Kontinuitäten und Brüche - Joke Frerichs - E-Book

Kontinuitäten und Brüche E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

Vor einiger Zeit wurde ich als typischer Intellektueller bezeichnet. Ich selbst habe mich nie als Intellektuellen gesehen oder mich als einen solchen bezeichnet. Gleichwohl bin ich jahrelang einer wissenschaftlichen Tätigkeit nachgegangen, bevor ich mich entschloss, mit dem Schreiben literarischer Texte zu beginnen. Welche Kontinuitäten und Brüche es dabei gegeben hat, darum geht es in diesem Buch. Es ist der Versuch einer Selbstbeschreibung; man könnte auch sagen: die Suche nach der eigenen Identität.

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Vor einiger Zeit bezeichnete mich eine alte Freundin als Intellektuellen. Ich erschrak. Sie hatte es keineswegs despektierlich gemeint; eher anerkennend. Anlass war die Lektüre meines Romans Gespräch mit einem langen Schatten, den sie gelesen hatte. Darin schildere ich den Bildungsweg des Protagonisten Joel, der sich mit literarischen, philosophischen und künstlerischen Fragen auseinandersetzt. Diese zuweilen durchaus subtilen Erörterungen waren es wohl, die unsere Freundin zu ihrer Äußerung veranlasst hatten.

Ich habe mich selbst nie als Intellektuellen gesehen oder mich gar als einen solchen bezeichnet; auch war ich kein einseitiger Verstandesmensch (so die Definition in einem Deutschen Wörterbuch). Es wäre mir eine Schreckensvorstellung gewesen. Andrerseits bin ich jahrelang einer intellektuellen Tätigkeit nachgegangen. Die Art, wie ich mein Studium betrieb, kann man nur als theorielastig bezeichnen. Auch bei meinen ersten Publikationen handelte es sich um theoretische Beiträge, noch dazu in universitären Kontexten. Gleichwohl hatte ich zu Intellektuellen immer eine emotionale Distanz. Anfangs war es ein Unterlegenheitsgefühl. Ihre Art zu sprechen, ihre Distanziertheit, ihr Auftreten, – all das war mir fremd und schüchterte mich ein. Später, als ich die Mechanismen des intellektuellen Feldes besser durchschaute, wuchs in mir der Widerstand gegen bestimmte Verhaltensweisen: vor allem verabscheute ich ihren Hang zum Konformismus und die ausgeprägte Karriereorientierung.1

Dazu ein Beispiel: Just im Jahre 1982, als die konservativ-liberale Regierung unter Kohl an die Macht kam und die geistig-moralische Wende ankündigte, verabschiedeten die Sozialwissenschaften auf dem Soziologentag in Bamberg den Klassenbegriff, der in den Jahren zuvor geradezu als Ausweis kritischen Denkens gegolten hatte. Zufall? Vielleicht; allerdings hat mir nie eingeleuchtet, was sich gegenüber der Zeit – sagen wir Mitte der 70er Jahre – geändert haben sollte. Hatte der Kapitalismus sein Wesen, d.h. seine ausbeuterische, Ressourcen verschwendende Produktionsweise verändert? Hatte die Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche ihre Aussagekraft verloren? War es für die unteren Schichten einfacher geworden, zu Bildung und Wohlstand zu gelangen? Es bedurfte schon einiger begrifflicher Verrenkungen, um den Klassencharakter der Gesellschaft in Abrede zu stellen oder zu verschleiern.

Nun habe ich zweifellos selbst jahrelang im wissenschaftlichen Kontext agiert und es ist möglich, dass bestimmte Prägungen des intellektuellen Feldes auf mich abgefärbt haben. Nach dem Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg wählte ich meine Studienfächer danach aus, was mich interessierte: Philosophie, Germanistik und Soziologie. Das Germanistikstudium gab ich nach zwei Semestern auf und studierte stattdessen Politikwissenschaften. Es war ein reines Neigungsstudium oder – wie in meinem Umfeld geraunt wurde: brotlose Kunst. Mit meinen Fächern konnte ich weder Lehrer an einer Schule noch sonst eine Laufbahn einschlagen. Ich ging sehenden Auges das Risiko ein.

