Hexenmaske und Todesspiegel: 3 Spuk Thriller - Art Norman - E-Book

Hexenmaske und Todesspiegel: 3 Spuk Thriller E-Book

Art Norman

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Dieser Band enthält folgende Romane: Der Hexenspiegel (Art Norman) Zentaurenfluch (Art Norman) Die Todesmaske (Art Norman) Der Mann im ausgefransten und fadenscheinigen Hemd beugte sich vor. Seine Hand umklammerte die Ginflasche, als wolle er sie zerdrücken. Als er sich abermals einschenkte, zitterte die Hand, und er verschüttete die Hälfte über dem einfachen Holztisch. »Die Maske«, kicherte er. »Die Maske… Ja… Sie ist an Bord! Doch ihr werdet sie niemals bekommen! Jeder, der es versucht, ist des Todes! Nur ich durfte sie sehen… Weil ich sie nicht haben wollte… An ihr klebt Blut!« Er trank direkt aus der Flasche, ließ das Glas unberührt stehen. Ein Hustenanfall schüttelte ihn. »Ein Fluch liegt auf der Maske… Sie sind alle gestorben, alle! Nur ich nicht! Ich habe die Maske gesehen, aber niemand bekommt sie!« »Warum nicht?« »Weil sie sich auf dem Schiff befindet.« »Auf welchem Schiff, Mann? Laß dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen! Was ist das für ein Schiff?« Der Mann zitterte stärker. Mit einem Mal wirkte er nicht mehr betrunken, sondern völlig klar. »Es ist das Gespensterschiff… Wer es sieht, der muß sterben…«

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Inhaltsverzeichnis

Hexenmaske und Todesspiegel: 3 Spuk Thriller

Copyright

​Der Hexenspiegel

Zentaurenfluch

Die Todesmaske

Hexenmaske und Todesspiegel: 3 Spuk Thriller

Art Norman

Dieser Band enthält folgende Romane:

Der Hexenspiegel (Art Norman)

Zentaurenfluch (Art Norman)

Die Todesmaske (Art Norman)

Der Mann im ausgefransten und fadenscheinigen Hemd beugte sich vor. Seine Hand umklammerte die Ginflasche, als wolle er sie zerdrücken. Als er sich abermals einschenkte, zitterte die Hand, und er verschüttete die Hälfte über dem einfachen Holztisch. »Die Maske«, kicherte er. »Die Maske… Ja… Sie ist an Bord! Doch ihr werdet sie niemals bekommen! Jeder, der es versucht, ist des Todes! Nur ich durfte sie sehen… Weil ich sie nicht haben wollte… An ihr klebt Blut!«

Er trank direkt aus der Flasche, ließ das Glas unberührt stehen. Ein Hustenanfall schüttelte ihn.
»Ein Fluch liegt auf der Maske… Sie sind alle gestorben, alle! Nur ich nicht! Ich habe die Maske gesehen, aber niemand bekommt sie!«
»Warum nicht?«
»Weil sie sich auf dem Schiff befindet.«
»Auf welchem Schiff, Mann? Laß dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen! Was ist das für ein Schiff?«
Der Mann zitterte stärker. Mit einem Mal wirkte er nicht mehr betrunken, sondern völlig klar.
»Es ist das Gespensterschiff… Wer es sieht, der muß sterben…«

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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​Der Hexenspiegel

