Isaac und der Einhornork - Akira Arenth - E-Book

Isaac und der Einhornork E-Book

Akira Arenth

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Beschreibung

Isaac und der Einhorn-Ork Print 550 Seiten + Illustrationen Genre: Parallel Universe / Gay Romance / Urban Fantasy Wenn man Richtung Norden aus der Milchstraße gondelt, nach der vierten Sonne links abbiegt und dann noch einige Milliarden Kilometer geradeaus saust, kommt man in ein Paralleluniversum, in dem fast alles so ist wie bei uns. Ja, fast! Denn statt Medizin gibt es dort Magie, und "Zauberer/Hexe" ist eine anerkannte Berufsausbildung. Der homosexuelle Isaac de Béthune wohnt, zusammen mit seiner kleinen Schwester, noch bei Mutti und ist mit seinen achtzehn Jahren nicht nur ein Nesthocker, sondern auch allgemein ein ziemlicher Spätzünder. Als sich seine Augen violett färben, wird es ihm jedoch möglich, eine Ausbildung beim großen Magier und Heilpraktiker Charlès le Croy de la Drömpèl zu beginnen. Leider hat dieser schon einen Novizen, den arroganten Raphaèl de Moreau, und so spielt Isaac ewig die zweite Geige. Er ist für Putzdienste und den Magic-Shop zuständig und lernt fast nichts. Chronisch übermüdet passiert ihm schließlich ein folgenschweres Missgeschick, das sein Leben auf magische Weise durcheinanderwirbelt und ihn in eine sehr missliche Lage bringt.

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Isaac und der Einhorn-Ork - Klappentext
Kapitel 1 - Muttersöhnchen
Kapitel 2 - Bis die Kuppe blutet!
Kapitel 3 - Grauschattenbücher
Kapitel 4 - Der letzte Einhorn-Ork
Kapitel 5 - Ein Teil der Familie
Kapitel 6 - Hundeelend
Kapitel 7 - Alte Magie
Kapitel 8 - Das magische Ende
Epilog
Zaubersprüche
Nachwort
Danksagungen
Impressum
Fußnoten

Isaac und der Einhorn-Ork - Klappentext

Parallel Universe / Gay Romance / Urban Fantasy

 

Wenn man Richtung Norden aus der Milchstraße gondelt, nach der vierten Sonne links abbiegt und dann noch einige Milliarden Kilometer geradeaus saust, kommt man in ein Paralleluniversum, in dem fast alles so ist wie bei uns. Ja, fast! Denn statt Medizin gibt es dort Magie, und „Zauberer/Hexe“ ist eine anerkannte Berufsausbildung.

 

Der homosexuelle Isaac de Béthune wohnt, zusammen mit seiner kleinen Schwester, noch bei Mutti und ist mit seinen achtzehn Jahren nicht nur ein Nesthocker, sondern auch allgemein ein ziemlicher Spätzünder. Als sich seine Augen violett färben, wird es ihm jedoch möglich, eine Ausbildung beim großen Magier und Heilpraktiker Charlès le Croy de la Drömpèl zu beginnen. Leider hat dieser schon einen Novizen, den arroganten Raphaèl de Moreau, und so spielt Isaac ewig die zweite Geige. Er ist für Putzdienste und den Magic-Shop zuständig und lernt fast nichts. Chronisch übermüdet passiert ihm schließlich ein folgenschweres Missgeschick, das sein Leben auf magische Weise durcheinanderwirbelt und ihn in eine sehr missliche Lage bringt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Akira Arenth & Vaelis Vaughan

 

Kapitel 1 - Muttersöhnchen

 

»Mamaaaaa! Isaac masturbiert schon wieder!«

Kleine Schwestern ... Eine Erfindung des Teufels!

»Ellie!!! Raus aus meinem Zimmer!« Ich feuere mein Kissen gegen die Tür und schließe damit den Spalt, durch welchen das zehnjährige Flechtzopfmonster gelugt hat.

»Davon kriegt man Haare auf den Händen!«, ruft sie und steht immer noch angeekelt lachend vor dem geschlossenen Brett.

›Ich krieg höchstens Motten!‹

»Verzieh dich, du Landplage, sonst verpasse ich dir gleich Haare, und zwar überall!!!«

»Kannst du gaaaaar niiiiicht!«, quäkt sie schadenfroh und kichert erneut.

»Kann ich wohl! ... Bald!«

»Du wirst nie ein richtiger Magier! Du kannst nur warme Luft zum Stinken bringen!«

»Elodie, lass deinen Bruder in Ruhe!«, greift nun auch unsere Mutter ein und ich möchte im Erdboden versinken, weil sie unsere Unterhaltung tatsächlich mit angehört hat. Trotzdem gibt meine nervige Nachgeburt nicht auf.

»Ich bin immer noch der Meinung, dass er das mit dem Zauberstab schwingen falsch versteht!«

Erst will ich mich weiter verteidigen, doch dann höre ich, wie sie die Treppe nach unten geht und lasse deshalb nur meinen Kopf knurrend auf die Matratze sinken.

›Mann! Dabei war ich so kurz davor! Diese kleine, neugierige Mistratte!‹

Ich hebe rasch meine Decke an, schaue auf meine schlaff gewordene Nacktschnecke und überlege, ob ich weitermachen soll. Leider ist meine Libido durch den unverhofften Besuch mit Pauken und Trompeten komplett niedergemetert worden, also müsste ich ganz von vorne anfangen und das dauert! Mit dem Wissen im Hinterkopf, dass meine Mum und meine Schwester jetzt unten im Erdgeschoss rumhüpfen und jederzeit wieder reinplatzen können, würde es eh nicht klappen, also lasse ich es lieber gleich. Außerdem habe ich Hunger und eigentlich war es nur ein Zeitvertreib, bis Mum mit dem Einkauf nach Hause kommt.

Ich seufze, ziehe mir die Boxershorts hoch und friemele dann auch meine Jeans zusammen. Erst danach schlage ich die Decke zurück, um aufzustehen. Seit Jahren hole ich mir nur noch im Bett oder in der Dusche einen runter. Ich muss ja ständig Angst haben, erwischt zu werden, und die Tür im Badezimmer ist die einzig abschließbare in diesem Haus. Früher, wenn ich ganz großen Druck hatte und nicht warten wollte, bis ich daheim mal alleine war, setzte ich mich einfach auf die Toilette, stöpselte mir Musik auf die Ohren und dann konnten mich alle ablenkenden Geräusche mal kreuzweise! Leider hat mir mein schwuler bester Freund Julien G. Schöpf, der passiv und im Gegensatz zu mir auch keine Jungfrau mehr ist, jedoch mal ganz skurrile Klo-Sex-Anekdoten aus seinem Leben erzählt. Seitdem kann ich an nichts anderes mehr denken, wenn ich auf dem Pott sitze, geschweige denn, mir darauf einen runterholen.

Danke Julien, du Arsch!

Nach Beendigung meines Vorhabens stehe ich auf und stoße mir, wie fast jeden Tag, erst mal die Birne an der dämlichen Dachschräge meines Zimmers, weshalb ich mich aufjaulend gleich wieder hinsetze und mir die Rübe reibe[Fußnote 1]. Dann rubble ich mir durch die ohrlangen, nussbraunen Locken und versuche dabei die Beule wegzudrücken, die sich gerade bildet. Eigentlich ist der Raum viel zu klein für mich. Na ja, genau genommen ist fast alles inzwischen zu klein für mich, denn ich bin beinahe eins achtundachtzig groß. Mein Zimmer ist jedoch nur eine winzige Dachgeschosskammer, mit entsprechend nicht genormter Zwergentür, und einem Schnitt, der einem besoffenen Dreieck gleicht. Das bedeutet: Aufrecht stehen funktioniert nur, wenn ich mich direkt an die einzig gerade Wand lehne, sonst muss ich gebückt laufen. Dennoch kann ich froh sein, dass ich überhaupt ein eigenes Zimmer habe. Unsere Behausung kann man im entferntesten Sinne als Maisonettewohnung beschreiben: Unten die offene Stube mit Kochnische und Mamas Schlafzimmer, in dem auch Ellie eine Ecke für sich hat, oben das winzige Bad und meine Dachgeschosskammer. Mehr können wir uns nicht leisten. Ich schlafe leider auch nach wie vor in meinem Jugendbett, obwohl dabei meine Füße, samt behaarten Unterschenkeln, über die Kante ragen. An der Zimmerdecke befinden sich angeklebte Sterne, die im Dunkeln leuchten und ringsherum lümmeln Stofftiere sowie Plastikflugzeuge. Auch der Rest meines kleinen, blau gestrichenen Kabuffs hat sich seit gut fünf Jahren nicht verändert. Die Wände sind mit Postern von meinen Lieblingsbands zugeklatscht, Konsole und Fernseher stehen unter dem schrägen Dachfenster und überall liegen meine Magiersachen herum. In der Ecke steht der Käfig von meinem weißen Zauberkarnickel Floppy, der letztes Jahr bei einem missglückten Trick fast über den Jordan gegangen wäre. Seitdem mache ich keine Zaubertricks mehr mit ihm und habe ihn meiner Schwester geschenkt, die ihn zu ihrer dreimal so großen Masthasenlady Olga gesetzt hat. Die beiden Langohren rammeln nun fröhlich über den Balkon, also scheint es eine gute Entscheidung gewesen zu sein.

Was gibt es noch über mein Zimmer zu sagen? Ist schließlich ein wahnsinnig spannendes Thema, ne? Ach ja, ich bin stolzer Besitzer eines Sitzsacks mit Zebramuster und einen Schreibtisch habe ich natürlich auch. Darauf stehen bunte Plastikbecher mit magischen Malstiften von Rob Boss. Damit kann jeder tolle, fröhlich nichtssagende Landschaften malen und braucht sich nicht mal anzustrengen.