Zu meiner „intellektuellen“ Biographie gehört, dass ich mich während meines Studiums primär mit theoretischen Fragen im Umkreis des Marxismus beschäftigte. Schon während meiner Abiturszeit las ich die Marxschen Frühschriften, die mich in eine Art schwärmerische Begeisterung versetzten; vor allem die Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte und Die deutsche Ideologie. Formulierungen wie: Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er sie abwerfe und die lebendige Blume breche. Der Mensch soll sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewegen usw. – begeisterten mich; ich bläute sie mir ein und sagte sie vor mich hin wie ein schönes Gedicht. Ich las nach und nach die Hauptwerke von Marx, aber daneben Theoretiker wie Marcuse, Adorno, Habermas, Bloch u.a., die Marx auf ihre je spezifische Weise interpretierten.

Im Verlauf meines Philosophiestudiums las ich vor allem Hegel, besuchte aber auch Seminare über Cusanus, Kant und Heidegger. Hegel las ich gewissermaßen durch die Marxsche Brille. Die Formulierung aus der Rechtsphilosophie, in der Hegel davon spricht, dass die bürgerliche Gesellschaft aufgrund ihrer inneren Widersprüche über sich hinaustreibt, verstand ich als eine frühe Krisentheorie, was wiederum dazu führte, dass ich mich intensiv mit Problemen der Politischen Ökonomie befasste.

Man muss wissen, dass die Grenzen der Fächer zu meiner Studienzeit fließend waren. Das führte, wenn man so will, zu gewissen Synergieeffekten. Im Fach Soziologie wurde die Kritische Theorie Adornos und Marcuses behandelt und damit immer auch philosophische Fragen sowie die Freudsche Psychoanalyse. Die Politikwissenschaftler beschäftigten sich mit den Staatsauffassungen von Hobbes, Montesquieu oder Hegel; im Philosophiestudium besuchte ich ein Seminar über Marxismus und Psychoanalyse, aber auch über Lukács Geschichte und Klassenbewusstsein und wiederum in Soziologie lasen wir Hegels Phänomenologie des Geistes, mit der ich mich besonders ausgiebig beschäftigte. An einer Arbeitsskizze aus dieser Zeit lässt sich ablesen, wie sich die Theorieelemente der verschiedenen Fachrichtungen miteinander verschränkten. Darin heißt es:

Hegels Disqualifizierung der Ebene der Unmittelbarkeit verdankt sich dem Klassenstandpunkt des Philosophen: Reduktion auf Erkenntnistheorie – jenseits des Produktionsprozesses und der Konsumsphäre. Trickreich, dass er nicht thematisiert, dass sein Ausgangspunkt, die sog. sinnliche Gewissheit, ja im Grunde Resultat vorgängiger menschlicher Praxis ist. Die Fülle der Gebrauchswerte, die Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung sind, werden nicht als Resultat der Arbeit gefasst, sondern als Problem der Logik angesehen. So gesehen kann man die Phänomenologie als Bildungsroman lesen. Am Anfang steht die bloße Sinnlichkeit, der man die Oralität austreiben muss, um sie auf den Begriff zu bringen. Das „ozeanische Gefühl“ (Freud), das einen beim Anblick der Fülle von Gebrauchswerten überkommt, wird bei Hegel als ärmste Abstraktheit gefasst. Ihr fehlt noch die begriffliche Zuordnung. Was als Bildungsprozess erscheint, ist lediglich ein abgeschnittener, verkehrter Bildungsprozess: das Bewusstsein bildet sich ein, etwas über die Welt auszusagen, spricht damit aber nur die eigene Entfremdung aus. Der Mensch ist Philosoph, der Arbeit nur als geistige fassen kann, weil er vom Produktionsprozess ausgeschlossen ist. Das Ich bleibt als Erkenntnissubjekt ein Wesen ohne Leib und Seele. Die Gebrauchswerte erscheinen als Dinge nur in ihrer Eigenschaft als Erkenntnisobjekt – nicht als produzierte, Bedürfnisse befriedigende Gegenstände.

