‚Ich will Ihn suchen...’ - Holger Niederhausen - E-Book

‚Ich will Ihn suchen...’ E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Die 13-jährige Lara geht auf die Konfirmation zu, aber sie hat viele Fragen. Sie ist sich über ihre eigene religiöse Sehnsucht unsicher – und mehr noch über das Ziel dieser Sehnsucht... Voller Hoffnung erwartet sie die Wiederbegegnung mit einem alten Holzschnitzer. Er könnte ihre wahren Fragen vielleicht beantworten. Als tatsächlich die Gelegenheit da ist, mit ihm zu sprechen, beginnt für sie ein Weg, auf dem sie viel tiefer in ihre Fragen und ihre wahre Sehnsucht hineingeführt wird, als sie es je zu hoffen gewagt hatte...

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen…

gewidmet allen jungen Menschen,die Ihn suchen.

Aufgeregt schlug ihr Herz, als sie auf die Hütte zugingen. Sie hatte eine große Frage auf dem Herzen und eine sehr große Hoffnung… Ob der alte Holzschnitzer noch da war? Ob er sich an damals erinnern würde? Ob er ihr Antworten geben könnte? Sie wusste nicht, wie das dann gehen sollte, aber sie hatte jenen kurzen Moment von damals nie vergessen…

Sie sah die Engel schon von weitem. Sie standen noch immer vor der Hütte – größere und kleinere Holzengel. Sie meinte, sich zu erinnern, dass es sogar ganz dieselben waren. Hier war es gewesen – doch der Alte war jetzt nicht da, er war wahrscheinlich drinnen. Ihre Eltern betraten den großen Raum, der als Verkaufsraum diente und wo, wie damals, viele verschiedene Holzsachen auf großen, zusammengestellten Tischen in der Mitte standen und auch in Regalen an den Wänden ausgestellt waren. Unschlüssig ging sie wieder nach draußen. Wenn er gleich käme, was sollte sie sagen? Ihre Eltern wussten nichts von ihren Gedanken; sie selbst überblickte sie auch nicht weiter als bis zu jener Frage, die sie ihm stellen wollte…

Jetzt hörte sie die Stimme des alten Holzschnitzers. Sicher hatte er ihre Eltern gehört und war aus seiner Werkstatt gekommen. Sie versuchte, etwas zu erkennen, aber hier draußen schien die Sonne, und von hier aus schien das Innere der Hütte ganz dunkel zu sein. Sie trat wieder an den Eingang heran – und jetzt sah sie den Alten mit ihren Eltern. Ja, er war es, und er hatte auch noch denselben grauweißen Bart wie damals. Sie erinnerte sich wieder genau an seine Stimme. Wieder ging sie die zwei Schritte zu den Engeln. Wie könnte sie mit ihm reden, ohne dass ihre Eltern dabei waren und alles hörten? Verzweifelt spürte sie jenes Gefühl in der Brust zunehmen, das man hatte, wenn eine wesentliche Gelegenheit sich näherte und die Gefahr immer größer wurde, dass man sie ungenutzt vorübergehen ließ…

Dann stand der alte Holzschnitzer auf einmal an der Tür.

„Hallo“, sagte er lächelnd. „Du bleibst lieber hier draußen?“

„Ich, äh…“, ihr Herz schlug ihr nun bis zum Halse, „darf ich Sie etwas fragen?“, brachte sie hastig heraus.

„Aber natürlich.“

Sie sah das warme Lächeln des Alten. Nun würde es sich entscheiden…

„Wir waren vor vier Jahren schon mal hier. Als ich neun war. Damals stand ich auch hier, und Sie waren dort. Und ich hatte sie gefragt: Glauben Sie an Engel?“ Und nun legte sich all ihre bange Erwartung in die entscheidende Frage: „Erinnern Sie sich?“

Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz vor Anspannung aussetzte.

„Ja, ich erinnere mich“, sagte der Alte mit warmer Stimme.

„Und du bist ziemlich groß geworden…“

Das war jetzt unwesentlich. Hastig fuhr sie fort:

„Sie antworteten damals: Die Engel sind die Diener des Christus. Erinnern Sie sich auch daran?“

„Natürlich tue ich das…“

Sie spürte, wie ihre Anspannung ein wenig nachließ und leise einer großen Hoffnung Platz machte, die sie so innig und heimlich in ihrem Herzen verschlossen hegte.

„Die Art, wie Sie das gesagt haben, habe ich nie vergessen.

Ich habe seitdem immer geglaubt, dass Sie etwas von diesen Dingen wissen. Wissen Sie etwas von Christus?“

Der Alte lächelte überrascht.

„Oh! Du stellst die größte Frage, die man überhaupt stellen kann! Ja, ich weiß sehr viel von Christus…“

„Na, Lara, was machst du denn hier draußen?“

Ihre Mutter war wieder an die Tür gekommen.

Sie antwortete verzweifelt:

„Oh Mama, bitte, kann ich noch kurz allein mit dem Mann sprechen?“

„Was?“, fragte ihre Mutter verwirrt. „Äh, ja doch, natürlich – wenn du willst…“

Noch immer irritiert wandte sie sich zögernd um und ging wieder hinein. Ihre Mutter tat ihr leid, aber was sollte sie tun?

Der Alte sagte ruhig:

„Wir könnten uns kurz auf die Bank setzen, die um die Ecke steht. Wollen wir das tun? Das kannst du deinen Eltern sagen…“

Ja, das war wunderbar!

„Sehr gerne!“

Sie betrat eilig den Raum, in dem ihr Vater noch immer die ausgestellten Holzstücke betrachtete und ihre Mutter sich sofort wieder nach ihr umdrehte, als sie sie sah.

„Mama, Papa – ich muss mit dem Mann etwas besprechen.

