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Ende 1952 debütierte Wolfgang Schreyer mit "Großgarage Südwest", dem ersten Kriminalroman der DDR. Neun Jahre vor dem Mauerbau führte er in das geteilte Berlin: Schauplatz der phantasievollen Story. Wenn diese Affäre so viele Leser gefunden hat, so auch dank zweier gestandener Kriminalisten, die dem Autor damals mit ihrem Rat zur Seite standen. Das Buch bietet dem krimiverwöhnten Leser der Gegenwart noch immer atemberaubende Spannung und erinnert an die Zeit, als die Westberliner und Ostberliner Kriminlapolizei sich bei der Gangsterjagd noch gegenseitig unterstützte. LESEPROBE: Ungefähr zur gleichen Zeit, der letzte Schein des Tages stand am westlichen Himmel, betrat Alexander das Jakobs'sche Grundstück von der Rückseite her, wie man es ihm angeraten hatte. Nachdem er das schmiedeeiserne, finstere hohe Tor in der Parkmauer durchschritten hatte, erblickte er in fünfzig Meter Entfernung am Ende des breiten Weges die Villa. Im Näherkommen unterschied er an der dunklen Masse des Hauses ein von zwei Säulen getragenes Giebeldach, unter dem eine breite, flachstufige Treppe zum Eingang hinaufführte. Darüber, in der dreieckigen Giebelwand, waren in römischen Kapitalbuchstaben die Worte eingegraben: 'Sei gegrüßt'. Das also ist die Zentrale der Berliner Organisation! Alexander nahm bedächtig, ohne jedes Beklemmungsgefühl - was ihn wunderte - die flachen Stufen. Der Anblick des großen, massiven Gebäudes, dessen Bewohner er zu überlisten hoffte, entmutigte ihn nicht; sein Plan stand fest. Von seiner Militärzeit her war ihm zwar der Spruch geläufig: Es kommt immer alles anders als du denkst. Aber es blieb ihm keine Zeit mehr, sich mit dieser Alltagsweisheit kritisch auseinanderzusetzen, denn unmittelbar vor dem Eingang leuchtete ihm jemand ins Gesicht. "Halt, wer sind Sie?" "Der Kaiser von China", antwortete Alexander mechanisch - so hatte ihn Bobby Kopsch angewiesen. Die Taschenlampe erlosch, er schritt weiter. Jetzt befand er sich in einer schwach erleuchteten Empfangshalle. Links vor sich erblickte er einen riesengroßen Spiegel. Gegenüber davon, rechts befand sich der Aufgang. Er stieg lautlos die mit dicken Läufern belegten Treppen hinauf. Im zweiten Stock die vorletzte Tür rechts, das wusste er. Der Korridor in der zweiten Etage schien endlos. An zwei Stellen fiel durch ein quadratisches, dick verglastes Oberlicht ein schwacher Schimmer herein. Links und rechts gingen hohe Flügeltüren ab.
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Seitenzahl: 460
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Wolfgang Schreyer
Großgarage Südwest
ISBN 978-3-86394-081-2 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1952 bei Das Neue Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
An einem der letzten Julitage des Jahres 1948 betrat Kriminalassistent Alexander Schenzlin das Hochhaus des "Deutschen Rings" am Karl-Muck-Platz 1. Hier waren die Dienststellen der Hamburger Kripo untergebracht.
Er schlürfte lässig, von dem Weg durch die glühende Stadt erschöpft, an der Portiersloge vorbei, nahm ein paar flache Stufen und verhielt vor der Treppe - einen Augenblick nur. Die Hitze draußen war kaum erträglich gewesen; im Inneren des großen, jetzt seltsam leeren Gebäudes - es war die Mittagsstunde - schien es angenehm kühl. Gespenstisch glitten die Paternosterkabinen vorbei, fast alle unbesetzt; Alexander nahm erst die sechste. Er lehnte sich gegen die Wand und beobachtete ohne Interesse das langsame Vorbeigleiten der Etagenböden. Sekundenlang erschien ein Bild vor seinen Augen, die Erinnerung an den gestrigen Tag: Wasser, strahlend blauer Himmel, die sengende Sonne, und ein Mädchen, braungebrannt wie er selbst ... Helga ...
Gerade noch rechtzeitig sprang er aus der Kabine. Er bog links ein und öffnete eine Tür, die eine dreistellige Nummer trug.
Kriminalsekretär Schmidt, der Kollege, der ihn vertreten hatte, schwenkte träge mit dem drehbaren Sessel herum.
"Tag, Alexander. Na, war es schön?"
"Danke. Schön warm."
"Und sonst - -?"
"Sonst auch."
Schenzlin zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete sein Schrankfach. Er legte die Aktentasche mit dem Kaffeebrot hinein und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Aus dem Nebenzimmer drang das Tacken einer Schreibmaschine. Alexander blickte zu seinem Kollegen hinüber und überlegte, dass es wohl angebracht sei, sich für den geopferten Vormittag zu bedanken - obwohl solches Einspringen stets auf Gegenseitigkeit beruhte -, als dieser schon selbst seinen Mund auftat.
"Du, Alexander, es hat gar keinen Zweck, dass du dich erst noch mal hinsetzt. Nachher kommst du bloß nicht wieder hoch. Du sollst nämlich zum Alten."
"So? Was Besonderes?"
"Keine Ahnung. Er hat es vorhin persönlich bestellt, sofort, wenn du kommst --"
"Was hat er denn für ein Gesicht gemacht?"
"Weiß nicht. Wie immer."
Schenzlin stand knurrend auf. Er ging quer über den Korridor und klopfte an eine Tür, die außer der Nummer noch ein kleines Schild mit der Aufschrift 'Kriminalrat Schulz' trug.
Als Schenzlin eintrat, erhob sich hinter dem Schreibtisch ein älterer, langer und dünner Herr in einem lila Anzug: Kriminalrat Schulz streckte ihm die Hand entgegen. Alexander, durch dieses ungewöhnliche Benehmen überrascht, kam ein wenig aus dem Konzept. Er hatte vorgehabt, an der Tür stehenzubleiben und in dienstlichem Ton zu melden: 'Kriminalassistent Schenzlin vom Urlaub zurück' - was nun nicht mehr anging. So sagte er nichts außer einem gemurmelten 'Guten Tag', blieb vor dem Schreibtisch stehen und drückte die schmale Hand seines Vorgesetzten, wobei er eine Verbeugung andeutete.
"Bitte, lieber Kollege, nehmen Sie Platz. Nun, haben Sie sich gut erholt die zwei Tage? Schönes Wetter hatten Sie ja. Für mich wäre das nichts mehr, ich vertrage die Sonne schlecht. Ja! - - was ich sagen wollte ...
Aber es schien ihm im Augenblick nicht einzufallen, was er sagen wollte. Wahrscheinlich ist die Hitze daran schuld, dachte Alexander. Warum hat er sich auch ein Zimmer mit den Fenstern nach Süden geben lassen? In seiner Stellung kann man doch Wünsche äußern.
Die pralle Mittagssonne fiel unbarmherzig herein. Es mussten über 30 Grad im Raum sein. Alexander streifte das hässliche Faltengesicht, den dünnen Hals und den zu weiten Papierkragen seines Vorgesetzten mit müdem Blick. Wenn Hässlichkeit ein Gradmesser für Intelligenz war, wie das mitunter behauptet wurde - dachte er - dann musste Schulz die Eigenschaft in hohem Maße besitzen.
Der Kriminalrat erhob sich mit einem Ruck, der einen Schweißausbruch zur Folge hatte. Er machte sein übliches sauertöpfisches Gesicht und stelzte unbehaglich hinter dem Schreibtisch hin und her. Seiner allbekannten Gewohnheit, die Daumen in die Ärmelausschnitte der Weste einzuhaken, konnte er heute nicht nachgeben, da er sie der Hitze wegen ausgelassen hatte. So klammerten sich seine Hände um die Rockaufschläge, ohne dort zuverlässigen Halt zu finden. Ab und zu streifte er Schenzlin mit nervösem Blick.
"Also, es handelt sich da um folgendes: Am vergangenen Freitag wurde doch unter der Leitung des Kommissars Behnke eine Razzia in der Sumatra-Bar durchgeführt."
"Ganz recht, Herr Kriminalrat."
"Sie - - waren auch dabei?"
"Jawohl, Herr Kriminalrat, gewiss! Sie selbst hatten doch die Einteilung getroffen."
Schulz schien sich zu besinnen.
"Hm. Jaja. Sie haben ganz recht, natürlich", brummte er und setzte seinen Spaziergang fort. Seine Stiefel knarrten vernehmlich.
Alexander starrte vor sich hin. Die Sonne zeichnete das Bild des Fensterkreuzes auf den Linoleumfußboden. Was wollte der Alte eigentlich von ihm? Warum machte er einen so verlegenen und unbeholfenen Eindruck? Alexander mochte ihn im Grunde genommen trotz seines wenig einnehmenden Äußeren gern. Mit Schulz kam er weit besser aus als mit Behnke, dem er unmittelbar unterstellt war und der viel von einem alten Kommissknochen an sich hatte. Schulz dagegen war ein gutmütiger, wenn auch leicht misstrauischer Mensch. Was hatte er nur heute? Weshalb erst der freundliche Empfang und jetzt das bedenkliche Schweigen? Das alles war ziemlich ungewöhnlich und gab reichlich Stoff zum Nachdenken. Aber gerade das konnte Alexander jetzt nicht. Die seltsame Atmosphäre der summenden und verstaubten Wärme dieses Amtszimmers schien jede Verstandestätigkeit zu lähmen.
Der Kriminalrat beendete seine Wanderung ebenso plötzlich wie er sie begonnen hatte. Er ließ sich erschöpft in den Sessel sinken, nahm einen gelben Bleistift zur Hand und spielte nervös und abwesend damit. Schenzlin blickte irritiert auf den Bleistift. Langsam traten kleine Schweißtröpfchen auf seine Stirn.
"Also, lieber Schenzlin, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir berichten wollten, wie die Aktion in der Sumatra-Bar in allen Einzelheiten verlaufen ist."