Obwohl Philosophie für mich nur ein Nebenfach war, habe ich die meisten Seminare in diesem Fach absolviert. Und ich ging in die Vorlesungen von Odo Marquard, der später eine Art konservativer Vordenker wurde. Er war berühmt für seine Formulierungskünste und Worterfindungen. O.M. veröffentlichte meist kürzere Texte bzw. Essays, die oft skurril oder polemisch waren. Seine Art zu schreiben bezeichnete er selbst als Transzendentalbelletristik. Eine seiner philosophischen Maximen lautete: Die Menschen, das sind ihre Geschichten. Die müssen wir erzählen. Er sah die Aufgabe der Geisteswissenschaften darin, unvermeidliche Zivilisationsschäden zu kompensieren. Er selbst blieb Skeptiker und misstraute jedem allzu forschen Fortschrittsglauben.

Mich faszinierte es, mich mit philosophischen Problemen auseinander zu setzen. Ich hatte keinen Gedanken daran, ob ich je etwas damit würde anfangen können. Es waren vor allem auch die Umstände die mich inspirierten. Das philosophische Seminar befand sich in einem altehrwürdigen Bürgerhaus in der Gießener Ludwigstrasse. Hier traf man immer jemanden, mit dem man diskutieren konnte. Man kannte sich aus den Seminaren, die zu dieser Zeit noch sehr überschaubar waren. An einem Hegel-Seminar über die Rechtsphilosophie nahmen kaum mehr als ein Dutzend Teilnehmer statt; allesamt höhere Semester. Die Texte wurden Satz für Satz interpretiert. Oft schafften wir kaum mehr als ein paar Seiten. Gründlichkeit ging vor. Der Professor versuchte, die meist höchst abstrakten Ausführungen Hegels mit plastischen Beispielen zu untermalen. Man ließ sich Zeit, um möglichst viel von dem zu begreifen, was man da las.

Die Atmosphäre in den Seminaren war locker; gleichwohl traute ich mich kaum, mich zu Wort zu melden. Das Reden in philosophischen Begriffen fiel mir schwer. Stattdessen schrieb ich lieber Referate, die intensiv diskutiert wurden, was mich wiederum ermutigte. Ich erinnere mich, dass ich während eines kurzen Sommersemesters drei Referate hielt. Eines mit dem mir heute seltsam anmutenden Titel: Die Todestriebthese von Jurinetz. Ein weiteres behandelte Reimut Reiches Sexualität und Klassenkampf. Das Thema des dritten Referats fällt mir nicht mehr ein.

Das alles deutet daraufhin, dass ich ein recht fleißiger Student war. Ich selbst hatte stets ein Defizitgefühl. Mein Selbstbewusstsein war nicht sonderlich ausgeprägt. Dass ich in die Fachschaft Philosophie gewählt wurde, war mehr zufällig und änderte nur wenig daran.

Zurück zu Hegel. Mir gefiel trotz seiner zeitweilig kraftvollen Formulierungen die behutsame Weise seines Philosophierens. In meinen Arbeitsnotizen von 1973 findet sich folgender Eintrag:

An Hegels Methode fällt auf, wie wenig Gewalt er den Gegenständen antut. Sein Verfahren gleicht einem Über-die-Schulter-schauen, einem Zusehen, wie der Begriff sich macht. Zum Beispiel wenn er sagt: Die sinnliche Gewissheit spricht: es ist.

Aber die Sprache ist das trojanische Pferd seiner spekulativen Philosophie, denn die logische Unmöglichkeit, den Anfang aller Anfänge zu bezeichnen, muss dementiert werden. Hegel gelingt dies dadurch, dass er die sinnliche Gewissheit als Ausgangspunkt des philosophischen Erkenntnisprozesses durch fortschreitende Negation als ein Vermitteltes dechiffriert. Diese fortschreitende Negation führt, ohne den Dingen Gewalt anzutun, zur Konstitution des Allgemeinen. Das Sein ist das Allgemeine, weil es von den spezifischen Eigenschaften der Dinge abstrahiert. Zum Beispiel: Tisch und Stuhl unterscheiden sich als Dinge; haben aber gemeinsam, dass sie sind.

Auffallend ist die Analogie zur liberalen Gesellschaftstheorie, etwa zu Adam Smith: Allgemeines stellt sich im Verfolg der Privatinteressen her; indem jeder seine eigennützigen Interessen verfolgt, dient er gleichzeitig dem Allgemeinen. Das ist die Geburtsstunde der berüchtigten invisible hand, wie Marx später in seiner Kritik genüsslich feststellt.

