Liebesbriefe eines Verrückten - Rüdiger Schneider - E-Book

Liebesbriefe eines Verrückten E-Book

Rüdiger Schneider

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Beschreibung

Jo Baerbaum lebt in Cartagena, Kolumbien, bezeichnet sich, um einen Beruf angeben zu können, als Schriftsteller, bringt jedoch kein Manuskript zu Ende. Aber wie ein Schriftsteller säuft und raucht er, widmet sich, was Frauen angeht, ausschließlich der käuflichen Liebe. Bis er einen Mann trifft, der am Meer an einer alten Schreibmaschine sitzt und täglich einer von ihm verehrten Frau, die ihn noch gar nicht kennt, einen Liebesbrief mit Gedichtzeilen schreibt. Er darf die mit Durchschlag verfassten Briefe lesen, was ihn berührt und verwandelt.

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Personen und Handlung sind frei erfunden, Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen mit Namen rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

1

Ich bin Schriftsteller. Jedenfalls nenne ich mich so, um nach einem abgebrochenen Jurastudium und zwanzig Jahren Nichtstun eine Berufsbezeichnung zu haben. Ich beobachte Menschen, bemerkenswerte Ereignisse, schreibe es auf. Meine Manuskripte sind indes allesamt unvollendet in der Schublade gelandet. Vielleicht gelingt mit diesem hier endlich mal ein bescheidener Wurf. Was mich als Schriftsteller, den sinnlichen Genuss betreffend, auszeichnet, da bin ich allerdings authentisch: Ich saufe, rauche, hure und hasse gesundes Essen. Mein Verhängnis ist womöglich ein Erbe gewesen, das ich mit 28 Jahren bekam und das mich früh auf die Bahn eines Mannes brachte, der tun und lassen kann, was er will. 3,8 Millionen DM hatte mir Tante Lisbeth, eine Schwester meines Vaters, vererbt. Sie wohnte nur ein paar Straßenzüge entfernt vom Haus der Eltern in Recklinghausen und lag in ständigem Streit mit ihnen. Nicht aber mit mir. Ich besuchte sie oft, schob sie mit ihrem Rollstuhl, sie hatte Gicht und heftiges Rheuma, in ein Café oder in ihre Lieblingsbar, wo sie sich dem Gin hingab. Dass sie mich als Alleinerben einsetzte, war nicht nur Sympathie für mich, sondern zugleich auch ein Streich gegen meine Eltern, eine Art Rache.

Das Geld ist im Laufe der Jahre nicht weniger geworden. Ich verstand es, geschickt mit Aktien zu spekulieren und so mein Vermögen zu erhalten. In der Liebe hatte ich allerdings weniger Glück. Die Frauen, die ich kennenlernte, waren entweder langweilig, fordernd oder amazonenhaft. Als Amazonen versuchten sie, einen Mann kleinzuhalten oder sogar, wenn er so gutmütig war wie ich, zu vernichten, versuchten, aus ihm eine Null zu machen. Deshalb gondelte ich lieber durch die Welt, lebte zwei Jahre in Rio de Janeiro und in anderen Städten der Welt, landete dann hier in Kolumbien, in Cartagena, das man, um es von der spanischen Stadt zu unterscheiden, mit dem Zusatz Cartagena de Indias versieht. Cartagena wird auch nicht ohne Grund ‚Perle der Karibik‘ genannt. Hier wohne ich nun seit einem Jahr, habe, da sind die Kolumbianer großzügig, auf Grund meines Vermögens ein Visum für drei Jahre. Sicher, ich hatte dem Beamten, der es befürworten und ausstellen sollte, einen Umschlag zugeschoben mit den Worten:

„Das ist für die anfallenden Gebühren.“

In Cartagena bewohne ich eins der bunten Häuser in einem engen Altstadtgässchen. Vom Balkon fallen blaue Blumengirlanden. Im Innenhof, im Patio, ist es still und lauschig. Ein Brunnen plätschert. Ich sitze gerne neben einem Hibiskusstrauch, an dem ab und zu ein Kolibri schwirrt. Er kommt durch das offene Fenster straßenwärts, steht wie ein Hubschrauber vor einer roten Blüte und steckt seinen spitzen Schnabel in die gelben Pollen.