›Wenn es mal mit der Zauberei genauso einfach wäre.‹

Mein Magengrummeln unterbricht die optische Inspektion meiner unaufgeräumten Umgebung und lässt mich aufstehen.

›Hoffentlich hat Mum Pfannkuchen mitgebracht! Oder Cremetörtchen ... oder Schmalzkringel ...‹

>Bong<

Ich werde es wohl nie lernen.

Das Gesicht vor Schmerz verzerrt, wanke ich aus meinem Zimmer die Treppe hinunter und höre von dort flippige Musik aus dem Radio. Darunter mischen sich die Stimmen meiner beiden sich unterhaltenden Familienangehörigen, die ich aber erst richtig verstehe, als ich die vorletzte Stufe erreicht habe.

»... kann doch nicht gesund sein, sich ständig den Kasper zu flapschen!«

»Das geht uns nichts an Ellie! Wenn er das will, dann ist es völlig in Ordnung! Es ist nur natürlich, dass Jungen regelmäßigen Druckabbau -«

»Worüber redet ihr da?«, unterbreche ich meine Mutter argwöhnisch und hoffe inständig, dass sie über das neue Puppentheater meines vierjährigen Cousins spricht. Da sie jedoch sofort herumwirbelt, im Gesicht rot glühend, und dann anfängt zu stottern, weiß ich leider, dass dem nicht so ist.

»Hallo Schätzchen! Äh ... bist du bitte so lieb und holst die Einkaufstüten aus dem Auto? Du weißt ja, mein Rücken.«

»Klar Mum«, seufze ich nur und nehme ihr den Schlüssel aus der Hand.

»Aber wasch dir die Hände, bevor du unser Essen anfässt!«, blökt mich Elodie noch an und rümpft dabei ihre winzige Sommersprossennase.

Ich ignoriere sie grummelnd und schlurfe zur Eingangstür, ehe ich die fünf Etagen unseres Blockhauses nach unten laufe.

›Ein Schwebezauber! Das wärs jetzt! Aber nö, ich muss schleppen wie jeder andere Depp.‹ Also nicht dass ich es für meine Mum nicht gerne mache, aber trotzdem würde ich alles dafür geben, mir das Leben endlich mit echter Magie erleichtern zu können.

Ein bisschen schäme ich mich ja schon, dass ich meiner Mutter mit meinen fast achtzehn Jahren noch immer auf der Tasche liege, aber, vom finanziellen Part abgesehen, will ich meine kleine, heile Welt auch irgendwie nicht verlassen. Natürlich spüre und sehe ich, spätestens seit ich mir jeden Morgen den Denkapparat stoße, dass ich aus den Kinderschuhen rausgewachsen bin und als erwachsener Mann in die große, weite Welt ziehen müsste ...

›Aber ich wiiiiill niiiiicht!‹

Es ist viel zu gemütlich bei Mutti und ich muss weder kochen noch Wäsche waschen. Dafür helfe ich ihr ja auch bei allen handwerklichen Dingen oder bei Sachen, für die man Kraft braucht. Ja, die habe ich! Kraft! Ich öffne spielend leicht jedes Gurkenglas!

›Warum heißt die Würzung einer Gurke eigentlich nicht Gürzung?‹ Solche und ähnliche Fragen stelle ich mir immer wieder und finde nie eine Antwort darauf.

Apropos Gurke ... Nein, nicht die! Ich meine unser Auto! Wo ist das überhaupt? Die ganze verdammte Straße ist natürlich völlig zugeparkt, wie fast jeden Nachmittag, und ich verrenke mir erstmal den Hals, bis ich den pastellblauen Käfer entdecke. Da hinten an der Ecke steht er, mit der Nase bereits im Halteverbot, aber zum Glück guckt hier keiner so genau hin.

Ich laufe rüber und werfe unserer kleinen Gruppe Vorstadtpunks, die hinter dem Supermarkt rumlümmeln, ein Winken zu. Nein, kein hektisches Vollpfosten-Winken mit übertriebenem Grinsen, sondern einfach nur ein lässiger, cooler Handschlag in der Luft, als wär ich die Queen. Die Queen ist cool, oder? Hm ... Na egal, jedenfalls wedeln sie mit ihren Bierflaschen in der Hand zurück. Zwei von ihnen, Schlotze und Zwiebel, gingen früher mal in meine Klasse. Ich hatte mit den beiden nie viel zu tun, also genau genommen hatte ich mit niemandem viel zu tun, aber man kennt sich halt.

Als Erstes sammle ich den Inhalt der umgekippten Tüten im Kofferraum ein, weil meine Mutter wahrscheinlich wieder gefahren ist wie eine Berserkerin, nur um pünktlich zum Unterrichtsschluss meiner Schwester vor deren Schule zu sein. Dabei entdecke ich auch ein paar fett glasierte Schmalzkringel und freue mir einen fettigen Kullerkeks. Dann sehe ich aus dem Augenwinkel einen Mann im Anzug an mir vorbeigehen. Er ist geschniegelt, ich schätze mal um die fünfunddreißig, gar nicht so hässlich, und als er hinter mir die Straßenseite wechselt, wird er von Nulpe, dem großen, grünhaarigen Häuptling der Punks, angeschnorrt.

»Geht arbeiten!«, motzt der Pinguin jedoch nur und geht hastig weiter.

In solchen Momenten frage ich mich wieder eine meiner unsinnigen, sinnlosen und völlig irrelevanten Fragen. Wem würde ich, im Falle eines Weltuntergangs, eher mein Leben anvertrauen? Ich kenne weder diesen Nulpe noch den Business-Man persönlich, und trotzdem tendiere ich, ohne groß nachzudenken, zu dem vollgenieteten Punk, der nun an den Laternenpfosten strullt. Irgendwie schreibe ich ihm, trotz oder gerade wegen seines unkonventionellen Aussehens, mehr Teamgeist, mehr Mitgefühl und mehr Loyalität gegenüber seinen Freunden zu.

Seltsam, oder?

Es ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, warum so viele Frauen auf wohlhabende Schlipsträger stehen. Die Wühltische im Buchladen sind voll von angeblichen Bestsellern, in denen es um die Liebe eines naiven, ärmlichen Mädchens und einem anzugtragenden Milchbubiface-Millionär, Billionär oder Zillionär geht. So ein Typ, der zum Wechseln einer Glühbirne einen Handwerker rufen muss, aber im Büro einen auf Obermacker macht. Ist das die neue Art Ritter? Statt mit weißem Ross und Schwert kommen die dann mit Limousine und Orion-Deluxe-Peitsche um die Ecke, um ihre Angebetete aus ihrem langweiligen Alltag als Dinosaurierskelettabstäuberin des örtlichen Museums zu befreien.

Nein, also mit so einem Sugardaddy bräuchte mir keiner ankommen. Dem würde ich seine Bondageseile direkt um die Ohren hauen oder sie ihm aus der Hand reißen, um ihn an einen Presslufthammer zu fesseln, damit er mal lernt, was richtige Arbeit ist! Ich hab ein Praktikum auf dem Bau gemacht, bei der Firma von Meister Rainer C. Ment, sechs Wochen, und kann sagen, dass ich danach alle meine Knochen gespürt habe!

Hab ich eigentlich erwähnt, dass ich schwul bin? Trivial, ich weiß, vor allem da meine sexuellen Erfahrungen bei Null liegen. Nichtsdestotrotz ist mir jetzt schon klar, dass ich keinen dominanten Partner will. Zumindest niemanden, der immer darauf besteht, der aktive Part zu sein, aber Femboys sind auch nicht mein Ding. In erster Linie sollte mein Freund einfach sympathisch und mit mir auf einer Wellenlänge sein.

Während ich das Auto schließe und die Einkäufe zurück in unsere Wohnung trage, schwelge ich kurz in Erinnerungen. Da gab es mal einen jungen, hübschen Kerl, Louis hieß er, der mit seinem Vater unseren kleinen Ort besuchte. Strammer Hintern, schwarze mittellange Haare, freche, blaue Augen und ein umwerfend charmantes Lächeln. Sie waren Händler, Gebäckhändler, um genau zu sein, und blieben über eine Woche, um ihre Kreationen auf dem Markt anzubieten. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich davor schon so eine enorme Schwäche für süßes Gebäck hatte, oder ob es erst durch Louis kam. Jeden Tag bin ich an ihrem Stand vorbei zur Schule gelaufen und habe mir eine Tüte voll Quarkbällchen gekauft. Mehr als ein gestottertes »Hallo«, eine gemurmelte Angabe von dem, was ich wollte, sowie ein gesäuseltes »Dankeschön« kamen mir jedoch nie über die Lippen.

Zum Schluss wusste er längst, was meine zuckrigen Vorlieben waren und rief mir schon von weitem zu: »Hey du! Eine große Tüte Quarkis, wie immer?« Da nickte ich nur noch und kam blöd grinsend angedackelt.

Mein ganzes Taschengeld habe ich bei ihm ausgegeben und dabei hatte ich bereits nach zwei Tagen richtig Magenschmerzen von dem vielen Zuckerteig, denn ich kaufte ja meist eine zweite Tüte auf dem Heimweg. Zu allem Überfluss steht die Herberge, in der sie nächtigten, schräg gegenüber von meinem Fenster, weshalb ich ihn ständig betrachten konnte. Also ganz zufällig natürlich! Ich habe nie etwas Anrüchiges gesehen, doch ihn zu beobachten war trotzdem ein Traum. Allein wie er am Abend immer heimlich auf dem Sims saß und in einem Buch las, war ein wunderschöner Anblick. Wie gerne hätte ich einfach mal rübergerufen, gefragt, was er da liest, oder ihm bei meinen täglichen Marktbesuchen meine Handynummer mit dem Geld zugesteckt ... aber ich habe mich nie getraut.

