6,99 €
Najuk Nux (Sammelband! Band 1, Band 2 und Prequel inkl. Extra) Genre: Gay Humor Fantasy Romance Print 450 Seiten Mein Name ist Najuk Nux! Kurz Nux. Nicht nix! Nux! Ich entstamme dem Adelsgeschlecht der Alben, zu dem sich auch Elfen und Feen zählen, gehöre aber zur Gattung der gemeinen Hauskobolde. Also, wenn man es ganz genau nimmt, bin ich ein Schnorr ... ein rattiger Schnorr. Jawohl! Und ich bin stolzer Hausbesetzer eines kleinen Waldschlösschens in der Nähe von Bremen. Mit meinen Untermietern bin ich bisher, mehr oder weniger, gut klargekommen, aber jetzt hat die alte Rosi das Haus doch tatsächlich an ein Rudel wilder Studenten vermietet! Junge Menschen ... hach ja. Wahrlich naturblöde Wesen, die sich ziemlich leicht foppen lassen. An einem von ihnen, dem schwulen Sergej, habe ich jedoch einen Narren gefressen. Der Gute wurde ganz offensichtlich durch den Pullover gestillt, er hat nämlich eine sehr niedrige Reizschwelle und regt sich immer ganz wunderbar auf, wenn er in eine meiner Fallen tappt. Leider glaubt er aber, ich wäre ein schnödes Eichhörnchen, deshalb wird es Zeit, dass ich ihm zeige, wer unter diesem Dach das Zepter schwingt! Sorgen mache ich mir keine, denn er ist viel zu steif, um mich zu fangen ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
SAMMELBAND
Gay Humor Fantasy Romance
Mein Name ist Najuk Nux! Kurz Nux. Nicht nix! Nux! Ich entstamme dem Adelsgeschlecht der Alben, zu dem sich auch Elfen und Feen zählen, gehöre aber zur Gattung der gemeinen Hauskobolde. Also, wenn man es ganz genau nimmt, bin ich ein Schnorr ... ein rattiger Schnorr. Jawohl! Und ich bin stolzer Hausbesetzer eines kleinen Waldschlösschens in der Nähe von Bremen. Mit meinen Untermietern bin ich bisher, mehr oder weniger, gut klargekommen, aber jetzt hat die alte Rosi das Haus doch tatsächlich an ein Rudel wilder Studenten vermietet! Junge Menschen ... hach ja. Wahrlich naturblöde Wesen, die sich ziemlich leicht foppen lassen. An einem von ihnen, dem schwulen Sergej, habe ich jedoch einen Narren gefressen. Der Gute wurde ganz offensichtlich durch den Pullover gestillt, er hat nämlich eine sehr niedrige Reizschwelle und regt sich immer ganz wunderbar auf, wenn er in eine meiner Fallen tappt. Leider glaubt er aber, ich wäre ein schnödes Eichhörnchen, deshalb wird es Zeit, dass ich ihm zeige, wer unter diesem Dach das Zepter schwingt! Sorgen mache ich mir keine, denn er ist viel zu steif, um mich zu fangen ...
SAMMELBAND
Akira Arenth
Vaelis Vaughan
✾
Für manche ist ein Haus nur ein Ort, an dem sie für eine Weile verweilen, um dann weiterzuziehen. Für andere ist es der Ankerpunkt ihres ganzen Lebens. Eines ist jedoch sicher: Hinter jeder Kerbe, die ein Kind in einen Balken schnitzt, jedem Kratzer vom Möbelrücken auf dem Parkett, jedem ausgeblichenen Sonnenfleck, jeder Delle und jedem Glassprung, die von einem kleinen oder großen Unfall zeugen, steckt ein Leben. All diese Dinge, mögen sie auch noch so unschön sein, erzählen eine Geschichte und verleihen einem Haus seine Seele. Und manchmal, wenn man ganz genau hinschaut, entdeckt man vielleicht auch Spuren eines Wesens, das die ganze Zeit da war, obwohl man es niemals bemerkte. Ein kleines Mäuseversteck voll leerer Samenhülsen, ein Vogelnest unter den Dachziegeln oder ein kleines Osterkörbchen, das aussieht, als hätte jemand darin geschlafen ...
Najuk Nux
und die Maxiaffen
Wenig elegant drehe und wende ich mich vor meiner schnittigen Spiegelscherbe und werfe mir beherzt den Putzlappenumhang über die Schulter.
»Ich bin der Herr dieses Hauses!«, rufe ich und nehme eine heroische Pose ein. »Ich bin der Schatten, der die Nacht durchhüpft! Ich bin der Vermutliche, den alle kennen und den doch kein menschliches Auge zu sehen kriegt! Ich bin Najuk Nux ... kurz Nux ... der Foppmeister! Einfallsreichster Fallensteller und ausgefuchstester König des Schabernacks, der -«
»Iihk«, unterbricht mich Bonita, die Wanderratte aus der Nachbarschaft, und schüttelt den Kopf. »Ihkiihk!«
»Was heißt hier selbst ernannt?« Ich schürze beleidigt die Lippen. »Ich bin der König des Schabernacks! Alleine schon deshalb, weil’s ja sonst keiner macht. Du kannst ja nicht mal einen Salzstreuer mit Zucker befüllen! Jetzt halt die Backen, ich versuche mich hier zu motivieren!« Ja, ich bin etwas aufgeregt, das gebe ich zu. Ist schließlich schon eine ganze Weile her, dass neue Menschen in dieses Haus kamen. Drei Jahre? Oder vier sogar? Jedenfalls kann da der ein oder andere Zuspruch nicht schaden, auch wenn er von mir selbst kommt.
»Na schön! Also ... ähm ... wo war ich? Ach ja! Ich bin der Beste und ich kann alles, denn ich hab’s voll drauf und - ... ngaaach! Toll Bonita, danke! Wegen dir hat der Moment jetzt die ganze Magie verloren!« Sie glotzt mich an, als könne sie kein Wässerchen trüben, dabei pinkelt sie, wo sie geht und steht. »Ja, guck nicht so! Du bist schuld! Du hast mir den Augenblick mit deinem völlig destruktiven Gequieke zerstört!« Sie verdreht nur die Augen, doch ich hab jetzt keine Zeit, mit ihr zu diskutieren, und mache weiter. »Was soll’s ... wo ist mein Hut? Ah da! Der ist doch das Wichtigste von allem! Ein Kobold ohne Hut ist kein Kobold!«
Krampfhaft versuche ich den Spatzenschädel, den ich heute Morgen gefunden habe, über meine Sturmfrisur zu bugsieren, doch es geht nicht.
»Geh da rauf! Ngaaah, diese verflucht verflixten Trollhaare!!!«
Mit einigem Rütteln, Drehen und Quetschen schaffe ich es endlich, den Knochenhut auf meine Rübe zu pfropfen, doch ich traue mich kaum, dessen ausladende Augenhöhlen loszulassen. Für ein Sekündchen löse ich die Finger von einer Seite, aber die Sache ist mir zu unsicher, sodass ich gleich wieder fester zupacke.
»Borstel!!!«, rufe ich lauthals nach meinem Igelkumpel und dieser lugt neugierig um die Ecke. »Komm her, du musst mir helfen!«
Er röffelt, quetscht sich dann jedoch durch das herausgebrochene Brettchen am Fuße des Schuppens und watschelt zu mir heran.
»Heute ist ein sehr wichtiger Tag, Borstel!«, erkläre ich aufgeregt und halte die Hand über seinen Rücken. »Rosi hat Blumen gepflückt und sie in einer Kanne auf den Tisch gestellt! Du weißt, was das bedeutet! Also – darf ich mal kurz?«
Ehe er auch nur einen Grunz hervorbringen kann, zupfe ich mir einen seiner Stachel heraus, was er mit einem empörten »Quiek!« quittiert.