"Gern, Herr Kriminalrat; - ich dachte nur, Kommissar Behnke hätte schon den Bericht - -"
"Hat er auch. Nein, Sie verstehen mich noch nicht so ganz. Ich möchte einen ganz persönlichen und inoffiziellen Bericht von Ihnen, Ihre Eindrücke, Ihre Wahrnehmungen. Sie wissen, ich unterrichte mich gern aus mehreren Quellen. Vielleicht haben Sie doch eine Kleinigkeit gesehen, die Sie vielleicht für unwesentlich halten, die Behnke entgangen ist, gerade das kann von Wichtigkeit sein, verstehen Sie?"
Alexander verstand ganz und gar nicht. In ihm stieg langsam ein unbehagliches Gefühl hoch. Was redete der Alte da zusammen? Warum sprach er so sonderbar unruhig? - Alexanders Gedanken streiften plötzlich einen Punkt, den sie schreckhaft sogleich wieder verließen. Augenblicklich begann sein Verstand fieberhaft zu arbeiten. Wie konnte ich das auch nur eine Sekunde vergessen? Warum sieht mich der Alte so merkwürdig an? Tut er das wirklich oder bilde ich mir das bloß ein? Der Kragen drückt - - diese ekelhafte Wärme ... - ich muss jetzt etwas sagen - -
"Herr Kriminalrat, es war so: Schmidt entdeckte als erster in der Wand des Korridors, der nach hinten in die Küche führt, eine geschickt getarnte Tür. Die Wand war hier überall mit einem grünen Stoff bespannt. Kollege Schmidt bemerkte, dass die Nägel, mit denen er befestigt war, an einer Stelle nicht Nägel, sondern Druckknöpfe waren. Man konnte die Bespannung bequem ablösen, und dann erschien die besagte Tür. Wir brachen sie rasch auf und traten ein. Ein kleines Zimmer mit Polstermöbeln, fünf Herren, die keinen Widerstand leisteten. In der Mitte ein Tisch, darauf ein Koffer, - ein kleinerer Koffer --"
"Inhalt?"
"Inhalt kleine gläserne Ampullen, in Watte verpackt, wie wir gleich sahen, Morphium. Dann ein weißes Pulver ohne Aufschrift, von dem Kommissar Behnke annahm, es sei Kokain. Ferner fanden wir in den Seitenpolstern der Sessel Geldscheine; - warum der Versuch gemacht worden ist, diese zu verstecken, kann ich nicht sagen. Die Leute mussten doch damit rechnen, dass wir - -"
"Schon gut. Ist Ihnen noch etwas Besonderes aufgefallen? Haben nicht Sie ganz persönlich noch etwas beobachtet -?"
"Hinsichtlich des Koffers oder hinsichtlich der Festgenommenen?"
"Nein, mich interessieren jetzt besonders die gefundenen Gegenstände."
Alexander überlegte rasch. Das war ja nicht die Entgegennahme eines Berichts, sondern - ein Verhör! Nur keine Unruhe zeigen. Der weiß nichts. Sonst hätte er es schon längst gesagt!
"Jawohl, Herr Kriminalrat."
"Nun-?"
"Ich hatte das Geld zu zählen, und es fiel mir auf, dass es zehn- oder zwölfmal mehr war, als was der Inhalt des Koffers zu Schwarzmarktpreisen kostet."
"Können Sie das so genau beurteilen?"
"Ich habe ein halbes Jahr im Rauschgiftkommissariat Dienst getan, Herr Kriminalrat."
"Ach so. Nun, wie erklären Sie sich das?"
"Vielleicht so, dass der Kofferinhalt lediglich eine Warenprobe darstellte, und dass in Wirklichkeit über bedeutend größere Mengen verhandelt wurde. Den Lagerort der Hauptmenge herauszubekommen, musste somit unsere nächste Aufgabe sein ..."
Alexander schwieg, denn Schulz hörte offensichtlich gar nicht zu.
"Sie hatten den Eindruck, dass es zuviel Geld war, nicht wahr, Herr Schenzlin?"
Alexander spürte mit schmerzhafter Deutlichkeit den Doppelsinn dieser Frage. In diesem Augenblick wusste er, weshalb ihn der 'Alte' zu sich gerufen hatte. Und er wusste auch, dass seine Sache verloren war. Aus! - Jemand musste es gesehen haben. Seine Laufbahn bei der Kriminalpolizei war zu Ende. - Der Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus. Er lehnte sich sekundenlang zurück und schloss die Augen. Endgültig - aus.
"Ich wäre wahrscheinlich ein schlechter Untersuchungsrichter. Machen Sie es mir leicht, Schenzlin, und geben Sie zu, dass sie aus dem Bündel Geldscheine während des Zählens einen Hunderter entwendet haben."
"Ich gebe es zu."
"Schön. Hätte auch keinen Zweck gehabt. Behnke hat es nämlich gesehen. Das Geld haben Sie natürlich für Ihren Urlaub oder für sonst was verbraucht. Die alte Sache. Ich hatte Sie eigentlich nicht so eingeschätzt, jawohl, nicht so! Sie haben mich schwer enttäuscht."
Schulz erhob sich und blieb in einer Weise hinter dem Schreibtisch stehen, dass Alexander sich ebenfalls genötigt sah, aufzustehen.
"Da Sie sich so verhalten haben, werden Sie sich wohl darüber im klaren sein, dass - -, dass Sie hier - -", er verhedderte sich, "wir können nicht bei der Kripo Leute beschäftigen, die - - nicht wahr?"
"Jawohl", sagte Alexander.
Schulz ließ sich erschöpft auf seinen Sessel nieder und nahm den gelben Bleistift zur Hand. Er mochte erkennen, dass die Hitze seine Anstrengung zunichte machte, eine Rolle zu spielen, die ihm sowieso nicht lag. In fast väterlichem Ton fuhr er fort:
"Lieber Schenzlin, ich will Ihnen jetzt, wo wir uns trennen müssen, zugeben, dass Sie mir recht sympathisch gewesen sind. Ich bin zu alt und zu lange im Polizeidienst, als dass ich Ihre Verfehlung anders als einen Jugendstreich ansehen kann. Ich kann mich gut in Ihre Lage versetzen. Die Versuchung war groß, Sie sind jung, ein wenig leichtsinnig, Sie haben sich die Sache gar nicht richtig überlegt. Wäre die Geschichte unter uns geblieben, dann hätten Sie mir, das weiß ich genau, die hundert Mark stillschweigend wiedergegeben und ein zweites Mal wäre Ihnen so etwas nicht passiert. Aber wie die Dinge nun liegen, müssen Sie Ihren Dienst quittieren. Das wäre nicht nötig gewesen."
"Ich muss die Folgen tragen - selbstverständlich", sagte Alexander leise. Er legte seinen Polizeiausweis auf den Tisch.
"Ich habe Vertrauen zu Ihnen und zweifle nicht daran, dass Sie die hundert Mark schnellstens zurückerstatten werden. Ich meinerseits werde alles tun, um Ihnen für später keinen Stein in den Weg zu legen. Ihre Entlassungspapiere werden den Vermerk tragen: Auf eigenen Wunsch. Und dann habe ich noch eine Bitte an Sie, Herr Schenzlin. Was Sie vielleicht nicht wissen: es gibt Leute, die sich für entlassene Kriminalbeamte interessieren. Lassen Sie sich mit niemandem ein, bleiben Sie auf dem richtigen Weg, es gibt noch andere ehrliche Berufe. Wie alt sind Sie?"
"Dreiundzwanzig."
"Na also. Kopf hoch! Fangen Sie etwas Neues an. Es gibt zahllose, die weit älter sind, die auch von vorn anfangen müssen, Umsiedler, Heimkehrer usw. Verlieren Sie nicht den Mut. - Das war es, was ich Ihnen sagen wollte."
Alexander verabschiedete sich. Draußen auf dem Flur fiel es ihm zum ersten Mal ein: Was wird Helga dazu sagen? Jetzt irgendwo unterzukommen wird nicht einfach sein. Der Alte hat gut reden. Das mit dem Geld war auch schwierig. In seiner Brieftasche befand sich ein Zwanzigmarkschein; das war alles. Einen Anzug versetzen - das reichte nicht. Die Armbanduhr noch dazu - vermutlich auch nicht. Benommen langte er vor dem Aufzugsschacht an. Leise knarrend glitten leere Kabinen vorbei ...
Unten am Hauptportal schlug ihm der heiße Atem der Stadt entgegen. Vor ihm, auf dem Karl-Muck-Platz, parkten eine Anzahl Fahrzeuge; von der anderen Seite flimmerte die Fassade der Musikhalle im grellen Sonnenschein. Auf dem weichen Asphalt stand ein schwerer Lastkraftwagen; ein schmutziger Mann saß hinter dem Steuerrad. Der Dieselmotor stieß sein taktmäßiges, heiseres Blubbern aus; unter der Motorhaube tropfte Öl hervor, das auf der glühenden Straßenfläche eine schillernde, dampfende Lache bildete. Was nun? Alexander tat ein paar verlorene Schritte. –
Flirrende Hitze, Benzindunst und Staubgeruch verdichteten sich zu einem Erinnerungsbild: Er glaubte für Sekunden warmen, ausgedörrten und von tausend nackten Füßen festgestampften Lehmboden zu sehen. Soweit das Auge reichte: Gelbbraune Bodenwellen, armselige Zelte, kilometerlanger Stacheldraht, Wachttürme, Jeeps. Heilbronn, Cage 3, das war der Anfang gewesen, der Ausgangspunkt für ein Leben in Freiheit und in Hunger. Wie würde es jetzt weitergehen. Ja - wie?
Die Sumatra-Bar, im Stadtteil Harvestehude gelegen, nicht allzu weit vom Dammtorbahnhof, galt noch vor kurzem als berüchtigtes Schieberlokal. Sie war es in gewissem Sinne auch noch, nur wurde jetzt auf einer höheren Ebene geschoben, nicht mehr auf krimineller, sondern auf kommerzieller; - mit Ausnahmen. Solche Ausnahme stellte beispielsweise jene Rauschgiftaffäre dar, die zweifellos eine ausreichende Handhabe geboten hätte, die Bar zu schließen. Wie oft in solchen Fällen verzichtete die Kripo darauf, um nicht erst den neuen Treffpunkt, der dann an die Stelle der "Sumatra" trat, suchen zu müssen.
