.“ Damit bügelte er kurzerhand alle wohlwollenden Ratschläge kurzerhand ab.