Wir sitzen um die Ecke auf der Bank.“

„Was denn aber, Lara? Was musst du mit ihm besprechen?“

„Das erkläre ich euch nachher!“

Und schon war sie wieder draußen. Der Alte lächelte und ging ihr voran auf die rechte Seite, wo an der Wand der Hütte tatsächlich eine einfache Bank in der Sonne stand.

Der Alte setzte sich und lehnte sich an die Hüttenwand. Dann sah er sie wieder mit diesen warmen, gütigen Augen an und fragte:

„Was möchtest du denn wissen? Was liegt dir auf dem Herzen…?“

Jetzt konnte sie in Ruhe alles sagen. Es sprudelte aus ihr heraus…

„Ach, wo soll ich anfangen – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich habe jetzt Konfirmandenunterricht, und es geht um Christus. In der Sonntagshandlung sage ich immer: ‚Ich will ihn suchen’. Aber das ist es gerade: Ich weiß nicht, ob ich das will – und ich weiß nicht, wie ich das machen soll! Doch, ein Teil von mir will ihn sehr, sehr suchen. Ich habe eine so große Sehnsucht danach, zu wissen, wie ich das tun soll! Es ist, wie wenn man etwas unbedingt möchte; wenn einem nichts wichtiger ist – und am nächsten Tag weiß man plötzlich nicht einmal mehr, ob man es möchte. Verstehen Sie das überhaupt?“

Der Alte nickte.

„Oh ja, das verstehe ich sehr gut…“

„Was soll ich tun? Können Sie mir helfen?“

„Ja, natürlich könnte ich das? Wie lange seid ihr denn hier?“

„Zwei Wochen.“

„Zwei Wochen? Seid ihr gerade gekommen?“

„Ja.“

„Wie kommt das?“, lachte der Alte. „Gleich am ersten Urlaubstag hierher?“

„Ja“, gestand sie. „Ich habe meine Eltern dazu gedrängt, wieder hierherzukommen. Ich habe ihnen gesagt, ich möchte unbedingt wieder die Holzsachen anschauen…“

„Hm… Konntest du ihnen nicht die Wahrheit sagen?“

„Nein, ich wusste nicht, wie…“

„Aber das wirst du jetzt wohl müssen. Denn ohne dass sie davon wissen, kann ich gar nichts tun.“

„Ja, natürlich.“

„Aber, was möchtest du eigentlich, Lara?“

Sie seufzte ratlos.

„Ich möchte wissen, was ich glauben soll!“

„Was du glauben sollst…?“, wiederholte der Alte langsam.

„Oder möchtest du wissen, wie du glauben kannst? Möchtest du lernen, wirklich zu glauben?“

Sie dachte nach. Auch das war so schwer zu sagen!

„Wenn ich diese Worte sage: ‚Ich will ihn suchen…’, dann ist manchmal diese Sehnsucht überstark! Es ist wie ein Ziehen … hier…“

Sie legte ihre Hand auf ihre Brustgegend.

„Ja, wenn ich daran denke, möchte ich glauben. Ich möchte lernen, wie man das macht. – Und dann wieder weiß ich es nicht…“

Wieder nickte der Alte.

„Was hältst du davon, wenn wir uns einmal in Ruhe ein, zwei Stunden unterhalten und wir dann gemeinsam herausfinden, was du genau möchtest und was wir dann tun können…?“

„Ja, das möchte ich sehr gerne!“, sagte sie strahlend.

„Gut, willst du es deinen Eltern sagen?“

„Wie soll ich das denn machen?“

„Soll ich mit ihnen reden?“

„Ja, bitte.“

„Gut, wartest du hier dann solange?“

„Oder … kann ich dabei sein?“

Langsam sagte der Alte:

„Das könntest du natürlich auch… Nur wäre es dann besser, wenn du es ihnen selbst sagst. Weißt du, wenn ich mit ihnen reden soll, ist es für dich nicht schön, dabei zu sein, weil dann über dich gesprochen wird. Ich finde das auch nicht schön, aber es sind nun einmal deine Eltern, und daher müssen sie wissen, worum es geht, und auch einverstanden sein. Sagen wir so: Wenn du dabei bist, möchte ich nicht über dich sprechen. Es geht also nicht. Entweder du sagst es ihnen selbst, oder du vertraust mir und wartest hier ganz gemütlich in der Sonne… Vielleicht wollen deine Eltern dich ja anschließend noch dabei haben oder haben selbst noch Fragen an dich… Dann kommst du natürlich sehr wohl dazu, oder wir kommen hierher.“

„Gut. Ich verstehe…“

„Also gut, bis gleich.“

Der Alte lächelte ihr noch einmal zu.

Sie blieb aufgeregt zurück. Um sie herum zwitscherten die Vögel. Unweit von ihr standen bereits die Bäume, mit denen der Wald die Hütte umgab. Sie war regelrecht in den Wald hineingebaut, nur von ein wenig Rasen und einigen Blumen umgeben. Ein kleiner Pfad führte zu ihr. Aber auch der Wald ging nicht mehr sehr weit. Die Hütte lag als Abzweig an einem Wanderweg, der dann sehr bald ins Offene führte, von Wiesen und Weiden umgeben war, um schließlich zu einem Wasserfall zu führen, an dem es eine Almhütte gab. Dort konnte man dann, wenn man wollte, richtig Bergsteigen, steilere Hänge hinauf. Vor vier Jahren waren sie nach dem Besuch der Hütte bis zum Wasserfall gewandert…

Drinnen hörte sie die Stimmen des Alten und ihrer Eltern, ohne die Worte unterscheiden zu können. Einmal blickte sie sich um und schaute durch das Fenster. Da sah sie die drei Erwachsenen stehen, aber dann drehte sie sich wieder um. Sie wollte den alten Holzschnitzer wirklich ganz allein mit ihren Eltern reden lassen…

Das Gespräch dauerte immer länger. Sie hatte gedacht, es würde nur zwei oder drei Minuten brauchen. Was besprachen sie da drinnen alles? Langsam wurde ihr doch unwohl bei dem Gedanken, dass sie da drinnen über sie sprachen. Hatte sie sich in dem alten Holzschnitzer getäuscht? War er doch nur ein Erwachsener wie jeder andere? Verstand er sie wirklich? Wieder schaute sie kurz verstohlen durch das Fenster. Wieder sah sie die Erwachsenen im Gespräch vertieft. Jetzt schaute zufällig ihre Mutter zu ihr herüber – schnell drehte sie sich wieder um.