Am Abend des 30. Juli, einem drückend schwülen Tag, stand Alexander Schenzlin unschlüssig vor dem Eingang der Bar. Die verschleierte Sonne warf ein schräges, graues Licht in den Straßenschacht; ab und zu brach ein Windstoß in die erstickend heiße Atmosphäre ein und wirbelte Staub und die weggeworfenen Eintrittskarten vor dem gegenüberliegenden Kino auf. Man spielte dort, wie ein riesiges Plakat in leuchtenden Farben verkündete, den amerikanischen Revue-Farbfilm 'Mädchen im Rampenlicht'. Unmittelbar vorm Eingang stehend, konnte man in bestimmten Zeitabständen den Schlager 'Ay, ay, ay, das ist die Minnie aus Trinidad' vernehmen.
Alexander setzte sich ohne bestimmten Entschluss in Bewegung und betrat die Bar.
"Oben oder unten, mein Herr", erkundigte sich die Kassiererin. Alexander entsann sich, dass hier die seltsame Einrichtung bestand, zweierlei Karten zu verkaufen. 'Oben', im ersten Stock, war die Ausstattung besser und es ging vornehmer zu. Dafür zahlte man nur 30 Pfennig an der Kasse mehr. Der eigentliche Unterschied bestand in den Getränkepreisen.
Alexander entschied sich für 'oben'; es war ihm gleichgültig, ob seine Brieftasche erst morgen oder schon heute endgültig leer werden würde. Er bog daher gleich hinter der Kasse links ab, durchschritt einen kurzen Korridor und stieg eine breite, mit dickem, schlammgrünen Läufer ausgelegte Treppe hinauf, an deren Ende sich eine Glastür befand. Alexander musste an die vielen unverglasten Fenster des zerbombten Hamburgs denken; auch das Obergeschoss dieses Hauses war ausgebrannt. In dem unteren jedoch ging man dazu über, einen vorkriegsmäßigen Luxus zu entfalten.
Ein Mensch im Frack nahm ihm mit verbindlichem Lächeln die Eintrittskarte ab und öffnete die Tür. In diesem Augenblick vernahm man gedämpfte Musik.
Alexander drehte sich um und sah, wie der Befrackte auf einen Knopf drückte. Die Organisation funktionierte; der vermeintliche Kriminalbeamte wurde sofort weitergemeldet. Alexander musste lachen.
In der Garderobe legte er seinen Staubmantel ab und betrachtete sich im Spiegel. Dieser dunkle Anzug war sein einziger. Er schob einen schweren, dunkelgrünen Vorhang zur Seite - die Musik tönte ihm nun in voller Stärke entgegen.
In der Mitte, auf dem gläsernen Boden, tanzten einige Paare im Rhythmus eines Slowfox. Die sieben Mann starke Kapelle spielte rechts auf einem Podium. Ihre Notenständer trugen nach vorn eine Leinwand mit der Aufschrift 'Ben Hardy'. An der hinteren Wand des langgestreckten Raumes befand sich die eigentliche Bar. Die Seitenwände wurden durch zahlreiche Nischen unterbrochen, die teilweise durch Topfgewächse verdeckt waren und fantastische Überschriften trugen: Korallen-Insel, Borneo-Hütte, Mitternacht in Shanghai, Pacific-Klippe, Jangtse-Pirat und Tahiti. Hier musste ein Mann mit geografischen Kenntnissen am Werk gewesen sein. In jeder der Nischen brannte eine farbige Lampe, bald gelb, bald feuerrot, bald giftgrün, violett oder orange.
Alexander, seit Wochen mit der Überwachung des Lokals beauftragt, kannte sich hier aus. Er wusste zum Beispiel, dass die Jangtse-Pirat, durch imitierte Bordwände mit großen Bullaugen fast zugebaut, einen in der Rückwand verborgenen Notausgang besaß, von dem aus man über eine enge Wendeltreppe auf den Hof gelangte. Und es war ihm auch bekannt, dass sich dort das Licht warnend verdunkelte, wenn der Mann im Frack draußen auf seinen Knopf drückte.
Heute indessen kümmerte ihn das alles wenig. Er drängte sich am Rand der Tanzfläche vorbei und suchte nach einem Platz. Seine große, schlanke Gestalt und sein sonnenverbranntes Gesicht fielen in dieser Umgebung auf. Einige der Anwesenden erkannten ihn sofort. Er setzte sich in eine kreisförmige Nische für zwei Personen und bestellte etwas Billiges. Mechanisch entzündete er eine Zigarette. Die Kapelle spielte Jazz; man tanzte hier alles, auch die neuen amerikanischen Schlager; - es war die Zeit, da die Samba das europäische Festland erreichte. Gelegentlich jedoch, gleichsam ein Rückfall, ertönte eine Opernarie oder ein klassisches Stück, missfällige Pfiffe aus den Nischen, wohl zu unterscheiden vom Beifallspfeifen im amerikanischen Stil, riefen Ben Hardy dann mitunter zur Ordnung.
Was nun -? Mit Helga war es aus. Nicht etwa, weil er seine Stellung verloren hatte. Das interessierte sie gar nicht. Aber sie begriffe nicht, wie er so etwas hätte tun können, - das waren etwa ihre Worte gewesen. Voll Bitterkeit erwog Alexander, dass sein Vorgesetzter, ein verknöcherter Kriminalrat, mehr Verständnis für ihn gezeigt hatte als das Mädchen, für das er im Grunde genommen den Hunderter entwendet hatte. - Ich hätte ihr nicht sagen dürfen, weshalb ich entlassen worden bin, dann - - Aber damit hätte ich ihr sicher nur den bequemen Vorwand zur Trennung genommen, die sie sowieso vorhatte.
Alexander wurde in seinem Gedankengang gestört, als ein untersetzter Herr von vielleicht fünfundvierzig Jahren in einem kleinkarierten, hellgrauen Anzug vor seinem Tischchen stehen blieb.
"Ach entschuldigen Sie, ist dieser Platz auch schon besetzt?"
"Nein." Alexander machte eine abwesende Handbewegung. "Bitte."
Der andere setzte sich. Alexander, einmal aus seinen Betrachtungen gerissen, sah ihn unauffällig von der Seite an. Das Besondere an ihm war ein großer Schädel mit breiter Stirn und großer, im Schein der Lampe grünspiegelnder Glatze. Zwischen dunklen, starken Brauen sprang eine fleischige Nase hervor. Er hatte sich eine halbe Flasche Mosel kommen lassen. Vor einigen Wochen war an so etwas nicht zu denken gewesen. Es gab jetzt vieles aus gehorteten Beständen. Manche, dachte Alexander, haben durch die Währungsreform ihr Vermögen verloren, andere stoßen sich gesund. Ich werde wohl niemals zu denen gehören, die von irgendeiner Zeiterscheinung profitieren. Es ist klar, ich bin dazu zu dumm. Drei Jahre Hunger und jetzt, wo man besser leben könnte, fehlt das Geld. Ich habe Pech. Jetzt bin ich arbeitslos.
Der Fremde genoss den Wein in kleinen Schlucken. Plötzlich drehte er sich ihm überraschend zu, so dass Alexander nicht mehr Zeit fand, seinen Blick abzuwenden.
"Nun, mein Herr", sagte er mit wohlklingender, ziemlich tiefer Stimme, "spielen Sie auch den einsamen Zecher?"
Alexander wurde seiner Antwort enthoben, denn in diesem Augenblick erlosch das große Oberlicht im Saal und die Kapelle verstummte. Stattdessen flammte irgendwo ein grellweißer Scheinwerfer auf, tastete sich mit gespenstischem Finger an den Wänden entlang und erfasste endlich die lange Gestalt eines Herrn im tadellosen Frack, der mitten auf der Tanzfläche stand und sich verbeugte.
"Meine Damen und Herren, Sie sehen jetzt Sonja Rothe, den bekannten Star der ehemaligen Berliner Scala, soeben aus Madrid zurückgekehrt, mit ihrem 'Tanz auf dem Vulkan'!"
Das Licht des Scheinwerfers spielt in ein geheimnisvolles Blaugrün hinüber, in dem der angekündigte Star erschien. Gleichzeitig ertönte von der Kapelle her ein grollend anschwellenderTrommelwirbel. Die Ben-Hardy-Band verzapfte einen ohrenbetäubenden Lärm; das Aufheulen der Saxophone wurde durch die gequälten Schreie der gestopften Trompete übertönt, die der Kapellmeister selbst virtuos und unter Ausnutzung der letzten Möglichkeiten handhabte. Die Hauptrolle indessen spielte die große Trommel, deren dumpfes Toben jeweils von einem roten Aufzucken unter dem gläsernen Boden begleitet wurde. Dieser mit der Musik gekoppelte Lichteffekt, der den Vulkan darstellte, war tatsächlich eindrucksvoll.
Alexander wandte sich an seinen Nachbarn.
"Na ja, lassen Sie nur, die Leute wollen sich doch hier amüsieren. Und je lauter es ist und je dunkler, desto schöner."
"Da haben Sie recht. Es sind ja nicht alles solche Trauerklöße wie Sie und ich."
Der Alkohol und die laute Umgebung begannen, Alexanders schlechte Laune hinwegzuspülen. Der andere nahm das Gespräch gern auf. Nach einer Weile sagte er: "Was haben Sie denn da für ein Gesöff stehen, zeigen Sie doch mal -", er warf einen Blick auf das Etikett "Wacholderschnaps, na, das trinkt man doch erst, wenn man über fünfzig ist. Passen Sie auf, wir setzen uns mal einen Augenblick vorn an die Bar und probieren die Giftmixturen durch. Mein Gesöff ist nämlich auch nicht viel wert. Vielleicht findet sich etwas Genießbares dabei."
Als sie nach fast einer Stunde von den Barhockern herunterrutschten, dachte Alexander, dass er den Abend an keinem geeigneteren Ort hätte verbringen können. Ein Eiskümmel, ein Gin, zwei indifferente Gemische, ein Nusscremlikör, ein Apricot Brandy und eine Kombination von Eier- und Kakaolikör und zum Schluss ein Glas Sekt. - Nun sah die Welt ganz anders aus. Alle Probleme hatten sich·in genialer Weise vereinfacht. - Ich habe meine Stellung verloren? Na und? Davon ist noch keiner gestorben. Mein Mädel will nichts mehr von mir wissen? Ausgezeichnet! Da kann man sich ja mit ruhigem Gewissen etwas Neues suchen ...
