Ronco - Die Tagebücher 08 - Blutrache - Dietmar Kuegler - E-Book

Ronco - Die Tagebücher 08 - Blutrache E-Book

Dietmar Kuegler

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Beschreibung

Die Männer starben schnell. Ich sah, wie der Farmer von einer Kugel in die Stirn getroffen wurde. Die Reiter rissen ihre Pferde herum. Der Stall und die Scheune standen in hellen Flammen. Nur das Prasseln des lodernden Feuers war zu hören, als die Reiter in den langen Umhängen davonritten. Ich hörte noch ihren Hufschlag, dann verschluckte die Nacht die Mörder.1859. In Kansas tobte ein erbitterter Kampf zwischen Freistaatlern und Südstaatenguerillas. Ich wusste nichts davon. Als weißer Apache hatte ich in einer anderen Welt gelebt. Aber ich wusste, was Gewalt war. Blut und Tod folgten mir auf meinem Weg in ein neues Leben.Dieser Band enthält folgende Romane:Blutrache (15)Die Todesreiter (16)Die Texte wurden vom Autor übearbeitet.Die Printausgabe umfasst 254 Buchseiten

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RONCO

In dieser Reihe bisher erschienen

2701 Dietmar Kuegler Ich werde gejagt

2702 Dietmar Kuegler Der weiße Apache

2703 Dietmar Kuegler Tausend Gräber

2704 Dietmar Kuegler Apachenkrieg

2705 Dietmar Kuegler Das große Sterben

2706 Dietmar Kuegler Todesserenade

2707 Dietmar Kuegler Die Sonne des Todes

2708 Dietmar Kuegler Blutrache

2709 Dietmar Kuegler Zum Sterben verdammt

2710 Dietmar Kuegler Sklavenjagd

Dietmar Kuegler

Blutrache

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2020 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-157-1Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Blutrache

23. Februar 1879.

Ich befinde mich weit im Norden New Mexicos und reite auf Colorado zu. Überall liegt noch Schnee. Es ist kalt. Der Wind von den nahen Bergen ist schneidend und eisig. In ein paar Wochen aber wird auch hier die Schneeschmelze einsetzen.

Hinter mir liegen schlimme Tage, und vor mir ist nichts als Ungewissheit.

Vielleicht verläuft mein weiterer Weg ruhiger, aber wahrscheinlich ist das nicht, und ich kann es auch nicht glauben.

Colorado ist eine neue Hoffnung. Wie viel sie wert ist, wird sich zeigen. Es wird schon schwer genug sein, die Staatsgrenze zu erreichen und dafür zu sorgen, dass sich nicht neue Verfolger auf meine Fährte setzen. Nur wenn ich mir meine Feinde lange genug vom Leibe halten kann, habe ich die Chance, meinem Ziel etwas näher zu rücken.

Im Windschatten eines überhängenden Felsens habe ich mein Lager aufgeschlagen. Ein Feuer brennt. Es dämmert, und solange das Tageslicht noch ausreicht, will ich weiter an der Geschichte meines Lebens schreiben.

Die Nähe der Coloradogrenze trägt dazu bei, dass mir alle Einzelheiten aus der Zeit, in der ich meine ersten unsicheren Schritte zurück in die Welt der Weißen unternahm, klar und deutlich vor Augen stehen. Ich brauche mich nicht zu bemühen, die Erinnerung an diese Zeit in meinem Leben erst zu wecken. Sie ist da, gegenwärtig, und im Moment drängt sie sich mir geradezu auf. Denn es war in Colorado, wo ich damals, 1859, vor zwanzig Jahren, meinen Weg in die neue Welt begann.

1.

Ein kühler Wind strich über die Ebene am Fuße der La-Plata-Berge. Der Himmel hatte die Farbe von abgestandener Seifenlauge. Es war kurz vor Mittag, und es sah nach Regen aus.

Ich blieb im Schatten eines riesigen Granitfindlings stehen, der sich wie ein Monument aus dem kniehohen Büffelgras erhob. Ich schaute zum Himmel. Von Norden schob sich eine breite Wolkenbank heran. Im selben Moment fielen die ersten Tropfen, kalt und schwer.

Ich fröstelte und blickte mich um. Weit und breit gab es nichts, wo ich mich hätte verkriechen und den Regen abwarten können. Die Ebene um mich herum dehnte sich endlos, und ich befand mich mitten in der weiten Grasfläche, jämmerlich klein und verloren.

Ich setzte mich wieder in Bewegung, obwohl meine Glieder schmerzten und ich die Füße kaum noch hochkriegte.

Seit Stunden war ich unterwegs und auf der Suche nach etwas Essbarem. Der Proviant, den ich mitgenommen hatte, als ich vor über einer Woche Silverton verlassen hatte, war längst aufgebraucht. Seit gestern ernährte ich mich von wilden Beeren und Früchten, um den ärgsten Hunger zu stillen. Aber das hielt nie sehr lange vor.

Der Regen fiel jetzt in dichten, bleigrauen Fäden. Der Wind von den Bergen ließ nicht nach und trieb ihn in Böen seitlich gegen mich. Binnen weniger Minuten war ich völlig durchnässt und fror. Trotzdem lief ich weiter.

Ein paar flache Hügel erhoben sich plötzlich wie Inseln aus der Sturzflut des Regens vor mir. Wie lange ich gelaufen war, wusste ich nicht. Ich stapfte hinauf, den Kopf eingezogen, während der Regen mir ins Gesicht peitschte.

