Der Gehörnte richtete sich steil auf. »Es kann nicht sein«,
stieß er hervor. Entgeistert starrte er in die kristallene Kugel
aus purer schwarzmagischer Energie. Sie zeigte ihm eine Person, die
es gar nicht mehr geben durfte.
Sie war tot, ermordet von einem seiner Schergen. Aber da war
sie wieder, lebte eindeutig!
Lucifuge Rofocale begriff das nicht.
»Vernichtet sie!« brüllte er. »Tötet sie! Löscht sie aus!
Endgültig!«
»Ich werde es tun, Herr«, versprach Burrasco.
Ein eisiger Hauch wehte durch die flammenumloderte
Halle.
Lucifuge Rofocale sah den Sturm-Teufel an. Und nickte. Dabei
grinste er drohend.
Burrasco wußte, was ihn erwartete, wenn er versagte…
***
Nachdem der Sturm-Teufel sich zurückgezogen hatte, scheuchte
Lucifuge Rofocale auch die anderen fort. Nur eine Halbdämonin
durfte bleiben und ihn verwöhnen. Doch er registrierte ihre
Zuwendungen kaum.
Er sah dieses blonde Mädchen in der Kristallkugel.
Er hatte die Blonde töten lassen.
Merlin hatte ihn dafür zur Rechenschaft ziehen wollen, hatte
ihn zu einem Zweikampf herausgefordert.
Nur LUZIFER war Zeuge dieses Todesspiels gewesen. LUZIFER
hinter der Flammenwand, der Kaiser der Hölle.
Merlin hatte ihn in diesem Kampfspiel gedemütigt. Das war
seine Rache für den Tod der Blonden gewesen. Lucifuge Rofocale
hatte Merlin damit treffen wollen, doch Merlin hatte ihn selbst
noch schwerer getroffen.[1]
Obgleich es außer LUZIFER keinen Zuschauer gegeben hatte,
hatte sich Lucifuge Rofocales Niederlage offenbar rasch
herumgesprochen. Wie anders sollte der Erzdämon es sich sonst
erklären, daß hinter seinem Rücken geraunt wurde und daß der
Sturm-Teufel respektlos zurückgegrinst hatte, ehe er sich verneigt
hatte und gegangen war?
Burrasco wollte von Lucifuge Rofocales Niederlage profitieren!
Wenn es ihm gelang, den Auftrag des Geflügelten auszuführen, stand
er da als derjenige, der es geschafft hatte, besser zu sein als
Satans Ministerpräsident.
»Warte, mein Bester«, knurrte der Erzdämon. »Sie muß endgültig
tot sein und nicht ein weiteres Mal wiederkehren. Erst dann wirst
du Ruhm und Ehre in Anspruch nehmen und mich in deinen Schatten
stellen können…«
Er stieß die Halbdämonin zurück, die mit vollem Körpereinsatz
versuchte, seinen Dämonenstolz wieder aufzurichten. Sie stürzte und
rutschte über den rauhen Lavaboden, aber sie blieb stumm und wagte
nicht, den Zorn des Erzdämons auf sich zu lenken. Ihre hübsche
Figur konnte ihn derzeit nicht reizen.
Er mußte herausfinden, warum sein Opfer wieder lebte - oder
besser, immer noch lebte!
Wenn er das wußte, fand er vielleicht eine Möglichkeit, sie
endgültig zu töten und damit immer noch über Merlin zu
triumphieren.
Er mußte dabei nur noch etwas schneller sein als
Burrasco.
Der Erzdämon machte sich auf, seinem Büttel zur Erde zu folgen
und sich wie er unter die Menschen zu begeben.
***
Jill kam mit der Cola-Flasche heran und füllte die beiden
Pappbecher wieder auf. Kopfschüttelnd sah sie den jungen Mann an,
der sein Notebook eingeschaltet hatte und mit Tasten und Trackball
arbeitete. Aber beileibe nicht an einem Computerspiel. Das hätte
sie ihm ja noch beinahe verzeihen können.
Nein, was der farbige LCD-Schirm zeigte, waren Tabellen und
Textausschnitte, die er miteinander verglich.
»Du kannst wohl auch im Urlaub nicht von deiner Arbeit lassen,
wie?« seufzte Jill Carpenter. Sie zupfte an den Stoffetzen herum,
die sie sich anstelle eines Badeanzugs um den Körper gewunden
hatte, und drapierte sie ein wenig anders, damit sie noch etwas
mehr von ihrer sonnengebräunten Haut zeigten. Einen Badeanzug oder
Bikini konnte jede tragen. Diese fransigen Lappen waren da viel
aufregender, weil sie ständig zu verrutschen oder sich ganz vom
schlanken Körper zu lösen schienen. Jill verstand sich auf die
Kunst, diese Fetzchen sogar am Körper zu halten, wenn sie sich im
Wasser tummelte.