Art Norman

Seine Augen wurden schmal. Aschfahl sein Gesicht, und er riß die Arme hoch, streckte die Hände abwehrend aus und wollte zurückweichen, aber er stand schon mit dem Rücken zur Wand.
»Nein«, keuchte er. »Sag, daß das nicht wahr ist. Sag, daß ich mich täusche, daß ich nur träume…«
Aber Nadija Perkowa grinste nur. Innerhalb weniger Augenblicke war ihre blühende Gestalt zu einem wahren Zerrbild geworden. Sie wirkte wie eine Zweihundertjährige, eingefallen, faltig und grau, und ihr rotes Haar war nicht mehr seidenweich und glänzend, sondern stumpf und strähnig. Drei, vier schwarze Zahnstummel höhnten dort, wo gerade noch ein makelloses Gebiß gelächelt hatte.
»Du träumst nicht, Stana Ilonkin«, kicherte sie. »Ich bin eine Hexe, ja… und du bist am Ende deines Weges… und deine Seele bekommt er …«
***
»Nein!« schrie der junge Petersburger. »Nein, niemals… dich soll der Teufel holen, verdammte Hexe!« Er griff nach dem Dolch in der silberbeschlagenen Scheide, riß ihn hoch. Nadija Perkowa, die ihm vorgegaukelt hatte, ein hübsches junges Mädchen zu sein, lachte schrill.
»Damit kannst du mich nicht verletzen… und nun bekomme ich dich… deine Seele wird zur Hölle fahren, damit ich deinen Körper übernehmen kann…«
»Du, eine Frau?« keuchte er.
»Was spielt es für eine Rolle? Vielleicht werde ich dreißig, vierzig Jahre ein Mann sein, dann wieder eine Frau… oder ein Tier…«
Er umklammerte den Elfenbeingriff des Dolches, starrte die Hexe an.
Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, was er gesehen hatte. Diese unglaubliche Verwandlung… Sie bewegte die knochigen, dürren Spinnenfinger.
Ihre rissigen, dünnen Lippen begannen Zauberworte zu murmeln.
Stana sah, wie sich die Flammen der Kerzen ihm entgegenneigten und wie Schatten über die Wände krochen, auf ihn zu. Licht und Dunkelheit konzentrierten sich auf ihn, ohne sich gegenseitig auszulöschen. Er fühlte, wie sich eine eigenartige Lähmung über ihn legte. Eine Lähmung, die den Geist betraf. Sein Denken verlangsamte sich…
Etwas Kaltes kam aus dem Nichts, und als es ihn berührte, begann seine Seele zu brennen…
»Nein«, keuchte er entsetzt. »Nein… nicht meine Seele…«
Er zwang sich, den Dolch zu benutzen. Er nahm alle Kraft zusammen, derer er fähig war. Die Klinge blitzte, zog einen raschen Schnitt über seinen Unterarm, als er sich mit ersterbender geistiger Kraft an das erinnerte, was einen Zauberer oder eine Hexe zu töten vermochte. Und dann wirbelte er den Dolch, an dem sein eigenes Blut haftete, durch die Luft, genau in die Brust der uralten Hexe, die keine Gelegenheit mehr bekam, Erschrecken zu zeigen.
Wie vom Blitz gefällt, brach sie zusammen.
Der Zauber erlosch. Der Bann wich von Stana Ilonkin. Der junge Petersburger wirbelte herum, stürmte aus dem Raum des Grauens und verließ das Haus. Draußen stand sein Pferd, der Sattel lag im Schuppen.
Stana nahm sich nicht die Zeit, den Sattel aufzulegen. Er sprang auf den blanken Pferderücken und jagte davon, über den Zaun hinweg, nur fort von hier.
Er sah nicht den Schatten, der aus den Nachtwolken herabfuhr und durch den Kaminschlot in das kleine Haus fuhr. Er sah nicht die Schwärze, die sich über alles legte mit einer bedrückenden Aura, die jedes Tier verstummen und sich verkriechen ließ. Denn das Böse selbst war gekommen…
Erst als der Tag anbrach, kehrte Stana Ilonkin zurück. Er war müde, aber das Licht der Morgensonne gab ihm Kraft. Er ging in den Schuppen, holte den Sattel heraus und legte ihn dem Pferd auf, dann bekreuzigte er sich, nahm allen Mut zusammen und drang wieder in das Haus ein.
Es wirkte kalt, abweisend, tot. Stana fand das Zimmer, in dem aus dem hübschen jungen Mädchen die uralte, verdorrte Hexe geworden war, die ihn bedrohte und seine Seele dem Teufel schenken wollte.
Aber da lag nur noch der Dolch mit dem Elfenbeingriff, und ein wenig verkrustetes Blut daran. Stanas Blut, dessen Unterarmwunde nur noch schmerzte, wenn er die Muskeln spannte. Hexenblut befand sich keines am Dolch. Er nahm die Waffe wieder an sich. Sie lag in einem kleinen Staubhäufchen. Das war alles, was noch an die Hexe Nadija Perkowa erinnerte. Die Kerzen waren niedergebrannt.
Dennoch, obwohl Nadija tot war, glaubte Stana, von irgendwoher beobachtet zu werden. Der Hauch des Bösen schwebte immer noch im Haus. Aber da war niemand, der Stana beobachten konnte. Da war nur sein eigenes Abbild in dem großen, goldumrandeten Spiegel.
Stana Ilonkin floh aus dem Haus und kehrte nimmermehr zurück.
***
Nadija Perkowa war noch nicht tot gewesen, als Stana in der Nacht das Haus verließ. Der Dolch hatte ihren Unverwundbarkeits-Zauber zwar durchbrochen, sie aber nicht tödlich getroffen. Mit ihrer Hexenkunst hätte sie sich noch zu retten vermocht. Sie hätte die Wunde schließen können.
Aber immerhin war sie schwer angeschlagen, und sie konnte Stana Ilonkin nicht halten. Er entzog sich ihrem lähmenden Bann und entwich.
Nadija Perkowa war zornig und verzweifelt. Sie brauchte einen neuen Körper! Der alte hielt nicht mehr lange vor, jetzt, nach der Dolchverletzung, erst recht nicht. Er verfiel von Woche zu Woche mehr. Sie mußte einen neuen Körper übernehmen, um weiterleben zu können, mußte die andere Seele verdrängen und selbst hineinschlüpfen in die fleischliche Hülle.
Aber sie konnte nicht jeden beliebigen Körper nehmen. Er mußte eine ganz bestimmte Aura aufweisen, die ihr Einfahren erleichterte, und er mußte magisch neutral sein. Beides zusammen kam unter hunderttausend Menschen bei einem einzigen vor. Nadija hatte lange gesucht, bis sie auf Stana Ilonkin gestoßen war.
Er war der geeignete Körper.
So hatte sie eine Beziehung zu ihm aufgebaut. Mit Hexenkunst gaukelte sie ihm Jugend und Schönheit vor, und er hatte sich täuschen lassen.
Sie hatte alles vorbereitet, seine Seele ihrem Herrn, dem Teufel versprochen, und dieser hatte eingewilligt. Er war an Ilonkins Seele interessiert, und er würde sie bekommen, sobald Nadija sie aus seinem Körper verdrängte.
Aber es war mißlungen. Im letzten Moment hatte Stana sich gewehrt.
Sie hatte, um die Seelentauschbeschwörung durchführen zu können, ihre Maske fallen lassen müssen. Sie hatte alle Kraft für die Beschwörung gebraucht. Und sie hatte nicht ahnen können, daß er, der magisch neutral war, dennoch genug über die Abwehr gegen Hexen und Zauberer wußte. Mit dem blutigen Dolch hatte er sie getroffen und ihren Zauber zerstört.
Es war vorbei.
Sie würde schwerlich Ersatz für Stana Ilonkin bekommen. Wahrscheinlich würde sie also sterben müssen. Oder sie mußte ein Tier finden, das ihren Bedürfnissen entsprach, und als Tier dann wieder auf Menschenjagd gehen, um einen neuen menschlichen Körper zu gewinnen, gleichgültig, ob Mann oder Frau.
Hauptsache, jung.
Mühsam raffte sie sich auf. Sie mußte den Dolch langsam entfernen und ebenso langsam und vorsichtig dieWunde schließen, die er gestoßen hatte. Sie wünschte Ilonkin die Pest auf den Hals, aber ihre Kraft reichte jetzt nicht mehr, ihm den Fluch wirksam nachzuschleudern.
Aber dann geschah etwas anderes.
Der Teufel kam.
Er fuhr durch den Kamin ins Haus ein und trat aus dem Feuer hervor.
Eine Schwefelwolke wehte ihm voraus und warf die verletzte, dem Tode nahe Hexe förmlich zurück. Der Gehörnte entfaltete seine Flügel wieder, der Schweif mit der Glutspitze zuckte hin und her, bereit in Brand zu setzen, was ihm in die Quere kam. Zornig stampfte der Teufel mit dem Huf auf.
»Du versprachest mir eine Seele, erbärmliche Hexe«, grollte er dumpf.
»Wo ist sie, diese Seele? Wo ist der Mensch, in dessen Körper du schlüpfen wolltest? Wo ist Stana Ilonkin?«
»Fort, geflohen, Herr«, keuchte Nadija Perkowa. »Sieh seinen Dolch in meiner Brust. Er versuchte mich zu töten. Der Bann brach…«