Ein Stück unterhalb sah ich einen Handelsposten unmittelbar neben einer ausgefahrenen Wagenstraße, auf der sich große Pfützen bildeten und die zum Teil bereits völlig unter Wasserlachen verschwunden war. Ich spürte die Erschöpfung und den wühlenden Hunger in mir in diesem Moment nicht mehr so stark. Trotz meiner schmerzenden Füße lief ich durch das immer heftiger tobende Unwetter auf die Gebäude zu.

Wie ausgestorben lag der Handelsposten im strömenden Regen vor mir. Ich erreichte den Hofeingang, der durch zwei hohe Pfähle gebildet wurde, zwischen denen an rostigen Ketten ein Schild aus starkem Holz hing, das vom Wetter heftig hin und her gerissen wurde. Erst da sah ich hinter einem Fenster des flachen Hauptgebäudes ein schwaches Licht. Sturmböen trieben mich über den Hof zum Stall hinüber. Sie drückten wie mit tausend Fäusten gegen das hohe Tor, sodass ich alle Mühe hatte, es einen Spalt zu öffnen und hineinzuschlüpfen. Das Tor schlug hinter mir zu. Ich hörte den Regen dagegenprasseln und lehnte mich erschöpft mit dem Rücken an die Wand. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an das Zwielicht, das im Stall herrschte. Die Luft war dumpf und erfüllt von intensivem Heugeruch, von ­Pferdeschweiß und Lederfett. Aber es war auch warm und trocken, und draußen schüttete es wie aus Kübeln.

Stroh knisterte unter meinen Füßen, als ich den Gang zwischen den Pferdeboxen durchquerte. Nur vier der Boxen waren besetzt. Ich sah mit einem Blick, dass es sich bei den Tieren um Wagenpferde handelte. Eins wandte den Kopf und schnaubte nervös, als ich hinter ihm vorbeiging. In einer leeren Box hockte ich mich ins weiche Heu, zog die Beine an den Leib und lehnte meinen Kopf gegen das raue Holz der Boxwand. Müdigkeit stieg in mir auf, und der Hunger erschien mir auf einmal nicht mehr so schlimm. Ich öffnete die Feldflasche, die ich am Gürtel trug, trank einen Schluck von dem abgestandenen Wasser und schloss die Augen. Draußen heulte der Wind um die Ecken des Gebäudes, monoton rauschte der Regen. Das Unwetter war jetzt endlos weit weg. Wohlige Wärme erfüllte mich, der Duft des Heus wirkte betäubend. Meine nasse Kleidung begann zu trocknen, ich spürte sie kaum noch. Die Spannung in meinem Körper wich. Eine angenehme Schwere kroch durch meine Glieder, und ich schlief ein.

*

Das Stalltor knarrte laut in den Angeln. Ich schlug die Augen auf und wälzte mich schwerfällig herum. Ich lag im Heu. Im Schlaf war ich anscheinend zur Seite gesunken.

Schritte waren auf dem Gang zwischen den Boxen zu hören. Sekundenlang lag ich wie gelähmt da und versuchte, mich zu erinnern, wo ich mich befand. Meine Erschöpfung war größer gewesen, als es mir selbst bewusst gewesen war. Meine Reaktionen waren noch immer träge, nur tröpfchenweise kehrte die Erinnerung zurück.

Schwerfällig tastete ich mit der Rechten zum Griff des Navy-Colts, der schräg in meinem Hosenbund steckte. Als ich den kühlen Nussbaumgriff umschloss, fühlte ich wieder Zuversicht in mir. Die bleierne Müdigkeit wich.

Es war stockfinster im Stall, bis auf einen kargen Lichtschein, der mit den Schritten auf dem Gang herumwanderte, aber nicht sonderlich weit reichte. Draußen war es still. Das Unwetter war offenbar vorbei.

Ich überlegte, was ich tun sollte. Ich hatte nichts Unrechtes getan und fragte mich, was ich eigentlich zu befürchten hatte. Andererseits gab es sehr wohl Gründe für mich, vorsichtig zu sein. Ich war ein Fremder in diesem Land, ein Kind zudem, wenn ich auch älter und reifer wirkte, als ich war. Ich war allein, abgehetzt, hungrig, schmutzig. Man würde mich für einen Vagabunden halten, vielleicht sogar für einen Dieb. In jedem Fall würde ich eine Menge Fragen über mich ergehen lassen müssen. Womöglich würde man mich dann zurück nach Silverton bringen, von wo ich fortgelaufen war. Noch war ich nicht weit genug von der Stadt entfernt.

Ich hielt den Atem an und lauschte. Es schien ein einzelner Mann im Stall zu sein. Er schüttete frisches Heu in die Raufen der Pferdeboxen, redete leise mit den Tieren, klopfte jedem auf den Hals und schlurfte schließlich durch den Stall. Ich kauerte mich noch mehr zusammen, machte mich so klein wie möglich und hoffte, dass er bald gehen würde.

Aber er ging nicht. Er trug seine Heugabel zum hinteren Ende des Stalls und stellte sie neben andere ­Werkzeuge an die Wand. Als er zurückkehrte, leuchtete er mit seiner Laterne in jede Box. Ich fluchte lautlos, presste mich hart gegen die Boxwand und hoffte, dass der Schein der Laterne über mich hinweggleiten würde.

Der Mann ging an der Box vorbei, in der ich hockte. Das Licht tanzte über den staubigen Boden und streifte mich nur. Ich hörte, wie der Mann sich räusperte. Er stand als großer Schatten vor mir in der Finsternis, nur seine Beine waren im Lichtkreis der Laterne eingefangen. Er trug ausgebeulte, abgewetzte Arbeitshosen und ausgetretene, schmutzige Stiefel.

Das Licht wanderte zu mir zurück, erfasste mich voll und blendete mich für einen Sekundenbruchteil. Ich war entdeckt.