»Danke! Es muss alles perfekt sein! Einfach alles! Ich darf es nicht schon wieder vermurksen und dann – oh!«
Gerade als ich mir das spitze Stäbchen durch die Löcher des Schädels in die Haare schieben will, um den Kopfschmuck zu fixieren, entdecke ich einige Flöhe auf der Spitze, die mich dümmlich anglotzen. Kurzerhand lecke ich sie ab und beende mein Kunstwerk, während ich sie zwischen meinen Zähnen zermalme.
»So! Jetzt aber ... Geh beiseite, Borstel!«
Einmal noch atme ich tief durch, dann lasse ich das Hütchen vorsichtig los und - tatsächlich, es hält! Zwar zieht es ganz schön, doch durch meine geniale Haarnadel bleibt der Schädel drauf und meine Stirnfalten werden auch gleich mit glatt gezogen!
Triumphierend grinse ich mein grünes Gegenüber in der Scherbe an. »Ha! Überlistet!«
Da knackst das Stäbchen. Ein wenig erfreuliches >fump< ertöntund meine Frisette schleudert den Hirnbehälter ungnädig von dannen, sodass er im hohen Bogen gegen die nächste Wand klatscht und zerbricht. Meine rechte Augenbraue zuckt, während ich weiter unbeweglich in den Spiegel starre und Borstel sich gluckernd verpieselt.
»Verdammt verfluchte Dreckskröteneierwolle!!!«
So viel dazu.
Ich weiß, ich könnte mir auch einfach eine passgenaue Mütze aus Stoff nähen, aber die mag ich nicht, weil ich damit wie ein blöder Gartenzwerg aussehe. Eine Zeit lang trug ich ein Kondom, was ziemlich praktisch war, denn es schützte mich vor Regen und hatte von vornherein die perfekte Ausbeulung für meine Haare. Zudem roch es anfänglich für eine Weile ganz wunderbar nach Erdbeere. Aber irgendwann wurde es porös und seitdem habe ich kein Neues mopsen können.
Deutlich langlebiger und stilvoller noch dazu sind dagegen Vogelschädel von Spatzen oder Meisen. Der Schnabel gibt außerdem ein praktisches Sonnenschirmchen ab. Auch vom Umfang her passen die mir eigentlich perfekt auf die Birne, denn ich bin ungefähr so groß wie ein menschlicher Penis. Ein stattlicher Penis wohlbemerkt, so ein richtig strammes Teil mit dicken Adern an den Seiten, kein krummer Kümmerling! Also nicht, dass ich voller dicker Adern wäre, sähe ja blöd aus, aber ich bin auf keinen Fall mickrig und tropfen tue ich auch nicht ... außer wenn ich Schnupfen habe. So einen ganz fiesen Koboldschnupfen. Ja, der ist noch hundertmal schlimmer als menschlicher Männerschnupfen! Jawohl!
Jedenfalls bekomme ich so gut wie keinen der Vogelschädel auf meinen Kopf, denn die Hälfte meiner drahtigen Haare wachsen rigoros gen Sonne, als wäre ich eine Primel.
Ja, ich hasse meinen Schopf, aber da geht es den Menschen meist nicht anders. Die mit Locken wollen glatte Haare, die mit glatten Haaren wollen Kringel. Die einen beschweren sich über zu dicke Haare, die anderen über zu dünne.
Frustriert sammle ich einige der Knochensplitter vom Boden auf, doch da ist definitiv nichts mehr zu retten. »Ngaaach, jetzt muss ich mir einen Ersatz suchen gehen!«, schnaufe ich, trete die Überreste weg und ziehe meine Hose zurecht. »Als wenn die auf Bäumen wachsen würden!«
Flugs schlüpfe ich aus dem Schuppen und wiesle durch die Wiese, um zum großen Küchenfenster zu kommen. Da klatschen nämlich öfter mal Vögel gegen, die dann mausetot auf dem Boden liegen bleiben. Ja. Schade für sie, gut für mich und meine Garderobe.
Bereits auf halbem Wege höre ich etwas. Ich sehe mich um und erstarre, als ich plötzlich jemanden an der Hausecke entdecke. Rasch ducke ich mich.
›Oh nein! Da steht einer! Einer der Neuen!!! Ob er mich gesehen hat?‹
Zur Kontrolle linse ich schnell noch mal über das Meer aus Gras, in welches ich mich farblich, bis auf meine Haare, sehr gut einfüge, aber er geht zurück, als hätte er mich wirklich nicht bemerkt. Dabei bin ich doch direkt vor seiner Nase langgelaufen?!
›Hmm. Scheint ein recht unintelligentes Exemplar zu sein ... wenn auch ein ansehnliches.‹
»Chrchrchr«, kichere ich. »Depperte Riesen, wahrlich naturblöd.« Schnell pese ich im Entengang weiter. »Das wird ein Spaß!«
Sobald ich mein Haus erreicht habe, kraxle ich den Efeu hoch, steige über eines der oberen Spechtlöcher in die Holzfassade unterm Dach ein und quetsche mich durch die Dämmung. So gelange ich auf den Dachboden, renne über die Bohlen und schlupfe in eine besonders große Lücke zwischen zwei morsche Bretter, um dann an einem Rohr ins Erdgeschoss zu rutschen. Das ist der sicherste Weg, um nicht entdeckt zu werden.
›Ich muss mich beeilen! Scheiß auf den Hut! Jetzt nur schnell in Position, bevor -‹ Gerade als ich mich durch eines der unzähligen Mäuselöcher ins Wohnzimmer quetsche, halte ich wie hypnotisiert inne.
›Dieser Duft ...‹ Ich hebe die Nase und schnüffle noch intensiver, derweil ich mich aus dem Mäuseloch zwänge und dann im Kreis drehe. ›Sämig, cremig ... warm und süß ...‹ Meine Knie werden weich.
Wie magisch angezogen tigere ich in Richtung des betörenden Duftes, schlüpfe unters Sofa und vernehme nun auch die leise gesungenen Worte der alten Rosalinde:
»Geist des Hauses sei mein Freund.
Hab Milch mit Honig aufgeschäumt
und bitt dich: Nimm die süße Gabe,
den Schabernack dafür begrabe.
Nur einen Tag schlaf tief und fest
in deinem kleinen Koboldnest.«
Ehe ich richtig realisiere, auf welchen Deal ich mich da gerade einlasse, süffle ich bereits genüsslich, aber mit flinker Zunge, den süßen Bestechungstrank aus der Schale.
16. Juli 1999 – der Tag, den ich mir schon vor Wochen im Kalender umkringelt habe.
Nach fast vier Stunden Fahrt erreiche ich endlich die letzte Abzweigung, welche auf einen holprigen Waldweg führt. Ein Schlagloch reiht sich ans nächste, sodass ich mit meinem geliebten kleinen Mitsubishi Eclipse aka Schrottläubchen Slalom fahren muss, um nicht jedes einzelne davon zu begrüßen. Die Karre wackelt wie ein Kutter auf hoher See und auch der tiefer gelegte Unterboden scheppert einige Male beunruhigend, doch ich versuche das auszublenden.
Heute kann mir nichts die gute Laune verhageln! Nein, gar nichts! Denn heute ziehe ich zum ersten Mal in meinem Leben in eine eigene Wohnung! ... Na ja, in ein WG-Zimmer, um genau zu sein, aber für mich ist das dasselbe.
Im Radio läuft The Bad Touch, der aktuelle Charthit der Bloodhound Gang, der meine gute Laune nur weiter befeuert.
»You and me, baby and nä nä nä nä nä ...«, singe ich lauthals mit, obwohl ich nicht mal die Hälfte verstehe, denn mein Englisch ist miserabel. »Dä dä dä let’s do it like on Discovery Channel – oh yeah man! Dü dü dü dü düdü dü düdüdüüü ...« Der Groove dieses affigen Songs macht mich noch hibbeliger, als ich eh schon bin, sodass ich mir nicht verkneifen kann, auf meinem mit Kunstfell überzogenen Lenkrad herumzutrommeln. Doch dann erreiche ich endlich das Ende des Weges und kann meinen Augen kaum trauen.