Dann sind sie weitergezogen und ich habe ihn nie wieder gesehen. Die letzten fettigen Teigbälle habe ich behalten und auf die Heizung getan, damit sie austrocknen. Seitdem liegen sie in meiner kleinen Schrankvitrine und erinnern mich jeden Tag an meine verpasste Chance.

Louis war eine der seltenen Möglichkeiten einer potentiell neuen Bekanntschaft und ich habs versemmelt ... sofern er denn überhaupt auf Kerle stand. Danach gab es nur noch zwei andere Typen, die mich interessiert hätten: einen hübschen Artisten, der mit seinem Zirkus durchrauschte, und einen Fußballspieler, der für ein Match gegen unsere einheimische Mannschaft angereist war. Aber mit denen habe ich noch nicht mal persönlich gesprochen und wusste auch nicht, ob sie homosexuell sind. Alles nur Vermutungen. Die Angst vor einem Korb, einem angeekelten Blick oder schlimmstenfalls, dass sie laut loslachten und mich bloßstellten, war viel zu groß.

In unserem kleinen Städtchen lebten außer mir nur zwei weitere junge Männer, von denen ich weiß, dass sie ebenfalls schwul sind. Einer war Julien, mein bester Freund, und einer Philippe, der in der Wurstfabrik in der Südstadt arbeitete. Die beiden sind mittlerweile ein festes Paar, also habe ich bei keinem von ihnen eine Chance. Aber das ist völlig okay, denn sie entsprechen auch nicht meinem Beuteschema. Julien ist ein herzlicher, flippiger Charakter. Als Kumpel liebe ich ihn, aber ich könnte nie mit ihm ins Bett gehen. Noch dazu trägt er ausschließlich Pastelltöne, ist in seinem ganzen Gebaren sehr feminin und Philippe ... Na ja, der ist nett, aber nicht der Hellste. Außerdem ist er rein aktiv, hat eine Glatze und lässt sich auch den Rest des Körpers regelmäßig komplett enthaaren, sodass er nackt wie ein riesiges Baby aussieht. Seine Figur entspricht dem ebenfalls, nur eben in groß.

Die zwei sind inzwischen aus dieser prüden Gegend geflohen und in die Großstadt gezogen, nachdem Julien seinen Abschluss bekam. Das bedeutet, ich bin jetzt genau genommen der letzte Homo in town. Zumindest nach meinen Kenntnissen.

Ich will nicht behaupten, dass ich megagut aussehe, aber so langsam mache ich mich. Leider war ich ein ziemlicher Spätzünder. Bis zur dritten Klasse brauchte ich in der Pause noch einen Nuckel, um meine strapazierten Kindernerven vom anstrengendenEinmaleinszu erholen. Ich verkroch mich dazu immer heimlich in eine Ecke des Schulhofes, doch irgendwann entdeckten mich meine Mitschüler. Sie zogen mich deswegen so sehr auf, dass ich ihn am Nachmittag auf dem Nachhauseweg wütend von einer Brücke in den Fluss warf ... und es ewig bereute[Fußnote 2]. Mit vierzehn spielte ich noch mit Bauklötzen, sammle bis heute magische Monsterkarten und auch mein Faible für den Hokuspokus entspringt dieser Zeit. Nein! Eigentlich liegt der Ursprung dessen in einer spontanen Handlung, als ich gerade neun Jahre alt war.

Nachdem Ellie auf die Welt kam, litt sie unter Koliken und schrie furchtbar viel. Alles, was sie tat, war schreien, pupsen, schlafen, schreien, pupsen, trinken, schreien, pupsen, schreien, die Windeln vollmachen und nochmal schreien und pupsen. Sie lächelte nicht und sie lachte auch nie. Eines Tages, Ellie schrie mal wieder, obwohl sie satt, trocken und ausgeschlafen war, lief unsere Mutter völlig verzweifelt mit ihr im Arm auf und ab. Da kam ich auf eine Idee. Vor einer Weile hatte mir mein Onkel Ozzy, der Buchhändler, einen Trick gezeigt. Also nahm ich eine Bronzemünze aus der Kleinkramschale, die immer auf unserem Küchentisch steht, ging zu meiner Brüllschwester und zauberte eine Münze hinter ihrem Ohr hervor. Ellie verstummte schlagartig und starrte mich vollkommen entgeistert an. Ich kicherte, weil sie so fassungslos glotzte und selbst Mama sah mich erstaunt an. Elodie wedelte mit den Armen und ich wiederholte den Trick mit der versteckten Münze in meiner Hand, die ich dann hinter ihrem Ohr hervorzog. Plötzlich quietschte sie lauthals auf und lachte dann aus vollem Herzen.

In diesem magischen Moment fühlte ich eine solche Flut an Glück und Liebe, das ich süchtig danach wurde. Dieser Augenblick, wenn ein Mensch einen Zauber zum ersten Mal sieht, sei es nun ein Trick oder nicht: das Erstaunen, diese Ehrfurcht – das war grandios für mich! All diese Gefühle wollte ich anderen Menschen geben und so wusste ich seit diesem Tag, dass es mein Ziel war, Zauberer zu werden, denn Magie liebt jeder.

Meinen ersten, richtigen Magierkoffer bekam ich zum dreizehnten Geburtstag. Der war schon Jahre vorher mein größter Wunsch, aber Mum musste lange sparen und viele Extraschichten auf dem Getreidehof übernehmen, um ihn mir kaufen zu können. Ich übte die vorgegebenen Tricks wie ein Besessener. Tatsächlich war ich auch wirklich gut darin, Tücher in meine Ärmel zu stopfen und sie aus den Ohren wieder herauszuziehen, Blumen aus einem Klapphut zu holen oder Plastikchips verschwinden zu lassen, aber ich wollte immer mehr!

Die lange Zeit meines noch sehr kindlichen Verhaltens war gleichauf mit meiner körperlichen Entwicklung, denn die hinkte leider ebenfalls hinterher. Bis vor kurzem sah ich noch wie ein kleiner, dicklicher Waschlappen aus, ohne jegliche Gesichts- und Sackbehaarung. Doch dann, als ich sechzehn geworden war, entschloss sich meine komatöse Pubertät aufzuholen. Ich fuhr mit meiner Mama und Elodie zum Bergsteigen und innerhalb eines Sommers schoss ich in die Höhe, wie plötzlich bewässertes Wüstenunkraut. Vielleicht lag es auch an der Höhensonne. Keine Ahnung! Aber nach unserer Rückkehr erkannte mich kaum einer wieder. Seitdem klettere ich übrigens sehr viel! Vom Teppich aufs Bett, von den Fliesen in die Badewanne, vom Hinterhof auf den Müllcontainer oder vom Kopfsteinpflaster aufs Dach des Rathauses, was meinem Muskelaufbau sichtlich zugutekommt. Doch allein schon deshalb, weil ich Onkel Ozzy jedes zweite Wochenende in seinem kleinen Bücherladen aushelfe und dort ständig Kisten von A nach B schleppe, hat sich der Umfang meiner Oberarme beinahe verdoppelt! Leider esse ich aber auch sehr gerne, besonders wenn ich gefrustet bin, und das macht meine Gesamtstatur eben ziemlich massig.

Natürlich will ich kein Bibliothekar oder so was werden, sondern, wie bereits erwähnt, Zauberer! Und das als Hauptberuf, obwohl ich es eigentlich nicht darf! Warum nicht? Nun, wir haben ein leicht rassistisch strukturiertes Arbeitssystem!

Die Wissenschaftler und Gelehrten unseres Landes haben vor einigen Jahrhunderten die These aufgestellt, dass sich die Farbe unserer Iris auf unsere Fähigkeiten auswirkt. Sie führten Tests mit rund einhunderttausend Personen aus dem ganzen Land durch und stellten dann eine Statistik dazu auf. Um das Bruttosozialprodukt zu steigern, veröffentlichte unsere Regierung daraufhin eine Verordnung, dass Jugendliche, je nach Augenfarbe, nur noch ganz bestimmte Berufszweige erlernen dürfen.

Laut ihren Erkenntnissen können Individuen mit blauen Augen angeblich besonders gut mit Wasser und Lebensmitteln umgehen. Also müssen diese zum Beispiel als Köche, Bäcker oder auch als Getreidebauer arbeiten. Menschen mit braunen Augen sagt man einen guten Umgang mit Tieren nach, darum sollen sie beispielsweise Metzger, Zoowärter, Schweinebauer oder Pferdezüchter werden. Die Medizin ist Grünäugigen vorbehalten, vom Zahnarzt bis zum Herzchirurgen, und wenn man in seiner grünen Iris einen gelblichen Einschlag hat, darf man auch in den wissenschaftlichen Bereich gehen. Dazwischen gibt es noch viele weitere Abstufungen. So sollen zum Beispiel Personen mit blauen Augen und gelbem Innenring in die Personenbetreuung, werden Erzieher, Makler, Gefängniswärter oder Lehrer. Bei gemischten Farben geht man nach dem Mehrheitsprinzip.

Jeder darf seine eigenen Erzeugnisse verkaufen, das ist allen erlaubt. Im Bereich Kunst und Musik darf man jedoch nur hobbymäßig unterwegs sein, solange man seinen Hauptjob macht. Darunter fällt zum Glück auch die Zauberei, also die Trickzauberei, die per se nichts mit echter Magie zu tun hat. Da ist es egal, dass ich türkisblaue Augen habe, genau wie Mama und Elodie, aber natürlich gebe ich mich nicht damit zufrieden. Normalerweise hätte ich mich längst für Jobs aus der Lebensmittelindustrie bewerben müssen, aber ich kann die Hoffnung einfach nicht aufgeben! Ich spüre es ganz tief in mir, dass ich magisch bin!