„Wer bist du? Wo kommst du her?“

Die Stimme des Mannes klang dunkel und knarrend, fast wie die rostigen Angeln des Stalltores.

„Ich habe hier geschlafen“, sagte ich. „Während des Regens.“

„Das habe ich nicht gefragt.“ Der Mann stellte die Laterne auf die Seitenwand der Box, in der ich kauerte. Jetzt erfasste ihn der Lichtschein ganz. Er hatte ein faltiges, lederhäutiges Gesicht, das müde und abgearbeitet wirkte. Auf dem Kopf trug er einen löchrigen Strohhut. Breite Gummihosenträger pressten ein verwaschenes Baumwollhemd in seine hageren Schultern. Er war nicht rasiert.

„Ich habe nichts getan“, sagte ich. „Ich habe nur geschlafen.“

„Du sollst sagen, wo du herkommst und wer du bist!“ Die Stimme des Mannes klang jetzt drohend.

„Von Westen“, sagte ich.

„Du glaubst wohl, du kannst mich auf den Arm nehmen.“ Er bückte sich ein Stück zu mir herunter. „Wir werden schon rauskriegen, was du für einer bist.“

Die Faust, die er nach mir ausstreckte, war groß, rissig und schwielig. Ich richtete mich jäh aus meiner zusammengekrümmten Haltung auf und zog den Navy-Colt aus dem Hosenbund.

„Rühren Sie mich nicht an.“

Der Daumen meiner Rechten lag auf dem Hahn des Revolvers. Der Kämpferinstinkt aus meiner Zeit bei den Apachen wurde in mir wach.

Der Mann vor mir wurde blass. Seine Faust fiel herab. Er starrte sprachlos auf die große Waffe in meiner Rechten.

„Zur Seite“, sagte ich.

„Schieß nicht, Junge“, sagte er. Er wich einen Schritt zurück.

„Ich habe hier nur geschlafen“, sagte ich. „Ich habe nichts gestohlen und nichts zerstört.“

„Ja, ja“, sagte der Mann. „Ich wollte dir ja nichts tun.“

Ich trat an dem Mann vorbei auf den Gang hinaus. Mit hängenden Schultern stand er mir gegenüber. Er war ein halben Kopf größer als ich. Natürlich war er breiter, obwohl ich mit meinen dreizehneinhalb Jahren wie siebzehn aussah, sehnig und geschmeidig war, kräftige Schultern und muskulöse Arme hatte und sich ein paar scharfe Züge in mein Gesicht gegraben hatten. Das harte Leben bei den Apachen hatte mich geprägt. Nicht nur äußerlich, auch innerlich war ich reifer als die meisten anderen in meinem Alter. Bei den Apachen war ich ein vollwertiger Krieger gewesen. Ich war unter Black Hawk und Cochise geritten und hatte an einem großen Feldzug teilgenommen. Der Kampf ums Überleben war mein tägliches Brot geworden. Ich hatte weiße Soldaten getötet.

Nein, ich war kein Kind mehr, nicht nach allem, was hinter mir lag.

„Steck das Ding weg“, sagte der Mann. „Du musst doch verstehen, dass ich erschrocken war, als ich dich hier im Stall entdeckte.“

„Ich will nur was zu essen“, sagte ich. „Dann ziehe ich weiter. Ich kann auch bezahlen.“

„Wir reden über alles“, sagte der Mann. „Drüben im Haus, okay?“

Ich schaute ihn prüfend an und nickte. Als ich den Revolver herunternahm, griff der Mann mich an. Ich hatte das erwartet. In seinen Augen, die gerade noch voll Nervosität und Angst gewesen waren, blitzte jetzt die Wut.

Er hatte mich unterschätzt. Ich sprang rasch zwei Schritte zur Seite. Der Angriff des Mannes stieß ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht, taumelte an mir vorbei und stolperte über meinen rechten Fuß, den ich ihm in den Weg stellte. Meine Rechte mit dem Revolver stieß hoch. Ich schlug zu. Der kantige Lauf des Navy-Colts traf den Hinterkopf des Mannes.

Der Mann, den ich für einen Stallknecht hielt, sackte mit dumpfem Stöhnen nach vorn und fiel mit dem Gesicht in den Staub des Ganges. Der Strohhut rutschte ihm vom Kopf. Zwischen dem dünnen Haar auf dem Hinterkopf entdeckte ich etwas Blut.

Ich steckte den Revolver weg und ging an dem Bewusstlosen vorbei zum Stalltor. Die Laterne ließ ich stehen.

Als ich auf den Hof trat, traf mich der kühle Westwind. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch.

Es war Abend. Hinter den La-Plata-Bergen verglühte die Sonne. Während ich über den Hof ging, fuhr ich mit der Rechten in meine Hosentasche. Darin klimperten die zehn goldenen Zwanzig-Dollar-Stücke. Zweihundert Dollar insgesamt. So viel Geld hatte mir die Bank von Silverton als Belohnung dafür gezahlt, dass ich einen Banküberfall vereitelt und einen Banditen erschossen hatte, während die braven feigen Bürger der Stadt angstzitternd in ihren Häusern gesessen hatten. Sie hatten mich dann als Helden gefeiert, und als später die Banditen zurückkehrten, um sich mit brutalem Terror zu rächen, da hatten sie mich ihnen ausliefern wollen, die braven feigen Bürger, um sich selbst zu retten.

Ich erreichte das Hauptgebäude des Handelspostens und blieb einen Moment zögernd stehen, dann betrat ich den überdachten Vorbau und stieß die Tür auf.