"Mein Verehrter, ich glaube, wir könnten uns nun mal sozusagen bekannt machen. Ich bin Dr. Ulrich Scherz. Das ist sozusagen mein bürgerlicher - - mein bürgerlicher Name. Was den Doktor betrifft, den lassen wir heute Abend und meinetwegen überhaupt weg, und was den Scherz betrifft, so hoffe ich - -"
Was er hoffte, blieb ungewiss, denn er wurde durch einen Aufschrei der Trompete unterbrochen, der dann im Gedudel der Saxophone unterging. Das Publikum klatschte aus irgendeinem Grund wie rasend. Alexander achtete nicht darauf.
"Mein Name ist Schenzlin, Alexander Schenzlin", stellte er sich vor, "weder Doktor noch sonst etwas."
Schadet nichts", versetzte Dr. Scherz, "schadet gar nichts. Was nicht ist, kann noch werden. In Ihrem Alter habe ich gerade mit dem Studium angefangen."
"Daran ist nicht zu denken", sagte Alexander, vom Alkohol mitteilsam gemacht, "zwar habe ich ein Reifezeugnis, aber die andere Voraussetzung fehlt" - er machte jene Fingerbewegung, die in allen zivilisierten Ländern verstanden wird.
"Ich hörte, Sie sind Kriminalist, wie? - - Der Barmixer hat es mir erzählt."
"Das war mal. Na ja, das kann er noch nicht wissen."
"Doch doch. Das spricht sich schneller herum als Sie denken. Sie haben eben Pech gehabt. Die Leutchen sind in solchen Sachen empfindlich. Hundert Mark - einfach pinnig."
"Die haben im Grunde Recht. Der Fehler lag bei mir. Ich dachte - Schiebergeld. Sollte aber beschlagnahmt werden, gehörte also doch schon dem Staat."
"Dem Staat. Na ja! Komisch, dass Sie das sagen. Der Staat verschmerzt es noch leichter als ein Schieber. Na, nichts dran zu ändern. Und jetzt suchen Sie natürlich eine neue Stellung. Haben Sie schon etwas?"
"Nein. Bis jetzt - -" Alexander merkte wohl, dass die Kenntnis des anderen sonderbar und verblüffend war. Aber er konnte kein Gefühl des Misstrauens aufbringen. Dieser Dr. Scherz sah durchaus vertrauenerweckend aus. Er mochte Kunsthändler sein, Rechtsanwalt oder Diplomkaufmann. Ein Spitzbube war er nicht. Vielleicht ein Bekannter von Kriminalrat Schulz? In Alexanders Unterbewusstsein setzte sich der Gedanke fest, dass ihm seine neue Bekanntschaft irgendwie nützlich werden könnte. Beziehungen haben ist heute alles; das Arbeitsamt vermittelte kaum ...
Dr. Scherz kippte mit einem Ruck sein Glas herunter, stützte das eckige Gesicht auf die Hand und dachte angestrengt nach. Ben Hardy stand mit der Hälfte seiner Leute an der Bar; unterdessen gab das Tenorsaxophon ein Solo, von gelegentlichen Beifallspfiffen angefeuert. Alexander ließ seine Zigarette ausgehen. Eine leise Spannung überschlich ihn.
"Also Sie haben noch nichts. Passen Sie einmal auf, vielleicht kann ich Ihnen helfen. Haben Sie einen Beruf erlernt?"
"Polizeischule", sagte Alexander, "damit ist es jetzt aus."
"Können Sie Autofahren?"
"Ja."
"Hm -." Dr. Scherz zog aus der Innentasche seines Jacketts ein winziges blaues Notizbuch hervor, in dem er mit etwas unsicherer Hand zu blättern begann. Alexander klopfte unruhig mit der Schuhspitze an das Tischbein, wobei er die Entdeckung machte, dass er kaum noch Gefühl in den Zehen hatte. Ziemlich blau, dachte er. Sein Gegenüber klappte das Büchlein zu, steckte es zurück und sah auf.
"Ja. Es wird gehen. Allerdings, Sie müssten gegebenenfalls Hamburg verlassen und in die Ostzone gehen. Sind Sie dazu bereit?"
"Selbstverständlich, jederzeit."
"Ich meine, haben Sie hier keine verwandtschaftlichen Bindungen?"
"Meine Eltern habe ich beide verloren, vor fünf - nein warten Sie - vor sechs Jahren. Es gab im Juli 43 eine Reihe von furchtbaren Luftangriffen ..." Dr. Scherz winkte ab.
"Traurig, sehr traurig. Und sonstige Verwandte oder gute Freunde?"
"Nein."
"Haben Sie keine Angst vor der Ostzone?"
Alexander hatte keine Angst. Er wollte nur wissen, was für eine Stelle für ihn in Aussicht wäre. Etwa als Kraftfahrer? Er hätte nur den Führerschein 3.
"Nein nicht direkt als Fahrer. Aber es ist gut, dass Sie fahren können. Wir werden morgen näher darüber sprechen. Ich bringe Sie unter, darauf können Sie sich verlassen. Und damit wir morgen einen klaren Kopf haben, schlage ich vor, jetzt aufzubrechen. Wie spät ist es denn eigentlich?"
Alexander streifte gewohnheitsmäßig seinen Ärmel über dem Handgelenk hoch, aber die Uhr war fort. Auf diese Weise unangenehm an das Leihhaus erinnert, blickte er verwirrt auf.
Dr. Scherz erhob sich. Er winkte den Ober herbei.
"Nach meiner Uhr ist es halb eins. Ich denke, wir gehen."
Während sie dem Ausgang zuschritten, hämmerte der Klavierspieler wilde Dissonanzen, nur vom Schlagzeug begleitet. Alexander hatte den Eindruck, als versinke er in dem weichen Teppich, der die Treppe bedeckte. Dr. Scherz hakte ihn vorsorglich ein.
Die Straße war nahezu menschenleer. Ein schwüler Wind hatte sich aufgemacht. In zwanzig Meter Entfernung verbreitete eine Gaslaterne trübes Licht. Unmittelbar unter ihr stand ein kleines Auto. Während sie näher kamen, las Alexander mit großer Mühe und der Hartnäckigkeit eines fast Betrunkenen die Nummer KB 097345. Oder auch 097435, so genau ...
Irgendwo in der Ferne donnerte es. Dr. Scherz riss die Wagentür auf und half seinem neuen Bekannten, dem die Füße fast den Dienst verweigerten, seit er ins Freie gekommen war, auf dem Rücksitz Platz zu nehmen. Der Anlasser schnurrte, es gab einen kleinen Ruck, und Alexander fühlte, wie sich das Fahrzeug In Bewegung setzte. Über den nachtdunklen Himmel der halbzerstörten Stadt zuckte ein Wetterleuchten.
KB, KB: Also ein Berliner. Das war sein letzter Gedanke.
Dreieinhalb Jahre später, an einem Sonntagnachmittag Anfang Dezember, wanderte ein junger Mann durch die nordwestlichen Außenbezirke Magdeburgs. Er trug ein Koffergrammophon und in der anderen Hand eine Aktentasche, deren Inhalt dann und wann leise klirrte.
Der ungepflasterte Weg war durch tagelange Regenfälle ziemlich verschlammt. Alexander achtete nicht darauf; er war es kaum anders gewöhnt. Seit langem wohnte er hier draußen.
Dr. Scherz hatte ihm damals einen Empfehlungsbrief an einen Herrn Schmerbach in die Hand gedrückt. Robert Schmerbach war Inhaber einer bekannten Magdeburger Speditionsfirma. Alexander hatte den Empfehlungsbrief vorsichtshalber geöffnet - gewisse Geschichten fielen ihm ein - und ihn später wieder kunstgerecht verschlossen; so etwas lernte man bei der Kriminalpolizei. Der Inhalt indessen war nichtssagend und berechtigte kaum zu besonderen Hoffnungen, aber, arbeitslos und ohne Geldmittel, war Alexander bereit gewesen, sich an jeden Strohhalm zu klammern.
Und dieser Brief hatte Wunder gewirkt. Herr Schmerbach fragte nicht viel, er stellte Alexander unverzüglich ein. Mehr noch: Er erledigte alle Formalitäten selbst. Dies tat er von seinem Schreibtisch aus; einige Telefongespräche, und alles war in bester Ordnung. Es schien, als habe Herr Schmerbach auf den meisten Ämtern gute Bekannte. Alexander bekam ein möbliertes Zimmer in der Wilhelmstadt und trat seine Stellung schon am andern Tag an. Es sah ganz so aus, als sei er der Mann, auf den die Speditionsfirma 'Baum & Co - Lastwagen-Nah-und Fernverkehr - Interzonentransporte' schon seit langem gewartet habe.
Das aber konnte nicht sein. Er hatte ja keinerlei Branchenkenntnisse. Zwar gelang es ihm verhältnismäßig schnell, sich einzuarbeiten. Aber es gab Fachkräfte, die bei gleicher Bezahlung unbedingt mehr leisteten.
Als vor etwa zwei Jahren der Fahrzeugdisponent der Firma eines Tages spurlos verschwand - es sickerte durch, er habe sich im Zusammenhang mit Buntmetallschiebungen nach Westberlin abgesetzt - übernahm Alexander dessen Arbeit. Ein solcher Posten erfordert Kenntnisse, gute Nerven, schnelles Denkvermögen und Eigeninitiative. Anfangs unterliefen ihm einige Fehler, die die Firma eine Stange Geld kosteten. Allein Robert Schmerbach zeigte sich hier von rätselhafter Toleranz. Er schüttelte den Kopf, murmelte etwas von 'besser überlegt haben' und hatte die Sache offenbar bald vergessen.