Cartagena am Karibischen Meer ist gewiss eine der schönsten, lebhaftesten und buntesten Städte Südamerikas. Aus allen Fenstern, aus den Cafés und den Bars klingt vom frühen Abend bis in die Nacht Afro-Kubanische Musik, die sie hier ‚música joropo‘ nennen, beschwingte Musik. Da die Bars stets überfüllt sind, tanzen die Paare den Salsa auch vor der Bar auf der Straße.

Die Häuser im Centro Historico, in der Altstadt, die von einem Festungswall umgeben ist, stammen noch aus der spanischen Kolonialzeit. Außerhalb der Festungsmauer, die zum Schutz gegen Piraten hochgezogen wurde, liegt das moderne, weniger spannende Cartagena mit seiner Skyline.

Was die Frauen betrifft: Die Latinas sind schön und feminin. Besonders in Kolumbien. Ab und zu hole ich mir ein hübsches Nachtvögelchen von der nahen Strandpromenade ins Haus und pflege bis zum Morgen eine Kurzzeitbeziehung. Ich bin dabei weder glücklich noch unglücklich.

2

Was mir an Cartagena besonders gefällt, ist das Nostalgische im digitalen Zeitalter. Die Frauen in ihren bunten Röcken oder langen Kleidern balancieren Obstkörbe auf den Rastalocken, ein Mann zieht einen Esel vorbei, eine Kutsche rauscht über das Kopfsteinpflaster. Und meinem Lieblingscafé gegenüber sitzt ein Mann an einem Pult. Darauf steht eine alte Schreibmaschine. Er nimmt Aufträge entgegen, für amtliche Schreiben, für Liebes- oder Abschiedsbriefe, verschließt sie in einem Kuvert, versieht sie mit einer Briefmarke, bringt sie auf Wunsch persönlich zur Post. Am liebsten aber ist mir der alte Kolumbianer, der auf seinem Lastenfahrrad am Café vorbeikommt. Vorne hat es zwei Räder und eine Holzkiste mit Büchern, die Touristen in den Hotels zurückgelassen haben. Man schenkt sie ihm und er fährt damit durch die Stadt, verkauft sie. An der Seite der Holzkiste steht ‚Carreta Literaria‘, was man übersetzen könnte mit ‚mobile literarische Bibliothek‘. Er kennt mich. Ich bin sein bester Kunde. Deshalb kommt er immer an dem Café vorbei. Im Laufe der Zeit ist es mir gelungen, in meinem Haus eine Bibliothek der Weltliteratur zu versammeln. Englische, deutsche, spanische, portugiesische Bücher. In der Kiste befindet sich immer ein Sammelsurium internationaler Literatur. Natürlich auch Schund, Banales, 0815-Romane. Ab und zu fische ich auch einen Gedichtband heraus. Das Lesen im Patio gehört zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.

Eine weitere Lieblingsbeschäftigung ist das Schachspielen. Vor der Kathedrale ‚San Pedro Claver‘ befindet sich eine Skulptur aus Blech oder Eisen. Zwei Männer sitzen an einem Tisch, geben sich diesem Spiel hin. Es ist ein seltsamer Anblick, ausgerechnet vor dem Portal einer Kathedrale ein Symbol der Vernunft zu sehen. Hinter der Kathedrale, außerhalb der Festungsmauer, ist eine weite Plaza mit zahlreichen Cafés, vor denen die Rentner sitzen und Schach spielen. Ab und zu geselle ich mich zu ihnen, spiele mit, gewinne, verliere. Meine Eröffnung, den ‚Classico Italiano‘ kennen sie mittlerweile, stellen sich darauf ein.