Mein Abi habe ich vor ein paar Monaten absolviert und danach siebzehn Bewerbungen an verschiedene Magic-Shops rausgeschickt. Es gibt maximal einen pro Stadtteil oder Vorort, genau wie Tattoostudios, damit sie sich nicht gegenseitig Konkurrenz machen. Aber ich habe mich bei allen im Umkreis von fünfzig Kilometern beworben. Bisher kamen leider nur Absagen, vier per Brief und zehn per Telefon. Entweder wegen meines schlechten Notendurchschnittes oder weil sie bereits einen Lehrling haben, und mehr als einen nimmt niemand. Hier bei uns im Ort gibt es keinen Shop, wahrscheinlich lohnt sich das nicht in einer winzigen Vorstadt wie unserer. Trotzdem habe ich noch Hoffnung, dass es bei einem der drei übrigen klappt und dann muss nur noch meine Iris aus dem Hintern kommen!

»Na das hat aber gedauert!«, höre ich die Stimme meiner Mutter durch den Flur rufen, als ich unsere relativ kleine Stube betrete, die jedoch sehr gemütlich eingerichtet ist. Sie besteht eigentlich nur aus großen, weichen Sitzgelegenheiten, aber mehr brauchen wir auch nicht. »Hast du noch jemanden zum Quatschen gefunden oder warst du in deiner kleinen Parallelwelt?«

›Pfff! Nur wegen der paar Selbstgespräche, die ich ab und zu führe ... Aber ich könnte mal wieder zocken.‹

»Nö. Hab nur der Straßendeko Hallo gesagt, die sitzen beim Supermarkt.« Ich stelle die Tüten auf den Tresen in der Küche und fange an, die Getränke in unser Vorratslager zu räumen. »Und du hast mal wieder geparkt wie ´ne blinde Sau.«

»Püh!«, erwidert sie nur und greift nach einer der Tragetaschen, weshalb mir ihr knallig veilchenfarbener Nagellack entgegenstrahlt, den sie benutzt, seit ich denken kann. »Ist es denn mein Verschulden, wenn ständig die ganze Straße dicht ist? Dann müssen sie eben endlich mal Anwohnerparkplätze einrichten! Kann doch nicht sein, dass immer alles von den Hotelgästen blockiert wird!«

»Ja, für die sollten sie mal ein Parkhaus bauen, dann wär das Problem gelöst!«

»Ich hab Hungaaaa!«, knätscht Elodie dazwischen, doch diesmal könnte ich direkt mit einstimmen.

»Ja, ja! Ich mach ja schon! Ich schnippel uns einen Eintopf zusammen, das geht schnell.«

»Ui, cool, dann kann ich derweil noch zocken!«

Manchmal sind die Blicke meiner Mutter giftiger als die dickste Hexen-Krötensuppe.

»Klar, geht ihr beiden ruhig noch solange mit deiner Konsole spielen!«

Touché.

***

»Links! Nein! Pass auf, da! Der Greif!!!«

»Der ist sechs Meter groß, Ellie!! Ich sehe ihn!« Meine Schwester rollt auf meinem Bett hin und her, während ich davor auf dem Boden in meinem Sitzsack lümmle.

»Siehst du gar nicht! Da!!! Vorsicht!«

»Ellie!« Ich drücke auf Pause und schaue sie genervt an. »Hör auf, mir ins Ohr zu quaken! Ich hab schon fast zwanzig Greife in dem Spiel getötet. Ich weiß, was ich tue!« Immerhin verbringe ich neunzig Prozent meiner Freizeit vor dem Ding.

»Ja ja, nun mach weiter!« Genau fünf Minuten schafft sie es, die Gusche zu halten, dann geht die Luke wieder auf. »Geh doch zurück zu der hübschen Magd, der du den Ring geschenkt hast!«

Ich schüttle den Kopf, ohne meine Augen vom Bildschirm abzuwenden. »Die Quest ist doch schon erledigt, da gibt es nichts mehr zu tun! Die sagt immer nur noch dasselbe, sobald ich sie anspreche.« Gerade sammelt mein Magier Kraft für einen fetten, doppelten Vernichterstrahl, um diesen in eine Horde Ghule zu zimmern. Wenn man es sich aussuchen kann, dann nehme ich als Protagonisten natürlich nie einen Elf, Zwerg, Krieger oder Dieb. Nein, Zauberer sind das einzig Wahre! Vor allem kann man so schön auf Abstand bleiben, mehrere Gegner aus der Ferne braten und das Ganze sieht auch noch hübsch aus.

»Du kannst doch auch zu der wenig bekleideten Zottelhexe zurückgehen! Die hat dich doch so angeglüht.«

»Ne. Die will eh nur, dass ich Kräuter für sie sammle und da hab ich jetzt null Bock drauf! Ich muss in der Hauptquest vorankommen und die Welt retten! Da kann ich keine blöden Primeln suchen, nur weil sie gerade keine Zeit dafür hat!«

Ellie giggelt und stößt mich an. »Du bist so schräg! Aber manchmal auch ganz witzig.«

»Ich bin immer witzig!«

»Na ja, meistens.« Sie stützt sich auf die Ellenbogen und legt ihr Kinn von hinten auf meiner Schulter ab. »Eigentlich echt komisch, dass du noch keinen netten Freund gefunden hast.«

»Ja ...« Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, und lenke meinen Pixelhaufen auf ein sicheres Feld, damit er ein paar Schmetterlinge jagen kann. Ellie und Mum wissen seit zwei Jahren, dass ich homosexuell bin. Doch auch wenn meine Schwester und ich uns ständig piesacken, gibt es ab und zu solche Momente, in denen ich merke, dass sie mich dennoch sehr mag ... und ich sie leider auch. »Unsere Stadt ist ein Dorf, hier finde ich niemanden. Aber vielleicht nimmt mich ja ein Magic-Shop aus einer Großstadt, da lerne ich sicher wen kennen.«

»Genau! Und wenn du doch keinen findest, dann zauberst du dir halt einen herbei. Irgendwann kannst du das!« Ja, in ihrer kleinen Welt ist so etwas möglich.

»Kinder! Essen ist fertig!«, ruft unsere Mum und wir antworten laut im Chor: »Wir kommen!« Jetzt schmerzt mir das rechte Ohr.

Ellie rennt vor, wie immer. Ich brauche eine Weile, bis ich mich erhoben habe und gebückt aus meinem Zimmer krauche, bis ich mich im Flur wieder strecken kann. Als ich die halbe Treppe nach unten hinter mir habe, sehe ich bereits, dass meine Mum den Tisch für vier Personen gedeckt hat und wundere mich.

»Erwartest du noch jemanden?«, frage ich verdutzt und setze mich. Ellie, mir gegenüber, schaufelt sich schon die ersten Bissen hinein und schlürft dann lauthals ihren Saft.

»Na ja, erwarten würde ich jetzt nicht unbedingt sagen, aber ich habe eine offene Einladung ausgesprochen, die vielleicht -«

>Poff< macht es plötzlich neben mir und wir schreien zusammenzuckend auf, als sich der Nebel lüftet und in dieser Sekunde ein hagerer, alter Mann mit weißem Rauschebart am Tischende sitzt.

»Na aber, Marguerite! Wäre ich nicht ein Depp, wenn ich ein Abendessen mit dir und ... ähm, deinen charmanten Kindern ausschlagen würde?«

›Meint der uns?‹

Seine knallorange Kutte blendet mich etwas und sein Hut beschirmt fast den halben Tisch! Doch dann erkenne ich ihn endlich. »Sie ... Sie sind -«

»Der neue Müllmann?«, wirft Ellie kichernd dazwischen und legt den Kopf schief. »Der Hut ist dabei aber unpraktisch.«

Der Fremde schweigt erst einige Sekunden und sieht sie verdattert an. »Nettes Mädchen ...« Dann räuspert er sich und steht auf, während er die Fäuste in die Luft hebt. »Ich bin Charles le Croy de la Drömpèl, der Meisterzauberer!«

›Ein Zauberer!!?‹

Rasch pflanzt er sich wieder hin. »So, was gibt es denn Feines? Iih, sind das Bohnen?«

»Schön dich wiederzusehen, Charles.« Meine Mutter stellt noch zwei Schalen mit Kräutern und geschnittenem Brot auf den Tisch und setzt sich dann ans andere Ende. »Man bekommt dich ja gar nicht mehr zu Gesicht. Seit ich hörte, dass du zurückgekommen bist, war ich schon dreimal in deinem neuen Laden und immer war nur dein pampiger Azubi anwesend. Ich wusste nicht mal, ob er dir meine Nachricht auch gegeben hat.«

»Ja, Raphaèl ist zwischenmenschlicher Durchfall, aber als Novize macht er sich gut.« Der Alte fängt an zu essen und wackelt dabei mit dem Kopf wie eine tattrige Schildkröte. »Als Selbstständiger, wird er im Verkauf jemanden einstellen müssen, sonst vergrault er sich schnell alle Kunden.«

»Ja!« Meine Mum lacht und schüttelt den Kopf. »Der Bengel war schon als Kind unausstehlich.«

Mit vollem Mund schaut der Zauberer wieder auf und ignoriert Elodie, die gerade unter seinen Stuhl guckt. Wahrscheinlich will sie herausfinden, wie er da einfach so auftauchen konnte. »Also, um welchen deiner Nachkommen geht es denn?«

»Um ihn.« Meine Mutter nickt in meine Richtung und mein Puls beschleunigt sich sofort. »Das ist mein Sohn Isaac. Er hat sich bei sämtlichen Magic-Shops hier in der Gegend beworben, aber alle haben ihm abgesagt.«

»Nicht alle!«, werfe ich ein, denn ich will nicht als der totale Versager dastehen. »Also drei sind noch offen!«

Meine Mum seufzt und bewegt langsam den Kopf von links nach rechts. »Leider haben die auch abgesagt, Liebling. Ich wollte dich nur nicht noch mehr deprimieren, deshalb habe ich dir die Briefe nicht gezeigt.«

Das trifft mich tief. ›Ich bin wirklich überall abgewiesen worden?‹

Drömpel macht nun ebenfalls ein skeptisches Gesicht. »Nun ja ... Wenn sie ihn alle abgelehnt haben, muss es aber einen guten Grund geben, also wäre es auch für mich ein enormes Risiko, so kurz vor meiner Pensionierung.«

Da ich betreten schweige, richtet meine Mum das Wort wieder an den Fremden. »Charles, ich lege persönlich meine Hand für ihn ins Feuer! Seit seiner Kindheit redet er von nichts anderem, als dass er Magier werden will. Die kennen ihn alle nicht! Er will es von ganzem Herzen und -«

Drömpèl seufzt. »Genau wie du damals ...«

Ich sehe auf und kann gar nicht fassen, was ich da höre. Meine Mum wollte eine Hexe werden? Das hat sie nie erwähnt!?