Eines Tages löste sich das Rätsel. Dr. Scherz war erschienen. Seltsamerweise musste Alexander gerade jetzt, durch den Schmutz des Feldwegs stapfend, daran denken. Wie war es doch gewesen - ja, er wohnte damals schon hier draußen. Denn er hatte nicht nur den Posten, sondern auch das Wochenendheim seines Vorgängers übernommen. Das war ein kleines, nettes Holzhäuschen, Doppelwände mit Glaswollisolierung, im Innern in drei Räume unterteilt; es unterlag keiner Bewirtschaftung durch das Wohnungsamt. Telefonanschluss war vorhanden, ein Umstand, den Alexander schon oftmals verwünscht hatte. Es kam vor, dass er mitten in der Nacht angerufen wurde. Wenn er dann schlaftrunken den Hörer aufnahm, erfuhr er etwa: Der Sechseinhalb-Tonner Henschel liegt kurz vor Meerane fest; Federbruch. Oder: Der Büssing steht auf der Autobahn in der Nähe von Eberswalde, es geht nicht mehr, die Düsen ...
Dann machte er sein Motorrad klar, schob es zur Veranda hinaus und fuhr in den Betrieb, um zu sehen, was sich von dort aus machen ließ. Hoffentlich, dachte er, kommt nicht gerade heute ...
Damals, vor zwei Jahren, hatte jene entscheidende Unterredung stattgefunden. Dr. Scherz machte ihm ein Angebot - ein sonderbares Angebot. Er sah ihn noch vor sich, wie er auf dem Nätherbett in seiner Wohnstube saß: Gutgekleidet, höflich, keineswegs aufdringlich; mit tiefer, wohlklingender Stimme unterbreitete er seinen Vorschlag. Dass dieser Vorschlag den Charakter eines Ultimatums trug, wurde erst gegen Ende der Unterredung deutlich.
Es handelte sich darum: Alexander sollte mittels eines schweren Motorrads, das ihm Dr. Scherz zur Verfügung stellte, gelegentlich Personen zur Zonengrenze bringen. Dort sollte er sie genau bezeichneten Vertrauensleuten übergeben, die den Grenzübertritt bewerkstelligten. Insgesamt existierten vier solche Adressen. Er hatte den Obergangspunkt in eigenem Entschluss so zu wählen, dass er dem Ausgangsort am nächsten lag. Sofern er einen Fahrbefehl benötigte, sollte er ihn durch Baum & Co. besorgen; Schmerbach würde ihn dabei unterstützen. Möglicherweise müsse er hin und wieder einen der 'Reisenden' eine Zeitlang bei sich verbergen. Seine Wohnung sei dazu geeignet wie keine zweite.
Dr. Scherz überredete nicht; er erklärte freundlich und zuvorkommend, wie die Dinge lagen, soweit sie Alexander betrafen. Immerhin ließ er durchblicken, dass im Falle einer Weigerung Schmerbach Veranlassung finden werde, einen anderen als Disponenten einzustellen. Er versprach für jede derartige Fahrt eine Barprämie. Es war ein nennenswerter Betrag: DM 500; damit seien auch Treibstoffkosten und sonstige Spesen abgegolten.
Die Höhe dieser Summe machte Alexander damals misstrauisch. Er erkundigte sich, was das für Leute seien, die er befördern sollte. 'Im allgemeinen politische Flüchtlinge', erfuhr er. Aber das brauche ihn nicht zu interessieren. Es sei keine strafbare Handlung, jemand beispielsweise von Brandenburg nach Behndorf an der Zonengrenze auf dem Motorrad mitzunehmen. Zweifellos nicht, aber ...
Den Ausdruck 'politische Flüchtlinge' hatte Dr. Scherz aus richtiger psychologischer Erwägung heraus gewählt. Denn er bezeichnete einen Gegenstand, mit dem sich die Hamburger Zeitungen, die Alexander drei Jahre lang täglich gelesen, ausgiebig beschäftigt hatten. 'Politische Flüchtlinge' - dieses Wort rührte an einen von der bürgerlichen Berichterstattung stets gepflegten Gefühlskomplex, den ein kurzer Aufenthalt in der Ostzone nicht beseitigen konnte. Alexander hatte es damals für zwar gefahrvoll, aber verdienstlich und moralisch gerechtfertigt gehalten, politischen Flüchtlingen zu helfen, ja, auf seiner ersten Fahrt glaubte er ein Held zu sein, der mutig und verwegen den Schergen eines verhassten Regimes ein Schnippchen schlägt. Später waren ihm Bedenken gekommen. Ernüchtert stellte er auf Grund vieler ihm in seinem beruflichen Alltag zu Ohren kommender Geschichten fest, dass es eine Menge Leute gab, die aus ganz anderen Motiven über die Grenze gingen, Motive rein persönlicher Natur - das wäre noch angegangen - aber auch krimineller Art. Wer eine strafrechtliche Verfolgung zu erwarten hatte, ging nach dem Westen. In diesem Stadium der Überlegung angekommen, hatte es Alexander bisweilen versucht, sich auf die Gesichter derer zu besinnen, die er auf seinem Motorradsozius zur Grenze gebracht hatte.
Das erste Mal war es ein hübsches junges Mädchen gewesen; er erinnerte sich genau, wie sie sich während der rasenden Fahrt an seinen Schultern festgeklammert hatte ... Die Fahrt hatte sich in einer erregenden, seltsam beschwingten Atmosphäre vollzogen. Später war es nicht mehr so romantisch gewesen. Ausgesprochene Gaunergesichter glaubte er jedoch nicht bemerkt zu haben, bis auf einen üblen, nach Schnaps riechenden Kerl, der kein Wort sprach und die abstoßende Gewohnheit hatte, an den Fingernägeln zu kauen ...
Alexander hatte jetzt einen schnelleren Schritt angeschlagen; er hoffte, noch vor dem nächsten Regenguss seine Wohnung zu erreichen. Zu beiden Seiten des Weges standen Büsche, dahinter zogen sich Gärten hin, mit mattblinkendem Maschendraht eingefasst, auf dem winzige Regentröpfchen perlten. Schmutziges, vollgesogenes Laub lag überall herum.
Fünf solche Fahrten hatte er bisher ausgeführt - oder waren es nur vier? Wie lange habe ich Dr. Scherz nicht gesehen? Zwei Jahre. Und in der ganzen Zeit keine persönliche Nachricht. Nur geheimnisvolle Anrufe wie: 'Um 21 Uhr am südlichen Ortsausgang von Schwerin einfinden.' Ob er überhaupt noch lebt? Vielleicht hielt er sich gar in Berlin auf.
Alexander beschäftigte sich heute weit mehr als sonst mit dieser Angelegenheit. Und er merkte, wie dieses Grübeln auf seine Stimmung drückte. So war es immer. Im Berufsleben hielten seine Nerven einiges aus; Unsicherheitsfaktoren und gelegentliche Fehlschläge entmutigten ihn nicht. In diesem Punkt aber versagten sie gelegentlich. - Ich muss da einmal Schluss machen, überlegte er. Das wird mich vielleicht meine Stellung kosten, und eine so gute Stellung bekomme ich so schnell nicht wieder. Aber so geht das nicht weiter.
Dreißig Meter vor ihm stand schon die alte Silberpappel, von der aus er sein Haus sehen konnte, weil der Weg dort eine Biegung machte. Ein schöner Anblick, wie der Baum sich unter den Windstößen bog. Noch ein paar Schritte.
Bei dem Gedanken an sein Heim kamen Alexander allerhand angenehme Vorstellungen. Zum Abend war bei ihm eine kleine Geselligkeit im Kollegenkreis geplant. Alexander hatte sich ein Grammophon geliehen; die Aktentasche enthielt Spirituosen. Hoffentlich vergisst Karlheinz die Schallplatten nicht. Brigitte würde wieder dabei sein, dachte er froh; für ihn war das die Hauptsache. Bei ihm war man ungestört, deshalb wurde der weite Weg von den anderen in Kauf genommen.
Jetzt war die weißlackierte Eingangstür in sein Blickfeld gerückt. Aber was war das? Ein Mann stand davor, der offensichtlich die Klingel drückte, und das mit allen Zeichen der Ungeduld.
Alexander war nicht gesonnen, sich den Nachmittag durch einen Besucher, ganz gleich welcher Art, verderben zu lassen. Niemals ist ein Besuch lästiger, als wenn man sich auf den Empfang anderer Gäste vorbereiten will. Er trat daher vorerst halb hinter die Pappel und beobachtete verärgert das Treiben des Fremden.
Dieser aber schien ein Mann von sehr kurzen und zugleich verblüffenden Entschlüssen zu sein, denn plötzlich trat er etwas von der niedrigen Gartentür zurück, nahm Anlauf, übersprang sie, durchquerte den Vorgarten und langte vor der eigentlichen Haustür an. Hier wühlte er in seiner Manteltasche, zog einen nicht erkennbaren Gegenstand heraus, schloss die Tür auf und verschwand im Innern.
Alexander entschied sich nun ebenfalls rasch. Umkehren, wie er es im ersten Augenblick vorgehabt hatte, ging nun nicht mehr. Mit hastigen Schritten eilte er auf sein Haus zu. Die Gartentür schnappte hinter ihm ein, der weiße Kies knirschte unter seinen Füßen. Mechanisch sah er auf die Uhr: Die Zeiger standen auf fünf Minuten vor vier.
Ungefähr zur gleichen Zeit befand sich der Kriminalrat Dr. Eduard Horn in der großen, mit schwerem, prachtvollem Mobiliar ausgestatteten Etagenwohnung seines Freundes Georg Sirringhaus; - das Haus war eins der ganz wenigen, die in der Gegend südlich des Tiergartens verschont geblieben sind.
Dr. Horn, Angehöriger der Westberliner Polizei, war ein hochgewachsener Mann von fast fünfzig Jahren; er hatte ein längliches, bleiches Gesicht mit vorspringender, langer und schmaler Nase, auf der eine große, schwarzgefasste Brille saß. Seine Haarfarbe in einem Steckbrief eindeutig zu bezeichnen, wäre schwierig gewesen; niemand wusste, ob sie blond oder bereits grau war, am wenigsten Horn selbst. Sein Äußeres bereitete ihm wenig Kopfzerbrechen. Dies ging auch aus dem Zustand seiner Hosen hervor, an denen sich nur selten - zu besonderen Anlässen - Bügelfalten entdecken ließen; - das wieder hing damit zusammen, dass Dr. Horn seit Jahren Witwer war und sich niemand so recht um den Zustand seiner Bekleidung kümmerte.