Mir bereitete es ein Vergnügen, nun gewissermaßen Hegel beim Philosophieren über die Schulter zu schauen und auf diese Weise an seinen spitzfindigen Spekulationen Anteil zu nehmen.

*

An der Universität Gießen lernte ich Gerhard Kraiker kennen. Er war Assistent und später Professor am Politischen Seminar. Ich hatte mir vorgenommen, mein Germanistikstudium zu beenden, da mir die Art und Weise, wie man damals literarische Texte sezierte bzw. versuchte, sie in irgendwelche mehr oder minder einsichtige normative Schemata zu pressen, nicht behagte. Ich verließ eine Vorlesung in Mittelhochdeutsch, in der ich aufgefordert wurde, einen dieser antiquierten Texte zu rezitieren. Ich stellte mich einfach taub und reagierte auf die Aufforderung des Professors nicht.

Ich beschloss, Politikwissenschaften zu studieren. Zu diesem Zweck suchte ich das Politische Seminar auf, das damals dem Germanistischen gegenüber lag. Ich ging in das nächstbeste Zimmer, traf auf Kraiker und schilderte ihm meine Situation. Er betrachtete mich nachdenklich, sog gemächlich an seiner Pfeife und empfahl mir, die Vollversammlung der Studenten zu besuchen, die in einigen Tagen zusammentreten würde, um eine neue Fachschaft zu wählen. Dort würde ich auch einiges über die geplanten Reformen des Studiengangs erfahren.

Ich nahm an der Versammlung teil und lieferte sogar – entgegen meiner sonstigen Gewohnheit – einen kleinen Redebeitrag. Das führte dazu, dass ich in die Fachschaft Politik gewählt wurde, obwohl ich keiner der studentischen Gruppen angehörte. Ich erhielt bei der Wahl die meisten Stimmen. Nunmehr war ich Fachschaftsvertreter in Philosophie und Politik.

Das Verhältnis der Lehrenden zu den Studenten war damals überaus persönlich und unverkrampft. Man duzte sich größtenteils; ging nach den Konferenzen oder Seminaren noch ein Bier trinken und lernte sich auf diese Weise näher kennen. Auch der Direktor des Politischen Seminars, Professor Heinz Josef Varain, ansonsten ein eher zurückhaltender Mann, nahm an diesen Treffen teil. Ich erinnere mich, wie er bei einer solchen Gelegenheit davon sprach, froh zu sein, dass er nicht verheiratet sei. So könne er gleich zu Hause in Ruhe seine Fachzeitschriften lesen ohne sich mit Frau und Kindern abgeben zu müssen. Einige Zeit später heiratete er dann doch: sein bester Freund war gestorben. Er heiratete dessen Frau und bekam es mit deren aufsässiger Tochter zu tun. Ich vermute, er hatte seinem Freund versprochen, für beide zu sorgen.

Jetzt, wo ich an die Zeit zurückdenke, fällt mir wieder ein, dass wir 1970 eine große Party in seinem Haus gefeiert haben. Wir kamen erst spät hinzu, da wir vorher noch den Sommernachtstraum von Shakespeare ansehen mussten. Schwiegervater hatte Karten für die Veranstaltung im Rahmen der Industriefestspiele im Wetzlarer Rosengarten besorgt. Wir konnten ihn nicht hängen lassen. Ich saß buchstäblich auf Kohlen. Nicht wegen der Party und erst recht nicht wegen der Freilichtaufführung. Nein – am gleichen Abend fand das Viertelfinale der WM zwischen Deutschland und England statt. In den hinteren Reihen hörte jemand sich die Übertragung auf dem Transistorradio an. Ich bekam mit, dass England 2:0 führte. Wir fuhren nach der Aufführung sofort nach Gießen und trafen zu unserer Überraschung die Partygäste bei bester Laune an. Das verwunderte mich angesichts des Zwischenergebnisses. Etwas Wundersames war geschehen: Deutschland hatte das Spiel noch gedreht und 3:2 nach Verlängerung gewonnen. Jetzt konnte die Party noch einmal von vorne losgehen.