Ach – das war eine furchtbare Idee gewesen. Warum mussten Erwachsene über alles immer so lange reden? Und warum darüber? Konnten sie nicht einfach sagen ‚alles in Ordnung’? Oder was redete der alte Holzschnitzer über sie? Sie verstand es nicht…

Resigniert zog sie die Beine an, so dass ihre Füße auch auf der Bank Platz hatten, umschlang ihre Beine und stützte den Kopf auf ihre Knie.

Schließlich kamen sie alle um die Ecke, ihre Eltern voran, der alte Holzschnitzer hinter ihnen.

„Aber das hättest du uns doch sagen können!“, begann ihre Mutter.

Jetzt war also doch alles furchtbar peinlich!

„Mama…“, begann sie.

Warum verstanden Eltern nicht, dass man manche Dinge nicht sagen konnte!?

„Ist schon gut“, sagte nun ihr Vater. „Herr…“

„Weißenberg“, sagte der Alte.

„Herr Weißenberg hat uns alles erklärt. Du willst mit ihm also sprechen. Das kannst du gerne tun. Wann möchtest du das denn?“

Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Es war also doch alles in Ordnung…

„Wirklich!?“, sagte sie strahlend. „Ich weiß nicht … wann kann ich denn?“

„Nun…“, überlegte ihr Vater. „am besten wäre es dann doch wohl, wenn du es jetzt gleich machst. Wir könnten dann ein, zwei Stunden spazieren gehen und dich nachher hier wieder abholen. Was denkst du?“

„Ja!“, sagte sie freudig. „also, sagen wir, in zwei Stunden!“

„Gut“, sagte ihr Vater. Und mit einem Blick auf den Holzschnitzer:

„Ist das für Sie auch in Ordnung?“

„Ja, natürlich“, sagte der Alte lächelnd.

Sie freute sich unheimlich. Voller Aufregung und Spannung erwartete sie, was nun passieren würde…

„Also dann … bis nachher!“, sagte ihr Vater.

„Bis nachher, Lara!“, sagte auch ihre Mutter, während sie sie noch einmal lange ansah.

„Ja, bis dann!“, erwiderte sie und winkte kurz.

Sie sah ihren Eltern hinterher, die nun den kleinen Pfad wieder zum Hauptweg zurückgingen.

Eine seltsame Situation, seltsam, aufregend, ganz und gar unerwartet – und doch hatte sie genau so etwas so innig erhofft, seit sie vor ungefähr zwei Monaten erfahren hatte, dass sie hier wieder Urlaub machen würden…

Sie sah den Alten erwartungsvoll an.

Dieser lächelte und sagte:

„Komm, wir setzen uns einfach wieder…“

Eine einfache Bank in der Sonne, hinter einem das Holz der Hütte. Die Vögel zwitscherten noch immer…

*

„Warum hat es so lange gedauert?“, fragte sie, weil sie auch diese Frage nun doch nicht mehr unterdrücken konnte.

„Ja, das tut mir leid“, sagte der Alte. „Weißt du – ich musste deinen Eltern doch erst einmal die ganze Situation irgendwie klarmachen. Ich musste ihnen sagen, dass du etwas suchst – so ist es doch…?“

Sie nickte.

„Und zugleich musste ich natürlich herausfinden, was deine ungefähre Situation ist, die Situation deiner Eltern. Wie du zum Konfirmandenunterricht gekommen bist; wie sie zur Christengemeinschaft gekommen sind –“

„Sie kennen das?“, fragte sie überrascht.

„Ja. Ich habe vor vielen Jahren auch einmal in der Stadt gelebt. Dort gab es auch eine Gemeinde…“

„Und – wie finden Sie das? Ich meine, es ist doch anders als andere Kirchen…“

„Langsam, langsam!“, lachte der Alte. „Sonst kommen wir vom Hundertsten zum Tausendsten. Ich werde schon alle deine Fragen beantworten, keine Angst. Ich will nur erst einmal deine erste Frage zu Ende beantworten: warum es so lange gedauert hat.“

„Ja, Entschuldigung…“

„Nein, das ist schon gut, ich verstehe ja deine Aufregung, sehr, sehr gut sogar. Und am liebsten würde ich natürlich alle deine Fragen auf einen Schlag beantworten! Aber zugleich ist es gerade auch das Schöne, dass das nicht geht. Je länger eine Antwort dauert, desto länger kann man miteinander reden – das ist doch auch wunderbar…?“

„Ja, stimmt!“, lachte sie.

„Also jedenfalls – ich musste natürlich eure ganze Situation erst einmal ein wenig kennenlernen. Damit ich deine Eltern verstehen kann, dich verstehen kann, damit dann auch sie diese ganze Situation verstehen können… Und schließlich war ich dann soweit, dass ich ein Gefühl für die ganze Situation bekommen hatte und deinen Eltern noch einmal erklären konnte, was für tiefe Fragen du hast und warum du mich gefragt hast – und wie das ist, dass man nicht alles immer seinen Eltern sagen oder seine Eltern fragen kann und so weiter…“

„Das alles haben Sie ihnen erklärt?“, staunte sie.