»Du bist eine Stümperin«, zischte der Teufel. »Wie eine blutige Anfängerin hast du dich benommen, Fehler begangen trotz deiner fast tausendjährigen Erfahrung! Ich glaube gar, du wirst alt, Nadija Perkowa!«
Und wieder stampfte er mit dem Huf.
»Was liegt Euch schon an dieser Seele, Herr?« wimmerte die Hexe.
»Es gibt tausende von Seelen, die Ihr haben könnt. Ich werde sie Euch beschaffen…«
Er machte einen Schritt auf sie zu.
»Was mir an dieser Seele liegt, fragst du, du Stümperin? Viel, sehr viel! Weißt du nicht, wer Stana Ilonkin ist? Der Sohn eines Adligen bei Hofe! Wärest du in seinen Körper geschlüpft, hättest du großen Einfluß auf den Zaren und seine Familie nehmen können! Denn Stanas Vater ist dem Zaren ein guter Freund! Großes hatte ich mit dir vor. Du hättest die Macht über ganz Rußland haben können, die Macht als engster Berater des Zaren! Doch nun ist dir diese Karriere verwehrt. Er selbst wird aufsteigen oder fallen, wahrscheinlich fallen, denn er hat nicht deine Größe und deine Jahrtausenderfahrung! Vorbei, vertan…«
»Herr…«, wimmerte die Hexe. »Ich wußte nicht…«
»Du hättest es wissen müssen mit deiner Kunst, die ich dir einst schenkte! Aber du warst zu leichtfertig, zu oberflächlich! Nun, du wirst nie wieder einen solchen Fehler begehen!«
»Bestimmt nicht«, schluchzte sie. »Ich werde diesen Fehler wiedergutmachen, ich werde…«
»Nichts wirst du«, sagte der Teufel. »Nichts, du Relikt der Vergangenheit. Wohl oder übel werde ich mich weiter auf Rasputin verlassen müssen, doch Rasputin ist ein unsicherer Mann, er geht seinen eigenen Weg, spielt sein eigenes Spiel. Nun, das ist eine Sache, die dich nichts angeht.«
Er trat direkt vor sie.
»Was habt Ihr vor, Herr?« kreischte sie angstvoll.
Der Teufel lachte zornig auf. Sein Schweif mit der Glutspitze fuhr heran, berührte die uralte Hexe und riß ihr die Seele aus dem Leib. Er schleuderte sie durch die Luft und bannte sie in den Spiegel über dem Kamin. Ein schauerlicher Klagelaut schwang durch das Haus und verwehte.
Das Spiegelglas wurde ein wenig matter. Die Hexe war darin gefangen, für immer und ewig und alle Zeiten. Eine furchtbare Strafe für ihr Versagen, eine Strafe, wie sie sich nur der Teufel erdenken kann…
Der Leib der Hexe aber zerfiel zu feinkörnigem Staub.
Und der Teufel verließ diese Stätte des Grauens wieder. Er schwang sich durch den Kamin in die Lüfte empor und entschwand mit wuchtigen Schlägen seiner lederartigen Schwingen in den Nachtwolken.
***
Etwa siebzig Jahre später wurde das Haus dem Erdboden gleichgemacht.
Vergessen war die Zeit des Zaren, tot waren Nikolaus II. und der teuflische Wundermönch Rasputin. Vergessen war auch die Hexe Nadija Perkowa, deren Seele vom Teufel in einen Spiegel gebannt worden war.
Das Haus war der Verbreiterung der großen Überlandstraße im Wege, die vom ehemaligen Petersburg, das jetzt Leningrad hieß, nach Moskau führte.
Als die Arbeiter das Haus betraten, das seit Jahrzehnten leerstand und dessen früherer Besitzer oder dessen Erben nicht mehr festzustellen waren, umwehte sie ein Hauch der Düsternis und der Bedrohung. Sie waren froh, als sie wieder im Freien standen. Aber es hatte sich gelohnt. Wassil Wassilowitsch schleppte einen alten Schrank zu sich nach Hause, Pjotr Kobiniakin dagegen einen Spiegel, dessen Glasfläche seltsam trüb war, aber dessen Rahmen mit Blattgold beschichtet war. Allein der Rahmen war eine Kostbarkeit für sich.
»Schlag doch das Glas kaputt, das kann doch sowieso niemand mehr benutzen, Genosse Kobiniakin«, riet ihm der Vorarbeiter der Kolonne, der sich an anderen Kostbarkeiten schadlos gehalten hatte. »Dann brauchst du nicht so vorsichtig mit ihm umzugehen.«
Aber Kobiniakin zerschlug das Spiegelglas nicht. Er nahm das wertvolle Stück heil mit nach Hause, und er konnte es für 500 Rubelchen verkaufen.
Die 500 waren ein Handgeld, mehr nicht, wenn man den wahren Wert des Spiegels in Betracht zog, aber für Kobiniakin reichte das Geld aus, endlich den altersschwachen Moskwitsch zu kaufen, der zwar schon aus fast allen Schrauben und Schweißnähten platzte, aber immerhin ein Autochen war. Und es fuhr, das Autochen, und Pjotr Kobiniakin brauchte jetzt nicht mehr mit dem Fahrrad zur Sammelstelle zu strampeln, wo ihn der Arbeiterbus abholte, um ihn zur jeweiligen Baustelle zu bringen, sondern Kobiniakin konnte jetzt mit dem eigenen Autochen zur Baustelle fahren, und die Nachbarn staunten, weil er im Dorf nach dem Genossen Ortsvorsteher der einzige war, der so ein Autochen besaß. Kobiniakin war plötzlich jemand, zwar ein Arbeiter, aber ein hochangesehener, reicher Bürger, der sich ein Autochen leisten konnte.
Der den Spiegel kaufte, kümmerte sich nicht darum. Er hatte das gute Stück günstig bekommen, den Verkäufer gehörig übers Ohr gehauen, und reihte den Spiegel seiner Sammlung von Antiquitäten, Raritäten und Kostbarkeiten ein.
Fortan, so sagte man, ging es im Hause dieses Sammlers nicht mehr mit rechten Dingen zu. Bilder fielen von der Wand, Lampen gingen grundlos an und aus, und wer zu Besuch kam, war froh, wenn er wieder gehen konnte, so bedrückend war die Atmosphäre innerhalb der vier Wände.
Gut zehn Jahre konnte sich Sergej Publikow an seinen Schätzen noch erfreuen, dann starb er, weil ihm bei einem Herbststurm ein vom Baum abgerissener Ast auf den Kopf fiel und sich das Holz als wesentlich stabiler erwies als der russische Dickschädel. Der Spiegel stand auf dem Dachboden und verstaubte schon seit langem.
Man schrieb inzwischen das Jahr 1987…
***
Das Hospital von Leicester war, wie Nicandra Darrell sich ausdrückte, »klinisch tot«. Es herrscht eine geradezu ungewöhnliche Ruhe. An den weißgetünchten Wänden hingen farblos blasse Bilder moderner Neonkünstler, ganz entgegen aller britischen Tradition, alles strahlte vor Sauberkeit und Sterilität – nicht nur im biologischen, sondern auch im übertragenen Sinne. Nicandra fühlte sich in diesem Krankenhaus nicht wohl.
Sie war froh, daß Moronthor und sie nur als Besucher hier waren. Seit einigen Tagen war ihr gemeinsamer Freund Ted Ewigk hier Patient. Auch jetzt sah er noch blaß aus und hing noch an den Instrumenten und Apparaten, die ihn künstlich ernährten, seinen Kreislauf stabil hielten und die Herz- und Gehirntätigkeit überwachten. Immerhin ging es ihm schon etwas besser als bei der Einlieferung.
»Trotzdem spüre ich meinen Körper immer noch nicht«, sagte er gezwungen ruhig. »Ich kann mich bewegen, aber ich spüre nichts. Und ich glaube, ich kann die Bewegungen auch nicht bewußt steuern.«
»Du sollst dich aber nicht bewegen, hat der Onkel Doktor gesagt, der mit der Hornbrille«, rügte Professor Moronthor. »Zumindest vorläufig noch nicht. Wenn du nicht mehr liegen kannst, sollst du gefälligst Schwester oder Pfleger herbeirufen, daß sie dich anders lagern.«
»Weiß ich«, murmelte Ted. Die Sprechanlage, mit der er das Personal zu sich holen konnte, schaltete sich auf einen schrillen Pfeifton hin auf Sendung, den er allemal mit gespitzten Lippen zustandebrachte. Danach konnte er sprechen und seine Wünsche äußern.
»Mann, über kurz oder lang drehe ich hier durch«, murmelte der Reporter.
»Dieses Stilliegen ist nichts für mich. Da draußen dreht sich die Welt doch weiter, mit einer Geschwindigkeit von 24 Stunden pro Umdrehung!«
Nicandra grinste.
»Deinen Reden nach muß es dir schon wieder verflixt gutgehen«, sagte sie. »Wir haben dir deinen Kristall mitgebracht. Lieutenant Spooner hat ihn freigegeben. Er konnte nichts damit anfangen.«
»Habt ihr ihm das nicht vorher gesagt? Leg den Kristall da neben mich auf die Tischplatte«, bat er. Dann betrachtete Ted Ewigk den blauen, aber nicht sonderlich großen Kristall nachdenklich.