Uns Studenten unterstützte Varain bei unserer Forderung, in das Grundstudium Politik einen Kurs zum Marxismus zu integrieren. Ich war einer der Tutoren, die jeweils ein Spezialthema bearbeiteten. Varain selbst übernahm die Leitung des Kurses und hielt im Audimax vor ca. 500 Studenten das Einführungsreferat Zur Methode der Politischen Ökonomie von Marx. Unvergessen ist mir, wie er den Begriff der abstrakten Arbeit erläuterte und wie er die Arbeit sans phrase betonte. Wir linken Studenten waren überrascht und angetan von seinen Ausführungen, zumal er uns bis dato nur als Experte für Parteien und Verbände bekannt war, seinem eigentlichen Forschungsfeld.

Vor kurzem hörte ich, dass er nach seiner Emeritierung nach Hamburg gezogen war, wo er im Alter von 86 Jahren starb. Bis zuletzt hatte er sich in sozialen Projekten zugunsten von benachteiligten Kindern und Jugendlichen engagiert. Dasselbe hatte er auch schon in seiner Zeit in Gießen getan. Sein Motto lautete: Tu Gutes und sprich nicht darüber.

Gemeinsam mit Kraiker, den Varain als Assistenten anstellte, führte ich als studentischer Tutor einige Seminare zur bürgerlichen und marxschen Staats- und Gesellschaftstheorie durch. Darüber schrieb ich auch meine Magisterarbeit bei ihm. Mein Erkenntnisinteresse formulierte ich wie folgt:

Seit Hobbes die Vision eines „bellum omnium contra omnes“ formulierte, die Smith mit der Vorstellung einer „invisible hand“ konterkarierte, steht die bürgerliche Staatstheorie vor dem Dilemma, erklären zu müssen, wie in einer Gesellschaft, die sich die extreme Entfaltung von Interessen als Freiheitsspielraum ihrer Mitglieder zurechnet, ein Medium der Vergesellschaftung entstehen kann oder notwendig wird, das man gemeinhin als „Staat“ bezeichnet.2

In meiner Magisterarbeit setzte ich mich mit den damals diskutierten Staatstheorien auseinander: von den Vorstellungen über einen liberalen „Nachtwächterstaat“ bis hin zur „Sozialstaatsillusion“.

Danach bot Kraiker mir an, ein gemeinsames Buch zur marxistischen Staatstheorie zu schreiben. Ich fühlte mich geehrt. Die Zweifel kamen erst später. Das Buch sollte im renommierten Suhrkamp-Verlag erscheinen. Es war meine erste Veröffentlichung und ich fragte mich, ob es klug sei, gleich aufs Ganze zu gehen.

Ich war gänzlich im Marxschen Gedankengut gefangen und war der Meinung, man müsse auf die Marxschen Quellen zurückgehen. Ich verzichtete auf jegliche Sekundärliteratur. Das führte zu einigen Diskussionen zwischen uns, da es wissenschaftlichen Gepflogenheiten widersprach, sich auf nur eine Theorie zu stützen. Wir einigten uns darauf, dass Kraiker die aktuellen theoretischen Debatten und ich die Marxschen Aussagen zum Staat rekonstruieren und jeder von uns für seinen Teil verantwortlich zeichnen sollte.

Der Schluss meines Buchbeitrags war, wie das meiner damaligen Diktion entsprach, von einer gewissen Rigorosität geprägt:

Das Proletariat ist gezwungen, seine gesellschaftliche Situation grundsätzlich zu verändern, um den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise zu entrinnen. Es wird lernen müssen, seine erkämpften demokratischen Rechte gegen die Bourgeoisie und den bürgerlichen Staat zu verteidigen. In seinem Kampf um die Befreiung von kapitalistischer Herrschaft kann es seine ‚Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft’. Nur das Proletariat kann die gesellschaftlichen Produktivkräfte freisetzen, die in der bürgerlichen Gesellschaft in den bornierten kapitalistischen Produktionsverhältnissen gefangen bleiben. Die Form des proletarischen Befreiungskampfes ist die soziale Revolution.3