»Ja«, flüstert sie plötzlich beschämt und schaut zur Seite. »Aber das hat nichts mit mir zu tun! Er ist von ganz allein darauf gekommen! Ich weiß, dass ich nicht alle Voraussetzungen erfüllt habe, aber er wird sie erfüllen! Du solltest mal sehen, was er sich schon alles mit dem einfachen Trickkoffer selbst beigebracht hat! Er ist zu gut für diese Gaukler und Scharlatane, die nur so tun!«

»Du weißt, dass ich das nicht entscheiden kann! Er hat sie nicht! Seine sind genauso blau wie deine damals! Das Kuratorium der magischen Künste gibt eindeutig vor, dass -«

»Bitte Charles!«, unterbricht sie ihn erneut. »Wenn du ihm nur eine Chance gibst, einen spirituellen Anstoß, wird es geschehen und er wird sich bewähren! Stell ihn auf die Probe!«

Auch wenn ich nicht ganz verstehe, wovon sie da redet, spüre ich gerade in diesem Moment, was Mutterliebe bedeutet und kann gar nicht glauben, wie sehr sie sich für meine Träume einsetzt. Oder ist es ihr eigener, den sie nun über mich wahr werden lassen will?

»Ich habe doch bereits einen Novizen«, windet sich unser Gast noch immer heraus, aber seine Abwehr ist deutlich schwächer geworden.

»Ja, aber du könntest ihn doch annehmen, wenn dein anderer Lehrling durch ist? Solange müsste er zwar die Zeit überbrücken, aber ich glaube -«

Drömpèl hebt die Hand, schluckt den letzten Bissen hinunter und wendet das Wort dann erstmals an mich. »Wie alt bist du?«

Schlagartig bin ich so nervös, dass ich kaum ein Wort herausbekomme und zu stottern anfange. »Ich ... äh ... ich wer-werde nächste Woche a-ach-achtzehn, Mo-Monsieur!«

»Eigentlich kann er auch normal reden«, wirft Ellie ein und grinst.

Die Stirn des Mitessers legt sich in Falten. »Hm, das dachte ich mir. Dann haben wir ein Problem. Die Ausbildung geht drei Jahre und muss bis zum physischen Eintritt in die Erwachsenenwelt, also mit einundzwanzig, abgeschlossen sein. Die Basis deiner Fertigkeiten lässt sich nur bis dahin ausbauen, wie ein Malkasten, den man mit Farben bestückt. Zwar kannst du die Farbtöne danach noch verfeinern und perfektionieren, aber keine neuen mehr hinzufügen oder mischen. Also, selbst wenn ich dich annehme und du in anderthalb Jahren beginnst, wärst du zu alt. Ich befürchte, dass ich da nicht weiterhelfen -«

»Bitte!«, rufe ich aus und rutsche vom Stuhl vor ihn auf die Knie. »Ich mache alles, was Sie wollen! Bitte stellen Sie mich als zweiten Lehrling ein und ich höre unauffällig zu, wenn Sie dem ersten was erklären! Sie sind meine letzte Chance!«

»Ja, Sie müssen ihn einfach nehmen!«, sagt nun auch Ellie und ich bin wirklich erstaunt. »Er ist was ganz Besonderes!«

»Ach? Ist er das?« Der Meister runzelt erneut die Stirn, ist jedoch sichtlich gerührt. »Und warum?«

»Weil er von der Sanftmafia kommt!«

»Von der was?«

»Na, von der warmen Bruderschaft, vom anderen Ufer, die Popie-«

»Ellie!!! Halt den Rand!«, motze ich sie an und bin gerade sehr froh, dass Drömpèl nicht rafft, wovon sie redet. Also versuche ich, das Ruder nochmal herumzureißen. »Das sind nur Kasten aus einem Computerspiel, Elodie! Das hat nichts mit dem wahren Leben zu tun!« Dabei sehe ich sie streng an und sie scheint zu verstehen, was ich ihr sagen will.

»Ich meine ja nur. Wir haben gerade was in der Schule gelernt, über Quoten, Förderung von Minderheiten und deren Integration, deshalb dachte ich -«

»Schon gut, aber das hat jetzt nichts mit meiner Ausbildung zu tun!« Anscheinend wollte sie wirklich nur helfen, doch wie ich den alten Zausel einschätze, wird der wenig für Queerguys übrig haben. Eher im Gegenteil.

»Na schön«, sagt er schließlich und steht auf. »Ich mache einen Test mit dir und danach entscheide ich! Komm hoch!«

»Jawohl, Meister!« Sofort springe ich auf und stelle fest, dass er einen halben Kopf kleiner ist.

Er holt einen bunten Flummi aus seiner Manteltasche und streckt die Hand mit diesem nach oben geöffnet aus. Dann zieht er mit der anderen seinen Zauberstab unter dem Hut hervor und lässt ihn über dem Bällchen kreisen. »Flogið!«, murmelt er dabei, was sich anhört wie Floyd. Aber vielleicht ist das ja auch der Name des Flummis? Auf einmal zuckt das Ding, wie gerade aufgeweckt, wird halb transparent und schwebt gut fünf Zentimeter über seiner Hand, während es sich dreht, als würde ein leichter Wind es anhauchen. Elodie stürmt sofort herbei, um nach einem Magneten oder Ähnlichem zu suchen. Ich hingegen bin viel zu fasziniert, als dass ich mir den Moment mit einer Aufklärung des Tricks kaputtmachen will. »Gib mir deine Hand!«, raunt er mir schließlich zu und ich folge.

Der Zauberer übergibt mir den kleinen Ball und auch über meiner Hand schwebt er fröhlich hin und her. »Das ... Das ist ja der Wahnsinn!« Selbst wenn er einen Magneten unter der Haut transplantiert hätte, so müsste er doch spätestens jetzt herunterfallen, sobald er ihn loslässt?

›Oooohh, ich will unbedingt wissen, wie er das macht! Ich muss so was auch lernen!‹

»Meister! Können Sie mir beibringen, wie das funktioniert? Ich will - waah!« Erst jetzt bemerke ich, dass er mir mit aufgerissenen Augen ins Gesicht starrt und erschrecke mich beim Hochschauen. »Äh ... ist ... ähm ... alles okay?«

Er schweigt kurz, dann nimmt er mir mit einer ruppigen Bewegung den Flummi weg, ohne überhaupt hinzusehen, und stopft das arme Ding unsanft ihn meine Tasche.

»Trage ihn ab jetzt immer bei dir! Wenn sich deine Farbe bis zu deinem Geburtstag verändert, sehen wir uns pünktlich am Montag danach, acht Uhr! Wenn nicht ... C’est la vie!«

Kapitel 2 - Bis die Kuppe blutet!

 

Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, was Drömpèl vor einem Jahr mit wenn sich deine Farbe verändert meinte. Er sprach von meinen Augen! Unsere Iris kann sich noch bis zum Erwachsenwerden verändern und genau deshalb müssen wir auch alle bis zum achtzehnten Lebensjahr in die gleiche Schule gehen, bevor wir in die staatlich vorgeschriebenen Zwangs-Berufsgruppen eingeteilt werden. In diesen bekommen wir dann, je nach Schläue, einen Job und starten unsere Karriere.

Meine Mutter war es schließlich, die mir erklärte, dass ganz wenige Lebewesen eine Regenbogenhaut besitzen, die violett wirkt. Das soll ein Zeichen dafür sein, dass ihnen Mana innewohnt, also spirituelle Energie. Nur diese Menschen dürfen das echte Zauberhandwerk erlernen. Klar, billige Tricks kann jeder vorgaukeln, aber wahre Magie, von der ich mir bis dahin noch nicht mal sicher war, ob sie wirklich existiert, die ist VE`s, also Violet-Eyes, vorbehalten. Wusste ich nicht, denn das wurde uns in der Schule nie gesagt.

Als ich erfuhr, dass meine Mum eigentlich selbst eine Hexe werden wollte, hatten wir gleich eine ganz andere Basis und ich verstand gar nicht, warum sie mir nicht schon viel früher davon erzählt hatte. Doch dann beichtete sie mir, sie habe mir keine falschen Hoffnungen machen wollen, denn ihre Augen blieben ja auch nach ihrem achtzehnten Geburtstag blau. So hatte sie keine Chance mehr, in den elitären Kreis der echten Magiebegabten aufgenommen zu werden, und als einfache Trickserin wollte und konnte sie nicht nebenbei arbeiten. Trotzdem fieberte sie, zusammen mit Ellie, bis zur letzten Sekunde mit mir mit und ermutigte mich, nicht aufzuhören, an meinen Traum zu glauben.