Im Innern der Station war es hell und freundlich. Roh gezimmerte Tische mit sauber gescheuerten Platten standen in einem kleinen Aufenthaltsraum. Ein paar Petroleumlaternen hingen an schenkelstarken Deckenbalken und erhellten den Raum. Seitlich der Tür befand sich eine zehn Fuß lange Theke. Dahinter stand ein magerer, großer Mann mit krummem Rücken und schütterem, grauen Haar. Er schaute mich überrascht an, als ich über die Schwelle trat.

Ich ging auf die Theke zu und spürte angesichts der vielen Lebensmittel, die sich dahinter in zahlreichen Regalen türmten, wie stark mein Hunger war.

Meine Knie waren plötzlich weich, und mein Leib schien ein leeres Loch zu sein. Es war für mich fast ein Wunder, dass ich mich noch auf den Beinen halten konnte.

„Geben Sie mir ein Brot“, sagte ich und zeigte auf einen großen, runden Laib Maisschrotbrot. „Und Trockenfleisch, Speck und Trockenobst“, sagte ich.

Der Mann hinter dem Tresen starrte mich immer noch entgeistert an. An seiner Stelle hätte ich das vermutlich auch getan. Ich sah nicht gerade gut aus, mit meinem blonden strähnigen Haar, das mir fast bis auf die Schultern hing, meiner abgerissenen, verdreckten Kleidung und dem hohlwangigen, von Schrammen gezeichneten Gesicht.

„Ich kann bezahlen“, sagte ich, und zog einen goldenen Double Eagle aus der Tasche. „Also, geben Sie mir die Sachen. Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen.“

„Wo kommst du her?“ Der Mann hinter der Theke blickte abwechselnd auf das Goldstück und auf mich. „Wo hast du das Geld her?“

Ich dachte an den Mann im Stall. Ich hatte nicht unbegrenzt Zeit. Wenn er wieder zu sich kam, hatte ich zwei Gegner, und vielleicht gab es in der Station noch mehr Leute. Grund genug, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

„Es ist mein Geld“, sagte ich. „Und wo ich herkomme, geht Sie nichts an. Ich will etwas kaufen und dafür bezahlen. Also geben Sie mir jetzt die Sachen.“

„Moment mal“, sagte er. „So geht das nicht. Du siehst aus, als sei jemand hinter dir her. Ich will keinen Ärger.“

„Den werden Sie aber kriegen“, sagte ich. Ich schaute ihn drohend an.

Sein mageres Gesicht nahm einen verschlagenen Ausdruck an. Seine Hände tasteten unter die Theke. Zorn erfüllte mich. Ich ließ die goldene Münze in die Tasche zurückgleiten und zog den Navy-Colt.

„Zurück“, sagte ich. „Und Hände hoch.“

Seine Hände zuckten hoch, als hätte er eine heiße Herdplatte berührt. Gehorsam trat er einen Schritt zurück. Ich umrundete die Theke und sah sofort die abgesägte doppelläufige Schrotflinte unter dem Tresen liegen.

„Packen Sie mir sofort ein, was ich verlangt habe“, sagte ich. „Sonst schieße ich Ihnen den Kopf von den Schultern. Und glauben Sie nicht, dass Ihnen jemand beistehen wird. Im Stall liegt einer, dem habe ich auf den Kopf geklopft.“

Der Stationer wurde noch blasser, als er schon war, und nahm hastig einen leeren Kaffeesack aus festem Leinen aus einem Regal.

„Brot?“, fragte er, und griff bereits danach, um es in den Sack zu stecken. „Trockenfleisch auch, ja?“

Ich zog die Schrotflinte unter der Theke hervor und nickte nur. Die Hände des Stationers zitterten, als er alles in den Sack stopfte, was ich bestellt hatte.

„Schreiben Sie auf, was es kostet“, sagte ich. „Ich bezahle.“

Er warf mir einen ungläubigen Blick zu, tat aber dann, was ich verlangte. Mit einem abgekauten Bleistiftstummel kritzelte er auf dem Rand einer alten Zeitung ein paar Zahlen untereinander. Während er rechnete, bewegten sich lautlos seine blutleeren Lippen.

Mit den Ellenbogen stützte er sich auf den Tresen und schaute mich von der Seite an. „Sechs Dollar und fünfundzwanzig Cents“, sagte er.

Ich nahm den Navy-Colt in die linke Faust, griff mit der Rechten in die Hosentasche und zog das Goldstück wieder heraus. Fast im selben Moment nahm ich Hufschlag und das Poltern und Knarren eines schnell fahrenden Wagens wahr. Binnen Sekunden schwoll das Geräusch an, sodass es nicht mehr zu überhören war.

Ich bewegte mich rückwärts bis zu einem Fenster des Stationsraumes und warf einen Blick hinaus. Da sah ich eine große Concord-Kutsche auf den Hof rollen. Staub wirbelte unter den donnernden Hufen und den rasenden Rädern auf. Auf dem Bock zerrte ein untersetzter, bärtiger Mann an den Zügeln. Die Kutsche wurde langsamer und blieb unmittelbar vor der Tür des Stationsgebäudes stehen. Geschirrketten klirrten, feuchte Lederriemen knarrten. Eine raue Männerstimme hallte über den Hof, und der Kutschenschlag öffnete sich. Dann näherten sich harte Stiefelschritte dem Haus.

2.

Ich lief um die Theke herum auf den Stationer zu. Der Lauf des Revolvers zeigte auf seinen Kopf.

„Das ist die planmäßige Kutsche!“, rief er. Seine Stimme klang hell vor Nervosität. „Sie hat Verspätung, wegen des Regens.“

„Das ist mir egal“, sagte ich. „Ich will keinen Ärger, ich will nur etwas kaufen und dann wieder gehen. Sie werden keinem Menschen etwas davon sagen, dass ich hier bin, klar?“ Ich ging, ohne ihn aus den Augen zu lassen, auf eine Tür hinter der Theke zu. „Was ist dahinter?“

„Ein Lagerraum“, sagte er.