Noch während der Arbeiten am Buch wurde Kraiker zum Professor für Politikwissenschaften an die neu gegründete Universität Oldenburg berufen. Ich ging etwas später nach Bremen an die Universität, wo mir eine Stelle als Akademischer Tutor angeboten worden war. Aufgrund der geringen räumlichen Distanz zwischen Bremen und Oldenburg sahen wir uns in dieser Zeit öfter. Als ich danach an die Universität Bielefeld und später an ein Forschungsinstitut nach Köln ging, verloren wir uns etwas aus den Augen. Erst viele Jahre später, als ich mich entschlossen hatte, zu promovieren, kamen wir wieder in Kontakt miteinander. Er wurde mein Betreuer und „Doktorvater“. Vor einigen Jahren machten wir eine Radtour an der Mosel; ich erinnere mich, dass wir abends beim Wein zusammen saßen und gleich wieder intensiv diskutierten. Beide arbeiteten wir an demokratietheoretischen Themen. Wir hätten sofort mit einem neuen Buch beginnen können, so sehr stimmten wir in unseren Sichtweisen überein.

Aufwühlend war für mich die Abschiedsfeier, die man an der Universität Oldenburg für ihn ausrichtete. Viele der alten Weggenossen waren erschienen. Mehrere Redner würdigten seine Verdienste auf eine sehr persönliche, nahegehende Weise. Auch einige unserer gemeinsamen Stationen wurden erwähnt, was mich sehr berührte. Kurz danach erkrankte er schwer. Nach einem langen Leidensprozess ist er vor einigen Monaten verstorben.

Was ich an ihm schätzte, waren eine Reihe von Tugenden, die man heute nur noch selten findet: Er konnte aufmerksam zuhören. Diskutierte stets konstruktiv. Ermunterte. Gab Hinweise, die einem weiterhalfen. Und vor allem: Er hatte eine ausgezeichnete pädagogische und didaktische Kompetenz; sie beruhte in erster Linie auf seiner Fähigkeit zur Empathie; er verstand es schwierige Zusammenhänge zu erklären. Man fühlte sich bei ihm aufgehoben und verstanden. Gespräche mit ihm waren angenehm und lehrreich. Er ließ einen keine Abhängigkeit spüren; demonstrierte keine Überlegenheit. Nahm einem die Angst in einer Prüfungssituation. Kurzum: Er war einer der besten Pädagogen, denen ich begegnet bin.

*

Ich stamme aus dem Arbeitermilieu, habe acht Jahre von 1951 bis 1959 die Volksschule besucht; danach die Zweijährige Handelsschule. Anschließend machte ich eine Verwaltungslehre bei der Stadt Emden. Die Tätigkeit in der Verwaltung empfand ich als verlorene Zeit, ja in Vielem sogar sinnlos. Ich erinnere mich, dass ich einmal ein halbes Jahr lang Akten durchnumeriert habe. Es war nervtötend und frustrierend.

Das war ein Grund, weshalb ich mich als Jugendvertreter dafür einsetzte, dass uns während unserer Lehrzeit theoretischer Unterricht geboten wurde. Bis dahin war dies eher vernachlässigt worden. Nach teils heftigen Auseinandersetzungen mit der Verwaltungsleitung, die eine Einschaltung der Gewerkschaft zur Folge hatte, setzten wir durch, dass ein in sich stimmiger Ausbildungsplan erstellt wurde und uns an vier Tagen in der Woche Unterricht erteilt wurde. In Fächern wie Staatskunde; Haushaltsrecht; bürgerliches Recht usw. Das hatte zur Folge, dass nicht nur die öden Tätigkeiten, die man als Lehrling zu verrichten hatte, unterbrochen wurden; sondern wir verbesserten mit der Aneignung fachlicher Kenntnisse auch unsere Chancen auf eine positive Lehrabschlussprüfung an der Verwaltungsschule, was sich wiederum auf die weitere berufliche Laufbahn auswirkte.

Nun war der Lehrstoff alles andere als anregend. Meist musste man Rechtsparagraphen auswendig lernen. Um sich das juristische Kauderwelsch anzueignen, verfremdeten ein Kollege und ich die Texte durch Wortverdrehungen und Sinnentstellungen. Einer von uns las den Originaltext mit theatralisch verstellter Stimme vor; der andere dekonstruierte ihn. Es ging zu wie beim Kabarett. Besonders das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) eignete sich als Fundstelle für Wortspiele. Dieses Grundgesetz des bürgerlichen Normallebens bot reichlich Stoff und wir amüsierten uns herrlich dabei. Der Nebeneffekt war: wir lernten gewissermaßen spielend. Noch heute kann ich ganze Passagen aus dem BGB auswendig dahersagen.