„Na ja – so in etwa“, lachte der Alte.

„Das ist ja schön…“, sagte sie. „Dann verstehe ich, warum es so lange gedauert hat.“

„Gut, dann komme ich also jetzt zu deiner nächsten Frage“, sagte der Alte verschmitzt.

„Ich kenne also die Christengemeinschaft, ich kenne die Sonntagshandlung, und ich kenne die Menschenweihehandlung. Und wenn du mich fragst, wie ich das ‚finde’, so ist das eigentlich nicht die richtige Frage. Denn wenn es wirklich um religiöses Erleben geht, geht es nicht um das ‚finden’. Aber ich verstehe schon, was du meinst. Eigentlich fragst du dich, was wohl das Richtige für dich ist. Und solange man sich das fragt, geht es doch immer wieder um ein ‚finden’. Aber erst da, wo man nicht mehr etwas ‚findet’, kommt man zu einem wirklichen ‚Finden’ – nämlich zum Finden dessen, was man wirklich sucht… Verstehst du?“

Sie nickte zögernd. Sie wusste nicht genau, ob sie es wirklich verstand.

„Aber“, fuhr der Alte fort, „du hast mich natürlich auch deshalb gefragt, weil es diese Unterschiede zwischen den Kirchen gibt, und weil die Christengemeinschaft nicht gerade zu den großen, verbreiteten Kirchen gehört. Da kann man natürlich schon einmal besorgt fragen, wie jemand anders, der von außen kommt, das ‚findet’. Doch komme ich eigentlich gar nicht von außen. Die Christengemeinschaft wurde gegründet, weil junge Menschen, die Priester werden wollten, eine neue Form des religiösen Lebens suchten – und weil ein Mensch namens Rudolf Steiner ihnen half, diese Formen zu finden. Durch ihn gibt es auch die Waldorfschule, die du ja besuchst. Aber das ist alles jetzt nicht unser Thema. Nur bin ich all dem sehr verbunden – all dem, was Rudolf Steiner gebracht und gewollt hat; nicht unbedingt, wie es heute aussieht, aber wie es gedacht und gewollt war. Und deswegen kann ich sagen: Ich kenne keinen tieferen, bedeutenderen, wesentlicheren Kultus und Gottesdienst als diesen. Es ist wirklich jene Form des religiösen Lebens, insofern es ein kirchliches, gemeinschaftliches ist, die in unserer heutigen Zeit für die heutigen Menschen gefunden werden wollte…“

„Na ja…“, sagte sie zögernd.

Der Alte lächelte.

„Das war meine Antwort auf deine Frage. Das heißt nicht, dass jemand wie du das auch so empfinden muss. Du ‚findest’ vielleicht etwas ganz anderes. Du kannst, wenn du willst, auch gleich einmal von deinen Erlebnissen erzählen. Ich verstehe deine eigentliche Frage, die du hierher gebracht hast, auch nicht so, dass sie lautet: Wie kann ich die Christengemeinschaft gut finden? Sondern: Wie kann ich wirklich ein religiöses Erleben finden? Wie kann ich herausfinden, was ich suche? Und wenn ich ‚ihn’ suche … wie mache ich das?

Das sind doch deine eigentlichen Fragen oder?“

Sie nickte.

„Ja, das sind sie…“

Der Alte lächelte.

„Mit meiner Antwort auf deine letzte Frage, wollte ich dir also nur die Sicherheit geben, dass ich die Christengemeinschaft nicht etwa merkwürdig finde, sondern dass ich ‚finde’, dass das, was sie eigentlich will und versucht und tut, wirklich mit dem Christus-Wesen innig verbunden ist…“

Sie nickte langsam.

„Aber“, sagte der Alte nun, „jetzt sprich du doch einmal aus, was dir in diesem Zusammenhang am meisten auf dem Herzen liegt. Was soll ich tun? Wobei soll ich dir helfen? Oder welche Fragen soll ich dir beantworten?“

„Ich weiß es doch auch nicht!“, sagte sie mit einiger Verzweiflung. „Wenn ich dann zur Sonntagshandlung gehe, und dann stehe ich da mit lauter kleinen Kindern und vielleicht noch ein oder zwei Kindern aus meiner Gruppe, dann weiß ich manchmal gar nicht, was ich da eigentlich soll. Und wenn dann die Jungen sich sogar noch angrinsen und so etwas – das ist doch dann alles so … künstlich! Und na ja … der Konfirmandenunterricht gefällt mir auch nicht wirklich. Da sind die Jungs noch schlimmer. Aber der Priester ist mir auch nicht wirklich sympathisch. Er behandelt irgendwelche Themen, die mir nicht so viel sagen. Dann müssen wir irgendwelche Texte abschreiben. Dann besichtigen wir irgendwelche Kirchen und so. Ich meine – was hat das alles mit Gott zu tun? Ich meine: wirklich?“

„Oh“, sagte der Alte, „das sind eine Menge Dinge. Das tut mir sehr leid…“

Sie schwieg. Das Mitgefühl des alten Holzschnitzers tat sehr wohl.

„Du fühlst dich dann mit deiner Sehnsucht nach einem religiösen Erleben und auch Verstehen sehr allein, nicht wahr?“

„Ja.“

Der Alte schaute zu den nahen Bäumen hinüber.