„Gibt es noch mehr Leute hier?“

„Meine Frau, aber die ist oben im Haus.“

„Es liegt an Ihnen, ob es hier eine Schießerei gibt“, sagte ich. „Ich werde hinter der Tür stehen, mit dem Revolver in der Hand.“

„Wenn du nichts zu befürchten hast ...“ Ich merkte, wie der Stationer sicherer wurde.

„Ich habe nichts zu befürchten“, sagte ich. „Aber ich weiß, dass anscheinend jeder glaubt, über mich verfügen zu können, dass jeder versucht, mich auszufragen, und dass jeder mir Ärger macht.“

Etwas in meinen Blicken schien den Stationer zu warnen. Er schwieg und nickte nur. Ich stieß die Tür zum Lagerraum auf und schlüpfte hinein. Einen Fingerbreit ließ ich sie offenstehen und lehnte mich daneben an die Wand.

Fast gleichzeitig schwang die Tür des Aufenthaltsraums in Innere. Von draußen trat der Fahrer der Kutsche herein. Er hatte ein Gesicht wie eine Runkelrübe, sein struppiger roter Bart stand wie ein Unkrautgewächs von seinem Kinn ab. Er trug einen knielangen Regenumhang aus festem Stoff, in dem noch die Feuchtigkeit des Unwetters nistete.

„Das war eine Fahrt“, sagte er lärmend. „Zweimal sind wir stecken geblieben. Dieser gottverfluchte Regen.“

Er warf seinen Umhang auf einen Stuhl. Hinter ihm traten drei Fahrgäste in den Aufenthaltsraum und schlossen die Tür.

Zuerst erschien eine matronenhaft wirkende Frau, die in gewaltige Mengen schwarzen Stoffes gehüllt war und eine Kapuze auf dem Kopf trug. Ihr folgten zwei Männer. Einer davon war untersetzt und hatte einen kantigen Schädel, von dem sein blondes Haar wie eine Bürste abstand. Als er seinen knöchellangen Staubmantel ablegte, blinkte im Licht der Petroleumlaternen ein silbernes, ­wappenförmiges Abzeichen auf seiner schwarzen Lederweste. Der andere Mann war ein halben Kopf größer als der Marshal. Er hatte breite Schultern und schmale Hüften und trug eine hüftkurze Leinenjacke. Sein Gesicht war schmal geschnitten, die Haut war dunkel, fast wie von einem Indianer. Unter einem flachen Hut quoll pechschwarzes Haar hervor. Schwarz war auch der dünne Oberlippenbart, der dem Mann ein etwas verwegenes Aussehen gab. Er war unrasiert und schien lange nicht geschlafen zu haben. Zwischen seinen Handgelenken klirrte eine kurze Kette, verbunden von zwei stählernen Reifen, die sich um die Gelenke des Mannes spannten.

„Kaffee für alle?“, fragte der Stationer in den Raum.

„Einen ganzen Topf“, sagte der Kutscher. „So heiß wie ein Fegefeuer und so schwarz wie die Hölle.“

Im Hintergrund des Raumes führte eine Treppe ins obere Stockwerk des Stationsgebäudes. Von dort kam jetzt eine magere, geierköpfige Frau, die eine bunte Schürze umgebunden hatte.

„Meine Frau wird Ihnen gleich den Kaffee bringen“, sagte der Stationer. Er rief zu der dürren Frau hinüber: „Kaffee für alle, Martha, stark und heiß!“

Ich schloss die Augen für einen Moment und versuchte, das Gefühl der Leere in meinem Magen zu vergessen. Ich hätte auch einen Kaffee brauchen können.

Meine Schwäche dauerte nur ein paar Sekunden. Noch besaß ich Energiereserven, und wer einmal durch die harte Schule der Apachen gegangen ist, den wirft so leicht nichts um.

Der Kutscher erzählte draußen im Aufenthaltsraum, wie die Kutsche zweimal stecken geblieben war und im strömenden Regen angeschoben werden musste.

„Die Straße war das reinste Wasserloch“, sagte er. „Ein Wunder, dass die Achsen das ausgehalten haben. Das Gespann ist völlig fertig.“

Da flog die Tür auf. Sie schlug krachend gegen die Wand des Raumes. Aus der Dunkelheit taumelte der Stallknecht herein, den ich bewusstlos im Stall liegen gelassen hatte. Er blieb auf der Schwelle stehen und lehnte sich stöhnend gegen den rechten Türrahmen. Die linke Hand hatte er auf den Kopf gepresst, in der Rechten hielt er seinen löchrigen Strohhut.

„Wo ist der Junge?“, sagte er mit schwacher Stimme. Er schaute auf den Stationer, der neben der Theke stand.

Die Fahrgäste der Kutsche starrten auf den Stallknecht, der jetzt mit unsicheren Schritten durch den Aufenthaltsraum stolperte, immer wieder stehen blieb und sich auf Stuhllehnen stützte. Als er die linke Hand vom Kopf sinken ließ, sah ich, dass Blut an den Fingern klebte.

„Was ist denn los, zum Teufel?“, rief der Kutscher.

Der Stallknecht antwortete nicht, und auch der Stationer sagte kein Wort.

„Wo ist der Junge, Phil“, wiederholte der Stallknecht. „Dieser verdammte Bengel.“

„Was – was für ein Junge?“, fragte der Stationer.