Man sagt, die Veilchenfärbung habe sich aus türkisblauen Augen entwickelt, und tatsächlich soll es so sein, dass alle Magier als Neugeborene blauäugig sind, so wie auch ich.

Ich weiß noch genau, wie sehr ich gezittert und gebetet habe, dass sich meine Augenfarbe verändert. Ich hütete Mister Floyd wie einen Schatz und trug ihn obendrein direkt auf der Haut, in meiner Unterhose, damit wir eine intime Beziehung zueinander entwickelten. Leider wurde diese Beziehung sogar intimer, als mir lieb war. Einmal vergaß ich ihn nämlich, da verkrümelte er sich beim Laufen hinter meine verschwitzten Eier und als ich mich dann schwungvoll auf einen nicht gepolsterten Stuhl plumpsen ließ ... Tja, so habe ich mich dann schließlich doch unfreiwillig selbst entjungfert und es hat mehrere Stunden gebraucht, ihn wieder rauszubekommen!

Nach Drömpèls Besuch stand ich jeden Tag vor dem Vergrößerungsspiegel im Bad und untersuchte die feinen Fasern meiner Iris auf Veränderungen. Doch nichts geschah. Auch an meinem Purzeltag blieb alles, wie es war, was mich unglaublich niederschlug. Weder meine Mum, mit ihren aufbauenden Worten, noch Julien mit seinen Fäkalwitzen oder der angeheuerte Party-Clown konnten mich aufheitern. Clown-Sein gehört übrigens zu Kunst und ist demnach auch jedem erlaubt. In diesem Fall war es der Metzger Jean-Pierre, was ich noch immer für eine gruselige Kombination halte.

Mir stand eine trostlose, unabänderliche Karriere in der Wasser- oder Lebensmittelbranche bevor, genau wie meiner Mutter in ihrer Jugend, und ich wollte mich am liebsten vom Rathaus stürzen. Erst am Morgen nach meinem Geburtstag, ich hatte die ganze Nacht durchgeheult und war völlig deprimiert ins Badezimmer geschlurft, warf ich einen beiläufigen Blick in den großen Standspiegel, während ich mein tägliches Häuflein absetzte. Ich kann wirklich froh sein, dass ich instinktiv, oder vor Schreck, noch die Ankerkette abkniff, bevor ich aufsprang. Aufgrund der heruntergelassenen Hose flog ich nämlich direkt auf die Fresse und krabbelte deshalb auf allen vieren ganz nah an mein Abbild heran. Ich musste mich vergewissern, dass es nicht nur am Lichteinfall lag oder an meinen verheulten Augen, doch da war er endlich, der zwar noch immer leicht gräuliche, aber eindeutig auch lilafarbene Stich, welcher mir die Laufbahn als echter Magier ebnete.

Tja, zumindest dachte ich das.

Ja, ich erschien am darauffolgenden Montag in Drömpèls Wackelturm und ja, er nahm mich als seinen Novizen auf, aber es war vollkommen anders, als ich es mir erträumt hatte.

Oben hat mein Meister sein Alchimähues, also sein Zauber- und Alchemielabor, neben seiner kleinen Behandlungsecke, denn er ist nebenberuflich Heilpraktiker. In diesem Raum murmelt er den ganzen Tag vor sich hin und eumelt diverse Zutaten in große Töpfe. Ja, das meine ich wörtlich, denn, auch wenn ich es eigentlich nicht verraten darf: Seine wichtigsten Geheimzutaten sind seine eigenen Körpersäfte! Er sagt, das gäbe dem ganzen eine persönliche Note und außerdem verkauft er so jedes Gebräu mit einem fetten Grinsen im Gesicht. Deswegen zerreibt er Kräuter unter seinen Achseln, zerkaut fast alles, was in die Tränke kommt und schlotzt das so veredelte Gemisch dann in die Elixiere.

Da ist es wohl auch nicht verwunderlich, dass ich mich nach wie vor weigere, diese Gesöffe zu probieren, oder? Zumal die meisten seiner Zutaten an sich schon total eklig sind. Ich sag nur Nillenkäsewurz! Ich hoffe jedenfalls inständig, dass er auf die Art nicht auch kocht, denn ich habe bereits ein paarmal bei ihm mitgegessen.

Die Leute unserer beschaulichen, kleinen Stadt schlürfen das Zeug jedenfalls weg wie nichts, denn, so grauslich es auch ist, es wirkt! Erst etwa ein Jahr vor seinem Besuch bei uns hatte sich Drömpèl in unserer Nachbarstadt niedergelassen und auch Raphaèl, meinen Konkurrenten, frisch als Novizen angenommen. Das Geschäft läuft inzwischen gut. Wir verkaufen vorrangig Talismane mit perforierter Glaskammer, in die man die Elixiere einfüllen kann. Die Extrakte werden dadurch nur ganz langsam über den Hautkontakt abgegeben. Aber viele brauchen die volle Dröhnung und schlucken das Zeug direkt pur. Plötzlich ist ihr Rheuma weg, ihr Knoten im Hals gelöst, sie können ohne Benzin im Tank zur Arbeit fahren und auch die steile Bäckereifachverkäuferin, auf die sie heimlich stehen, ist auf einmal freundlich und zugänglich. Zumindest für eine Weile, danach watscht sie wieder jedem lüsternen Kunden eine ins Gesicht, der ihr zur Begrüßung erst mal die Möpse massieren will.

Natürlich könnte mein Magister die Wirkung der Elixiere auch verlängern, aber dann käme die Kundschaft ja nicht so häufig zurückgerannt. Für Wohlhabende gibt er schon mal Tränke in höherer Reinheit heraus oder verkauft größere Mengen an Unterhändler, aber die zahlen auch den doppelten bis dreifachen Preis.

Unsere Regierung hat klare Richtlinien aufgestellt, was Zauberer verkaufen dürfen und was nicht. Zum Beispiel haben wir keine Erlaubnis Gifte zu mischen, die jemanden auf lange oder kurze Sicht umbringen, selbst wenn sie vorübergehend Besserung hervorrufen. Dafür sind die Mediziner und Apotheker zuständig. Wenn man vorhat, sich selbst oder jemand anderen zu vergiften, kann man ja auch einfach Bleiche nehmen oder diverse andere Putzmittel, die man in jedem Supermarkt erhält.

Was wir außerdem nicht herstellen dürfen, sind sogenannte Währungstrugbilder, also zum Beispiel Knöpfe, die wir mit einer magischen Politur wie Gold- oder Silbermünzen aussehen lassen. Die würden auch in den Kassen der Läden sofort erkannt werden, denn die haben mittlerweile alle einen parapsychischen Meldestein in ihrer Kassette, welcher leuchtet, wenn etwas Verzaubertes eingelegt wird.

Was in der Grauzone liegt, sind bewusstseinsverändernde Elixiere, wie Liebeszauber oder Ähnliches. Wenn damit eine Straftat begangen wird, zum Beispiel eine Dame oder ein Herr gegen ihren eigentlichen Willen zu sexuellen Handlungen verleitet werden, dann ist auch mein Meister mit dran. Die Verzauberten können sich in der Regel an alles erinnern und dann wird nachgeforscht.

Ich glaube auch, so Leute wie der fiese aber stramme Polizeikommissar, der hier immer mit seinen Auszubildenden durch die Straßen patrouilliert, hätten sonst kein leichtes Leben mehr. Jede zweite Nacht würde ihm der Arsch rauchen, das steht mal fest! Der Kerl schürt mit seinen pingeligen Strafzetteln eine Menge Rachegelüste, beflügelt jedoch gleichzeitig so manche Fantasie, meine eingeschlossen, was eine äußerst brisante Mischung ergibt. Genau genommen möchte man ihm erst gehörig den Hintern versohlen und dann das Gesicht besamen ...

Egal. Wo war ich? Ach ja! Kunden, denen wir Liebestränke verkaufen, müssen demnach vertrauenswürdig und verantwortungsbewusst sein, was frustrierte Verliebte und Knöllchensammler oft nicht sind. Aus diesem Grund geben wir offiziell nur sehr schwache Liebeszauber mit geringem Manawert heraus, das heißt mit nur maximal zehn Prozent an spiritueller Energie, die dann eine ähnliche Wirkung wie Alkohol haben. Der Vorteil ist: Im Gegensatz zu richtigem Alkohol wird einem davon nicht schwindelig, man ist weiterhin fahrtauglich und bekommt am nächsten Tag keinen Kater. Sie machen die Verzauberten außerdem zugänglicher und lockern ihre Berührungsängste, aber mehr nicht.

Offiziell bedeutet, dass unter dem Ladentisch, also im Keller, trotzdem der ein oder andere Hammertrank rausgeht, wenn der Preis stimmt. Allerdings nur unter absoluter Geheimhaltung seiner Herkunft und wenn mein Meister den Kunden gut kennt.

Einmal habe ich im Untergeschoss die Regale putzen müssen und einer der Zeig dich! Trank- Glasflakons war undicht. Drömpèl stellt die immer so wuchtig zurück an ihren Platz, dass viele der Flaschen schon Haarrisse haben. Jedenfalls lief eines dieser Gebräue aus, deshalb habe ich es umgefüllt und den Rest mit Schwamm und Wasser aufgewischt. Leider vergaß ich, mir dabei Gummihandschuhe anzuziehen ...