»Alter Verwalter! Wie geil ist das denn?« Ich halte an, steige aus und schiebe meine Sonnenbrille tiefer, um über ihren Rand schauen zu können. Der Anblick macht mich echt sprachlos. Hinter einem kleinen, weißen Lattenzaun beginnt ein Trampelpfad, der mit großen Schieferplatten ausgelegt ist. An dessen Ende steht, umgeben von hohen Laubbäumen und einzelnen Blumenbeeten, mein neues Zuhause: ein malerisches, efeubewachsenes Backsteinhaus mit halbrunden Fenstern, einem breiten Schornstein an der rechten Seite und einer gepflasterten Terrasse vor der Tür.
»Wow ... was’n zauberhaftes Hüttchen!« Gleich darauf beiße ich mir auf die Zunge, schaue mich um und hoffe, dass es keiner gehört hat. Verlegen räuspere ich mich, und auch wenn ich niemanden sehe, korrigiere ich zur Sicherheit trotzdem etwas lauter: »Ähm ... was ’ne brachialharte Baracke!«
Für die läppische Miete hatte ich ehrlich gesagt mit einer übel verwahrlosten, kleinen Bruchbude gerechnet. So einer, in der überall die Tapeten verschimmeln und bei der das Dach so undicht ist, dass man sich bei jedem Regenschauer wie in einer Tropfsteinhöhle fühlt. Kurz gesagt: so eine typisch abgeranzte, verlotterte Studentenbude. Alles hatte ich mir ausgemalt, aber niemals so ein ... Schmuckstück! Ja, man sieht dem Haus seine rund zweihundert Jahre Existenz schon deutlich an, doch es scheint all die Zeit sehr liebevoll gepflegt worden zu sein, denn ich entdecke auf den ersten Blick keine größeren Schäden.
›Abwarten! Wer weiß, wie es von innen aussieht‹, denke ich mir. Irgendwo muss einfach ein Haken sein. Wer wäre denn sonst so blöd, freiwillig nur die Hälfte des üblichen Mietspiegels zu verlangen?
Schnell ziehe ich den Zündschlüssel meiner roten Flitzmöhre ab und checke meine Frisette im Seitenspiegel. Ein paar Sekunden zupfe ich mir noch die gegelten, blondierten Strähnen zurecht, welche sich von meinem dunklen Ansatz deutlich abheben, und bringe auch den Rest wieder in Form. Mit offenem Fenster zu fahren, ist bei der Hitze zwar angenehm, aber haartechnisch jedes Mal ein totales Desaster!
Sobald ich fertig bin, schaue ich mich noch einmal etwas verwirrt um, denn neben den fehlenden Autos sind auch keine Fahrräder, Motorräder oder sonst was in der Richtung zu sehen. Und das, obwohl dieses Haus so abgelegen ist, dass man es nur schwer zu Fuß erreichen kann, denn der nächste Bahnhof ist sieben Kilometer weit weg, was sicherlich auch ein Grund für die günstige Miete ist. Ich stelle mich also erst mal an den Zaun und mache mich mit einem lauten »Hallo?« bemerkbar. Niemand antwortet. Da ich jedoch, wen wundert’s, keine Klingel entdecke, öffne ich schließlich das knarrende Holztor und wiederhole mein Rufen, doch auch beim zweiten Mal erhalte ich keine Antwort.
Eigentlich wollte mich die Hausherrin im vorderen Teil des Gartens empfangen, was ihr am Telefon besonders wichtig zu sein schien. Allerdings klang ihre Stimme sehr alt, also vielleicht ist sie auch schon ein wenig senil und hat es einfach vergessen? Aber meine neuen Mitbewohner sind ebenfalls nicht zu sehen? Ehe ich noch daran zweifle, den richtigen Tag erwischt zu haben, klärt mich ein Blick auf meine Armbanduhr auf.
»Erst halb elf?«, ächze ich und stecke die Hände in die Taschen meiner Levis. »Ngaaach, ich bin dreißig Minuten zu früh! Dann isses ja kein Wunder, dass noch keiner da ist!«
›Na ja, sehe ich mich halt schon mal ein bisschen hier draußen um. Kann ja nicht schaden.‹
Der vordere Teil des Gartens besteht hauptsächlich aus ungemähtem Rasen. Über einen schmalen Pfad kommt man auch hinter das Haus und dort sieht es deutlich wilder aus. Hohes Gras ist hier das geringste Problem. Tonnenweise Unkraut umwuchert einen moosgrünen Teich und ringsherum entdecke ich eine Menge ziemlich hässlicher, kleiner Gartenzwerge. Einer dieser Zipfelmützenträger steht mit blank gezogenem Schniedel am Teichrand und scheint normalerweise ins Wasser zu pinkeln, wäre er angeschlossen. Einen winzigen Schuppen gibt es auch, vermutlich für Gartengeräte. Daran lehnt ein verrostetes Kinderfahrrad mit einem Bastkörbchen am Lenker. Hinter dem Büdchen ... äh ... Schuppen sehe ich nichts als Wald. Keine Nachbarn, nicht mal Pferdekoppeln oder irgendwelche landwirtschaftlich genutzten Felder. Weit und breit nur Bäume, soweit das Auge reicht.
Ich atme tief ein und spüre richtig, wie gut mir die saubere Luft tut. Ich bin ein gebürtiges Stadtkind, in Berlin groß geworden, und kenne hauptsächlich Plattenbauten auf kilometerweiten Betonflächen sowie massenweise Menschen, die dicht an dicht gedrängt leben. Doch als mein Bruder und ich noch klein waren, besaßen unsere Eltern eine Laube in einer Karower Kleingartensiedlung, zu der wir im Sommer an jedem Wochenende fuhren. Dort verbrachte ich die schönsten Momente meiner Kindheit, doch niemals hätte ich gedacht, dass ich eines Tages freiwillig aufs Land ziehen würde ... und das mit gerade mal zwanzig Jahren.
In der Zeitungsanzeige stand nicht besonders viel drin, nur dass das Haus sehr alt ist und die drei verfügbaren Zimmer möbliert, sofort bezugsfertig und vor allem bezahlbar sind, was man von denen in Bremen definitiv nicht behaupten kann. Das war alles, was mich interessierte. Natürlich hätte ich auch lieber eine Wohnmöglichkeit in der Nähe meiner Universität gehabt, doch leider hab ich es verschwitzt, mich rechtzeitig darum zu kümmern. Dann waren alle günstigen Zimmer schon weg und der Rest für mich unbezahlbar. Zum Glück habe ich in den Sommerferien das alte Auto meines Vaters geschenkt und repariert bekommen, sodass ich auch im Bremer Umland suchen konnte. Und nun bin ich hier.
Ich schlendere wieder nach vorn in Richtung Gartenzaun. Die Sonne brät bereits ordentlich, doch im Schatten der Bäume ist es auszuhalten. Nervös schaue ich abermals auf meine Uhr. Nur noch fünfzehn Minuten bis zur verabredeten Zeit und noch immer lässt sich niemand blicken. Sind die denn alle dermaßen unpünktlich hier?
›Vielleicht sollte ich einfach mal klingeln oder klopfen? Möglicherweise ist ja schon jemand im Haus?!‹
Beim Vorbeigehen werfe ich einen neugierigen Blick durch eines der großen Seitenfenster und zucke zusammen, als ich tatsächlich eine grauhaarige Frau im Wohnzimmer sehe. Sie kniet gekrümmt auf dem Boden und stützt sich mit einem Arm am Sofa ab, als wäre sie hingefallen. Mein erster Impuls sagt mir, ich sollte an die Scheibe klopfen und fragen, ob alles in Ordnung ist, doch da beobachte ich, wie sie gerade mit der anderen Hand eine kleine Schüssel auf den Boden stellt und daneben eine Kerze anzündet.