„Er muss hier gewesen sein“, sagte der Stallknecht. „Er wollte Proviant kaufen. Er hat einen Revolver, Phil.“

„Was ist passiert, Mister?“ Der Marshal richtete sich auf und trat zur Theke. „Wer hat Sie niedergeschlagen? Von was für einem Jungen sprechen Sie?“

„Keine Ahnung.“ Der Stallknecht ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Ein Junge eben, sechzehn oder siebzehn Jahre alt, blond. Ein richtiger Tramp, aber mit dem Revolver konnte er umgehen ...“ Er blickte den ­Stationer wieder an. „War er hier, Phil? Hat er dich bedroht?“

Der Stationer antwortete nicht, und ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals.

„Warum reden Sie nicht?“, fragte der Marshal. Er schaute den Stationer scharf an. „Was ist los? Ist dieser Junge noch hier?“

Ich umkrampfte den Griff meines Navy-Colts und schätzte meine Chancen ab. Sie waren schlecht.

Der Stationer drehte sich halb um. Er schwieg noch immer, schaute jedoch wie zufällig in die Richtung der Tür zum Lagerraum, hinter der ich stand.

Der Marshal hätte ein Trottel sein müssen, hätte er nicht begriffen, was der Stationer meinte. Der Marshal war kein Trottel. Ich aber auch nicht. Ich wusste, dass ich erledigt war und griff mit der Linken nach der Türklinke, um die Tür ganz aufzureißen. Fast geräuschlos zog ich den Hahn des Revolvers zurück.

Der Marshal stieß den Stationer beiseite und umrundete die Theke. Seine rechte, stark behaarte Faust lag auf dem Griff eines mächtigen Dragoon-Revolvers.

In diesem Moment stöhnte der Stallknecht erstickt und kippte vornüber vom Stuhl. Polternd stürzte der zu Boden. Der Marshal wandte sich um und war mit zwei schnellen Schritten neben ihm. Auch der Stationer eilte hinzu, der weibliche Fahrgast erhob sich von seinem Platz.

In diesem Moment setzte ich alles auf eine Karte und riss die Tür des Lagerraums weit auf. Niemand sah mich, als ich hinter die Theke trat und mit dem Revolver auf den Rücken des Marshals zielte.

*

Der Mann in Handschellen sprang plötzlich auf und stand mit einem Schritt hinter dem Marshal. Er beugte sich vor. Seine gefesselten Hände zuckten nach vorn. Seine Rechte umschloss den Griff des Dragoon-­Revolvers. Er riss die Waffe aus der Halfter und schlug zu, als der ­Marshal herumwirbeln wollte.

Der Lauf der Waffe traf ihn seitlich an den Schädel. Er stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden und blieb über dem bewusstlosen Stallknecht liegen.

„Hände hoch! Keine Bewegung!“ Die Stimme des dunkelhäutigen Mannes klang scharf durch den Aufenthaltsraum.

Die Frau des Stationers trat gerade mit einem Tablett, auf dem dickwandige Kaffeetassen und ein dampfender Porzellankrug standen, in den Raum. Sie blieb wie angewurzelt stehen.

Der dunkelhäutige Mann drehte sich um und beschrieb mit dem Lauf des Dragoon-Revolvers einen Halbkreis. Dann entdeckte er mich.

Einen Moment lang starrte er mich überrascht an. Er schien mich abzuschätzen, so wie ich ihn.

„Lass die Waffe fallen, Kleiner“, sagte er.

Die Köpfe der Menschen im Raum flogen herum. Ihre Blicke richteten sich auf mich, und für einen Moment schienen sie den dunkelhäutigen Mann vergessen zu haben.

„Ich denke gar nicht dran“, sagte ich, fasste den Navy fester und bewegte mich langsam auf das Ende des Tresens zu, ohne den anderen aus den Augen zu lassen.

„Lass die Waffe fallen, oder ich schieße!“ Der Dragoon-­Revolver richtete sich auf mich.

Ich nahm sofort den Navy herum und zielte auf den dunkelhäutigen Mann. Ich hatte jetzt das Ende der Theke erreicht und trat in den Raum.

„Ich komme in jedem Fall zum Schuss“, sagte ich. „Ich will nichts weiter, als hier raus, verstehen Sie?“

In diesem Moment schien der Stationer zu glauben, er habe eine Chance, die Situation an sich zu reißen. Er sprang mit einem Satz auf das Fenster seitlich der Theke zu. Dort hatte ich vorhin, als ich die Kutsche hatte auf den Hof rollen sehen, die Schrotflinte hingestellt.

Ich feuerte aus der Hüfte, und die 36er-Kugel traf den Stationer, noch bevor er den zweiten Schritt tun konnte. Sie bohrte sich in seinen linken Oberschenkel. Der Aufprall schleuderte ihn zu Boden. Brüllend wälzte er sich über die Dielen, die Hände auf die große Wunde gepresst, während das Blut in dickem Strahl aus dem Einschuss pulste.

Der weibliche Fahrgast aus der Kutsche stieß einen spitzen Schrei aus und sank auf seinen Stuhl zurück. Die Frau des Stationers ließ das Tablett mit den Tassen und dem gefüllten Krug fallen. Mit lautem Klirren zerschellte das Porzellan am Boden. Der heiße Kaffee spritzte über die Scherben und bildete eine dunkelbraune Pfütze auf dem Boden.

„Lassen Sie mich durch“, sagte ich zu dem dunkelhäutigen Mann, der mich fassungslos anstarrte. „Ich will hier raus, mehr interessiert mich nicht. Von mir aus können Sie machen, was Sie wollen.“

„Sie werden dich jagen“, sagte der Mann. „Genauso wie mich. Wir werden zusammen verschwinden.“

Ich hörte, was er sagte, und ich wusste, dass er recht hatte. Der Stationer würde behaupten, dass ich ihn ­überfallen und versucht hätte, ihn umzubringen.