Es war der Machtkristall, der Ted Ewigk innerhalb der geheimnisumworbenen SIPPE DER EWIGEN in den Rang des ERHABENEN erhob.
Ted Ewigk war die oberste herrschende Instanz jener Gruppierung, die vor Jahrtausenden das Universum beherrscht haben sollte; um sich dann schlagartig von allen kontrollierten Welten zurückzuziehen. Erst das Duell zwischen Moronthor und Asmodis, dem Fürsten der Finsternis, hatte sie wieder aufgeschreckt. In den Felsen von Ash-Naduur war Dämonenblut geflossen und hatte ein Signal gegeben, das die SIPPE wieder auf den Plan rief.
Sie kamen, um zu erobern, aus Weltraumtiefen zur Erde. »Schlafende Agenten« erwachten auf der Erde und griffen ins Geschehen ein. Moronthor, Pater Aurelian und Ted Ewigk hatten ihnen eine empfindliche Niederlage beigebracht und den damaligen ERHABENEN samt seinen Eroberungsplänen ausschalten können. Ted Ewigk hatte das Amt übernommen.
In ihm floß das Blut des Zeus, und er trug den Machtkristall des Zeus, den Arrayhd-Kristall dreizehnter Ordnung, mit dem Sonnen zerstört werden konnten, wenn man seine Macht mißbrauchte.
Aber das hatte in all den Jahrmillionen noch niemand gewagt.
Zwar kümmerte Ted sich wenig um die Belange der SIPPE, deren Wesen er selbst noch nicht zur Gänze durchschaute; er hatte nur angekündigt, jeden Eroberungsversuch nachhaltig zu verhindern und die Drahtzieher auszuschalten. Aber den radikalen Kräften unter den EWIGEN paßte das nicht. Sie wollten die Macht unter Einsatz von Gewaltmitteln erneuern. Man munkelte, daß in den Tiefen des Universums andere EWIGE daran arbeiteten, mit ihren Kräften Machtkristalle zu erschaffen.
Wer es schaffte, würde das Amt des ERHABENEN anstreben – und Ted Ewigk zum Kampf fordern müssen.
Aber Ted Ewigk konnte nicht kämpfen. Nicht jetzt, in diesen Wochen.
Es hatte damit begonnen, daß ein auf der Erde lebender EWIGER versuchte, einen Machtkristall zu formen. Doch in diesem Kristall, der mehr und mehr erstarkte, hatte sich einer der MÄCHTIGEN vom Ende der Existenz manifestiert und die Kontrolle selbst über den EWIGEN übernommen.
Mehr durch Zufall war Ted darauf gestoßen, und der MÄCHTIGE in Gestalt des Arrayhd-Kristalls hatte sofort mit aller Kraft zugeschlagen.
Teds Wagen war explodiert, während der Reporter sich darin befand, und nur sein eigener Arrayhd hatte verhindern können, daß er starb.
Aber Ted war dabei schwer verletzt worden.
Moronthor hatte den Kampf aufgenommen. Er steuerte Teds Machtkristall über sein Amulett, Merlins Stern, und verhinderte so, daß der Kristall ihm den Verstand verbrannte. Denn Moronthor vermochte wohl mit seinen Para-Kräften einen Kristall dritter Ordnung zu bändigen, aber nicht einen der dreizehnten Stufe.
Dennoch hatte er es über Merlins Stern geschafft, den anderen Kristall, den MÄCHTIGEN in dieser bizarren Gestalt, mit magischer Energie zu überladen und auszulöschen. [1]
Zunächst war der Kristall wie auch die ausgeglühten Reste des Rolls-Royce von der Polizei beschlagnahmt worden, um die Explosionsursache und alles, was damit zusammenhängen konnte, zu ergründen. Moronthor hatte sich den Kristall gegen Quittung ausgeliehen und dann wieder abliefern müssen. Jetzt waren die Untersuchungen abgeschlossen, und Polizeileutnant Spooner hatte den Arrayhd freigegeben.
»He«, sagte Nicandra plötzlich. »Was machst du da, Ted?«
Ted Ewigk sah den Kristall nur an. Tief im Innern des Zaubersteins begann es leicht zu leuchten. Der Arrayhd war aktiv! Gleichzeitig begann die Anzeige des die Gehirntätigkeit des Reporters überwachenden Elektroenzephalographen stärker auszuschlagen. Moronthor sah Nicandra verblüfft an. Mit seinen Para-Fähigkeiten hatte er keinen Impuls wahrgenommen, Nicandra aber hatte etwas gespürt, noch ehe die Instrumente reagieren konnten. Es mochte an dem schwarzen Blut liegen, das sie für kurze Zeit in den Adern gehabt hatte, oder an jenem in seinen Auswirkungen noch unerforschten Serum des Schwarzen Lords, daß sie sensibler für übersinnliche Erscheinungen geworden war.
Ted antwortete nicht.
Der Arrayhd leuchtete stärker.
Nicandra erhob sich von dem Besucherstuhl, auf dem sie sich niedergelassen hatte. Sie ging langsam durch das Zimmer auf den Spiegel über der Waschnische zu. Moronthor sah ihr befremdet zu. Was geschah hier?
Er merkte nichts davon, auch Merlins Stern reagierte nicht auf die magische Kraft, die hier offenbar wirkte.
»Nici…«
Sie reagierte nicht. Vor dem Spiegel blieb sie stehen, hob beide Hände und wollte die Glasfläche berühren.
Da fühlte Moronthor den Gefahrenimpuls.
»Weg!« schrie er. »Paß auf!«
Nicandra reagierte mit enormer Geschwindigkeit und ließ sich zu Boden fallen. Aus dem Arrayhd-Kristall fuhr ein blaßblauer Blitz, einem Laserstrahl nicht unähnlich, und erfaßte den Spiegel. Sekundenlang wurde er von hellem Licht umwabert, dann war es wieder vorbei.
Nichts war geschehen. Nicandra erhob sich vorsichtig. Der Arrayhd erlosch langsam.
Ein Arzt und zwei Schwestern stürmten in den Raum. Der Elektroenzephalograh hatte sie alarmiert, als er die übermäßig starken Alpha-Rhythmus-Impulse anmaß. Aber jetzt war alles wieder normal.
»Was ist hier geschehen?« stieß der Arzt mit der Hornbrille hervor.
»Haben Sie Mister Ewigk über Gebühr aufgeregt?« Zornig fixierte er Moronthor und Nicandra, die vor dem Spiegel stand.
Moronthor schüttelte den Kopf.
»Sie haben mich nicht aufgeregt«, bestätigte Ted Ewigk. »Vielleicht spielen Ihre Instrumente verrückt. Sie sollten sie einmal überprüfen lassen.«
Damit wollte der Arzt sich nicht zufriedengeben, aber es gab für den Vorfall keine Erklärung, die ihm glaubwürdig erschien.
»Sie sollten den Patienten nicht mehr sooft besuchen, Mister Franzose«, sagte er unhöflich zu Moronthor. »Sie regen ihn wirklich nur unnötig auf.«
»Ich komme, wann immer Herr Ewigk meine Anwesenheit wünscht, Monsieur Engländer«, gab Moronthor lächelnd zurück. »Aber ich glaube, wir gehen tatsächlich wieder.« Er nickte Nicandra zu. Ein Gespräch mit Ted war jetzt unmöglich. Der bebrillte Arzt in seiner verständlichen Sorge um seinen Patienten würde das Krankenzimmer erst wieder verlassen, wenn Moronthor und Nicandra gegangen waren.
Nun, dachte der Parapsychologe. Morgen ist auch noch ein Tag.
Und vielleicht wußte Nicandra mehr. Immerhin mußte sie auf etwas aufmerksam geworden sein, was mit dem Spiegel zusammenhing.
***
Sie befand sich irgendwo in den Tiefen von Zeit und Raum auf dem Weg von der Vergangenheit in die Zukunft. Zeit hatte für sie nur untergeordnete Bedeutung. Nicht umsonst wurde sie DIE ZEITLOSE genannt.
Blau schimmerte die Haut ihres Körpers, aus dessen Rücken mächtige Schmetterlingsflügel ragten. Blau war das Fell des Einhorns, auf dem sie durch die Ewigkeit ritt. Sie war auf der Suche.
Auf der Suche nach einem Mann, der Professor Moronthor genannt wurde.
Schon einmal hatte sie mit ihm zu tun gehabt, gestern oder vor einer Million Jahren. Jene, die dem Strom der Zeit unterworfen waren, hatten den Zeitpunkt ihrer Begegnung in der Kreidezeit angesiedelt, in tiefster Erdvergangenheit. Damals hatten sie Seite an Seite gekämpft und sich dann wieder aus den Augen verloren. [2]
Jetzt war sie, die ZEITLOSE, wieder auf diesen Professor Moronthor aufmerksam geworden. Er schaffte das, was bislang niemandem gelungen war: Die MÄCHTIGEN zu töten.
Dabei waren sie unsterblich. Sie konnten besiegt werden, in die Flucht geschlagen werden. Doch nie zuvor war es einem Menschen gelungen, einen MÄCHTIGEN wirklich zu töten. Denn sie manifestierten sich in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen, weil sie das universelle Schattenleben an sich waren.