›Was ist denn da Weißes drin? Milch vielleicht?‹
Zuerst denke ich, sie wird vermutlich eine Katze haben, doch was soll dann die Kerze, und warum beginnt sie mit vor dem Gesicht gefalteten Händen zu sprechen?
›Vielleicht eine Art Tischgebet für Stubentiger ...?‹
Das alte Holzfenster lässt zwar einige Geräusche hindurch, und ich glaube auch, den gleichmäßigen Takt eines Reimes zu hören, doch die einzelnen Worte kann ich nicht herausfiltern.
Dann macht die alte Lady etwas noch Eigenartigeres. Sie hebt die Fransen des Überzuges an und schiebt das Schälchen unter das Sofa! Danach pustet sie die Kerze aus, die sie gerade erst angezündet hat, wedelt den Rauch mit den Händen in den Raum und erhebt sich dann mühsam, indem sie sich auf einen Stock stützt, der bis eben noch am Boden lag.
»Hey!«, ertönt auf einmal eine männliche Stimme hinter mir und ich fahre erschrocken herum.
»Mann! Schleich dich doch nicht so an!«, motze ich dem schlaksigen Kerl vor mir ungehalten entgegen und presse meine Hand auf die Brust[Fußnote 1]. »Hab fast ’nen Herzinfarkt bekommen!«
»Dafür bist du zu jung.« Der Karohemdträger mit der runden Hornbrille, der kaum älter sein dürfte, als ich es bin, grinst breit und zeigt mir dabei seine stattlichen Frontzähne. Sein Akzent klingt seltsam. Auffällig sind auch seine rostroten, kurzen Locken und ein partiell wachsender Fünftageflockenbart, der ihm wie ins Gesicht gehustet aussieht. »Da du nicht Frau Hofmann zu sein scheinst, nehme ich mal an, du bist einer meiner neuen Mitbewohner?« Da reicht er mir auch schon seine Hand und ich schüttle sie.
»Ich bin Sergej und du?«
»Ich nicht!«, erwidert er und beginnt plötzlich prustend zu lachen. »Aber schön, dass du damit so offen umgehst!« Während ich ihn fragend anglotze, wischt er sich eine Träne unter der Brille weg und giggelt: »Obwohl das bei dem pinken Shirt auch nicht schwer zu erraten gewesen wäre.«
Jetzt endlich macht es auch bei mir klick und ich spanne mich innerlich an. »Sergej!!! Nicht sehr gay! Ich heiße so! Das ist ein polnischer Name!« Ich bin kurz davor, ihm eine runterzuhauen, denn auf das Thema schwul reagiere ich extrem empfindlich! »Außerdem ist das Shirt lachsrot und nicht pink, du farbenblinder Affe!«
»Ja, ja, passt schon«, wedelt mein Gegenüber ab, doch dabei giggelt er immer noch und scheint gar nicht zu registrieren, dass er sich gerade auf sehr dünnem Eis bewegt. Zum Glück bemerke ich aber, dass er es nicht ernst meint und offenbar nur einen Scherz machen wollte, um die Stimmung zu lockern ... auch wenn er damit das Gegenteil erreicht hat. Plötzlich hält er mir erneut die Hand hin, fast als hätte er vergessen, dass wir uns eben schon begrüßt haben. »Ich bin Thorben Babić.«
›Ah. Also ein Rumäne ... Bulgare ... oder irgendwas anderes aus der Ecke. War vermutlich der Klassenclown in seiner alten Schule.‹
»Du kannst mich aber gern Thoby nennen!«, fährt er fort. »Du weißt schon, wie in der Mayonnaisewerbung!« Plötzlich fängt er auch noch an zu singen: »Thoby – hier kommt der Genuss - däng däng däng däng – tralalalala!« Dabei wackelt er völlig blöde mit den Armen und dreht sich im Kreis.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich mir seine peinliche Darbietung an und schnalze mit der Zunge. Meine Fresse, ist das ein Spinner.
»Ich glaube, die Marke von der Pampe heißt Thomy und nicht Thoby! Außerdem, wenn dein Name Thorben ist«, dabei betone ich deutlich das R, »müsste die Abkürzung korrekt Thorby sein, oder?«
»Klugscheißer kann keiner leiden!«, kommentiert er meine einwandfrei logische Schlussfolgerung und verschränkt beleidigt die Arme. »Außerdem klingt Thorby voll blöd! Also sag Thoby oder Thorben! Wie heißt du denn mit Nachnamen?«
»Fährlich«, antworte ich knapp.
Er starrt mich ungläubig an und gluckst schon wieder. »Du heißt Sergej Fährlich? Ernsthaft?«
»Nein, Grabowski. Wollte nur sehen, ob du es raffst.« Thorben kichert vor sich hin und erst in dem Moment fällt mir auf, dass ich überhaupt kein Auto habe kommen hören. »Sag mal, bist du mit dem Fahrrad hergekommen?«
»Oh nein, nein, ich hab ein Moped! Aber gut, dass du es ansprichst, mir ist nämlich kurz vor der Einbiegung in den Wald das Benzin ausgegangen und ich musste den Rest des Weges, wie Fred Feuerstein, mit Fußbetrieb herrollen.« Ich ahne, was jetzt kommt. »Der rote Flitzer da vorne gehört dir, oder? Wär’s vielleicht möglich, dass du mir für Montag ein Schlückchen Benzin -«
»Guten Tag, die Herren!«, unterbricht uns plötzlich die zittrige, freundliche Stimme einer Frau, und als ich mich in ihre Richtung drehe, erkenne ich die alte Dame, die ich durchs Fenster beobachtet habe. Sie stützt sich beim Laufen auf ihren Gehstock und schlurft im Schneckentempo über die Trittsteine, weshalb wir ihr lieber entgegengehen. »Sie müssen Sergej und Thorben sein, nicht wahr?«
Ehe mein neuer Mitbewohner, der schon wieder am Kichern ist, erneut meinen Namen lächerlich machen kann, komme ich ihm zuvor und reiche der Hausherrin als Erster die Hand. »Ganz richtig! Freut mich! Dann sind Sie Rosalinde Hofmann?«
»So ist es!«, erwidert sie lächelnd. »Ich freue mich, dass Sie schon einmal den Garten inspiziert haben, dann können wir ja gleich in die gute Stube gehen. Es gibt eine Menge zu sehen und zu wissen, denn dies ist ein sehr geschichtsträchtiges Haus!«
***
»Und das hier ... ja, das ist eine Biedermeier-Vase von meinem Urgroßvater.« Frau Hofmann nimmt einen hässlichen, weißen Krug mit blauen Blumen und goldenen Rändern vom Regal und dreht ihn bedächtig in ihren zittrigen Händen. »Er hat sie im neunzehnten Jahrhundert in der Schumann Porzellanmanufaktur erstanden, als Hochzeitsgeschenk für meine Mutter.« Sie seufzt. »Ach, ich sehe noch immer ihr strahlendes Lächeln vor mir, wenn sie das gute Stück geputzt hat. Ja und das dort drüben, das sind ein paar sehr hübsche Bleikristallschalen. Die habe ich mal auf einem Flohmarkt in Bremen vor gut fünfzehn Jahren entdeckt und die Verkäuferin sagte -«
Ich weiß, es ist unhöflich, doch ich kann ihr nicht mehr zuhören. Kaum sind wir wenige Zentimeter vorangekommen, bleibt die Gute erneut stehen, nimmt sich den nächsten Trödel und erzählt in einem Schwall, als hätten wir eine Museumstour bei ihr gebucht. Ich habe das Gefühl, die ganze Besichtigung würde in Zeitlupe vonstattengehen, denn nachdem sie uns in detailversessener Genauigkeit die Räumlichkeiten und jeden Lichtschalter gezeigt und die Herkunft sämtlicher Möbel und Einrichtungsgegenstände erzählt hat, sind glatte vier Stunden vergangen! Weder Thorben noch ich sind so unhöflich, sie bei ihren Ausführungen zu unterbrechen, doch es juckt uns beiden sichtlich in den Fingern, endlich unsere Koffer zu holen und auszupacken.