„Kommen Sie her!“, hörte ich den dunkelhäutigen Mann sagen. Er hatte seine Waffe auf die Frau des Stationers gerichtet. „Schnell, schnell, beeilen Sie sich. Der Marshal hat die Schlüssel für die Armbänder in der rechten Westentasche. Holen Sie sie raus und schließen Sie mir die Handschellen auf.“

Die Frau bewegte sich, als hinge sie an Fäden. Ihr Mann lag wimmernd auf dem Rücken und hatte das verletzte Bein an den Leib gezogen. Der Stallknecht rührte sich wieder, aber das Gewicht des auf ihm ruhenden Marshals verhinderte, dass er sich aufrichten konnte.

Die Frau des Stationers fand die Schlüssel für die Handschellen. Als sie dem dunkelhäutigen Mann die Fesseln abnahm, zitterten ihre Hände.

Ich war noch einmal hinter die Theke zurückgegangen und hatte den Leinensack geholt, in den der Stationer die Lebensmittel gesteckt hatte, die ich kaufen wollte. Ich steckte noch ein paar Schachteln mit Papierpatronen dazu und eine Dose mit Zündhütchen. Dann eilte ich zur Tür. Hinter mir hörte ich den dunkelhäutigen Mann. Er ging rückwärts. Als er mit dem Rücken gegen den Türrahmen stieß, feuerte er auf die an der Wand lehnende Schrotflinte. Die 44er-Kugel zerschmetterte die beiden abgesägten Läufe des Gewehrs. Dann schlug der Mann die Tür zu, drehte sich um und lief hinter mir her quer über den Hof.

Ich lief auf die Wagenstraße zu.

„Wo willst du hin?“, hörte ich ihn hinter mir schreien. „Komm zurück, verdammt, sonst haben sie dich gleich. Auf diese Weise schaffst du es keine zwei Meilen.“

Ich wandte den Kopf. Da sah ich, dass der Mann gerade auf den Bock der Kutsche kletterte und die Zügel ­hochnahm. Ich steckte meinen Navy-Colt ein und lief zurück. Außer Atem stieg ich über das rechte Vorderrad auf die hohe Bockbank. Die Kurbel für die Bremse befand sich direkt neben mir. Ich löste die Bremsblöcke und griff nach der Schrotflinte des Fahrers, die unter mir in einer Halterung am Sitz hing.

Gerade, als der Mann neben mir die Pferde antrieb, wurde die Stationstür aufgerissen. Heller Lichtschein fiel auf den Vorbau. Ich richtete die Schrotflinte auf die Tür und drückte ab. Die Schrotladung prasselte gegen den Türrahmen.

Im Haus ertönte ein Schrei. Dann fiel die Tür wieder zu. Als die Detonation auf dem Hof verhallt war, raste die Kutsche bereits auf die vom Regen aufgeweichte Wagenstraße hinaus, und ich musste mich an der Lehne des Bocks festklammern, um nicht hinuntergeschleudert zu werden.

Der Fahrtwind peitschte uns in die Gesichter. Es war Nacht, die Sonne war untergegangen. Der Himmel war schwarz wie Tinte, und die Sicht war schlecht. Trotzdem lenkte der Mann neben mir die Kutsche in atemberaubendem Tempo auf der Wagenstraße südostwärts.

Der schwere Wagen schwankte wie ein Schiff im Sturm. Er polterte, knarrte und knirschte, als würde er jede Minute auseinanderbrechen. Meinen unbekannten Begleiter schien das nicht zu stören. Er hielt in der Rechten die starken Zügel des Gespanns und schwang mit der Linken die Peitsche über den Rücken der erschöpften Tiere. Staub wirbelte hoch auf.

Ich schluckte den feinen Sand pfundweise, wie mir schien, und klammerte mich noch stärker am Bock fest, während wir durch die Nacht rasten. Wohin? Ich wusste es nicht, und im Grunde war es auch egal. Ich hatte kein Ziel, und ich hatte niemanden, der auf mich wartete, niemanden, der mich vermisste. Ich hatte nur mein Leben, für das ich kämpfen wollte, obwohl ich nicht einmal sicher war, ob sich das wirklich lohnte.

3.

Die Hinterachse brach gegen Mitternacht. Die Gespannpferde waren bereits langsamer geworden. Mit Schaumflocken vor den Nüstern schleppten sie sich voran, angetrieben von den gnadenlosen Peitschenhieben des dunkelhäutigen Drivers.

Das vom Regen tief ausgewaschene Schlagloch tauchte unvermittelt vor uns aus der Dunkelheit auf. Es war zu spät, um auszuweichen. Das rechte Vorderrad rollte daran vorbei, das Hinterrad fuhr krachend hinein.

Die Geschirrriemen schienen auseinanderzureißen. Die Kutsche bäumte sich geradezu auf. Ich hörte ein hässliches, berstendes Knacken hinter mir, dann kippte der Wagen nach rechts, sackte hinten durch und begann zu schleudern und zu schlingern. Mein Nebenmann ließ die Zügel fahren und klammerte sich am Bock fest. Genauso wie ich. Die Gespannpferde schleiften den Wagen vom Weg und eine flache Böschung hoch. Jetzt kippte er wirklich um. Mit dumpfem Laut rissen die Geschirrriemen. Eines der vier Gespannpferde stürzte, richtete sich schrill wiehernd wieder auf, dann verschwand das Gespann in der Nacht.

Ich konnte mich nicht mehr halten, wurde durch die Luft gewirbelt, überschlug mich, prallte hart auf den feuchten Boden und blieb benommen liegen, während die Kutsche noch einmal umschlug, die Böschung hinunterrutschte und mit den wild durchdrehenden Rädern nach oben am Rand der Wagenstraße liegen blieb.