„Ja…“, sagte er nachdenklich. „Das ist ein Grundproblem. Dass wir mit unserer religiösen Sehnsucht immer mehr alleine dastehen und allein den Weg finden müssen und uns als Menschen zunächst sogar immer mehr gegenseitig behindern…“

„Wie meinen Sie das?“

„Nun ja – alles, was früher noch sehr einfach war, weil jeder Mensch Gott gesucht hat, mit Ernst gesucht hat, oder nicht einmal gesucht, sondern sozusagen auch gefunden – das ist heute sehr schwer, weil alle Menschen heute unterschiedlich suchen, auch unterschiedlich ernsthaft… Und weil dies immer weniger selbstverständlich ist. Und dann steht man da allein mit lauter kleinen Kindern – und schämt sich, weil man in seinem eigenen Alter ganz allein ist. Und man schämt sich, wenn Jungen mit dabei sind, weil diese scheinbar viel weniger ernsthaft suchen, ja, das Ganze lächerlich machen – und man schämt sich, wenn man es dann eigentlich viel ernster nehmen will als sie… Und dann wird das Ganze begleitet von einem ‚Unterricht’, mit dem man nicht so viel anfangen kann, auch wenn der Pfarrer sich vielleicht Mühe geben mag, aber man versteht nicht, was das mit dem eigentlich Religiösen, mit der eigensten innersten Suche zu tun hat… Und der Pfarrer scheint die Suche nicht zu verstehen. Und man fragt sich vielleicht sogar: Sucht er eigentlich überhaupt selbst? Warum ist er Pfarrer? Und warum bleibt mir das alles so fremd? Eine ungeheure, leidvolle Fülle von Fragen und Erlebnissen ist das…“

Sie war so unendlich dankbar, dass dieser alte Mann das alles so genau, so gut verstand. Schweigend schaute sie zu ihm, ihren Dank nur mit ihren Augen ausdrückend…

„Nun…“, begann der Alte langsam. „Wir hätten jetzt zwei Wochen lang die Möglichkeit, uns auf einen ganz eigenen Weg zu machen – auf einen eigenen, einsamen Weg, der uns ganz allein in das religiöse Erleben hineinführt – ohne jede Störung, ohne alles, was unverständlich und zusammenhanglos und unreligiös bleibt. Du hättest die Möglichkeit, deine ureigensten Fragen wirklich zu stellen und Antworten zu bekommen. Ich könnte dir helfen, wirklich das zu finden, was du suchst…“

„Und wie soll das gehen?“, fragte sie zögernd.

Der Alte lächelte.

„Du könntest zum Beispiel jeden Abend zu mir kommen, und wir könnten etwa zwei Stunden lang diesen Weg betreten. Wir würden im Laufe von zwei Wochen auf diesem Weg sicher sehr weit kommen.“

„Und was für ein Weg ist das nochmal…?“, fragte sie unsicher.

Der Alte lachte.

„Das ist dein Weg! Wir gehen nur dahin, wo du willst. Natürlich immer innerlich gesehen. Der Weg besteht aus deiner eigenen Sehnsucht und deinen eigenen Fragen – und dem Ziel deiner eigenen Sehnsucht und den Antworten, die du suchst. Es ist der Weg, in ein wirkliches religiöses Erleben und auch ein immer tieferes Verstehen hineinzukommen – wenn du das willst…“

Eine stille, sehnsuchtsvolle Erwartung lebte in ihr.

„Ja, das will ich natürlich. Deswegen bin ich ja hier…“

„Ich könnte dich dann abends gerne wieder hinunter in den Ort begleiten. Wo wohnt ihr denn?“

„Es ist eine kleine Pension. ‚Sonnenblick’ heißt sie. Es ist in der Nähe von diesem großen Wellness-Hotel.“

„Ah ja. Na, das ist ja auch nicht weit.“

„Aber dann müssten Sie ja danach noch einmal wieder hier hoch!“, wandte sie ein. „Da sind Sie doch auch eineinhalb Stunden unterwegs!“

„Das macht nichts!“, lachte der Alte. „Ich gehe gern.“

„Ja“, sagte sie leise, mit Blick auf den ganzen Vorschlag des alten Holzschnitzers. „Das wäre wunderbar…“

„Gut! Dann müssen wir das nur noch kurz mit deinen Eltern besprechen.“

Ach, schon wieder… Was würden sie dazu sagen?

„Muss ich dabei wieder draußen warten?“, fragte sie mit einigen Befürchtungen.

„Nein“, sagte der Alte lächelnd. „Das geht ganz gewiss gemeinsam. Und sicher kannst du es ihnen diesmal sagen.“

*

Als ihre Eltern wieder von ihrem Spaziergang eintrafen, sagte sie ihnen nach der Begrüßung:

„Mama, Papa, ich würde gerne jeden Abend hierherkommen, um mit Herrn…“

„Weißenberg“, ergänzte der Alte geduldig.

„…um mit Herrn Weißenberg zu sprechen. Ich möchte das unbedingt!“

„Was – jeden Abend?“, fragte ihr Vater überrascht.

„Ja, bitte!“, drängte sie.

„Ich dachte, wir machen hier Urlaub…“, wandte ihr Vater ein.

„Aber das können wir doch auch!“, erwiderte sie. „Ich meine doch nur abends zwei Stunden!“

„‚Nur abends zwei Stunden’? Wann soll denn das sein? Dass wir nicht einmal gemeinsam abendessen können?“

„Doch…“

„Ja, aber wann denn? Wenn wir um sechs essen, bist du nicht vor halb acht hier oben. Halb zehn … dann bist du erst nach zehn Uhr wieder zurück – das geht auf gar keinen Fall!“

„Bitte, Papa!“

„Nein.“

„Dann müssen wir eben vorher essen!“

„Wir können doch jetzt nicht alles umschmeißen, bloß weil du plötzlich jeden Abend zwei Stunden … hierherkommen willst!“

„Wusstest du das denn vorher schon?“, schaltete sich jetzt ihre Mutter ein. „Ich meine, dass du Herrn … Weißenberg das fragen willst? Hast du uns deswegen hierhergeführt? Warum hast du uns nichts gesagt?“

Sie fühlte sich völlig hilflos und in die Enge getrieben. Nun hörte sie die ruhige Stimme des Alten.