Wir haben gerade mal das Erdgeschoss geschafft, in welchem sich der Hausflur, zwei Schlafzimmer, das Wohnzimmer, die Küche und ein Bad befinden. Das ganze Haus wirkt sehr rustikal, denn die sichtbaren Deckenbalken und der alte braune Parkettboden prägen das Bild. Die Wände hingegen wurden überwiegend hellblau oder weiß gestrichen und die Räume im Landhausstil eingerichtet. Die meisten der Holzmöbel sind naturbelassen oder in einem einheitlichen Weiß. Glücklicherweise steht im Wohnzimmer die große, alte Ledercouch mit dem gemütlichen Überwurf. Auf dieser oder in einem der zwei dazu passenden Sessel werde ich mich heute Abend ganz sicher ausgiebig lümmeln!
»Hier vorne wären wir dann wieder im Flur und hier, hinter der Lamellentür,«, sie öffnet eine solche, die aussieht, als gehöre sie zu einem Schrank, »befindet sich der Aufgang zum ersten Stock. Dort oben gibt es ein weiteres Schlafzimmer und ein kleines Bad. Außerdem geht es auf diesem Weg zum Dachboden.«
Da ich sehe, dass sie zögert, nutze ich die Gelegenheit und lege ihr die Hand auf die Schulter. »Sie müssen uns da nicht hochführen! Wir schauen es uns einfach kurz alleine an.«
»Genau. Ruhen Sie sich etwas aus und trinken Sie ein Glas Wasser«, springt nun auch Thorben ein und drängelt sich vor. »Von der ganzen Erklärerei sind Sie sicher erschöpft!«
»Nun ja, ein wenig ...«, murmelt sie, macht aber kurz darauf ein besorgtes Gesicht. »Dort oben sind auch noch einige schöne Stücke, zu denen kann ich Ihnen gern nachher etwas erzählen, wenn Sie möchten.«
»Klar«, sage ich lächelnd und nicke, denn obwohl es mich nervt, scheint es ihr ungeheuer wichtig zu sein, und vermutlich wird sie wohl kaum jeden Tag vorbeikommen, also müssen wir uns ihre ausschweifenden Erklärungen nur einmal anhören.
»Gut, gut. Schauen Sie sich bitte in Ruhe um und ich hole schon mal die Mietverträge zur Durchsicht heraus, dann haben wir das auch erledigt.«
»Wunderbar!« Schnell laufe ich Thorben hinterher, der bereits die schmale, steile Treppe hinaufgestürmt ist. Oben angekommen sehe ich, wie er seine Jacke besitzergreifend aufs Bett schmeißt.
»Meins!«, kommentiert er lauthals quakend und grinst breit, als hätte er gerade über das frisch gekaufte Softeis seines ärgsten Feindes geleckt.
»Hey, nur weil du es zuerst erreicht hast, heißt das noch lange nicht, dass du es bekommst!«
»Und ob!«, gibt er sich siegessicher. »Ist ein uraltes Jugendherbergs- und Hostelgesetz: Wer als Erster seine Klamotten drauf hat, der kriegt es!«
Zähneknirschend suche ich nach einem Argument gegen diesen Schwachsinn, doch mir fällt kein brauchbares ein. Niemand von uns scheint vorab einen Grundriss bekommen zu haben, um sich ein bestimmtes Zimmer reservieren zu können, und es ist auch kein Wunder, dass er gerne dieses hier hätte. Es ist zwar genauso mit Ramsch überladen wie der Rest des Hauses, aber fast doppelt so groß wie die beiden anderen und hat, neben dem standardmäßigen Schreibtisch und dem Kleiderschrank, als einziges ein Doppelbett. Zudem genießt man hier oben seine Ruhe, einen idyllischen Ausblick und hat außerdem ein eigenes, kleines Bad mit Dusche.
Ehe ich jedoch mit dem Kerl weiterdiskutieren kann, hören wir plötzlich eine grelle Stimme von unten rufen, die zu laut ist, als dass sie aus Frau Hofmanns Kehle stammen könnte.
»Hallooooo? Jemand da?«
»Jaahaaa!«, trällert unsere Vermieterin höflich zurück, und während ich die Treppe wieder hinuntergehe, flitzt sie bereits in Schildkrötengeschwindigkeit zum Eingangsbereich. »Sie sind Frau Mockel, ja? Ein Glück, ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr.«
»Ja, sorry, mein Taxi stand ewig im Stau«, floskelt sie, aber gemessen an ihrem Aussehen kann ich irgendwie nicht so richtig glauben, dass die Verspätung am Taxi liegt. Die riesige Sonnenbrille, mit der sie wie eine menschliche Fliege aussieht, und der bonbonrosa Lippenstift sprechen Bände. Dazu kommen noch ihre bauchfreien Markenklamotten, ihre gestelzte Haltung und die wasserstoffblonden, gekreppten und zur Wallemähne toupierten Haare, die einer filzigen Perücke ähneln ... Alleine für diesen Look hat sie ganz sicher mehrere Stunden gebraucht. Meine Tolle ist nur ein Viertel von ihrer und ich brauche ja schon an die dreißig Minuten dafür!
Thorben kommt nun ebenfalls die Treppe herunter und drängelt sich auch jetzt wieder vor, um die stylische Püppi zu begrüßen.
»Jo, ich bin der Thoby. Auf gutes Zusammenwohnen«, begrüßt er sie betont lässig und hält ihr seine Hand hin, doch sie hebt ihre nur skeptisch.
»Tabea«, antwortet sie knapp und winkt in einem Schwung zu mir rüber, damit sie sich gleich wieder an Frau Hofmann wenden kann. Diese nimmt bereits eine ihrer Vasen zur Hand und will die Hausführung offenbar mit der jungen Frau wiederholen, doch die hat andere Pläne. »Also, wo ist mein Zimmer?«, fragt sie direkt. »Der Taxifahrer bringt gleich meine Koffer rein und ich bin wirklich extrem müde von der langen Fahrt, deshalb würde ich mich gern erst mal ausruhen.«
Unsere Vermieterin ist etwas sprachlos, dass es dem Fräulein scheinbar ziemlich egal ist, wie sie die nächsten Jahre leben wird. Immerhin haben wir bisher alle nur einen Zeitungsartikel gelesen und ein paar Beschreibungen am Telefon bekommen.
»Äh ... ja, Sie ähm ...« Man merkt deutlich, wie überrollt die alte Dame ist, denn der mutmaßlich türkische und, nebenbei bemerkt, ziemlich heiße Taxifahrer steht bereits mit zwei riesigen knallgelben Koffern und einer babyblau gepunkteten Sporttasche auf dem Buckel hinter ihr.
»Wohin ich soll machen?«, fragt er leicht dümmlich grinsend, und ehe ich ihm den Weg zur Toilette weisen kann, wiederholt Tabea die Frage, wo denn nun ihr Zimmer sei ... anscheinend soll er ihr lieber aufs Bett kacken.
Frau Hofmann hebt ihre Hand in Richtung Wohnzimmer. »Sie können sich gerne eins aussuchen«, erklärt sie in gewohnt langsamer, aber schon deutlich zittriger Art. »Hier unten sind zwei kleinere Schlafzimmer, deren Bewohner sich ein Bad mit Wanne teilen. Oben befindet sich ein großes Zimmer mit eigenem Bad und Dusche. Das kostet aber in der Miete etwas mehr, rund einhun-«
»Ja, ja, das nehme ich! Ich will mein Bad nicht mit irgendwem teilen müssen«, unterbricht sie die alte Dame unhöflich. »Özgür, nach oben!« Schon geht ihr Gepäckträger an uns allen vorbei und ich muss mir verkneifen, dabei nicht auf seinen hammergeilen Knackarsch zu gucken. Tabea folgt ihm und steigt in ihren violetten Ballerinas die Treppe rauf.