Eine weitere Kunst war es, besagte Fetzchen im richtigen
Moment doch fallen zu lassen.
Andrew ›Cumulus‹ Cartwright sah von seinem Notebook auf.
»Wieso Arbeit? Das ist Urlaub.«
»Ach ja. Wetterstatistiken.«
»Natürlich. Du weißt doch, das ist mein Hobby. Zum Beruf habe
ich's ja nur zufällig machen können. Und Hobby und Urlaub gehören
doch wohl zusammen, oder?«
»Da gibt's noch ein paar andere Dinge, die zum Urlaub gehören.
Himmel, Andy, fällt dir bei diesem prachtvollen Sonnenschein nichts
Besseres ein, als da zu hocken und deinen Schlepptop zu
behacken?«
Er nahm die Sonnenbrille ab.
»Dieser prachtvolle Sonnenschein wird nicht lange bleiben«,
prophezeite er. »Vielleicht solltest du dich schon mal nach 'nem
Wintermantel Umsehen.«
Sie lachte.
»Nein, im Ernst. Da kommt was auf uns zu. Wir sollten von hier
verschwinden, wenn wir nicht weggeweht werden wollen.«
»Du spinnst ja, Cumulus«, sagte sie etwas spöttisch. Sie erhob
sich wieder und ging zum Wasser zurück. Dabei ließ sie die
Stoffreste so verrutschten, daß er für ein paar Sekunden ihre
völlig freie Rückansicht genießen konnte. Aber vermutlich, dachte
sie resignierend, genoß er eher den Anblick der paar Wölkchen am
kitschpostkartenblauen Himmel, denen er seinen Spitznamen
verdankte.
Andrew arbeitete beim Wetterdienst der NASA. Er war nicht nur
gut, er war Spitzenklasse. Eben weil ihm seine Arbeit Spaß machte.
Aber die wenigsten konnten verstehen, daß Wetterbeobachtung und das
Führen von Statistiken, ihr Vergleichen mit den Klimaverhältnissen
früherer Jahre, Spaß machen konnten. Mit den Aufzeichnungen des
sogenannten Hundertjährigen Kalenders gab er sich dabei nicht
einmal zufrieden, sondern erstreckte seine Hobby-Forschung, die ihr
Echo auch im Berufsleben fand, bis in die fernste Vergangenheit.
Bohrkerne aus dem kilometertiefen Polareis verrieten ihm mehr über
Wetterphasen aus der Frühzeit der Erde, und er versuchte, einen
sich über Jahrhunderttausende erstreckenden Übersichtsplan zu
erstellen.
Dazu besaß er eine erstaunliche Beobachtungsgabe. Aus
winzigsten Zeichen konnte er Rückschlüsse auf Wetterveränderungen
ziehen.
Was er eben registriert hatte, ehe Jill zu ihm kam, war
erstaunlich. Er hätte gern mit ihr darüber geredet und es ihr
erklärt, aber an dieser für sie eher trockenen Materie war sie
nicht interessiert. Sie zog das nasse Element vor, vor allem bei
dieser Hitze, und erfrischte sich in der nahenden Flut.
Er sah wieder zum Himmel.
Der sah völlig normal aus. Aber Andrew Cartwright spürte, daß
es anders war. Am meisten verblüffte ihn, daß der Wetterumschwung
äußerst spontan erfolgen würde. Schneller, als es eigentlich
möglich war. Solche Sturmfronten, wie er sie sah, brauchten ihre
Zeit, um sich aufzubauen.
Hier offenbar nicht.
Und das konnte sicher nicht daran liegen, daß sie sich nicht
im tornadogebeutelten Florida befanden, sondern an Italiens
Sonnenküste.
Er speicherte seine Daten, schaltete das Notebook aus und
schob es zusammengeklappt in die Tragetasche. Er brachte den
Computer im gemieteten Fiat Punto in Sicherheit und sah sich nach
Jill um.
»Komm aus dem Wasser«, rief er ihr zu. »Laß uns von hier
verschwinden.«
Sie richtete sich auf. Hatte sie ihm nicht zugehört? »Wir
bekommen Besuch«, rief sie und deutete mit ausgestrecktem Arm am
Strand entlang.