Doch Moronthor hatte soeben den dritten MÄCHTIGEN getötet. Das gab der ZEITLOSEN zu denken.
Hatte sie etwas in der Struktur des Kosmos gewandelt? Wandte sich die Natur jetzt gegen die MÄCHTIGEN! Oder hatte sich jener Moronthor selbst gewandelt? Die ZEITLOSE wollte es herausfinden. Sie mußte es herausfinden, denn es war auch für sie ein existentielles Problem. Sie mußte mehr über Moronthor, sein Umfeld, seine Art zu leben, seine Verbündeten erfahren.
Aber zunächst mußte sie ihn im Strom der Zeit finden.
Sie hielt in ihrer Reise inne. Es gab eine Möglichkeit, ihn aufzuspüren.
Sie wußte, daß sie sich ungefähr in der richtigen Zeitepoche aufhielt. Sie glitt aus ihrer zeitlosen Sphäre hinaus in die Welt der Menschen.
Sie hatte sich einen einsamen, abgelegenen Ort für ihr Vorhaben ausgesucht.
Es wäre nicht gut, wenn jemand sie überraschend erblickte.
Denn ihr Aussehen war doch zu ungewöhnlich, um vom menschlichen Verstand so einfach verarbeitet zu werden.
Mit raschem Flügelschlag schwang sie sich vom Rücken des Einhorns hinunter. Sie stand auf fruchtbarem, grasbewachsenem Boden. Ausgedehnte Wälder erstreckten sich ringsum, und unmittelbar vor ihr vernahm sie das Plätschern eines Baches. Nur wenige Meter entfernt sah sie einen kleinen Teich, dessen abfließendes Wasser sich dem Bach zugesellte.
Der Teich war genau das, was sie brauchte.
Sie trat an sein Ufer. Das Wasser war trübe, grünlich, von Algen durchsetzt.
Käfer liefen hastig über die Oberfläche. Hier und da kauerte eine Grille am Ufer zwischen den Gräsern. Irgendwo nahte sich hüpfend ein Frosch, um Beute zu suchen. Fliegen, Mücken und Wespen surrten, ein Schmetterling bewegte sich durch die Sträucher.
Das alles nahm die Zeitlose mit einem kurzen, schnellen Blick auf.
Das Leben im Teich störte sie. Es brachte zu viel Bewegung in die Oberfläche des Gewässers. Auch die Algen mußten verschwinden. Die Zeitlose kauerte sich am Ufer nieder, dann hielt sie eine Hand in das Wasser, das erfrischend kühl war.
Es war die linke Hand.
Ringsum begannen die Algen zu verdorren. Sie schrumpften und vergingen.
Die Insekten flohen, so rasch sie konnten, und verbargen sich.
Endlich war der Teich so, wie die Zeitlose ihn haben wollte.
Sie begann mit der Beschwörung des Dämons Vassago, der sowohl von der Schwarzen als auch von der Weißen Magie angerufen werden kann und zu Diensten steht. Nach einer Weile gab sich Vassago tatsächlich zu erkennen.
»Du, die du mich mit einem Siegel riefest, was begehrst du?« Mit keiner Regung gab er zu erkennen, über ihr Aussehen erstaunt zu sein oder sie gar zu erkennen. »Wisse, daß ich mich nur ungern stören lasse.«
Die Zeitlose lächelte.
»Ich weiß es. Jeder, der ein wenig von der Magie versteht, will sich deine Kunst zunutze machen und durch deinen Spiegel schauen. Aber mein Anliegen ist wichtig. Zeige mir jenen, der Professor Moronthor heißt.«
»Moronthor?« keuchte Vassago auf. »Was hast du mit ihm zu schaffen? Bist du ihm Freund oder Feind?«
»Weder, noch. Ich stehe ihm so neutral gegenüber wie du, Vassago«, erklärte die Zeitlose. »Doch ich muß wissen, wo ich ihn finden kann. Zeige ihn mir. Oder muß ich dich mit einem Zwang belegen?«
Vassago zögerte. Er versuchte, die Zeitlose einzuschätzen. Doch dann kam er wohl zu der Erkenntnis, daß es nicht gut sei, sich mit ihr im Bösen anzulegen. Zum einen stand er durch die Beschwörung teilweise in ihrem Bann, zum anderen ging etwas von ihr aus, das ihn tief berührte.
Und er wußte nicht, ob es Licht oder Dunkelheit war.
»So sei es denn«, sagte er.
Der Spiegel des Vassago erwachte. Auf der Oberfläche des Teiches – es hätte auch eine simple kleine Wasserschüssel sein können – begannen sich verwaschene Bilder abzuzeichnen. Die Zeitlose konzentrierte sich auf das Schwingungsmuster von Moronthors persönlicher Ausstrahlung.
Sie hatte es damals aufgenommen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie ihn wirklich allein gefunden hätte. Deshalb nahm sie Vassagos Hilfe in Anspruch.
Der Dämon, der insgeheim hoffte, eines Tages wieder zum Licht erhöht zu werden, beobachtete sie stumm und lenkte seine Kräfte in den Spiegel. Die Bilder stabilisierten sich allmählich, wechselten nicht mehr so schnell. Und sie wurden klarer.
Schließlich blieb nur noch eines dieser Bilder.
Die Zeitlose sah ein Gesicht. Moronthor! Doch ein anderes Gesicht schob sich davor. Das seiner Gefährtin. Sie mußte etwas spüren. Viele weiße und hellgraue Kästen standen in dem Zimmer, Schläuche und Schnüre führten zu einem Mann, der auf einem fahrbaren Lager ruhte. Und ein blauer Kristall funkelte. –Und griff an!
Das Bild explodierte förmlich, loderte in rasendem Feuer, und unwillkürlich wehrte die Zeitlose die unheimlichen angreifenden Kräfte ab, ließ sie an sich vorbeigleiten an ein anderes Ziel. Und dort wurde etwas ausgelöst, das sich in seinen Konsequenzen jetzt noch nicht absehen ließ.
Vassagos Spiegel kräuselte sich, und Flammen tanzten über dem Wasser.
Das Bild verging, der mächtige Bildzauber zerbrach. Vassago keuchte.
Und verschwand.
Mit aller Kraft, die er aufzubringen vermochte, löste er sich aus dem Bann der Zeitlosen und zog sich zurück, und er schirmte sich mit Bannsprüchen ab, damit sie ihn kein zweites Mal beschwören konnte.
Die Zeitlose trat vom Teich zurück, der wie ausgestorben wirkte.
Moronthor war da, existierte in dieser Zeit, aber sie hatte nicht herausfinden können, wo er sich genau aufhielt. Sie war nicht klüger geworden als zuvor. Jemand hatte ihren Versuch, Moronthor zu beobachten und durch die Beobachtung seinen Aufenthaltsort zu finden, erkannt und mit der Macht des stärksten Arrayhd-Kristalls des Universums zurückgeschlagen.
Die Zeitlose mußte nach einem anderen Weg suchen, Moronthor zu finden.
Sie verließ den Teich, schwang sich wieder auf den Rücken des blauen Einhorns und glitt in die zeitfreie Sphäre zurück. Sie stand wieder fast am Anfang ihrer Suche.
Und wußte nicht, was durch diesen magischen Schlag und ihre Abwehr ausgelöst worden war…
***
»Was war nun los?« wollte Moronthor wissen, als er mit Nicandra zurück zum Hotel fuhr. Sie hatten sich hier in Leicester einquartiert, um direkt vor Ort zu sein, falls es bei Ted Komplikationen geben würde.
Eigentlich waren sie beide nur aus einer Laune heraus nach England geflogen. Ausnahmsweise war dort besseres Wetter als im Loire-Tal in Frankreich, und sie wollten ein wenig ausspannen. Gleichzeitig wollten sie im Beaminster Cottage, ihrer zweiten Basis, wieder einmal nach dem Rechten sehen. Und unversehens waren sie in das Abenteuer mit Gryf und Teri, mit dem EWIGEN und dem MÄCHTIGEN hineingeschlittert.
Inzwischen waren sie unten im Süden Englands im Cottage gewesen, sie hatten auch einen Abstecher nach London gemacht und Babs Crawford besucht, die Lebensgefährtin des Druiden Kerr, der im Kampf gegen den Hexenjäger Eysenbeiß das Leben hatte lassen müssen. Babs war immer noch nicht so ganz über Kerrs Tod hinweggekommen, aber sie begann, ihr Leben jetzt allmählich wieder zu meistern.
»Urlaub wollten wir machen«, hatte Nicandra geschmunzelt. »Ausspannen und faulenzen. Und was tun wir? Wir fahren kreuz und quer durch England, hierhin und dahin und dorthin…«
Moronthor fuhr den dunkelgrünen Jaguar auf den Hotelparkplatz. Er blieb noch hinter dem Lenkrad sitzen. Nicandra Darrell strich sich durch das Haar.
»Vassagos Zauber«, sagte sie. »Ich spürte, daß uns jemand beobachtete. Aber bevor ich feststellen konnte, wer es war, schaltete sich Teds Kristall ein. Ich bin mir dabei nicht einmal sicher, ob das nötig war. Ich habe keine negativen Gefühle empfangen.«
»Sondern?«