»Aber -« Thorben hebt den Finger und versucht zu protestieren, doch dann bricht er rasch ab. Vermutlich will er es sich mit ihr nicht verscherzen ... oder er hat keinen Bock, über hundert Mark im Monat mehr zu bezahlen.
»Ähm, eines ist mir noch sehr wichtig«, ruft Frau Hofmann Tabea plötzlich hinterher und wirkt dabei fast schon ängstlich. »Ich möchte Sie bitten, nichts zu verändern und mit all meinen Sachen sorgsam umzugehen!«
Tabea, bereits oben angekommen, schaut wohl nur kurz in ihr neues Reich und kommt dann noch einmal die halbe Treppe herunter, ihre dünn gezupften Augenbrauen angriffslustig zusammengezogen. »Gute Frau, ich muss mindestens drei Jahre hier wohnen, da werde ich mein Zimmer doch wohl so einrichten dürfen, wie ich will! Außerdem zahle ich schließlich Miete, da erwarte ich auch, dass ich meinen Bereich so gestalten kann, wie es mir passt!«
Ich sehe, dass die alte Dame aufgrund der forschen Ansage dieses Mädchens vollkommen sprachlos ist. So eine Tonlage gehört sich nicht, auch wenn ich durchaus nachvollziehen kann, dass Tabea keine drei Jahre in einem altbackenen Zimmer voller Biedermeiervasen hausen möchte. Daher versuche ich zu schlichten.
»Ich bin mir sicher, Frau Mockel spricht nicht davon, dass sie die Wände streichen oder neuen Boden verlegen will, nicht wahr?« Ich schaue Richtung Treppe zu ihr hoch und sie schüttelt sogar halbwegs kompromissbereit den Kopf.
»Ja, ne. Aber ein paar Vorhänge, einen kleinen Teppich und meine eigene Dekoration wären schon nett! Ich steh nicht so auf Braun und Kotzgrün!«
Aufmunternd lege ich die Hand auf Frau Hofmanns Schulter. »Was halten Sie davon, wenn wir die ... schönen Erbstücke Ihrer Familie, die in unseren privaten Zimmern stehen, einfach vorsichtig und ordentlich in Zeitungspapier einwickeln und sie in der Anrichte im Wohnzimmer verstauen? Der untere Teil war doch leer? Dann gehen sie nicht kaputt und wir können den gewonnenen Platz für unsere Sachen nutzen. Wäre das in Ordnung?«
Sie seufzt enttäuscht, dass wir ihre Sammlerstücke offenbar nicht zu schätzen wissen, aber ich denke, keiner von uns möchte in einem Museum wohnen, bei dem wir ständig Angst haben, irgendwas herunterzureißen, das wir danach ersetzen müssen.
»Na gut. Aber in den Gemeinschaftsräumen lassen Sie alles, wie es ist, ja? Zu viel Veränderung ist nicht gut! Und wenn Sie ausziehen, müssen Sie den ursprünglichen Zustand Ihrer Zimmer wieder herstellen – in allen Einzelheiten!«
Thorben und ich nicken zustimmend. Tabea schnauft nur und verschwindet nach oben. Schließlich richtet mein Mitbewohner das Wort an unsere Vermieterin, während wir mit ihr ins Wohnzimmer gehen, um dort die Mietverträge zu unterzeichnen.
»Warum haben Sie denn überhaupt so viele private Dinge in einem Haus, das Sie Fremden vermieten?«
Frau Hofmann zögert einen Moment. Sie wirkt traurig, aber trotzdem lächelt sie. »Nun, junger Mann, ich bin zweiundachtzig Jahre alt und lebe in einem kleinen Zimmer im Altenheim. Ich habe keine Möglichkeit, all die Kostbarkeiten bei mir unterzubringen, und außerdem gehören diese Schätze auch einfach hierher. Ich nehme ungern Dinge von ihrem rechtmäßigen Platz.«
Ich überfliege meinen Vertrag, checke nur kurz den angegebenen Mietpreis, denn ich gehe nicht davon aus, dass uns die alte Dame übers Ohr hauen will. Währenddessen stelle auch ich noch ein paar Höflichkeitsfragen, um sie von dem schroffen Verhalten meiner Mitbewohnerin abzulenken.
»Sind Sie in diesem Haus aufgewachsen?«
Gleich erhellt sich ihr Gesicht wieder. »Oh ja. Ich hatte eine ganz magische Kindheit hier! Die meiste Zeit habe ich mich als Fee verkleidet und mit ... meinen Freunden im Garten gespielt.«
»Das kann ich mir gut vorstellen.« Ich lache und deute aus dem Fenster. »Das Grundstück ist wirklich märchenhaft und dann auch noch mitten im Wald! Da würde sich jedes Kind wohlfühlen! Warum ziehen Sie denn nicht selbst hier ein?«
»Nun ja ... zuerst gehörte es meinem Urgroßvater, dann meinem Großvater«, erklärt sie und schaut dabei auf ihre Hände. »Danach bekam es meine Mutter und sie vererbte es mir, nach ihrem Tod.« Plötzlich schnieft sie. »Doch zu dem Zeitpunkt war ich bereits zu alt. Mein lieber Gatte, Gott hab ihn selig, war auch schon von mir gegangen, und unsere Kinder waren erwachsen. Für mich allein war das Haus leider zu groß.« Sie wischt sich kurz mit einem Schnupftuch unter den Augen entlang. »Also zog meine Tochter mit ihrer Familie hier ein und ich nahm mir ein Zimmer im nächstgelegenen Altenheim. Es war alles perfekt. Ich konnte sie oft besuchen und sie wohnten auch einige Jahre hier, aber dann mussten sie aus beruflichen Gründen doch woanders hinziehen. Da ich das Anwesen nicht selbst nutzen kann und auch mein Sohn kein Interesse daran hat, beschloss ich, es zu vermieten. Meine Tochter und ihr Mann brachten alles auf Vordermann und besorgten noch ein paar Betten für die Zimmer.«
Lächelnd schiebe ich ihr die zweite unterschriebene Ausfertigung des Mietvertrages zu und Thorben tut es mir gleich. »Das war aber sehr lieb von den beiden!«
»Ja ...«, sagt sie zitternd und versucht ebenfalls zu lächeln, doch es scheint ihr schwerzufallen. »Das war es ... das war es.« Dann kramt sie in den Fronttaschen ihres Pullunders und legt uns drei identische Schlüsselsets auf den Tisch. »Hier, für jeden ein Bund. Das sind Hausschlüssel, Postkastenschlüssel und der kleine hier ist für das Gartentor vorn, sollte es mal zu sein. Der Schuppen hinten im Garten ist immer offen, falls Sie mal den Rasen mähen oder harken möchten.« Dabei erhebt sie sich mühsam aus ihrem Sessel und Thorben verabschiedet sich mit der Ausrede, dass er dringend mal austreten müsse. Kurz darauf verschwindet er jedoch im zweitgrößten Schlafzimmer, das sich direkt unter Tabeas neuem Reich befindet. Frau Hofmann wackelt indessen erschöpft los und ich begleite sie nach draußen, da ich sowieso noch meine Koffer aus dem Auto holen muss.