Dr. Horn war der Leiter der Abteilung XIIa in der Friesenstraße, und er stand selbst bei missgünstigen Kollegen in dem Ruf, ein überdurchschnittlicher Kriminalist zu sein.
In seiner fünfundzwanzigjährigen Dienstzeit hatte er die verschiedensten Abteilungen durchlaufen. Bevor er Chef von XIIa wurde, war er im Erkennungsdienst tätig gewesen und hegte seither reges Interesse für alles, was mit Fingerabdrücken zusammenhing. Seine jetzige Abteilung arbeitete zumeist im Rahmen der sogenannten Sektion F, deren Leiter und damit Horns unmittelbarer Vorgesetzter Kriminaldirektor Würzburger war. 'Sektion F' war vor etwa einem Dreivierteljahr ins Leben gerufen worden, um die bedrohlich ansteigende Zahl der Bandenverbrechen in Westberlin rasch und energisch herabzudrücken, eine Absicht, die bisher völlig gescheitert war. Eine außerordentlich aktive Verbrechervereinigung - oder mehrere, man war sich selbst über diesen Punkt nicht klar -, die Bankeinbrüche verübte, Autos überfiel und nebenher noch Falschgeld fabrizierte, war der Gegenspieler der Sektion F. Hier arbeitete eine Reihe der fähigsten Kriminalisten; - bisher jedoch ohne sichtbaren Erfolg.
Obwohl ein Berufsfanatiker, kehrte der Kriminalrat, wenn er mit seinem besten Freund zusammen war, vollkommen den privaten Menschen hervor. Sirringhaus, einige Jahre älter, war vor dem Krieg ein bekannter Journalist gewesen, der jetzt in der Hauptsache von seinem Vermögen zu leben schien, das er auf irgendeine Art durch die Währungsreform hindurchgerettet hatte. Gelegentlich erschienen in Westberliner Blättern Artikel die mit "Geos" gezeichnet waren; sie entstammten seiner Feder. Enge persönliche Beziehungen zu dem Chefredakteur einer führenden Tageszeitung ermöglichten es ihm, aus plötzlichen Wechselkursschwankungen Nutzen zu ziehen, die durch jene Presseorgane zusammen mit dem Rias alljährlich bewirkt wurden. Sirringhaus ging es gut. Es ging ihm besser, als er zeigte. Er liebte es nicht, den Neid seiner Mitmenschen und das Interesse des Finanzamtes zu erregen. Er war ein kluger, liebenswürdiger Mensch, auch ein Gesprächspartner, wie man sich keinen besseren wünschen konnte, und bei einer guten Zigarre am Sonntagnachmittag plauderte es sich gut, zumal wenn, wie auch jetzt, es draußen ungemütlich war und der Regen an die Scheiben klopfte.
Sirringhaus war erst Ende November von einer Mittelmeerreise zurückgekehrt, und so gab es viel zu erzählen. Er hatte Paris besucht und sich anschließend zwei Monate in AIgerien, Marokko und Tunesien aufgehalten, um Eindrücke zu sammeln, die er zu einem Buch verarbeiten wollte. Es sollte ein Roman werden, der die Aufstände der Bevölkerung, die unter der französischen Kolonialherrschaft litt, zum Gegenstand haben sollte; er verbesserte sich: nicht eigentlich zum Gegenstand, das sei nur der Rahmen, die Kulisse, nichts weiter, ja.
"Es ist alles schon einmal dagewesen", sagte Dr. Horn, "ich glaube, John Knittel hat mal so etwas ähnliches geschrieben."
"Das Thema ist unerschöpflich; es kommt darauf an, wie man es behandelt."
"Und du willst es neutral behandeln, ohne persönliche Stellungnahme, obwohl du eben selbst gesagt hast, die einheimische Bevölkerung sei dir viel sympathischer?"
"Gewiss, ohne Tendenz. Dabei bin ich nicht etwa der Meinung, dass ein Buch durch eine in ihm enthaltene Tendenz an künstlerischem Wert verliert, wenn es ihn an sich besitzt. Aber wozu? Das Ganze geht mich nichts an, und der Publikumsgeschmack ..."
"- - Lassen wir das einmal beiseite, aber - -"
"Na ja, du hast gut reden, aber der Publikumsgeschmack und die Höhe der Auflage stehen in ursächlichem Zusammenhang; das Ganze bildet eine Kausalreihe, die in gerader Linie in meine Brieftasche führt, das solltest du nicht dauernd vergessen, Eduard."
"Keineswegs, denn die erwähnte Kausalkette führt, in ihrer Verlängerung, unmittelbar in jenes nette Schränkchen", der Kriminalrat deutete auf die Hausbar, "aber ich muss doch auf deine Worte zurückkommen: Tendenz. Ich muss mich wundern - selbstverständlich setzt jede Tendenz den literarischen Wert eines Buches herab!"
Sirringhaus, der auch einen weniger deutlichen Wink wohl verstanden hätte, hantierte mit Flaschen und Gläsern.
"Meinst du", brummte er, "seltsamerweise aber gibt es einige ziemlich tendenziöse Werke, die trotzdem zur Weltliteratur zählen. Als da sind: 'Die Räuber', 'Kabale und Liebe', 'Emilia Galotti', alle gegen den Absolutismus geschrieben; oder 'Nathan der Weise', gegen christliches Dogma zugunsten einer Vernunftsreligion; oder 'Wilhelm Tell' und 'Egmont', gegen nationale Unterdrückung, und so weiter."
"Bei Shakespeare fällt es dir sicher schwerer", meinte Horn, "aber siehst du, so ist das, ich kenne unsere Klassiker eigentlich nur aus der Schulzeit. Wenn ich heute noch ins Theater gehe, dann in ein Stück von Moliere oder Bernard Shaw."
"Beide haben kaum je ein Stück ohne Tendenz geschrieben", behauptete Sirringhaus, "Moliere kritisierte die adelige Gesellschaft seiner Zeit ebenso gern wie Shaw die bürgerliche. Shaw übrigens hat nie verheimlicht, was er für Absichten hat: Alle Menschen sollen das gleiche Einkommen beziehen. Stell dir das bitte einmal vor, Eduard, du bekämst dann genau sowenig wie ein Straßenfeger."
"Oder dieser soviel wie ich", drehte Dr. Horn die Sache um, "mich jedenfalls würde das nicht stören."
Sirringhaus erkannte voll Schrecken, dass das Gespräch jenen Punkt erreicht hatte, bei dem der Kriminalrat nicht unter einer halben Stunde zu verweilen pflegte: Shaw. Ohne Übergang wechselte er das Thema, denn noch schien es Zeit, den Freund daran zu hindern, sein Steckenpferd zu reiten.
"Wie die Zeitungen schreiben, steigt die Zahl der Verbrechen hier in Berlin zur Zeit wieder an; ist das richtig?"
"Es sieht so aus! Der kleine Schieber der ersten Nachkriegsjahre ist verschwunden, - dafür bekommen wir anderweitig zu tun: Taschen- und Automatendiebstähle, Einbrüche, Überfälle, diese Ziffern steigen wieder, das stimmt." Es entstand eine kleine nachdenkliche Pause, während der die Herren an ihren Gläsern nippten.
"An sich", begann Dr. Horn schließlich, "ist die Kriminalität ja ein konstanter Faktor. Ich will damit sagen, es gibt überall einen bestimmten Prozentsatz Menschen, die unter gewissen Umständen bereit sind, das Strafgesetz zu übertreten. In der Vorkriegszeit wurde Jahr für Jahr etwa ein Prozent der Bevölkerung wegen aller möglichen Strafdelikte verurteilt, davon waren immer rund ein Drittel schon vorbestraft. Da wir leider nicht alle Übeltäter fassen, liegt der eigentliche Prozentsatz noch höher. Unter gewissen Umständen, sagte ich - auf die Umstände kommt es dabei an; ich meine damit die allgemeine wirtschaftliche Lage. Zum Beispiel Inflationen, Zeiten des Warenmangels und der Warenhortung erzeugen den Typ des Schiebers. Depressionen, verbunden mit Massenarbeitslosigkeit, verlagern das kriminelle Interesse auf die Geldseite, wie wir das jetzt erleben. Dazu kommen besondere Gegebenheiten, wie sie sich gerade in Berlin heute finden. Solche besonderen Gegebenheiten spielen immer eine große Rolle, sie prägen den jeweiligen kriminellen Typ. So hat zum Beispiel die Prohibition in den USA den klassischen Gangstertyp der zwanziger Jahre hervorgebracht. Der Alkoholschmuggel gestaltete sich nur dann rentabel, wenn eine relativ große Organisation ihn besorgte und den Weg der Branntweinfässer von der Landungsstelle bis in die Keller der speakeasies - der verbotenen Lokale - deckte; - gegen konkurrierende Kollegen nicht weniger als gegen die Polizei. So entstanden Verbrechertrusts, wie man sie bis dahin noch nicht gekannt hatte. Ihr besonderes Merkmal war, dass sie für alles Spezialisten hatten, vom 'killer', dem routinierten Mörder, bis zum sogenannten 'Verbindungsmann zur Polizei'- moderne Arbeitsteilung. Im Gegensatz zu deutschen oder englischen Verbrechern sind die Amerikaner auch durchweg bewaffnet. Ein für uns angenehmer Gegensatz. - Natürlich gibt es Ausnahmen."
"Ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftssituation und den Erscheinungsformen der Kriminalität ist mir schon öfter aufgefallen", meinte Sirringhaus, "- ich denke da an Tanger, den internationalen Freihafen gegenüber von Gibraltar. Das ist ein richtiges Schmugglernest. Ein gar nicht kleiner Teil der Einwohner lebt davon."
"In Berlin liegt die Sache so: Da der offizielle Ost-West-Handel fast lahm gelegt ist, blüht der illegale. Aber nicht so wie vor 1948. Das Ganze hat einen mehr kommerziellen Anstrich bekommen. Buntmetalle, Quecksilber, Textilien und Industrieerzeugnisse werden aus der Zone herausgeholt, Kaffee, Rasierklingen, Arzneimittel und Zigaretten dafür hineingeschoben. Das kann der kleine Schieber nicht machen - es lohnt sich kaum, die Kontrollen sind zu scharf - dazu braucht man Kapital, Transportmittel, eine Organisation. - -"
"- - Und möglicherweise auch gute Beziehungen zu den kontrollierenden Behörden."