Andrew sah in einiger Entfernung eine Reiterin.
»Die wird sich auch noch wundern«, murmelte er prophetisch. Er
raffte zusammen, was sie für ihr Strandpicknick um sich herum
verstreut hatten, und brachte es in den Wagen. »Jill«, rief er
wieder. »Es wird Zeit.«
»Du bist wirklich verrückt!« rief sie. »Vergiß dein Wetter,
und komm auch ins Wasser! Es ist wunderbar…«
Sie sah zum blauen Himmel.
Der verdunkelte sich rasch.
Da endlich begriff sie, daß etwas nicht ganz so war, wie sie
es sich erhoffte.
Da schlug der Blitz ein…
***
Der Sturm-Teufel hatte sein Opfer entdeckt. Er begann seine
Kraft zu entfesseln. Es bedurfte eines enormen magischen Aufwandes,
eine so extreme Wetterveränderung hervorzurufen, wie er sie hier
benötigte, aber es war eine günstige Gelegenheit, auf die er nicht
verzichten wollte.
Eine einsame Landschaft. Wasser, schmaler Strand, niemand weit
und breit. Keine Touristengegend. Nur zwei andere Sterbliche. Und
auf die kam es nicht an.
Wenig Aufmerksamkeit, eine blitzschnelle Aktion, und -
Tod.
Vielleicht würde alles ja viel schneller gehen, als er
ursprünglich angenommen hatte. Immerhin war es schon fast ein
Wunder, daß er so schnell fündig geworden war. Erst hatte er noch
gezweifelt; war sie es tatsächlich?
Aber alles stimmte überein mit dem Bild, das Lucifuge
Rofocales Kristallkugel gezeigt hatte. Auch die Aura, die mit
übermittelt worden war, stimmte.
Wenngleich ihm etwas an dieser Aura nicht gefiel…
Da griff er an!
***
Für wenige Augenblicke glaubte Cartwright, eine bösartig
verzerrte Fratze am Himmel zu sehen. Aber es war wohl eher die
Lichterscheinung des Blitzes, die diesen Eindruck in ihm
hervorrief.
Zugleich fegten die ersten Sturmböen über den Strand.
Wirbelten Sand hoch, peitschten das Wasser.
Innerhalb weniger Augenblicke veränderte sich die Wetterlage
radikal.
»Das glaubt mir keiner«, murmelte er und griff nach der
Sonnenbrille, die ihm der Sturm vom Kopf riß und davonwehte. Der
Himmel wurde nachtschwarz. Erneut zuckte ein Blitz, schlug nahe am
Wasser in den Sand.
Warum nicht in die Bäume, die weiter zurück die schmale Straße
säumten und viel höher aufragten? Wieso suchte der Blitz sich nicht
die höchste Erhebung aus, wie er es gefälligst den Naturgesetzen
zufolge zu tun hatte?
Jetzt schrie Jill entsetzt. Sie rannte aus dem Wasser, auf
Andrew zu. Gerade noch rechtzeitig. Ein weiterer Blitz raste ins
Wasser, das aufbrandete und schäumte und vom Sturm jetzt auf die
Menschen zugetrieben wurde.
Wo war die Reiterin geblieben?
Cartwright sah sie; sie trieb ihr weißes Pferd an und preschte
heran. Sie schien zu wissen, daß die Straße hier am nächsten am
Strand war, daß eine kleine Ortschaft nicht weit entfernt war.
Dorthin schien sie zu wollen.
Die heranbrandende Woge verfehlte Jill nur knapp, fiel wenige
Armlängen hinter ihr zusammen, versperrte Cartwright für einen
Moment den Blick auf die blonde Reiterin. Der Sturm riß ihn beinahe
von den Beinen, trieb Jill wie einen Spielball vor sich her. Daß
die Stoffetzen längst fort waren, schien sie nicht mal zu wissen.
Der Sturm fetzte Andrew beinahe das Hemd vom Körper, rüttelte an
dem kleinen Wagen, drohte ihn umzuwerfen.
Cartwright bekam Jill zu fassen, hielt sie fest. Sie schrie
auf. Wieder zuckte ein Blitz, gleich ein ganzes Dutzend Blitze, vom
Himmel, schlug überall ein. Die Umgebung verschwamm.
Blitze, auf die kein Donner folgte?
Oder war der im Tosen der Elemente gar nicht mehr zu
hören?