»Seien Sie doch bitte so lieb und sorgen Sie dafür, dass auch Frau Mockel ihren Mietvertrag unterschreibt. Sie kann ihn mir dann per Post zuschicken oder einfach in den Briefkasten stecken. Das Altenheim, in dem ich wohne, ist gar nicht weit von der Universität entfernt.«
»Keine Angst, verlassen Sie sich auf mich!«, sage ich aufmunternd und halte ihr das Gartentor auf. »Notfalls nehme ich den Vertrag einfach an mich und komme dann selbst mal auf eine Tasse Kaffee bei Ihnen vorbei, wenn ich darf.«
»Liebend gern!«, säuselt sie und sieht mich fast ein wenig verliebt an. »Sie sind ein guter Junge, Sergej, vielen Dank.«
Wie selbstverständlich setzt sie sich in das Taxi, welches seltsamerweise unverschlossen vor der Tür steht, und schaut etwas verloren zum Haus. Die alte Dame wirkt in ihrer tattrigen Art einfach völlig hilflos und ich bekomme erneut Mitleid mit ihr.
»Ähm ... soll ich Sie vielleicht nach Hause fahren? Der gute Mann wird wohl für eine Weile beschäftigt sein.«
»Nein, nein, vielen Dank«, lehnt sie gleich ab und wedelt mit ihrer Hand. »Ich genieße gern noch ein wenig die frische Luft, und wenn ich mir ein eigenes Taxi für die Rückfahrt gerufen hätte, müsste ich ja auch darauf warten, also gar kein Problem. Packen Sie mal lieber Ihre Koffer aus und richten sich ein!«
»In Ordnung. Na dann ... gute Heimfahrt!«
»Danke, danke.« Ich wuchte schon meine Sachen aus dem Auto und öffne das Gartentor, da ruft sie mir plötzlich nochmal hinterher: »Herr Grabowski ... denken Sie alle bitte daran: Dies ist ein sehr altes Waldhaus und es steckt eine Menge ... Leben in ihm. Es knarzen die Hölzer, es rauschen die Rohre und manchmal gluckert die Heizung. Ab und an verirrt sich auch ein Eichhörnchen auf den Dachboden. Das ist alles völlig normal. Haben Sie keine Angst! Es wird niemandem etwas Schlimmes geschehen!«
»Ähm ... ja, okay. Danke!«
Also ein bisschen komisch ist die Gute ja schon.
***
Eigentlich dachte ich, dass ich als Allererstes meine neuen Mitbewohner besser kennenlernen könnte. Vielleicht bei einem Bierchen auf der Terrasse, aber daraus wurde nichts. Tabea schien noch eine Weile mit den Nachwirkungen ihres Verehrers zu kämpfen zu haben. Zumindest vermute ich das, denn sie schloss sich in ihrem Zimmer ein, während er herunterkam, sich dabei den Reißverschluss seiner Hose zuzog und dann endlich, mit Frau Hofmann im Gepäck, zurück nach Bremen fuhr.
Na ja, vielleicht war er auch einfach nur oben im Bad pinkeln ... fünfundzwanzig Minuten lang.
Thorben musste dringend an seinem Zimmerprojekt arbeiten, wie er es nannte. Was auch immer das sein soll, auf jeden Fall ist er die meiste Zeit ordentlich am Rumpeln, Schrauben, Bohren und Hämmern. Würde mich nicht wundern, wenn er sich da so etwas wie eine Werkstatt aufbaut. Er ist bestimmt so eine Art verkapptes Jugend forscht Talent, das könnte zu ihm passen!
Jedenfalls genieße ich den Rest meines ersten Tages allein, mache mir einen Kaffee aus Instantpulver und entdecke dabei, dass es im Haus neben einem Radio, einem Fernseher, Wasserkocher, Kühlschrank, Mikrowelle und Herd mit Backofen zum Glück auch ein Festnetztelefon gibt. Das war’s dann aber mit den technischen Geräten. Die Telefonrechnung müssen wir uns am Ende des Monats teilen, so steht es im Mietvertrag. Wie ich vorhin kurz gesehen habe, besitzt Tabea schon eines dieser brandneuen Nokia 3210 Handys, also wird sie wohl kaum den uralten, kabelgebundenen Fernsprecher hier unten benutzen. Genau wie ich selbst, der ich höchstens alle drei Wochen mal meine Mutter anrufen muss.
Bis zum Abend habe ich alle meine Sachen in mein neues Zimmer eingeräumt und auch ein paar Bandposter an die Wände gehängt, um mich heimischer zu fühlen. Begleitend dazu gab’s drei Schokoriegel und eine Tüte Elefantenpopel[Fußnote 2]. Nun sind die Klamotten im Schrank, die Hanteln an der Seite aufgereiht, der Schreibtisch ist mit den wichtigsten Utensilien bestückt und ein großer Spender Handcreme thront neben meinem ungeliebten Wecker auf dem Nachtschrank. Gerade bin ich noch dabei, die Bettwäsche zu wechseln, denn blaue Kornblumen auf weißem Grund find ich jetzt nicht wirklich prickelnd. Als letzte Amtshandlung schmeiße ich ein paar Gummis ins Kramfach des Nachtschränkchens, auch wenn ich eigentlich nicht davon ausgehe, dass ich je einen Kerl mit hierhernehme.
Ja. Einen Kerl.
Es hat seine Gründe, warum ich recht hitzköpfig reagiere, wenn mich jemand aus Jux als schwul betitelt, denn niemand darf wissen, dass es wirklich stimmt. Nicht mal meine Eltern kennen die Wahrheit.
Ich stamme aus einer sehr konservativen Familie, einer Zahnarztdynastie, und hatte lange Zeit ernste Aggressionsprobleme. Ich interessierte mich wenig für Mädchen, wusste aber nicht warum und was mit mir los war. Erst vor zwei Jahren, als ich mich mal wieder wegen irgendeiner Nichtigkeit mit einem Typen in einer Seitengasse prügelte und er mir mitten im Kampf in den Schritt fasste, realisierte ich, dass ich auf Kerle stehe, denn ich wurde sofort hart. Keine drei Minuten später stand ich mit dem Rücken an die nasskalte Wand gelehnt da und er lutschte mir hingebungsvoll den Schwanz. Zusammen mit dem geilsten Orgasmus, den ich bis dato hatte, löste sich auch endlich der Knoten in meinem Kopf. Es war wie ein Befreiungsschlag für meine Seele.
Als mir klar wurde, woher meine jahrelange Frustration kam, entschied ich mich dagegen, wie meine Eltern Zahnarzt zu werden. Stattdessen fiel die Wahl auf ein Studium der Sozialpädagogik, damit ich mich selbst besser verstehen und anderen Jugendlichen später dabei helfen kann, ihre Probleme gewaltfrei anzugehen. Außer einigen oberflächlichen One-Night-Stands hatte ich bisher nie etwas Festes, da ich ja noch bis vor kurzem bei meinen Eltern wohnte und diese unter einem ganz abscheulichen Kontrollzwang leiden. Das war mit einer der Hauptgründe, warum ich mich für die Uni in Bremen entschloss und nicht in Berlin blieb.
Tja, trotzdem komme ich mit meiner eigenen Homosexualität in Bezug auf die Öffentlichkeit noch nicht so ganz klar, weshalb ich das lieber für mich behalte ... sofern ich nicht mit jemandem vögeln will. Zum Glück sieht man mir meine sexuelle Orientierung nicht an der Nasenspitze an, das macht es deutlich einfacher, die Sache zu verheimlichen.
Erschöpft schmeiße ich mich nun aufs frisch bezogene Bett und sehe mich zufrieden um. Kaum zu glauben, was ein großer Mitsubishi-Wandkalender und ein paar Bandposter ausmachen können. Eine Handvoll bekannte Gesichter und schon fühlt es sich nach Zuhause an!
Bei einem kurzen Blick zur Seite, um die Uhrzeit zu checken, fallen mir plötzlich meine Handtücher und die Waschtasche ins Auge.