Dr. Horn zuckte die Achseln. "Korruptionsfälle gibt es immer, es wäre sonderbar, wenn wir hier davon verschont blieben."
"Ja wirklich, es wäre verdammt sonderbar", sagte Sirringhaus leise.
"Wie kommst du darauf?" Dr. Horn wurde aufmerksam. Aber er erhielt keine Antwort. - Auf dem Samowar kochte das Wasser.
"Ich will dir mal etwas sagen", begann er wieder, "ich komme ja mit dieser Materie weniger in Berührung; das ist hauptsächlich Sache des Zollfahndungsdienstes, der übrigens hier ganz in der Nähe sein Quartier hat. Aber, es kann auch noch andere Gründe haben - -"
Er unterbrach sich, denn im Nebenzimmer wurde ein leiser Summton vernehmbar.
"Entschuldige mich bitte einen Augenblick, das Telefon". Sirringhaus erhob sich, kehrte jedoch gleich darauf zurück.
"Es ist für dich, Eduard. Hoffentlich musst du nicht weg!"
"Kann ich mir nicht denken", murmelte Dr. Horn, indem er das Nebenzimmer betrat. Don nahm er den Hörer auf.
"Sind Sie es, Kollege Wolff? Ist was los?"
"Nein, Herr Kriminalrat. Ich wollte mich nur vergewissern, wo Sie sind. Es kann leicht sein, dass ... Mir ist so, als ob es heute noch was gibt. Das Wetter ist so."
"Sicher gibt es heute Nacht ein paar Einbrüche in Berlin, darauf können Sie Gift nehmen. Gott sei Dank aber besteht die Polizei nicht nur aus uns beiden. Also, dann ...! Übrigens, bis zehn erreichen Sie mich hier, aber besser, Sie finden keine Veranlassung ..."
"Das gibt bestimmt noch was."
"Wiedersehen, Sie alte Unke!"
Kommissar Wolff lachte. Dr. Horn legte auf und kehrte zurück.
"Es ist nichts. Er wollte bloß wissen, wo ich bin."
Georg Sirringhaus stellte gerade Tassen auf den Tisch.
"Aber das habe ich ihm doch schon gesagt!"
"Du hättest ihm ja sonst was erzählen können. Nein, der Mann ist richtig. Der ließe sich nicht an der Nase herumführen."
"Jaja, so sind die Beamten ... ", nickte Sirringhaus und lächelte streitlustig. Aber Dr. Horn ging darauf nicht ein. Was Ist nur mit Wolff los, dachte er, der ist doch sonst nicht so sonderbar ...
Alexander stieß den Schlüssel in die Haustür. Die Veranda war leer, die Tür zum Wohnzimmer leicht angelegt. Er lauschte eine Weile, doch nichts regte sich. Das war sonderbar. An das Wohnzimmer schloss noch die Küche an; einen Hinterausgang gab es nicht. Wenn der Fremde nicht durch ein Fenster ausgestiegen war, musste er sich entweder im Wohnzimmer oder in der Küche aufhalten; aber zu hören war nichts.
Alexander sah sich nach einer Waffe um. Da stand das Motorrad, ein Stuhl, in der Ecke ein Stapel Blumentöpfe - kam nicht in Frage. Aber hier, der Hammer, das ging. Alexander wog ihn prüfend in der Hand, wobei er die Tür keine Sekunde aus den Augen ließ. Er versuchte sich auf die Gestalt des Eindringlings zu besinnen. Ein großer, schwerer Mann, und doch anderseits - der Sprung über den Zaun - -; möglicherweise ein gefährlicher, überlegener Gegner - -; lauerte er vielleicht unmittelbar hinter der Tür?
Ihm kam der Gedanke, wie er sich wohl verhalten würde, wenn ihn Brigitte in dieser Situation sehen könnte; und er war nahe daran, unter dem Eindruck dieser Vorstellung die Tür aufzustoßen und den Fremden zu stellen - - da knarrte drüben eine Diele. Es war ein hoher, quietschender Laut, der das Ungewöhnliche des Augenblicks mit greller Deutlichkeit zeigte. Alexander zögerte; die Sache war unheimlich.
Nebenan schlug die altmodische Wanduhr vier. Etwas knackte. Das Geräusch tappender Schritte entstand, eine Tür wurde geklinkt, - die Schritte näherten sich.
Alexanders Puls ging mit mehr als hundert Schlägen; ihm war nicht sehr wohl zumute. Er zwang sich, langsam und tief zu atmen. Große Regentropfen klopften monoton gegen die Scheiben.
Die Tür zur Veranda öffnete sich, und herein trat ein Mann, der niemand anders sein konnte als jener sonderbare Eindringling. Sein Mantel war geöffnet, den Hut trug er höflich in der Hand, so dass sein gewaltiger Kahlschädel sichtbar war. Eine modische, dickrandige Plexiglasbrille von der Art, wie sie in den letzten Jahren in Mode gekommen waren, irritierten Alexander nur für einige Sekunden. Dann lockerte sich seine Haltung und er ließ, um sich nicht lächerlich zu machen, den Hammer hinter sich auf den Tisch gleiten.
Mit Alexanders Gedächtnis war es ein eigentümliches Ding. Es hielt optische Eindrücke häufig in Verbindung mit denen anderer Sinne fest. Beim Anblick des Mannes, der jetzt langsam näher kam, hatte er plötzlich den würzigen Wacholder-Geschmack des Steinhägers auf der Zunge und die Jazzrhythmen der Hardy-Band in den Ohren. In diesem Augenblick wusste er, wer der Besucher war.
"Hallo, Herr Schenzlin. Lange nicht gesehen!"
Sie schüttelten sich die Hände und setzten sich.
"Beinahe hätte ich Sie nicht erkannt, Herr Doktor--"
"Und mir ein Loch in meine ehrwürdige Glatze geschlagen, so sah es aus."
"Sie tragen jetzt eine Brille ..."
"Ja, mein Junge, man wird langsam älter." Dr. Scherz sah sich ein wenig im Zimmer um.
"Ganz nett haben Sie es hier, sehe ich - die anderen Räume habe ich vorhin schon besichtigt - ja. Drei Jahre! Eine lange Zeit."
"Wollen wir nicht ablegen und ins Wohnzimmer gehen, und ..., ja, darauf müssen wir anstoßen. Ich meine, auf Ihren fabelhaften Sprung vorhin über meinen Gartenzaun."
Dr. Scherz schmunzelte. "Ich bin fünfzig, und da haben Sie schon recht, wenn Sie mich beglückwünschen. Aber leider -: Keine Zeit. Die Sache, in der ich komme, ist verdammt dringend."
Alexander überlegte kurz und glaubte zu begreifen.
"Soll ich Sie zur Grenze bringen?"
Dr. Scherz lachte. "Nein. Soweit ist es bei mir noch nicht. Es handelt sich um etwas anderes. Ist Ihre Maschine fahrbereit?"
"Ja, aber ... "
"Dann fahren wir sofort los." Er stand auf. "Richtung Halle. Worum es sich handelt, das erzähle ich Ihnen unterwegs. Da haben wir genug Zeit."
"Entschuldigen Sie, Doktor, ich fürchte, das wird nicht gehen. Ich erwarte heute Abend Besuch - -"
"Dann telefonieren Sie ab!", sagte Dr. Scherz kurz, fügte aber höflicher hinzu: "Ich kann mir recht gut denken, wie ungelegen ich Ihnen komme. O ja! Glauben Sie nicht, ich wäre schon zu alt dazu. Habe da vorhin auf Ihrem Schreibtisch ein Bild gesehen; nettes Mädel! Aber unter Männern halte ich zu dem Grundsatz: Erst kommt das Geschäft. Und es ist ein Geschäft, das ich Ihnen vorzuschlagen habe."
"Und außerdem ist so etwas nicht vereinbart worden, damals--", beharrte Alexander wie ein trotziger Junge.
"Lieber Herr Schenzlin, bitte überlegen Sie sich das recht gut. Ich wende mich auf den ausdrücklichen Wunsch unseres Chefs hin gerade an Sie. Die Sache, um die es sich handelt, wird Sie allerdings schätzungsweise für drei Tage in Anspruch nehmen. Dafür ist sie fast ohne jedes Risiko. Verlassen Sie sich nur auf mich, ich kann das recht gut beurteilen. Es ist ein nettes, harmloses Handelsgeschäft, und wenn in drei Tagen alles erledigt ist, bekommen Sie unverzüglich eine Geldprämie von - -", er nannte eine ziemlich hohe Summe. Der Betrag war so erheblich, dass er es Alexander ermöglicht hätte, einen kleineren Lieferwagen zu erwerben und einen Fuhrbetrieb auf eigene Rechnung zu eröffnen, - so schoss es ihm durch den Kopf.
Dies gab den Ausschlag. Brigitte? Das war allerdings sehr schade. Zum Teufel! Schade ist nicht der richtige Ausdruck. Es war eine kleine Katastrophe...
Alexander hob den Hörer seines Fernsprechers ab, um zunächst seine Kollegen, dann aber auch Herrn Schmerbach zu verständigen.
"So -", sagte Dr. Scherz, als Alexander den Motor anspringen ließ, "jetzt geht's los. Nach Berlin. Mit dem kleinen Umweg über Halle. Bis Halle nehmen wir Ihre Maschine, eine Unterhaltung wird also nicht möglich sein. Aber von Halle ab haben wir einen Pkw, einen kleinen Adler 'Triumph Junior', Modell 1935, hat ein bisschen komische Schaltung, das Ding, Sie werden kaum zurechtkommen. Na, mal sehen, vielleicht fahre ich. Dann kann ich Ihnen alles in Ruhe auseinandersetzen ..."
Wenig später summte die schwere BMW-Maschine über die glitschige Decke der Leipziger Straße. Beim Überschreiten der Stadtgrenze erschien ein gelbes Schild: 'Halle 81 km'.