„Sehen Sie, es muss doch dafür eine Lösung geben. Ganz sicher werden Sie diese doch mit Ihrer Tochter finden. Es geht natürlich auch morgens. Der Vorschlag des Abends kam von mir … aber Sie haben natürlich recht, es ist dann alles recht knapp. Auch der Morgen ist eine gute, schöne Zeit. Nur wäre dann Ihre Tochter natürlich auch erst wieder am späten Vormittag zurück…“

Der Vater sah ziemlich verärgert vor sich hin.

„Siehst du?“, sagte er, zu Lara gewandt. „Das ist alles eine ziemlich verrückte, überstürzte Idee!“

Sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

„Ich finde das nicht“, sagte der alte Holzschnitzer mit seiner warmen Stimme. „Nein, das ist es überhaupt nicht. Ihre Tochter hat mir eine Frage gestellt, die sich darauf bezog, dass sie sich an einen Moment von vor vier Jahren noch genau erinnerte. Dieser Moment war es, der sie dazu brachte, Sie gleich am ersten Urlaubstag wieder hier hinaufzuführen. Sie hat diesen Moment vier Jahre lang in ihrem Herzen bewahrt – und sie kam mit einer ungeheuren Frage in diesem Herzen; mit der größten Frage, die man überhaupt haben kann… Ich finde wirklich nicht, dass es eine ‚verrückte’ – oder ‚überstürzte’ Idee ist. Sie müssen Ihre Tochter doch verstehen können?“

Der Vater schaute betreten.

„Nun ja … da haben Sie sicher wohl Recht…“, gestand er zögernd.

„Trotzdem finde ich, du hättest uns etwas sagen können!“, beharrte nun ihre Mutter.

Verzweifelt wünschte sie sich, dass die Situation irgendwie bald zu Ende sein könnte – mit gutem Ausgang. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Von neuem fühlte sie einen Kloß in ihrer Kehle…

Erneut ergriff der Alte das Wort:

„Ganz sicher hat Ihre Tochter das nicht einfach so verschwiegen – und sich sicher auch nicht ganz wohl dabei gefühlt. Aber können Sie nicht auch das verstehen? Versuchen Sie doch einmal zu empfinden, wie das ist: Ein stilles Geheimnis im Herzen zu tragen – voller banger Frage und Hoffnung, ob die Sehnsucht, die man daran knüpft, überhaupt in Erfüllung gehen kann! Hatten Sie als Kind nie ein Geheimnis? Haben Sie nie gefühlt, wie das ist, wenn man seinen Eltern nicht alles sagen kann, obwohl man es vielleicht will – aber die Hoffnung selbst ist zu zart und zu heilig, um sie mit irgendjemandem zu teilen? Sie werden das Vertrauen Ihrer Tochter gerade dann nicht enttäuschen, wenn Sie sie jetzt darin verstehen können…“

Sie spürte, wie ihr nun wirklich die Tränen in die Augen traten, weil sie sich so innig verstanden fühlte – und weil dies wirklich das war, was sie selbst empfand!

Ihre Mutter sah es zuerst.

„Kind! Du weinst ja! Was ist denn los?“

Sie schluchzte auf.

„Es – es – stimmt!“, brachte sie schluchzend hervor. „Genau so ist es, Mama! Kannst du mich denn verstehen?“

„Oh, Lara!“, sagte sie tröstend und schloss sie in ihre Arme.

Dann fühlte sie, wie ihre Mutter ihr über das Haar strich. „Ja, Kind, das kann ich…“

Noch immer ihren Kopf an der Brust der Mutter vergraben, hörte sie nun die Stimme ihres Vaters:

„Nun ja – dann werden wir es wohl so machen… Wenn es Lara so wichtig ist, dann soll sie jeden Morgen hierherkommen, und wir werden warten, bis sie mittags wieder da ist…“

Sie atmete einmal ganz tief ein. Dann löste sie sich wieder von ihrer Mutter und wischte sich verstohlen die Tränen ab.

„Gut, Lara“, sagte der Alte. „Dann erwarte ich dich morgen früh gegen acht. Wenn wir unseren Weg betreten wollen, müssen wir also Frühaufsteher sein…“

Sie sah den alten Holzschnitzer voller Dankbarkeit an.

„Danke!“, sagte sie aus ganzem Herzen.

Er lächelte ihr mit seinen warmen Augen zu. Dann sagte er:

„Ah, warten Sie, ich gebe Ihnen für alle Fälle noch meine Nummer. So können Sie mich jederzeit erreichen.“

Er verschwand kurz in der Hütte und kehrte mit einem kleinen Zettel zurück, den er ihrem Vater reichte.

„Hier, bitte.“

„Vielen Dank. Gut, also dann … überlassen wir Ihnen also vertrauensvoll unsere Tochter und den Vormittag.“

„Vielen Dank. Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen. Natürlich geht es überhaupt nicht um mich. Aber ich verstehe auch sehr gut, dass dies für Sie sehr unerwartet kam. Für mich natürlich nicht weniger – aber der Grund all dessen ist doch sehr bedeutsam. Also vielen Dank … für Ihr Verständnis wiederum!“

„Ja…“

Etwas unbeholfen wandte sich ihr Vater nun zum Gehen. Sie verabschiedeten sich.