›Die werde ich ins Bad bringen. Andererseits, wer weiß, ob dieser Thorben seine Griffel davon lassen kann?‹
Sicher gibt es noch viele weitere abstruse, ungeschriebene Hostelregeln, die ihm die skurrilsten Dinge erlauben. Zum Beispiel, dass er mit meiner Zahnbürste das Klo putzen darf, wenn sie falsch herum im Becher steht, oder irgend so ein Mist.
Ich erhebe mich also noch einmal aus dem Bett, nehme nur den nötigsten Kram und gehe damit ins Bad. Dort stelle ich fest, dass Thorben auch hier seine bekloppte Alles was mein Zeug berührt, gehört mir - Regelangewendet hat, denn an jedem einzelnen verdammten Haken und auf jeder noch so kleinen Fläche sind seine Sachen drapiert!
»Dieser ...« Ich knurre in mich hinein und will schon fast zu ihm rübergehen, um ihn zur Schnecke zu machen, doch dann atme ich erst mal tief durch und beschließe, es diplomatisch anzugehen. Körperlich wäre ich ihm weit überlegen, aber ich will nicht mehr alle meine Probleme mit Gewalt lösen! Das ist mir im Nachhinein schon viel zu oft auf die Füße gefallen.
Kurzerhand hole ich eine Rolle Paketklebeband sowie einen Folienmarker aus meinem Zimmer und klebe über jeden Haken und über jede Ablage einen Streifen. Diese beschrifte ich je zur Hälfte mit unseren Namen und platziere im Anschluss die Sachen entsprechend neu.
›Wenn der sich jetzt noch wagt, die Schilder zu ignorieren oder gar abzumachen, vergesse ich meine guten Vorsätze!‹
Plötzlich höre ich eine laute Diskussion, schmeiße Stift und Rolle im Vorbeigehen in mein Zimmer und schaue nach, was die Ursache des Lärms ist.
Tabea und Thorben stehen sich gegenüber: er in der geöffneten Tür seines Zimmers, während unsere Mitbewohnerin im Wohnzimmer bleibt und beinahe ängstlich auf Abstand bedacht ist.
»Du bist doch vollkommen bekloppt!«, ruft sie und hat schon ihr Handy in der Hand. »Ich bin mir sicher, dass die verboten ist, und in der Anzeige stand ausdrücklich keine Haustiere!«
»Damit meinte sie nur keine Hunde und Katzen! Außerdem fällt die hier viel mehr unter Deko!«
»Hey«, mische ich mich ein, worauf Tabea erst einen Schritt zurück- und dann auf mich zugeht.
»Ah, gut dass du da bist!«, bringt sie erleichtert hervor und legt ihre Hände vertrauensvoll an meinen Bizeps. »Sag diesem Spacko, dass er dieses Ding hier rausschaffen soll!«
Noch ehe ich fragen muss, sehe ich, worum es geht. Auf dem Boden steht ein großer, offener Karton mit einer pechschwarzen, minimal weiß gestreiften Schlange drin und Thorben ist gerade dabei, aus Sperrholzplatten ein Terrarium zusammenzuzimmern. Deswegen hat er also die ganze Zeit solchen Krach gemacht. Auch sonst ist sein Zimmer schon mit allem möglichen Kram zugestellt: Bücher, technische Geräte, Computerteile, CDs und haufenweise anderer Kleinkram.
»Sag mal Houdini, hast du ein schwarzes Loch in deinem Rucksack? Wie hast du das ganze Zeug hergekriegt?«, hake ich erst mal perplex nach, denn mit seinem Moped wird er die Sachen wohl kaum transportiert haben.
»Nein, nein ... ich hab gestern einige Umzugskartons als Pakete rausgeschickt und gedacht, das kommt alles erst morgen an. Tja, nun war die Post schneller und hat das Zeug vorhin schon gebracht. Hast du nicht gehört, wie die geklopft haben?«
»Nein«, gebe ich verwundert zu, aber ich hatte die meiste Zeit auch die Kopfhörer meines Diskmans auf den Ohren.
»Jetzt sag ihm bitte, dass er dieses Ding rausschaffen soll!«, erinnert mich Tabea und versteckt sich halb hinter mir. »Ich wohne ganz sicher nicht mit einer Schlange im Haus zusammen! So, wie die aussieht, ist sie garantiert giftig!«
»Meine Güte, das ist nur eine Kettennatter!«, gibt Thorben fast schon stöhnend Auskunft und verdreht dabei die Augen. »Die ist weder giftig noch wird sie besonders groß! Selbst wenn sie ausbrechen sollte, was nicht passieren wird, würde sie dir nicht gefährlich werden. Nattern fressen nur kleine Säugetiere, Vögel, Echsen und andere Schlangen, die sie erdrosseln. Einzig das übel riechende Sekret, das sie verspritzen, wenn sie sich bedroht fühlen, ist unangenehm. Aber das war’s auch schon.«
»Wie nett ...«, kommentiere ich, doch schließlich hebe ich kurz den Zeigefinger, gehe in mein Zimmer, nehme den auf dem Schreibtisch liegenden Notizblock samt Stift und schreibe drei Sätze. Damit kehre ich zurück und werfe beides auf sein Terrarium-Konstrukt. »Unterschreib das!«
Perplex nimmt er den Block und schiebt seine Brille zurecht. »Was soll das sein?«
»Eine Abmachung«, antworte ich grinsend und nicke Tabea zu. »Wenn die Schlange auch nur ein einziges Mal aus deinem Terrarium ausbricht, machst du ein halbes Jahr lang sämtliche Putzarbeit in diesem Haus!«
»Einschließlich Küchendienst!«, hängt Tabea an.
»Was? Aber ... das ist pure Folter!«
»Dann sieh eben zu, dass du deinen Reptilienknast wirklich ausbruchssicher machst, oder verkauf die Schlange. Deine Entscheidung!«
Zähneknirschend unterschreibt er den Wisch und ich fühle mich für die Badezimmeraktion ein kleines bisschen gerächt. Nachdem er fertig ist, reiße ich die Seite vom Block ab und gebe sie unserer Mitbewohnerin, die sie triumphierend entgegennimmt.
»So! Ich hab Kohldampf! Habt ihr auch Bock auf Pizza?«
Tabea bejaht und selbst Thorben stimmt murrend mit ein. Anscheinend hat keiner von uns, bis auf ein paar Chips und andere Snacks, wirkliche Nahrungsmittel mitgebracht, und außer Milch, Kaffee und Tee ist auch nichts in der Küche.
Thorben greift in eines seiner Schreibtischfächer und reicht uns sieben verschiedene Flyer. »Hier, die lagen auf dem Tisch.«
Hat dieser Arsch die ernsthaft alle weggenommen und für sich gebunkert? Der Kerl hat ein ganz arges Problem damit, Dinge zu teilen! Schlechte Voraussetzung, um in einer WG zu leben!
Als jeder sich was ausgesucht hat, rufe ich den Lieferdienst an und bestelle sechs Pizzen und zwölf Flaschen Bier, denn wir wollen ja alle noch übers Wochenende kommen.
***
»Haaaah!«
Gott, kann morgendliches Pinkeln guttun, wenn man vor dem Schlafengehen zu viel gesoffen hat.
Ja, man glaubt es kaum, aber ich hatte mit meinen anfänglich ziemlich unsympathischen Mitbewohnern sogar noch einen halbwegs netten Abend, was sicherlich auch am Wodka lag, den ich habe ins Bier einfließen lassen. Nebenbei liefen die halbe Nacht Wiederholungen der Serie Friends in der Glotze, die sich, zumindest unterbewusst, vermutlich auch ein wenig auf unsere Einstellung zueinander auswirkten.
In den Gesprächen während der Werbepausen erfuhr ich mehr über Thorben, der ursprünglich aus Bosnien stammt und neun Brüder hat. Das erklärt durchaus seinen permanenten Egohamstermodus. Doch interessanterweise studiert er ebenfalls Sozialpädagogik, ist aber schon im dritten Semester.