Schwerfällig richtete ich mich auf. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper, glühende Stiche durchzuckten meinen Brustkorb, als ich mich in Bewegung setzte und mit unsicheren Schritten auf die umgestürzte Kutsche zutappte.

Von dem Mann war nichts zu sehen. Als Erstes fand ich den Proviantsack, der mir beim Sturz entfallen war. Er war unversehrt. Ich riss ihn auf, hockte mich ins Gras, schnitt mir ein Stück Trockenfleisch und auch einen Kanten Brot ab und schlang beides mit Heißhunger in mich hinein. Danach ging es mir besser. Ich umrundete die Kutsche und entdeckte den dunkelhäutigen Mann unter dem Bock. Seine hüftkurze Leinenjacke war am linken Arm und an den Schultern zerrissen. Er blutete etwas aus einer breiten Schramme an der Stirn und war ohne Bewusstsein.

Ich kniete mich neben ihn und nestelte die Feld­flasche von meinem Gürtel. Wie durch ein Wunder war sie unbeschädigt geblieben. Ich öffnete sie und setzte sie dem Mann an die Lippen. Anfangs rann ihm das Wasser zu den Mundwinkeln wieder heraus. Dann schluckte er schwer und begann zu husten. Er schlug die Augen auf. Sie waren so schwarz wie Kohlenstücke.

Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, als er mich erkannte.

„Hallo, Freund“, sagte er heiser. Ich nahm die Feldflasche weg und verkorkte sie wieder. Mir war etwas merkwürdig zumute. Am Abend in der Station und während der wilden Flucht hatte ich kaum einen klaren Gedanken fassen können. Jetzt fragte ich mich plötzlich, was für ein Mann das wohl war, mit dem ich mich zusammengetan hatte. Er war mir völlig fremd. Ich wusste weder seinen Namen, noch, warum der Marshal ihn in Handschellen mit sich geführt hatte.

Er richtete den Oberkörper auf und lehnte ihn stöhnend gegen den Wagenkasten der umgestürzten Kutsche.

„Jetzt müssen wir zu Fuß weiter“, sagte er.

Ich stand auf und holte meinen Proviantbeutel. Schweigend hockte ich mich auf den Weg und bot dem Mann Brot und Fleisch an. Er nahm beides und musterte mich aufmerksam.

„Mein Name ist Cavalho“, sagte er auf einmal. „Ich glaube, du zerbrichst dir den Kopf darüber, was ich angestellt habe, wie?“

Ich schwieg und nickte.

„Ich habe einen umgebracht“, sagte er.

Ich blieb unbeeindruckt. Getötet hatte ich auch, mehr als gut für mich war.

„Bist du Mexikaner?“, fragte ich.

„Ich bin Zigeuner“, sagte Cavalho. Er aß das Trockenfleisch und das Maisbrot. „Der Mann, den ich umgebracht habe, hatte meine Schwester entehrt, verstehst du?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Er hat ihr Brandy gegeben und sie dann mit in die Büsche genommen“, sagte Cavalho. Ein scharfer Zug prägte sich in sein dunkles Gesicht. „Ich habe ihn dabei erwischt.“ Er blickte mich voll an. „Er hatte eine Chance, aber ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten. Seine Sippe war hinter mir her. Bei uns gibt es das noch, Junge. Blutrache, verstehst du?“

„Ich habe lange bei den Apachen gelebt“, sagte ich.

„So siehst du auch aus.“ Cavalho schaute mich neugierig an. „Ich hatte mir schon so was gedacht, als ich in der Station sah, wie du mit deiner Kanone umgingst.“

„Ich heiße Ronco“, sagte ich. „Wie hat der Marshal dich gekriegt?“

Er lachte grimmig. „Das war ein sturer Hund, verdammt noch mal. Er wollte ums Verrecken nicht begreifen, dass wir unsere Streitereien allein erledigen und ihn nicht brauchen. Aber er wollte mich unbedingt an den Galgen bringen. Und wer ist hinter dir her, Ronco?“

„Eigentlich keiner“, sagte ich. „Trotzdem lässt mich niemand zufrieden.“

„Daran wirst du dich gewöhnen müssen“, sagte Cavalho. „Je mehr du darauf aus bist, deine Ruhe zu haben, umso weniger wird man sie dir lassen. Wohin willst du?“

„Ganz egal“, sagte ich. „Überallhin. Eigentlich hätte ich auch in der Station bleiben können.“

„Da wäre es dir schlecht ergangen.“ Cavalho grinste. „Die hätten dich dort auseinandergenommen, und wahrscheinlich wärst du im nächsten Jail gelandet.“

Cavalho richtete sich auf. „Gehen wir“, sagte er.

Ich hob den Kopf. „Wohin?“

„Ich denke, das ist egal“, sagte er.

Ich nickte und stand auf. Wir schauten uns noch einmal um und setzten uns dann in Bewegung. Nebeneinander schritten wir auf der Wagenstraße, auf der noch immer riesige Pfützen standen und der morastige Boden nur langsam austrocknete, ostwärts.

Wir gingen Stunde um Stunde, bis der Morgen graute. Die meiste Zeit schwiegen wir. Manchmal erzählte Cavalho ein wenig von seinem Leben und von den Zigeunern, und manchmal sprach ich von den Apachen. Aber ich sprach nur wenig, denn mir war die Vergangenheit noch zu nah. Jede Erinnerung an die Zeit, als ich mit den Indianern geritten und glücklich gewesen war, als ich bei ihnen ein Zuhause und meinen festen Platz an den Stammes­feuern gehabt hatte, schmerzte mich.