»Irgendwie neutral und nicht faßbar. Aber es könnte sein, daß der Beobachter jetzt auf diesen Arrayhd-Angriff mit eigenen Feindseligkeiten reagiert. Ob Ted sich darüber Gedanken gemacht hat?«
»Wir werden ihn fragen, wenn wir morgen wieder im Krankenhaus sind«, sagte Moronthor. »Hoffentlich kommt er bald wieder auf die Beine. Niemand weiß, was genau mit ihm geschehen ist. Die Verbrennungen, die er erlitten hat, sind im Grunde nebensächlich, innere Verletzungen gibt es keine. Und sein Nervensystem ist irgendwie gestört. Ich führe es auf die Magie des MÄCHTIGEN zurück.«
Nicandra nickte.
»Das ist anzunehmen. Wenn wir nur wüßten, wer uns beobachten wollte.«
Moronthor stieg jetzt aus und ging um den Wagen herum, um Nicandra die Autotür zu öffnen, aber sie war schon draußen.
»Vielleicht meldet der Beobachter sich ja wieder bei uns. Auch im Hotelzimmer gibt es Spiegel.«
»Sofern der Spiegel als Echogeber funktioniert. Es kann Zufall gewesen sein, daß der im Krankenhaus auf den Vassago-Zauber ansprach. Vielleicht ist’s das nächste Mal der Wasserspiegel in der Badewanne.«
»Auch möglich«, gestand Nicandra. »Was hälst du eigentlich davon, wenn 17 wir dem Küchenchef dieses hübschen Hotels mal wieder Arbeit verschaffen?«
Moronthor verzichtete auf eine Antwort. Er steuerte das Hotelrestaurant an und bahnte Nicandra den. Weg.
***
Der Blitz, der den Spiegel in Ted Ewigks Krankenzimmer getroffen hatte, um durch ihn hindurch den fremden Beobachter zu treffen, war von der Zeitlosen abgeleitet worden. So war er nicht aus der Oberfläche des kleinen Teiches herausgeflammt, um sie zu erfassen und zu versengen, sondern in einen anderen Spiegel geschleudert worden.
Wahl- und ziellos, irgendwohin.
Es war jener Spiegel, in den vor gut 80 Jahren der Teufel die Seele der Hexe Nadija Perkowa bannte.
Und der Arrayhd-Blitz änderte diesen Zustand. Er weckte die Seele der Hexe auf!
Und Nadija Perkowa erwachte…
***
Sergej Publikows Haus war ein Fall für die Parapsychologen.
Trotz der seltsamen Phänomene in seinem Haus hatte Publikow zeitlebens abgelehnt, daß sich Wissenschaftler mit der Aufklärung dieser Vorfälle befaßten. Jetzt aber war die Situation anders geworden. Publikow lebte nicht mehr, und es gab überraschenderweise keine Erben. Es gab auch kein Testament. So wurde das Haus zunächst einmal unter staatliche Aufsicht gestellt, bis darüber entschieden werden konnte, was weiter geschehen sollte.
Die Beamten der Stadtverwaltung von Tschudowo, der kleinen Zwanzigtausend-Seelen-Stadt hundert Kilometer südöstlich von Leningrad am Fluß Wolchow gelegen, spürten größtes Unbehagen, als sie sich in Publikows Haus aufhielten und Bestandsaufnahme machten. Publikow war ein Kunstsammler gewesen, ein angesehener Bürger der Stadt, dessen Stimme Gewicht hatte. Er war reich gewesen, sein Haus am Stadtrand überraschend groß. Aber die Größe vermochte doch nicht den Hauch des Düsteren zu verdrängen, der über allem lag, und die Beamten konnten erst dann wieder richtig aufatmen, als sie dann draußen waren.
Sie berichteten von ihren seltsamen Empfindungen. Auch früher hatten Besucher des Hauses schon von der Ausstrahlung erzählt, die über allem lag. Und nun kam jemand auf die kluge Idee, das Institut für Parapsychologie an der Universität von Moskau zu unterrichten, daß nunmehr verwaltungsrechtlich keine Bedenken mehr beständen, das Haus einmal eingehend zu untersuchen.
Boris Iljitsch Saranow wurde beauftragt, mit seinen beiden Assistenten nach Tschudowo zu fahren und sich um den Fall zu kümmern.
Leonid Abramov war nicht sonderlich begeistert, Moskau verlassen zu müssen. Er fühlte sich nur in der Großstadt wohl. Natascha Solenkowa dagegen war begeistert. Sie war reiselustig, hatte aber selten Gelegenheit, ihrer Lust nachzugeben. Denn die Angestellten des parapsychologischen Instituts waren stark eingespannt, bekamen wenig Urlaub und wurden in aller Regel auch überwacht, da sie teilweise an staatlichen Geheimprojekten arbeiteten. Saranow selbst gehörte zu den Geheimnisträgern.
Er pendelte ständig zwischen Moskau, wo er einen Lehrauftrag hatte, und Akademgorodok hin und her, wo er an einem Telepathie-Projekt arbeitete. Psi-Forschung wurde in der Sowjetunion im Geheimen betrieben, aber recht großgeschrieben.
Daran, ständig überwacht zu werden, hatte Saranow sich längst gewöhnt.
Auch in Tschudowo würde er sich nicht unbeobachtet bewegen können, und seine beiden Assistenten auch nicht. Zu groß war die Befürchtung des KGB, er könne entführt werden und fremde Mächte sich seines Wissens über den Stand der Psi-Forschung bemächtigen.
Immerhin kamen die drei Wissenschaftler so zu dem Privileg, mit einem Dienstwagen des KGB nach Tschudowo gefahren zu werden. Saranow und Abramov lümmelten sich auf dem Rücksitz des schwarzen Wolga-Gaz-24, Natascha Solenkowa streckte ihre langen Beine auf dem Beifahrersitz aus, und der schweigsame Kapitän Igor Semjonow lenkte den Wagen von Moskau nach Tschudowo.
Die Stadt erwies sich als ein nicht sonderlich sehenswertes Provinznest, wie Leonid Abramov sich abfällig äußerte. Publikovs Villa stand am Stadtrand, und das Grundstück war von einer hohen Mauer umgeben.
Ein unauffälliger Lada parkte vor dem Gittertor. Der Beamte der Stadtverwaltung, der die Schlüsselgewalt hatte, fühlte sich sichtlich unwohl.
Semjonow, der Schweigsame, hielt neben ihm an.
»Öffnen Sie bitte, Genosse, damit wir hindurchfahren können.«
Der Verwaltungsbeamte gehorchte. Er murmelte etwas vor sich hin, was glücklicherweise niemand verstand. Der schwarze Gaz-24 rollte mit metallisch hämmerndem 110-PS-Motor über die große Einfahrt auf die Freitreppe vor dem Haus zu. Der Verwaltungsbeamte folgte zu Fuß. Er hatte keine Durchfahrtsgenehmigung für das verwaiste Privatgelände.
Semjonow auch nicht, aber das hatte ihn noch nie gestört.
Boris Saranow faltete seine einhunderteinundzwanzig Zentimeter einschließlich zwei Zentner Lebendgewicht aus dem Fond des Dienstwagens, glättete sich sorgfältig und legte den Kopf in den Nacken, um die Hausfront zu betrachten. Er konnte nichts Auffälliges entdecken. Aber das war normal. Para-Phänomene zeigten sich nicht in äußerlichen Effekten.
Saranow wartete, bis alle ausgestiegen waren, dann streckte er den Zeigefinger aus und tippte einen nach dem anderen an. »Schwesterchen Natascha, du schaust dich in den beiden oberen Etagen um. Brüderchen Leonid, du schreibst auf, was wir dir zurufen. Ich nehme den Keller. Und Sie, Brüderchen Spion, passen auf, daß wir nicht abhanden kommen. Vielleicht wollen uns ein paar Gespenster entführen.«
Igor Semjonow verzog nur das Gesicht. »Aufschließen«, schnarrte der den Stadt-Beamten an.
»Brüderchen Spion, so unwirsch redet man nicht mit einem verdienstvollen Staatsdiener«, rügte Saranow. »Sie sollten Ihr Benehmen ruhig ändern. Es geht auch mit ein wenig Höflichkeit anderen gegenüber, ja?«
Semjonow schwieg weiter. Er betrat als erster das Haus. Boris Saranow folgte ihm. Sofort spürte er das Bedrückende, das sich über ihn legen wollte. Er empfand es wie einen körperlichen Schlag.
»Schreib, Brüderchen Leonid«, murmelte er und schilderte seine Eindrücke.
»Immer ich«, knurrte Abramov unwillig. »Reicht es nicht, daß ich jetzt für ein paar Tage in diesem besseren Dorf versauern muß? Muß ich da wirklich auch noch arbeiten?«
»Schade, daß heute kaum noch jemand nach Sibirien geschickt wird«, grinste Saranow. »Die Lager sind alle schon übervoll…«
»Saranow«, fauchte Semjonow ihn an. »Was sollen diese Bemerkungen?«