Neben dem Deutschen spreche ich auch Englisch, Spanisch und Portugiesisch. Der Klang der zweisprachigen südamerikanischen Welt hat mich immer mehr interessiert als das langweilige Jurastudium, so als hätte ich schon früh vor meinem Erbe geahnt, dass ich dort einmal landen würde.

Ich las also mehr, als dass ich selber schrieb. Manche Manuskripte zerriss ich, warf sie weg. Andere landeten in der Schublade und warteten auf eine Weiterverarbeitung, die aber nie geschehen würde. Ich bin jetzt 48 Jahre, habe den Zenit, falls ich nicht 96 werden sollte, was indes bei meiner Lebensweise ziemlich unwahrscheinlich ist, überschritten. Manchmal erschrecke ich über die Vergänglichkeit, über das Rätsel des Lebens zwischen Geburt und Tod, auf den wir zwangsläufig zulaufen. Ist das Leben wegen seiner Vergänglichkeit nicht eine Reise auf den Tod zu? Was danach kommt, weiß ich nicht. Kommt überhaupt etwas oder heißt es nicht eher ‚Sein und Gewesensein‘? In solchen Momenten erfasst mich eine tiefe Melancholie. Ich schaue besonders tief ins Glas und versuche das Erschrecken über das Rätsel zu vergessen. Ich bewundere die Menschen, die einfach so zufrieden oder sogar glücklich dahinleben können und vom Alltag ausgefüllt sind. Mir ist das nicht vergönnt und noch keine Frau konnte da bisher Abhilfe schaffen.

3

Nun begab es sich – ich benutze diese biblische Formulierung, weil das nun folgende Ereignis für mich außergewöhnlich war, jedenfalls hatte ich so etwas noch nie gesehen, erlebt. Nun begab es sich, dass ich eines nachmittags am Strand entlang ging, etwas nördlich der Boote kam, da, wo die Fischer ihre einfachen Holzhütten haben, um Netze und Werkzeuge aufzubewahren. Vor einer dieser Hütten standen ein kleiner Tisch, ein Stuhl, auf dem Tisch eine alte Schreibmaschine mit einem eingerollten weißen Blatt und einem Blaupapier für den Durchschlag. Daneben ein aufgeschlagenes Buch. Auf dem Stuhl saß ein Mann von schätzungsweise 60 Jahren. Es konnten auch ein paar mehr oder weniger sein. Das war nicht zu bestimmen. Ich war neugierig, trat hinzu, fragte: „Está escribiendo una novela?“ – Sie schreiben einen Roman? An meinem Akzent musste er erkannt haben, dass ich kein nativer Spanischsprecher war. Er fragte mich nach meiner Nationalität. „De Alemania“, antwortete ich. Da sagte er: „Na schön. Ich auch. Da können wir ja Deutsch sprechen. Mein Spanisch ist noch nicht so perfekt. Aber es reicht, um zu schreiben. Manches muss ich noch in einem Wörterbuch nachschlagen. Roman? Nein. Ich schreibe jeden Tag einen Liebesbrief. Das heißt, ich zitiere neben kleinen eigenen Kommentaren Gedichtzeilen aus Büchern. Im Moment ist es Pablo Neruda. ‚Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung‘. Wobei ich hoffe, dass mir das ‚Lied der Verzweiflung‘ erspart bleibt. Wenn ich hundert Briefe abgeschickt habe, werde ich sie vielleicht treffen. Aber das weiß ich noch nicht.“

„Sie haben die Dame noch nicht getroffen?“ fragte ich erstaunt.

„Nein, nur gesehen.“

„Aber Sie kennen sie, haben ihre Adresse?“

„Kennen ist übertrieben. Aber die Adresse habe ich.“

Ich muss etwas ratlos ausgesehen haben. Er begann, mir die Umstände zu erklären.

„Sie haben vielleicht den Auftragsschreiber gegenüber dem Café ‚Gato Negro‘ schon einmal gesehen?“

„Ja. Täglich.“