Dieses kleine Bisschen, das ich verdünnt über die Haut aufgenommen hatte, reichte schon, dass ich jegliche Hemmungen verlor und allen Kunden, die in den Laden kamen, voller Stolz meinen ansehnlich dauergeschwollenen Phallus zeigte. Mein Meister musste mich vorübergehend in einen seiner großen Vogelkäfige sperren, bis ich mich beruhigt und der starke Exhibitionismus-Zauber nachgelassen hatte. Danach schämte ich mich für zwei weitere Tage in Grund und Boden und war heilfroh, dass Raphaèl gerade im Urlaub herumoxidierte, denn sonst könnte ich mir das nun ganz sicher täglich anhören. Ich frage mich, was wohl erst mit den Menschen geschieht, die dieses Zeug pur verabreicht bekommen?! Unter jedes sexuell stimulierende Elixier ist ein Aphrodisiakum beigemischt, das schlaffe Nudeln versteinern lässt und die frömmlerischste Am-Wochenende-Kirchenbänke-Abwischerin in eine schwanzsüchtige Tropfsteinhöhle verwandelt, doch bei diesem Trank stimmten ganz eindeutig die Verhältnisse nicht!

Ja, was noch? Ach ja, mein Meister sagt, ich soll aufhören, ständig mit mir selber zu reden.

Er motzt immer, das würde einfältig wirken und hätte eine schlechte Außenwirkung, auf die er ja sehr viel Wert legt. Also auf eine gute, nicht auf eine schlechte. Ich müsse ihn und seine Arbeit repräsentieren und dabei dürfe ich nicht wie ein Volldepp Selbstgespräche führen. Deshalb hat er mich zur Strafe mal wieder auf die unterste Stufe der Stillen Treppe geschickt und ich sinniere gezwungenermaßen vor mich hin.

Genau genommen bin ich so schlau als wie zuvor und habe noch nicht einen Fingerzeig wahrer Magie erlernt! Ständig sitze ich nur auf der Stillen Treppe und ihr Name kommt auch nicht von ungefähr. Sie raubt wirklich jedem, der sie berührt, die Stimme, was äußerst lästig ist, wenn man gerade einem Kunden was erklären will, aber dabei die zehn Meter nach oben ins Dachgeschoss des Turms latschen muss, wo sich der Behandlungsraum befindet. Einen Fuß auf der Stufe ... Schwupps, Mund weg! Ist voll blöd, sieht gruselig aus und wenn man Schnupfen mit verstopfter Nase hat, ist es die Hölle! Dann heißt es: entweder nach oben rennen oder an seinem eigenen Rotz ersticken. Asthmapatienten lasse ich gar nicht mehr rauf, genauso wie alte Leute, deren Lunge schon rasselt, wenn sie nur die drei Treppenstufen vor der Eingangstür hochsteigen.

Nun ja, so spannend sich das alles auch anhört, meine Aufgaben als Zaubernovize sind sehr übersichtlich und dermaßen öde, dass ich eingehen würde, wenn ich nicht wenigstens ab und zu mal mit mir selbst quatsche. Dafür sitze ich nun wieder hier, allein auf der Treppe, und warte meine dreißig Minuten Strafzeit ab, ehe ich meine restliche Arbeit erledigen darf. Da kommt man sich schon ziemlich blöd vor, denn ich bin ja inzwischen neunzehn Jahre alt und klebe hier fest, als wär ich ein kleiner, bockiger Hosenscheißer, der seinen Spinat nicht aufgegessen hat! Bevor die Zeit nicht vorüber ist, was mir eine große magische Sanduhr anzeigt, kann ich meinen Hintern nicht von der Stufe lösen und meine Tagesarbeit staut sich mal wieder bis in meinen eigentlichen Feierabend.

Ich schnaufe durch die Nase und langweile mich, also fummle ich eine Weile an meinen Locken herum, die nun von einer strahlend orangefarbenen Strähne durchzogen sind. Die ist eine Art Erkennungsmerkmal, dass ich ein Novize meines Lehrmeisters bin, denn seine Kutte ist ja ebenfalls neonorange. Warum er sich von den existierenden zwanzig Millionen Farbtönen keinen anderen ausgesucht hat, ist mir schleierhaft. Die meisten entscheiden sich für seriöse, dunkle Nuancen, doch er sieht durch den zeltartigen Schnitt seines Mantels immer wie ein riesiges, laufendes Warnhütchen aus.

Als mir die Zwirbelei zu blöd wird, fange ich an, mir die Fusseln von meiner Hose zu zupfen. Manchmal frage ich mich, warum sich Magister Drömpèl überhaupt darauf eingelassen hat, mich als zweiten Lehrling anzunehmen, obwohl er eigentlich völlig ausgelastet ist. Vielleicht waren es auch nur die großen, flehenden Augen meiner Mutter. Jedenfalls galt seine ganze Aufmerksamkeit weiterhin Raphaèl, und da sie mich immer rausschickten, wenn sie was übten, konnte ich nicht mal nebenbei etwas lernen.

Raphaèl de Moreau kannte ich vom Sehen her sogar aus meiner alten Schule, denn er war einen Jahrgang über mir. Er hatte bereits mit fünfzehn dunkelviolette Augen, doch damals habe ich mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht. Erst hielt ich es auch für ein gutes Zeichen, dass mich Drömpèl als zweiten Novizen annahm, aber dann stellte ich ziemlich schnell fest, dass ich nur die Drecksarbeit machen soll und Raphaèl, dieser schnöselige Fatzke, die richtige Zauberlehrlingsausbildung bekommt! Ich hingegen fühle mich wie ein männliches Aschenbrödel, denn ich bin im Wesentlichen nur fürs Putzen, Einsortieren und Schreiben der Nachfülllisten zuständig. Ach ja und ich bin des Meisters bevorzugter Laufbursche. Ich bringe die Bestellungen zu hochkarätiger Kundschaft nach Hause, gehe einkaufen oder muss Zutaten aus den umliegenden Wäldern beziehungsweise Baumärkten besorgen. Das machen normalerweise die Alchimädels, aber die verkaufen jetzt lieber Pfadfinderkekse. Scheint sich mehr zu rentieren als der Handel mit Kuckuckseiern, Stiefmütterchen oder pulverisierten Meerschweinchenstoßzähnen.

Wenn ich also nicht gerade durch den Wald stiefle, um Blutkuppenpilze oder irgendwelche blöden Antifurzkräuter zu sammeln, oder den Turm wienere, dann kümmere ich mich im Lagerverkaufsraum des Erdgeschosses um das Tagesgeschäft. Das heißt, ich verhökere dort alle Mittel von der Stange, die mein Meister und Raphy auf Masse herstellen. So was wie Strammzerr-Anti-Faltenöl, Bell-Ex-Hustenlösertinkturen, Spür-ich-nich-is-nich-da-Schmerzmittelex, Anti-Übelkeits-brech-woanders-Mehl, Pflaster mit Geschmack, Schrubbfix-ohne-Glatzkopfmannspiegelung und Erquickliche-Optik-Schönheitspaste!

Natürlich könnte ich auch alles hinschmeißen und gehen – also, nachdem ich meine Zeit auf der Stillen Treppe abgesessen habe – aber dann kann ich meine Karriere als Magier endgültig vergessen. Außerdem besitze ich noch den Hauch einer Hoffnung, dass es besser wird, wenn mein Kontrahent in exakt dreizehn Monaten und sieben Tagen die Bude verlässt (nicht dass ich zählen würde). Dann hat er nämlich seinen kleinen Magierschein, der ist etwa so groß wie ein halber Hamster.

Mit dem Schein kann man einen eigenen Laden eröffnen. Den Meister muss man sich in unserem Gewerbe jedoch ohne Hilfe erarbeiten, indem man einen neuen Zauber erfindet, welcher vor dem geheimnisumwobenen Kuratorium der magischen Künste vorzuführen ist. Wenn dieser die Ratsmitglieder beeindruckt, bekommt man einen pompösenMagierschein, in Hasengröße, plus seinen Meistertitel und darf dann auch eigene Novizen ausbilden. Klingt einfach, ist es aber nicht, denn die haben von sich selbst kochenden Nudeln bis hin zu kotzenden Einhörnern, die beim Reihern ihre Farbe wechseln, schon alles gesehen. Zumindest hat uns das Drömpèl mal erzählt.

›Was ich wohl erfinden werde? Vielleicht einen Heiltrank, der mal wirklich anhält und nicht nach ein paar Tagen wieder verfliegt? Oder ein Elixier, mit dem man im Weltall atmen kann? Kombiniert mit einem lang anhaltenden Schwebezauber und einem Düsenantrieb aus dem eigenen Ar-‹

Plötzlich quietscht die Labortür des Alchimähues und ich höre, wie knarzende Schritte durch den langen, halbschrägen Tunnel nach unten hallen. Als ich schon guter Hoffnung bin, dass Meister Drömpèl mich eher von meiner Strafe erlöst, sehe ich den leuchtend orangen Streifen in den mittellangen, taubenkotweißlilafarbenen Haaren von Raphaèl. Diese beiden Farben beißen sich furchtbar, aber ihm ist das völlig schnurz.

Er läuft hämisch, mit den Augenbrauen zuckend, an mir vorbei und sieht ohne Mund noch viel gruseliger aus als ich. Der drahtige Mistkerl hüpft leichtfüßig die letzte Stufe herunter, wirbelt dann mit seinem peinlichen Lackumhang herum und knätscht mir schadenfroh entgegen, sobald er wieder sprechen kann.

»Ooooch, armes kleines Izzylein! Sag bloß, du kriegst deinen dicken Hintern nicht von der Treppe?«

›Dick???‹ Am liebsten würde ich ihm die verdammte Sanduhr an den Kopf schmeißen! Immer verhohnepipelt der mich! Ja, ich mag durchaus ein paar Kilo mehr drauf haben als dieser Hänfling, aber ich bin nichtdick![Fußnote 3] Das sind alles Muckis! ... Fast.