»Ach, Sie können ja reden, Brüderchen Spion.« Er schob sich an dem KGB-Mann vorbei. Er kannte das Innere des Hauses von Fotos her. Er sah Natascha treppauf verschwinden. Hin und wieder rief sie Bemerkungen durch das Treppenhaus, die Leonid Abramov lustlos auf seinem Notizblock festhielt. Jeder andere hätte ein Diktiergerät benutzt. Abramov mochte diese »moderne Technik« nicht. Er war eben ein Mann voller Gegensätze. Vielleicht entsprangen gerade aus diesen Gegensätzen seine Ideen, deretwegen Saranow ihn in sein Team genommen hatte.
Saranow überlegte. Diese bedrückende Wolke über seinem Geist… ihr Ursprung ließ sich nicht lokalisieren. Sie wurde nicht stärker und nicht schwächer, gleichgültig, wohin er sich wandte. Er ließ sich von dem Stadt-Beamten etwas über die Geschichte des Hauses erzählen. Aber da gab es nichts, was Anhaltspunkte gab. Kein tragischer Unglücksfall, der Ursache für einen Spuk sein könnte, kein Verbrechen… und Publikowa war auch nicht para-begabt gewesen. Zumindest hatte niemals jemand diesen Eindruck gehabt.
»Eigentlich hat es erst vor etwa zehn Jahren angefangen«, fuhr der Beamte fort. Saranow hörte aufmerksam zu und machte sich Gedächtnisnotizen, manches ließ er Abramov aufschreiben. Nach einer Weile kam Natascha wieder von oben herunter.
»Nichts«, sagte sie. »Dieses Gefühl der Bedrohung, des Bösen kommt überall gleich stark durch. Vielleicht sollten wir es einmal auspendeln.«
»Vielleicht hat es dämonischen Ursprung«, überlegte Abramov. »Ein Fluch könnte über dem Haus liegen. Jemand, der Publikow nicht mochte…«
Saranow hob die breiten Schultern.
»Schaut euch doch mal den Spiegel auf dem Dachboden an«, schlug Natascha vor. »Da steht ein Prachtstück… ich fühlte mich irgendwie davon angezogen, kann aber nicht sagen, weshalb. Vielleicht hat der Spiegel etwas damit zu tun.«
»Dobro«, murmelte Saranow. Er schnaufte die Treppen empor bis unters Dach. Das erste was er sah, als er den großzügigen Dachboden betrat, war der Spiegel. Da standen noch andere Möbelstücke herum, Figuren, Leuchter, Gemälde… der Kunstsammler Publikow schien nicht mehr gewußt zu haben, wohin mit seinem ganzen Kram, und hatte daher eine ganze Menge an Gegenständen auf den Dachboden verbannt. Unter anderem auch den von Natascha Solenkowa erwähnten Spiegel.
Er war ziemlich eingestaubt. Ein paar Dutzend Spinnen hatten ihre Netze an ihm verankert. Der Spiegel war etwas über einen Meter hoch und mit einem kostbar verzierten, aufwendig gearbeiteten Rahmen eingefaßt.
Saranow kauerte sich vor dem Spiegel auf die Bodenbretter und strich mit dem Finger durch den Staub.
»Gold«, sagte er. »Das Ding wird ein Vermögen wert sein.«
»Mit diesem blinden Glas? Das ist ja mehr Grauschleier als Spiegel«, murrte Abramov. Er zog ein Taschentuch hervor und wischte über das Glas. Aber der Grauschleier blieb. Abramov pfiff durch die Zähne.
»Sag einer, da wäre kein einziges Staubkörnchen auf dem Glas«, murmelte er verwundert.
»Hm«, machte Saranow. »Ein seltsames Ding. Gerade so, als sei er völlig blind. Wer ist denn so blöd und läßt in einem solchen Prunkspiegel so ein idiotisch schlechtes Glas? Man erkennt sich ja kaum…«
Er versuchte Einzelheiten zu erkennen. Aber er sah sich nur verschleiert und verblaßt. So als sei es kein Spiegelbild, sondern ein Gemälde, das ausgebleicht sei. Und das Gesicht wirkte sogar verfremdet.
»Nanu«, machte Saranow und versuchte zu ergründen, warum ihm sein Spiegelgesicht so verfremdet vorkam. Er betrachtete die Augenpartie.
Das sind nicht meine Augen, dachte er erschrocken.
***
Zu Moronthors und Nicandras Überraschung war Ted Ewigk nicht allein, als sie ihn am nächsten Tag wieder aufsuchten. In einem Sessel, der gestern noch nicht hier gestanden hatte, saß ein Mann unbestimmbaren Alters in einem unauffälligen grauen Anzug. Je nachdem, wie das Licht fiel, schimmerte der Anzug ein wenig silbrig.
Der Mann erhob sich nicht, als Moronthor und Nicandra eintraten. Er fixierte sie nur aufmerksam und ließ sich gerade eben zu einem leisen »Guten Tag« herab.
»Wer ist das, Ted?« fragte Moronthor.
»Mein Leibwächter«, erklärte der Reporter.
»Bist du irre?« stieß Moronthor verblüfft hervor. »Wofür brauchst du einen Leibwächter?«
Ted Ewigk versuchte zu lächeln, aber es wollte ihm nicht so richtig gelingen.
»Solange ich hier festgenagelt bin«, sagte er, »bin ich allen Angriffen wehrlos ausgesetzt. Ich kann den Kristall nicht richtig einsetzen, wie ich es gern möchte. Und nach jenem EWIGEN, der versuchte, den Machtkristall zu schaffen, werden auch noch andere auf die Idee kommen, daß 22 sie mich doch eigentlich mit einem Überraschungsangriff töten könnten. Zumal ich jetzt fast wehrlos bin.«
»Das müssen sie doch erst einmal erfahren, Ted«, versuchte Nicandra ihn zu beruhigen.
»Es ist leicht, es herauszufinden. Es war für mich selbst fetzt leicht, EWIGE auf der Erde aufzuspüren.«
»Gestern… ?« fragte Moronthor schnell. »Die Sache mit dem Spiegel?«
»Ja und nein«, gestand Ted. »Ich versuchte Kontakt mit einem EWIGEN aufzunehmen, den ich aufgestöbert hatte. Während des Kontaktes merkte ich, daß jemand uns über den Spiegel zu beobachten versuchte. Es muß Vassago-Magie gewesen sein, nicht wahr? Nicandra hat es wohl auch gespürt. Ich nehme sehr stark an, daß es jemand war, der seinerseits mich suchte und beobachten wollte. Und das kann im Grunde nur ein Anhänger der radikalen SIPPE-Hälfte sein.«
Moronthor warf einen raschen Blick auf den Leibwächter.
»Er ist zwangsläufig eingeweiht und weiß, wovon wir reden«, sagte Ted. »Ich habe also zurückgeschlagen und dafür gesorgt, daß ich nicht weiter beobachtet werden konnte. Seither hat es keinen Versuch mehr gegeben. Aber er kann sich jederzeit wiederholen. Es kann auch passieren, daß nach der Beobachtung ein Angriff erfolgt.«
Nicandra schüttelte den Kopf.
»Ted, du bist zum Träumer geworden! Wer sagt dir denn, daß dein Leibwächter, so gut er auch sein mag, Arrayhd-Magie abwehren kann? Und wer sagt dir, daß er nicht ein gedungener Mörder deiner Gegner ist?« Sie beobachtete dabei den Mann, der keine Miene verzog, nur still da saß und lauschte. Es war fast, als sei er in Trance versunken.
Ted lachte leise, was einen Hustenanfall zur Folge hatte. Er beruhigte sich rasch wieder.
»Er ist kein gedungener Mörder meiner Gegner, und er ist der Arrayhd- Magie gewachsen«, sagte Ted. »Erst recht, wenn ich meine verfügbaren Kräfte mit ihm zusammenschalte. Wißt ihr, ich habe ihn gestern über den Arrayhd-Kontakt zu mir gebeten. Er ist einer der wenigen EWIGEN auf der Erde, die mir treu ergeben sind und zu den positiven, fortschrittlichen Kräften gehören.«
Nicandra schnappte irritiert nach Luft. Moronthor schüttelte nur den Kopf.
Der EWIGE im silbergrauen Anzug öffnete den Mund, ohne seine Sitzhaltung zu verändern.
»Sie können mich Beta nennen«, sagte er ruhig.
Nicandra schluckte. Ausgerechnet ein Beta, einer der höchsten Ränge, von denen es nur wenige EWIGE gab! Darüber standen nur noch die zahlenmäßig noch geringeren Alphas, und über ihnen der ERHABENE – derzeit der Mann, der hier auf dem Krankenlager ruhte.
»Bist du seiner ganz sicher, Ted?« fragte Nicandra noch einmal. Ihr Mißtrauen, das sie dem Beta offen entgegenbrachte, glitt an jenem ab. Sein Gesicht blieb ausdruckslos.
»Glaubt mir, ich weiß, wenn ich einem EWIGEN trauen kann und wann nicht«, sagte Ted. »Er wird ständig hier sein, er braucht so gut wie keinen Schlaf. Er wird für meine Sicherheit sorgen. – Nicht alle von ihnen… von uns sind so schlecht, so böse und grausam wie jene, die ihr bisher kennengelernt habt.«
»Na, hoffentlich«, murmelte Nicandra. Ihr Mißtrauen blieb. Möglicherweise, wahrscheinlich sogar tat sie dem Beta damit unrecht. Aber bislang hatten Moronthor und sie noch keine angenehmer, Erlebnisse mit der SIPPE gehabt…