Hier begann die Staatsstraße Nr. 72, eine Chaussee, die durch die reizlose Gegend ringsum schon manchem Kraftfahrer die Laune verdorben hat. Auf Alexanders Stimmung blieb sie ohne Einfluss; es war daran nichts mehr zu verderben. Er starrte mit versteinertem Gesichtsausdruck auf das graue, feucht schimmernde, von gelegentlichen Schauern gepeitschte Asphaltband, das zitternd auf ihn zutanzte, ohne Ende.
Dr. Scherz auf dem Sozius schien keinerlei Unbehagen zu empfinden. Er hatte sich warm angezogen und sogar an die Zelluloidbrille gedacht. Für Unternehmungen, bei denen es auf die Minute ankam und bei denen die Akteure mit maschinenmäßiger Exaktheit zusammenarbeiten mussten, hegte er eine besondere Vorliebe.
Der Motor arbeitete gleichmäßig; regentriefende Bäume huschten vorüber; hin und wieder spritzte Wasser auf, wenn das Rad durch eine Pfütze fuhr...
An einem regnerischen Dezembertag dunkelt es schnell. Im Hintergrund des tiefen Garagenhofes stand ein kleines Auto undefinierbaren Typs. Es hatte Parklicht eingeschaltet, und zwei kurze, gelbliche Lichtkegel bohrten sich stumpf und kraftlos in die Finsternis. Im Innern des Wagens war es kalt und ein wenig feucht, kurz, höchst ungemütlich. Die Dunkelheit wurde nur durch ein grünliches Schimmern von den Skalen am Führersitz und dann und wann durch das Aufglimmen einer Zigarette unterbrochen.
Hinter dem Steuerrad saß Rudi Jakobs; er mochte fünfundvierzig Jahre zählen und war von schwerer, breitschultriger Gestalt. Im Gesicht hatte er eine flüchtige Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Manager Max Schmelings, der auch Jakobs hieß, und der später im KZ Auschwitz eine üble Rolle gespielt haben soll. - Jakobs war der Chef.
Vier Jahre vorher war Jakobs tätiger Teilhaber einer Reederei gewesen, die mittels eines Motorkahns, der 'Annemarie', einen Warenverkehr zwischen Hamburg und der Hauptstadt unterhielt. Und wenn auch die 'Annemarie' das einzige Transportmittel jener seltsamen Firma bildete, so warf sie doch allmonatlich Gewinne ab, die stets durch sechsstellige Zahlen ausgedrückt wurden; freilich war das alte Währung gewesen. Diese Firma existierte zwei Jahre lang, bezahlte keinerlei Steuern, war in den Listen des Handelsregisters nicht zu finden und selbst den Kennern der Berliner Wirtschaft unbekannt, - bis sie eines Tages entdeckt wurde und mit lautem Knall hochging. Rudi Jakobs hielt es damals jedoch nicht für nötig, den Schauplatz seiner Tätigkeit zu wechseln.
Er blieb in Berlin und tröstete sich rasch; im Grunde genommen war er im rechten Augenblick aus dem Geschäft ausgeschieden. Denn es kam die Zeit der 'Luftbrücke', und der Interzonenhandel per Schiff, gleichgültig ob mit echten oder gefälschten Begleitpapieren, lag als Folge der von den Westmächten betriebenen Währungsspaltung im wesentlichen lahm. Zu dieser Zeit kaufte er das zweieinhalb Hektar große, am Südwestrand der Stadt gelegene Grundstück eines ruinierten Fabrikanten auf und errichtete, da die Lage ein solches Vorhaben begünstigte, einen modernen Tankstellen- und Garagenbetrieb großen Formats, dem ein Fuhrunternehmen angegliedert war. Nun war Jakobs zweifellos ein Mann von eiserner Sparsamkeit; er hatte zur Zeit der 'Annemarie' gut verdient und war auch dank planender Voraussicht einigermaßen durch die Währungsreform gekommen; aber dies hier schaffte er nicht allein. Und obgleich es ihm gelang, das Grundstück, auf dem eine etwas altmodische, weiträumige Villa stand, verhältnismäßig billig zu erstehen, war danach sein Kapital fast erschöpft. Jetzt kam aber erst die Hauptsache: Garagen mussten gebaut, Tankanlagen eingerichtet und Fahrzeuge angeschafft werden. Eine Weile sah es böse aus; doch es schien, als hätten die Staatsmänner der Großmächte ein Einsehen; sie halfen Jakobs aus seiner verzweifelten Lage. Nach der Pariser Außenministerkonferenz rollte alle halbe Minute ein Fahrzeug über jene Zufahrtsstraße, an die das Gelände grenzte. Dass hier ein Geschäft zu machen war, begriff jeder. Die Sache war gut. Jakobs suchte und fand einen Geldgeber.
Jakobs war kein Freund vieler Worte, und, im Gegensatz zu seinem Kollegen Dr. Scherz, konnte er selbst dann keine fließende Beredsamkeit entfalten, wenn es angebracht war. Ein Heben der starken Augenbrauen, das Verziehen der Mundwinkel nach unten und schließlich ein ihm eigentümliches Knurren - darin bestand gewöhnlich sein Beitrag zu einer Unterhaltung. Er schien unintelligent, und war es auch, außer in Gelddingen; aber in seinen Fäusten war eine unheimliche Kraft zusammengeballt.
Rechts neben ihm hockte ein großer, hagerer Mann, dessen scharfgeschnittenes, glattrasiertes, stets bläulich schimmerndes Gesicht einen verschlagenen Ausdruck trug.
Das war der Amerikaner Lew Crosby, der während des Krieges, vor mehr als acht Jahren, zum ersten Mal europäischen Boden betreten hatte. Dies geschah im September 1943, als er als Angehöriger der 5. amerikanischen Armee unter General Clark in Süditalien an Land gegangen war. Näheres wusste niemand, außer dass er im Sommer 46 nach Berlin kam, wo er eine Zeitlang den halbzivilen Posten des Leiters eines Textillagers der Besatzungstruppen innehatte. Unter seinen jetzigen Kollegen ging das Gerücht, er habe es nach einer überraschenden Bestandsaufnahme, die ungewöhnliche Fehlmengen ergab, vorgezogen, eiligst vor der MP zu verschwinden. Hierbei tauchte er zunächst in einer deutschen Schwarzhändlerclique unter, mit der er vorher in Geschäftsverbindung gestanden hatte, verschaffte sich deutsche Personalpapiere und war schließlich an die Jakobssche Gruppe geraten.
Bis zu diesem Punkt stammte allerdings seine Geschichte in der Hauptsache von ihm selbst, und niemand konnte daher wissen, ob es sich tatsächlich so verhielt. Denn Crosby war ein Mensch, der, wenn es seinen Absichten entsprach, in Abständen von Wochen bruchstückweise, in einzelnen beiläufigen Bemerkungen, seinen Lebenslauf berichten konnte - vollkommen erlogen; aber die einzelnen Bruchstücke passten zueinander, er widersprach sich nicht.
Tatsache war, dass er in Jakobs' Gruppe große Zurückhaltung an den Tag legte. Er beteiligte sich nur gelegentlich, und zwar immer dann an ihren Aktionen, wenn diese sich außerhalb Westberlins abspielten. Vermutlich fürchtete er eine Berührung mit der alliierten Militärpolizei, die seine Fingerabdrücke hatte, wie er einmal erwähnte. So oft er teilnahm, hatte er sich als unerschrocken und geschickt gezeigt, als umsichtiger Einbrecher und später als schlauer und schwer zu betrügender Händler. Jakobs hätte ihn gern öfter eingesetzt, allein Crosby ließ sich nicht zwingen. Er war der einzige, der es wagte, einen Befehl des Chefs nicht auszuführen, wenn es ihm nicht passte.
In den hinteren Polstern kauerte noch ein dritter, ein verschrumpeltes, wenig ansehnliches Männchen namens Ete Jordan. Sein faltiges, vom Schnapstrinken violettes Gesicht trug den verkniffenen Ausdruck eines Theaterschurken. Trotzdem war Jordan der gutmütigste und harmloseste der Gesellschaft.
Jordan hatte den Krieg als Waffenwart bei einer Abteilung schwerer Feldhaubitzen mitgemacht. Zurückgekehrt, übernahm er im Berliner Osten die Schlosserei seines gefallenen Bruders. Das Geschäft ging anfangs gut, später aber, ohne dass Jordan sich über den Grund klar wurde, langsam bergab. Er tröstete sich, da er für Frauen ebenso wenig übrig hatte wie diese für ihn, mit Alkohol. Das Trinken machte ihn faul. Die Aufträge blieben aus. Um seine immer mehr versiegenden Einkünfte aufzubessern, ließ er sich in allerlei nicht unbedenkliche Geschäfte ein, was ihn zweimal mit den Behörden in Berührung brachte. Mahnbriefe, Nachnahmen, Zahlungsbefehle und wiederholte Besuche des Vollstreckungsbeamten hatten das optimistische Naturell des Schlossermeisters mit der Zeit zermürbt. Und als der Laden in Konkurs ging und Jordan dem Alkohol gänzlich zum Opfer fallen wollte, kam Dr. Scherz, der ihn und seine Fachkenntnisse für die 'Großgarage Südwest' erhielt. Es gab in ganz Berlin keinen Geldschrank, der den Bemühungen Ete Jordans und seiner Maschine - einem vorzüglichen Azetylenschneidbrenner - länger als zwei, drei Stunden standgehalten hätte ...
Die Finsternis draußen schien undurchdringlich. Der Regen platschte stoßweise gegen die Scheiben, trommelte auf das Verdeck und warf sich in blechernem Wirbel über die Motorhaube. Zwei dunkelgelbe Lichtkegel glotzten stumpf und ohnmächtig in das tobende Wetter.
Jakobs pflegte sich an allen Unternehmungen von einiger Wichtigkeit selbst zu beteiligen. Stets schickte er zunächst einen Teil seiner Leute aus, die die Aktion vorzubereiten und gegen alle Überraschungen zu sichern hatten; - Jakobs liebte Überraschungen nicht, soweit sie nicht von ihm selber kamen. Dann setzte er sich gewöhnlich in ein altes, unauffälliges Automobil und erschien mit zwei oder drei ausgesuchten Fachleuten zum genau festgelegten Zeitpunkt am 'Objekt'. So nannte er es; die Kripo sagte später 'Tatort' dazu. Handelte es sich um einen Einbruch, dann war Ete Jordan stets einer der Auserwählten.