Ohrenbetäubend das Rauschen und Donnern der aufgewühlten See,
die ihre nächste Sturm woge jetzt bereits fast bis an das kleine
Auto schickte.
Wo war die Reiterin geblieben?
Cartwright sah sie nicht mehr.
Aber er sah, daß die nächste Woge, die sich bereits aufbaute,
den Wagen erreichen und davonspülen würde.
Er stopfte Jill förmlich in den Punto, warf sich hinter das
Lenkrad. Der Zündschlüssel steckte. Warum sprang die Karre nicht
an? Der Anlasser orgelte und orgelte, und der Motor schüttelte
sich, wollte nicht rund anlaufen…
Der Orkan rüttelte an dem Fahrzeug, das tief zur Seite
einfederte, zu kippen drohte, aber dann knallte es doch wieder auf
die Räder zurück.
»Das Wasser!« kreischte Jill, die mit weitaufgerissenen Augen
durchs Fenster starrte und den Tod kommen sah.
Da kam der Motor!
Zum Wenden blieb keine Zeit.
Rückwärtsgang!
Vollgas!
Beinahe hätte er die Maschine wieder abgewürgt. Dann schoß der
Fiat rückwärts davon. Cartwright versuchte ihn auf dem harten
Sandbuckel zu halten, der den Weg zum Strand darstellte; rechts und
links war der Boden weich, und die Räder würden sich blitzschnell
im Sand eingraben.
Funktionierte der alte Schleudertrick mit der Handbremse, der
so oft in Action-Filmen gezeigt wurde, auch beim
Rückwärtsfahren?
Cartwright riskierte es nicht, es auszuprobieren.
Er jagte den Wagen mit hoher Geschwindigkeit rückwärts, trotz
der Schwierigkeiten, die er hatte, die Lenkung dabei gerade zu
halten. Der niedrig übersetzte Rückwärtsgang zwang dem Motor
ungesund hohe Drehzahlen ab. Dann endlich festerer Boden…
Bremsen!
Drehen!
Hinter ihnen klatschte das Wasser auf den Strand, nur ein paar
Dutzend Meter entfernt rollte die Woge schäumend aus. Die nächste
war schon unterwegs. Irgendwo in der Ferne glaubte Cartwright,
einen Körper durch die Luft fliegen zu sehen.
Und im nächsten Augenblick…
***
...war alles vorbei!
Andrew Cartwright starrte die Szenerie fassungslos an.
Kein dunkler Himmel mehr, kein tobender Orkan, kein kochendes
Wasser, das sintflutartig heranschoß, um alles zu zerstören, was
ihm im Weg war! Über der Landschaft strahlte wieder die
Sonne!
Was zu sehen blieb, waren die Verwüstungen, die der Orkan
angerichtet hatte. Aufgewühlter Boden, Schlamm, große Wasserlachen
überall. Weggerissene Sträucher, abgeknickte Bäume.
Aber das war auch schon alles!
»Andy«, hörte er Jill neben sich auf dem Beifahrersitz leise
sagen. »Andy, was ist das gewesen? Andy, sag mir, daß ich träume…
daß das nicht passiert ist! Es ist doch nicht passiert,
oder?«
»Doch«, erwiderte er. »Da wir nicht beide zugleich denselben
Alptraum gehabt haben können, ist es passiert.«
»Aber wieso? Wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er schulterzuckend.
»Aber du weißt doch sonst immer alles!« fuhr sie ihn an.
»Ich bin nicht allwissend«, gab er verärgert zurück. »Das habe
ich nie behauptet!«
»Aber du hast es vorausgesagt! Du hast es vorher gewußt!
Woher?«
»Kann ich dir wirklich nicht sagen«, erwiderte er. Er stieg
aus, sah sich um. Es war warm wie vor dem Chaos. Bestes
Urlaubswetter.
Doch es war kein Traum gewesen. Die Verwüstungen, die
Veränderungen im Strandbereich bewiesen, daß die Katastrophe
tatsächlich stattgefunden hatte.
Wehe, wenn das hier einer der stets überlaufenen
Touristenstrände gewesen wäre, kein einsames Geländestück, das
höchstens von Einheimischen besucht wurde. Gerade, weil sie hier
Ruhe hatten, waren sie ja hergekommen.
An einem jener Strandgebiete wäre die Katastrophe mörderisch
gewesen.
Cartwrights Gedanken schlugen Kapriolen.
Warum war es hier passiert, an einer so einsamen, abgelegenen
Stelle?
Eine gezielte Aktion?
Aber von wem gezielt? Und gegen wen?