»Drömpèl hat gesagt, du hättest dich mal wieder lieber mit dir selbst beschäftigt, statt deiner Arbeit nachzugehen!? Tja, das hast du nun davon!« Aus seinem Mund hört sich das an, als hätte ich Taschenbillard gespielt! Aber da ich ihm eh nicht antworten kann, grummle ich nur und stütze mein Kinn aufs Handgelenk, während ich wegschaue. Er lässt sich von meinem Schweigen jedoch nicht irritieren und quatscht weiter. »Also ich gehe jetzt zum Bäcker und hole mir ein frisch gebackenes Plunderteilchen und eine leckere Cremeschnitte zum Kaffee! Willst du auch was?« Blöderweise verrät mich mein Magenknurren sofort, denn süßes Gebäck ist ja leider nach wie vor eine meiner großen Schwachstellen und das weiß er! Nun kommt er auch noch näher, beugt sich zu mir herunter, indem er die Hände auf seine durchgedrückten Knie stützt und flüstert ironisch, während er eine Schnute formt: »Warte, ich weiß schon, was du willst! So ein richtig schönes, dickes, langes, pralles Éclair mit Sahnefüllung! Stimmts?«

Ja. Leider hat er inzwischen auch mitbekommen, dass ich auf Männer stehe und zieht mich seitdem ständig mit derartigen Kommentaren auf. Ich muss gestehen, dass ich kurz schlucken und das Zucken zwischen meinen Beinen ignorieren muss, aber das liegt weniger an seiner erotischen Ausstrahlung als daran, dass ich total notgeil bin!

»Hm, nicht? Na schön, wenn du nicht willst, dann hole ich eben nur was für mich. Höhö.« Er wirbelt herum, nimmt seinen Lackaffenhut vom Kleiderständer und huscht durch den überfüllen Laden lachend zur Tür hinaus, wo er sich gleich eine Zigarette ansteckt.

›Garstiger Arsch!‹ Nur weil er ein Jahr älter ist und der Meister ihn bevorzugt, muss er ständig gemein zu mir sein. Also, ich bin ja nun wirklich ein sehr friedliebender Mensch und es braucht auch lange, bis ich wütend werde, aber der Typ schafft das schon mit seinem blöden Grinsen!

Ich seufze erneut durch die Nase und sehe auf die Rieselzeit – ungefähr vier Minuten, dann bin ich durch und darf den Kram im Schaufenster weiter abstauben. Bis dahin schaue ich durch den Raum, dessen Regale alle krumm und schief an der Wand hängen und eigentlich nur noch mit gutem Willen, Dreck und Spucke halten. Jeder Zentimeter in diesem winzigen, runden Laden ist über und über voll mit Büchern, die sich stapeln, körbeweise Spruchbändern zum Aufhängen und Pergamentrollen mit Einmal-Zaubern für jedermann in Kisten. Auf den Verkaufstischen liegen Wunschsteine, Amulette und kleine Flakons in Holzschüsseln. In den Vitrinen stehen Tränke, die meisten davon bereits abgelaufen ... tja und dazwischen liegt Müll! Jede Menge Zaubermüll!

Es dauert immer eine Ewigkeit, bis ich das alles abgestaubt sowie sortiert habe, und wenn ich fertig bin, fange ich wieder von vorne an! Unsere Kunden grapschen ständig alles an und bringen die Ordnung durcheinander und von der staubigen Schotterstraße kommt jedes mal eine Dreckwolke herein, sobald jemand die Tür öffnet. Derweil sorgt Drömpèl am laufenden Band für Nachschub, den ich auch noch irgendwo unterkriegen soll. Wir müssten eigentlich mal Inventur machen oder die Ladenhüter zum halben Preis raushauen, aber von so etwas hält der Meister nichts. Wenn es nach ihm geht, muss ich eben alles rechtzeitig verkaufen, bevor das Verfallsdatum überschritten ist. Schaffe ich es nicht, die einhundertsiebzigste Anti-Bläh-Tinktur an den Mann zu bringen, dann liegt das nicht etwa daran, dass die meisten der Einwohner einfach keine Probleme mit ihrem Abgasventil haben, nein! Es liegt einzig und allein an meinem geringenVerkaufstalent!

Ja okay, mag auch sein! Aber deswegen wollte ich ja auch Magier werden und kein Einzelhandelskaufmann!

>Poff<, da löst sich die Sanduhr in Luft auf und ich spüre, wie sich die Haut meines Hinterns samt Unterseite meiner Eier schmatzend vom Untergrund löst. Mühsam rapple ich mich auf und gehe einen Schritt nach vorn, um mich erst mal zu strecken und durchzuatmen, sobald meine Lippen sich wieder gebildet und gespalten haben. »Aaaaaahhh! Au, mein Kreuz!«

Eigentlich habe ich jetzt Pause und mein Magen grummelt laut. Wenn ich aber die Arbeit nicht nachhole, die ich wegen der Strafe versäumt habe, dann werde ich bis in die Nacht schuften müssen und morgen früh wieder nicht aus dem Bett kommen. Also entscheide ich mich schweren Herzens, zu Ende abzustauben und dann einen Eimer zu holen, um mit dem Schrubben der Dielen anzufangen.

***

Raphaèl kommt nach einer halben Stunde zurück und sieht mich auf dem Boden knien, wo ich mit einer schmalen Scheuerbürste gerade die Fugen reinige.

»Schön schrubben Izzy, schön schrubben! Machst du gut. Bist gern auf allen vieren, hä?« Er lacht erneut, beißt genüsslich in seine gefüllte Teigschnitte und läuft mit vollem Mund kauend an mir vorbei. Natürlich ohne sich vorher die Schuhe auszuziehen. Seinen Schritten folgen krümelig, schlammige Abdrücke und erst am Aufgang zum Dachgeschoss streift er seine Latschen mithilfe der Treppenkante ab und lässt sie dort provokant liegen. »Hier Putzi, das ist schon mein Drittes. Den Rest kannst du haben.« Damit klatscht er das angebissene Gebäck schwungvoll auf den Boden, sodass die weiße Creme herausspritzt. Danach geht er schweigend nach oben.

Ob ich das Stück gegessen habe? Dazu sag ich jetzt besser nichts ...

***

Weder der Meister noch mein fieslicher Mitauszubildener lassen sich bis zum Feierabend unten blicken. Ich mache also pünktlich Schluss und verkrümle mich, bevor Drömpèl noch auf die Idee kommt, mir irgendwelche Extraaufgaben aufzudrücken. Ich hörte ihn über den Tag verteilt immer mal wieder laut fluchen, was sonst gar nicht seine Art ist, also nehme ich lieber schnell Reißaus!

Eilig schnappe ich mir meinen Rucksack, meinen schwarzes Cape sowie meinen spitzen Hut und schlüpfe leise durch die Tür nach draußen. Es wird Herbst und in den Abendstunden ist es schon ziemlich kühl, doch zum Glück ist mein Umhang aus magischem Filz: wasserabweisend und sich bei Kälte aufwärmend, sobald man ihn trägt. Schnell stecke ich meine Arme durch die an den Seiten befindlichen Einschnitte und knöpfe ihn vorne zu. So ist es für mich deutlich leichter, Fahrrad zu fahren, denn sonst würde er mir ja nur offen nach hinten wegwehen und seine Wirkung verfehlen. Ich beeile mich, steige auf mein treues Klapperrad und trete in die quietschenden Pedalen, denn mein Magen knurrt, als hätte ich tagelang gehungert.

›Hoffentlich hat Mum noch etwas vom Mittag übrig oder kocht zum Abend! Die wird wieder meckern, wenn ich ihr sage, dass ich den ganzen Tag nichts gegessen hab.‹

Ich sause die kürzeste Strecke über die Kopfsteinpflaster unserer Stadt, an der Mauer entlang, bis zum großen Tor und dann nach draußen, den Hügel hoch. Seitdem ich jeden Tag zweimal diesen Weg fahre, hat sich der Umfang meiner Oberschenkel fast um ein Drittel erhöht, aber ich mag dieses Ziepen in den Muskeln ganz gern. Irgendwann, wenn ich mal mehr, beziehungsweise überhaupt irgendwas gelernt habe, will ich mir ein magisches Rad mit Turbogang basteln, das von selbst fährt. Ich weiß, dass es so was schon gibt, deshalb könnte ich es nicht als mein Meisterstück vorzeigen, aber der Schwingungszauber, der laufende Bewegungen eines Gerätes erzeugt, ist leider sehr schwierig und muss auch auf jeden Gegenstand individuell zugeschnitten werden. Außerdem braucht man für seine Zubereitung teuren Wacholderschnaps und einen Akabäischen Orakelarsch, den man nur äußerst selten im Handel bekommt.

Im Gegensatz zu Raphaèl kann ich mir noch keine eigene Wohnung in der Stadt leisten. Als Lehrling verdient man ja nur sehr wenig in der Ausbildungszeit, wobei ich auch nicht genau weiß, welche exakte Summe er erhält. Allerdings wohnt er mit seiner Freundin zusammen und die beiden teilen sich die Miete.

Nach fast fünfundvierzig Minuten und siebzehn Kilometern Fahrt, durch Stadtstraßen, Kopfsteinpflastergassen und über diverse Buckelpisten, komme ich endlich zu Hause an. Ein königlicher Gruß an Schlotze und Zwiebel, die mit ihrer Gang um eine brennende Mülltonne tanzen, als wären wir mitten in der Apokalypse. Die passende Kleidung haben sie zumindest.