„Bis morgen“, sagte sie und sah den Alten nochmals dankbar an. „Ich bin um acht Uhr hier.“

*

Als sie durch den Wald den Weg hinunter zum Ort gingen, sagte sie:

„Es tut mir wirklich leid, dass ich euch nichts gesagt habe. Ich wusste einfach nicht, wie…“

„Ja, Lara, das haben wir jetzt schon verstanden“, beruhigte sie ihr Vater. „Ich wusste nicht, dass du so große Fragen hast.“

Nach einer Weile fragte sie:

„Weshalb geht ihr eigentlich jeden zweiten Sonntag mit mir zur Sonntagshandlung?“

Der Vater überlegte eine Weile.

„Nun … wir finden das schon wichtig.“

„Wie, ‚wichtig’? Aber warum gehst du nicht zur Menschenweihehandlung?“

„Das tue ich doch manchmal. Zu Weihnachten, zu Ostern…“

„Ja – aber warum nicht immer?“

„Na ja, man muss eben … seinen eigenen Rhythmus finden.“

„Und … glaubst du an Gott?“

„Was? Ja – natürlich.“

Sie fand, dass die Worte ihres Vaters etwas ausweichend klangen.

„Wie glaubst du denn an Gott?“, fragte sie.

„Wie meinst du das?“, fragte ihr Vater verwundert.

„Ich weiß auch nicht…“

Sie ließ diese Frage auf sich beruhen. Stattdessen stellte sie eine neue.

„Wieso sind wir in der Christengemeinschaft? Die meisten anderen Kinder aus meiner Klasse haben nur Religionsunterricht in der Schule. Bei einem anderen Lehrer. Warum ich nicht?“

„Nun – man kann sich da in der ersten Klasse entscheiden. Es stellen sich die Lehrer vor. Und damals hat sich eben auch diese Pfarrerin vorgestellt – wie hieß sie noch gleich? Sie hat dann ja zwei Jahre später die Gemeinde gewechselt. Aber was sie sagte, hörte sich eben sehr interessant an. Und ja, dann sind wir mit dir eben zur Sonntagshandlung gegangen. Und das fanden wir auch sehr schön – und wichtig. Den anderen war es vielleicht … zu kompliziert, oder sie haben sich einfach nicht weiter dafür interessiert.“

„Hmm.“

Sie fand es seltsam, dass es so viele unterschiedliche Wege gab, religiös zu sein – oder auch nicht.

Am nächsten Morgen stand sie um sieben Uhr auf. Sie hatte in der Pension ein eigenes Zimmerchen. Ihre Eltern hatten mit ihr vereinbart, dass sie sie noch schlafen lassen sollte. Als ihr Handy sie weckte, war sie auch selbst noch ziemlich müde. Dennoch quälte sie sich zielstrebig aus dem Bett, zog sich an, putzte sich die Zähne und ging dann leise die Treppe hinunter und aus dem Haus.

Es war ein schöner Sommermorgen. Und obwohl sie in den Ferien sonst auch immer erst viel später aufstand, liebte sie doch den frühen Morgen und freute sich, dass die Verabredung mit dem alten Holzschnitzer ihr die Möglichkeit gab, diese Tageszeit auch wirklich zu erleben.

Die Vögel waren längst munter und begleiteten sie, als sie das Waldstück betrat, bei jedem Schritt mit ihrem vielstimmigen Gesang.

Je näher sie der Hütte kam, desto aufgeregter wurde sie wieder. Was tat sie hier eigentlich? Welche Reise, welchen Weg würde der alte Holzschnitzer mit ihr antreten? Er hatte gesagt, es wären ihre eigenen Fragen und ihre eigene Sehnsucht, aus dem dieser Weg bestand. Konnte daraus ein Weg bestehen? Was war ihre Sehnsucht? Es fühlte sich wirklich jeden Tag anders an…

Als sie vor der Hütte stand, war die Tür noch zu. Sie klopfte. Aber wenn der alte Holzschnitzer hinten war, konnte er es doch fast nicht hören? Als auch sie nichts hörte, öffnete sie einfach die Tür.

Drinnen sah sie den Alten bereits vor sich.

„Hallo, Lara! Bitte entschuldige – ich wusste doch, dass ich etwas gehört hatte. Das war mein Fehler, ich hatte vergessen, dir zu sagen, dass die Tür offen ist und du einfach hereinkommen kannst. So früh lasse ich sie sonst nie offen stehen… Komm herein! Hast du gut geschlafen?“

Sie nickte.

„Und – hast du schon gefrühstückt?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein.“

„Aber das musst du doch.“

„Nein, ich habe morgens nicht so viel Hunger.“

„Na gut, aber falls doch, musst du es sagen. Dann komm erst einmal in die Küche.“

Sie folgte dem Alten an den großen Tischen vorbei zur hinteren Tür, wo er in einem kleinen Flur nach links ging, um gleich darauf in eine kleine Küche einzutreten.

Hier hingen an der Wand an den Regalen verschiedenste Bündel mit getrockneten Kräutern. Es gab einen kleinen Herd, einen Kühlschrank, einen Küchenschrank und am Fenster einen sehr kleinen, schmalen Tisch mit zwei Stühlen.

„Setz dich“, sagte der Alte. „Möchtest du einen Tee?“ Sie schüttelte den Kopf.

„Trinkst du gar keinen Tee?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Und was dann?“

„Meistens Saft.“

„Apfelsaft?“

„Ja, zum Beispiel.“

„Hm, den müsste ich erst kaufen.“

„Das macht nichts. Ich brauche nichts.“

„Doch, man sollte lieber etwas zu viel trinken als zu wenig. Ich werde mir sicher nachher noch einen Tee kochen. Auf jeden Fall hast du hier erst einmal ein Glas Wasser – für den Notfall!“

Er nahm ein Glas und füllte es mit Leitungswasser.

„Das ist natürlich das gute Bergwasser!“, sagte er, als er es vor ihr hinstellte.

Sie lachte.