Mit einer Ausnahme, durchzuckte es sie. Damals, als wir aus der Meegh-Welt zurückkehrten und im indischen Dschungel strandeten… und in Ash’Naduur! Da waren die beiden Turbanträger, die Zu einem einzigen Wesen verschmelzen konnten und die sich in Ash’Naduur opferten…
Auch sie hatten, wie erst später in Erfahrung gebracht werden konnte, zur SIPPE DER EWIGEN gehört.
»Nun gut«, sagte Moronthor. »Du mußt wissen, was du tust, Ted.«
»Ein Vorfall wie gestern wird sich nicht mehr wiederholen«, versprach der ERHABENE überzeugt.
***
Boris Iljitsch Saranow zuckte zurück, riß sich förmlich von dem Spiegel los. Das sind nicht meine Augen, hämmerte es in ihm. Das sind fremde Augen!
»Was hast du?« wollte Abramov wissen.
»Identitätsprobleme«, brummte der Chefparapsychologe. »Schau dich mal in dem vertrackten Ding genau selbst an und sage mir dann, was du siehst.«
Leonid Abramov kauerte sich dorthin, wo gerade noch Saranow gehockt hatte, und starrte konzentriert in den matten Spiegel.
»Ich sehe mich«, sagte er. »Ein bißchen verwaschen und blaß zwar. Aber… die Umgebung wird auch nicht mehr aufgenommen. Dazu ist das Ding zu blind. Von dir sehe ich jetzt gerade noch einen hellgrauen Schatten.«
»Schau dir selbst tief in die Augen, Brüderchen Leonid«, verlangte Saranow. »Frag nicht, ich erklär’s dir hinterher, wenn du nicht selbst drauf kommst.«
Leonid konzentrierte sich auf seine Augenpartie.
»Seltsam«, sagte er. »Ich weiß doch, daß ich braune Augen habe. Der Spiegel zeigt sie mir grün. Geht denn diese Blässe so weit?«
»Ich habe auch grüne Augen gesehen«, sagte der ebenfalls braunäugige Saranow. »Ich will’s jetzt wissen. Schwesterchen Natascha, gönn dir auch mal einen seelenvollen Blick aus deinen schwarzen Bergseen…«
»Werd bloß nicht poetisch, Genosse«, murmelte die Assistentin.
»Auch – grün«, sagte sie dann. »Das ist aber seltsam. Und irgendwie stimmt die Form der Wimpern auch nicht. Die im Spiegel sind etwas länger als meine. Das verstehe ich nicht.«
Sie erhob sich wieder. Leonid füllte die Lücke. Probeweise legte er die rechte Hand direkt auf das Spiegelglas.
»Bei Rasputins Bart«, murmelte er. »Mein Spiegelbild sollte sich mal die Fingernägel schneiden lassen. So lange Krallen habe ich doch gar nicht.«
»Mit dem Spiegel ist etwas faul«, entschied Saranow. »Wir werden uns mal etwas eingehender mit ihm befassen.«
»Sofern er nicht nur ein Ablenkungsmanöver ist.«
»Richtig, Brüderchen. Trotzdem werden wir uns mit ihm befassen. Experiment Nummer lb: wir entfernen ihn aus seiner Umgebung und beobachten, wie sich die Spiegelungen dann verhalten. Experiment eins-be: Wir prüfen, ob sich nach der Entfernung des Spiegels im oder am Haus etwas verändert. Los, Brüderchen Leonid, gib deinem Herzen einen Stoß, greif in die Spinnennetze und bring den Spiegel nach unten. So schwer wird der schon nicht sein, daß du dich daran überarbeitest.«
»Und was machst du, Genosse Befehlserteiler?« fragte Abramov mürrisch.
»Ich trage ihn dann zum Wagen, dessen Kofferraum Semjonow freundlicherweise öffnen wird«, verkündete Saranow.
Abramov fügte sich in sein Schicksal. Er packte zu, hob den überraschend leichten Spiegel an und ging zur Treppe. Die erste schaffte er.
Auf der zweiten hatte er das Gefühl, als fasse jemand nach seinem Fuß und halte ihn fest. Abramov stieß einen lauten Schreckensschrei aus und stürzte, den Spiegel voran, die Treppe hinunter.
***
»Was nun?« fragte Nicandra, als sie wieder im Hotel waren. »Ich mache mir Sorgen um Ted. Er ist meines Erachtens ein wenig zu leichtgläubig. Er vertraut diesem Beta, ohne ihn zu kennen. Woher will er wissen, daß der EWIGE tatsächlich auf seiner Seite steht?«
Moronthor ließ sich in den Sessel fallen.
»Ich glaube, er weiß sehr wohl, was er tut. Er hat eine Menge gelernt, Nici. Ich erinnere mich noch zu gut daran, wie es anfing, warum das so war. Er hat gegen Dämonen gekämpft. Aber erst Zeus hat ihm dann beigebracht, daß Ted sein rechtmäßiger Erbe ist. Damals, vorher, wäre Ted nicht in der Lage gewesen, andere EWIGE auf der Erde zu finden. Er wußte ja erst durch uns, daß es die SIPPE überhaupt gibt. Und nun? Er ›funkt‹ mal eben kurz per Arrayhd einen anderen EWIGEN als Leibwächter zu sich, und der gehorcht der Aufforderung auch noch. Das, was Ted jetzt an Wissen und auch an Können angesammelt hat, ist einfach phänomenal. Und ich glaube, er ist durchaus in der Lage, Beta zu durchschauen.«
»Aber den anderen, der den Machtkristall schuf, hat er nicht gefunden, dafür aber der ihn…«
Moronthor schüttelte den Kopf.
»Der MÄCHTIGE hat ihn angegriffen, wie du dich sicher erinnerst«, verbesserte er. »Das ist ein kleiner Unterschied. Trotzdem ist natürlich nicht auszuschließen, daß andere, feindlich gesonnene EWIGE Ted aufspüren, und daß er nun erst einmal mit allen Mitteln zurückschlägt, sobald er sich bedroht fühlt, und sich auch einen Leibwächter beschafft.«
»Dann können wir ja nach Hause fliegen«, sagte Nicandra. »Wir werden hier nicht mehr als Aufpasser gebraucht. Wir sind abgemeldet.«
Moronthor hob die Brauen. »So siehst du das? Ich dachte, wir wären aus Freundschaft und aus Sorge um seinen Gesundheitszustand noch hier.«
»Natürlich«, sagte Nicandra. »Aber ich gestatte mir, über Teds Leichtsinn ein wenig verärgert zu sein.«
»Wir, Nici, könnten ihn ohnehin nicht so bewachen, wie er es unter Umständen nötig hat«, sagte Moronthor. »Wir können nicht rund um die 26 Uhr im Krankenzimmer sitzen. Beta scheint es zu können. Mich wundert nur, daß Doktor Hornbrille das erlaubt. Aber vielleicht gibt es da einen Trick.«
»Magie. Er ist vielleicht beeinflußt und hat so die Genehmigung erteilt.«
Moronthor erhob sich. Er ging hinüber in das kleine Bad, um sich ein wenig Wasser über Stirn und Handgelenke laufen zu lassen. Es war immer noch erstaunlich warm. Das sprichwörtliche schlechte Wetter in England schien das Sprichwort Lügen strafen zu wollen.
Moronthor sah in den Spiegel.
»Nanu«, murmelte er erstaunt. »Warum ist denn der so trübe? Hier dampft doch gar kein heißes Wasser, daß er beschlagen kann.« Er wischte mit der Hand über den Spiegel. Aber die Trübung blieb.
»Schau dir das einmal an, Nici«, rief Moronthor. »Hast du das schon einmal erlebt, daß ein Spiegel innerhalb von ein paar Stunden matt wird?«
Er wandte den Kopf, um Nicandra entgegenzusehen. Als sie hereinkam und er den Spiegel wieder ansah, war er überrascht.
Der Spiegel war kristallklar.
»Das verstehe, wer will«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich leide doch nicht unter Sehschwäche! Unter Drogen stehe ich auch nicht…«
»Du wirst alt, Cherie«, neckte Nicandra. »Vielleicht brauchst du doch eine Brille. Eine Hornbrille am besten…«
»Na warte«, murmelte Moronthor. »Ich werde dir zeigen, wer hier alt ist…« Und er ging zum zärtlichen Angriff über. Das Spiegelphänomen war vergessen.
***
Abramov ließ den Spiegel sofort los, streckte die Hände aus und schaffte es, sich am Treppengeländer zu halten. So kam er mit ein paar blauen Flecken davon. Der Spiegel flog durch die Luft, schlug auf den untersten Stufen auf und rutschte den Rest nach unten.
Aus dem Erdgeschoß tauchte Semjonow auf. »Was ist los?« schrie er aufgeregt.
Natascha war blaß geworden. Sie stand oben an der Treppe und konnte kaum begreifen, daß Abramov nichts weiter passiert war.
Saranow begriff etwas anderes nicht. Nämlich, daß der Spiegel heil geblieben war.
Er half Abramov auf die Beine und bugsierte ihn die restlichen Stufen nach unten. Dann standen sie zu viert um den Spiegel herum. Saranow hob ihn vorsichtig auf und stellte ihn hochkant an den Geländerpfosten.
»Komisch«, sagte er. »Das war schon Experiment zwei – der Härtetest. Spiegel aus dermaßen bruchsicherem Glas dürften recht selten auf der Welt sein.«