„Danke.“

Der Alte setzte sich ihr gegenüber auf den anderen Stuhl.

„Ja…“, sagte er dann langsam. „Der Anfang ist immer das Allerschwierigste.“

Er sah sie an.

„Hast du jetzt eine ganz bestimmte Frage mitgebracht – oder soll ich anfangen?“

„Sie.“

„Gut. Also ich fange an, aber bei allem, was ich sage, vorschlage, tue oder was auch immer – wann immer in dir eine Frage auftaucht, oder du etwas wissen möchtest, etwas sagen möchtest und so weiter, dann sprich es aus. Wir wollen ja deinen Weg gehen, also musst du sagen, wo er weiterführen soll – verstehst du? Wann immer ich nicht mehr ganz diejenige Richtung einschlage, die du eigentlich gesucht hast, musst du es mir sagen und die Richtung neu formulieren – in Ordnung…?“

Auf einmal verstand sie in ganz neuer Weise, wie er das mit dem ‚Weg’ gemeint hatte, von dem er immer wieder gesprochen hatte.

„Ja!“, sagte sie mit innerer Freude.

„Gut.“ Der Alte lächelte. „Warum ist der Anfang immer am schwersten? Weil ich dich noch nicht kenne – und du mich auch nicht. Wir lernen uns also erst kennen – und wollen dennoch schon über das Religiöse sprechen. Aber erst wenn ich dich wirklich kennenlerne, kann ich auch wirklich auf dich eingehen. Und erst wenn du mich kennenlernst, kannst du mir voll vertrauen und ohne jeden Rückhalt Fragen stellen, Dinge aussprechen… Das kannst du jetzt vielleicht auch schon, aber du empfindest doch sicher den Unterschied zwischen dem Noch-fremd-Sein und dem Sich-wirklich-vertraut-Sein?“

Sie nickte.

Der Alte fuhr fort.

„Ja… Und das Religiöse braucht eigentlich dieses volle Vertrautsein. Und deswegen wird es immer mehr etwas, was ganz nur im Inneren zu finden ist. In uns selbst müssen wir das Religiöse finden! Und helfen kann uns hier keiner – außer jemand, dem wir voll und ganz vertrauen können. Sonst bleibt es künstlich, fremd, unbefriedigend, nicht wirklich etwas Ur-Eigenes…“

Sie nickte, um zu zeigen, dass sie verstand.

„Das Religiöse ist also das Intimste, was es gibt – gerade weil es einem heilig ist oder heilig sein soll und muss. Wir wollen, wenn wir das Religiöse suchen, heilige Gefühle entwickeln; wir wollen uns mit diesen heiligen Gefühlen und Gedanken einer heiligen Welt zuwenden – und dafür brauchen wir diese heiligen Gefühle … und wir brauchen den Mut, sie zu haben!“ Der alte Holzschnitzer sah sie mit seinen warmen Augen an.

„Und du, Lara, wann hast du die heiligsten Gefühle oder Gedanken?“

„Ich?“

Sie versuchte, sich zu erinnern.

„Ich weiß nicht. Manchmal, wenn wir auf dem Weg zur Sonntagshandlung sind und ich mir vornehme, besonders konzentriert zu sein. Ich meine: diese Gefühle zu haben. Dann manchmal in der Sonntagshandlung selbst. Wenn da gesagt wird: ‚Wir wollen beten…’ Was dann alle sagen, ist schon wieder weniger heilig. Ich würde gerne etwas anderes beten. Oder auch nur für mich, im Stillen… Aber dieses ‚Wir wollen beten…’, dann ist in mir immer etwas, was wirklich beten will… Aber meistens nur ganz kurz.“

Sie schaute den alten Holzschnitzer an, ob er sie verstand. Er nickte leise und hörte ihr mit ernsten Augen zu.

„Und wenn wir dann sagen müssen, ‚Ich will ihn suchen’ – ich würde da so gerne etwas Heiliges empfinden, aber ich schaffe es nicht. Verstehen Sie? Das ist immer dasselbe. Der Priester kommt dann und sagt diese Worte, und dann muss man antworten. Ich finde, das macht es gerade kaputt. Aber sonst – sonst sage ich mir immer wieder diese Worte: ‚Ich will ihn suchen’, manchmal tagsüber, manchmal abends. Und dann habe ich eine so große Sehnsucht. Ich will ihn suchen!

Aber ich weiß nicht, wie – und ich weiß nicht einmal, was genau ich suchen soll…

Ja, am Heiligsten ist es eigentlich, wenn ich diese Sehnsucht habe.“

Sie sah ihn hilfesuchend an.

„Ja…“, sagte der Alte langsam. „Ja, Lara – das ist wunderschön…“

„Was denn?“

„Diese Sehnsucht. Und dass du sie hast… Denn…“

Der Alte schaute kurz nachdenklich aus dem Fenster.

„…ohne diese Sehnsucht können wir das religiöse Erleben und unsere Verbindung mit dem, was wir suchen, nicht finden. Diese Sehnsucht und die mit ihr verbundenen heiligen Gefühle führen in dieses religiöse Erleben gerade unmittelbar hinein – und sie sind es in gewisser Weise sogar!“

„Aber andererseits“, wandte sie mit leiser Verzweiflung ein, „weiß ich doch gar nicht, was ich suche – oder ob ich das überhaupt will! Ich weiß nicht, was dieser ‚Gottesgeist’ ist! Ist es Christus? Oder Jesus? Und warum ist dieser Jesus so wichtig? Er hat doch vor zweitausend Jahren gelebt! Wir leben doch heute! Ich verstehe das alles nicht!“

Diese Verzweiflung und diese Ratlosigkeit tat tief drinnen manchmal genauso weh wie diese Sehnsucht, nur fühlte sie sich anders an.