Seelenkampf - Holger Niederhausen - E-Book

Seelenkampf E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Als der sechzehnjährige Tizian sich auf den ersten Blick in ein Mädchen verliebt, führt ihn seine Sehnsucht in eine zwielichtige Situation, in der er einen schlimmen Vertrag unterschreibt. Er gerät mit dem Mädchen in eine andere Welt und hat nun sieben Tage Zeit, ihre Seele zu retten. Aber die Gegenmächte ruhen nicht - und sie wissen, wo sie angreifen müssen ...

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

und stürzen sie ins Knien vor Tod und Leben,

so ist der Welt ein neues Maß gegeben

mit diesem rechten Winkel ihres Knie's.

(Rainer Maria Rilke)

Es waren immer die Anderen. Die die besten Noten bekamen. Die coolsten Sachen machten. Am besten aussahen. Überhaupt gut aussahen. Und – die schönsten Mädchen bekamen...

Alles in dieser Reihenfolge. Das Unwichtigste zuerst. Noten – ja, konnte man schon neidisch werden, aber was soll’s. Ein Streber wollte er auch nicht sein. Mühelos mal eine Eins in Chemie – so was wär doch aber mal was. Statt immer nur auf knapp Vier herumzukrepeln, weil man das Säure-Basen-Gleichgewicht und all den übrigen Quatsch einfach nicht begriff. Wenn schon alles andere eh so war, wie es war, dann wenigstens mühelosen Erfolg in der Schule. Nicht nur in Chemie, auch in Mathe, in Geschichte, in Englisch. Auch mal mühelos alles verstehen, alles können – statt immer nur Frust und Mühe. Warum waren es immer die Anderen?

Aber okay, das war ja eigentlich das Unwichtigste. Nur musste es trotzdem geklärt sein. Es war zwar unwichtig, aber nicht unwichtig. Gäbe es einen Zauberer mit Wunschzettel, stünde das auch drauf. ,Danke für alles Übrige, aber eine Eins in Chemie hätte ich auch gern noch...’ So ungefähr. In diesem Sinne.

Aber nun weiter nach oben auf dem Wunschzettel...

Coole Sachen machen. Das war schon wesentlich wichtiger. Wesentlich. Hätte er die Wahl zwischen Thomas, der immer Einsen in Chemie schrieb, und Rasse – Rasmus –, der, genau wie er, in Chemie auf knapp Vier stand – er bräuchte nicht zu überlegen. So wie der bleichgesichtige Thomas mit seiner Brille wollte er nie werden. Aber selbst wenn er nicht schon so typisch aussehen würde, roch man Streber so oder so fünf Meilen gegen den Wind. Na ja, ohnehin ging es ja überhaupt nicht darum, wer man nicht sein wollte – sondern wer man sein wollte. Rasse – ja, der machte immer coole Sachen. Flog mit seinem Skateboard durch die Stadt. Hatte immer das neuste Handy, weil er auf irgendwelchen Kanälen an coole DJ-Jobs herankam, und so weiter. Die Liste ließe sich beliebig verlängern – wenn man wüsste, was er so alles trieb. Es war nur klar, dass er jede Menge trieb. Um mehr zu wissen, müsste man dazugehören. Das war aber nun gerade der Punkt. Der Punkt, der schon ziemlich weit oben auf dem Wunschzettel stand. Er gehörte nicht dazu. Zu Rasse und seiner Clique. ,Dazugehören’. So würde dieser Punkt heißen. Auch so coole Sachen machen und dadurch dazugehören. ,Hey Rasse, was lief bei dir gestern?’ – ,So-und-so, Mann, und bei dir?’

Es fühlte sich fast wie Gänsehaut an, sich so was auch nur vorzustellen. Rasse sprach einen an. Und man durfte ihn ansprechen – überhaupt ansprechen. Das traute er sich im Traum nicht. Er hätte immer nur einen mitleidigen Blick bekommen – wenn es gut lief. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was alles möglich war, wenn es nicht gut lief. In jedem Fall war klar, wer Rasse ansprechen durfte und wer nicht. Die Grenzen waren klar gesteckt. Wer nicht dazugehörte, brauchte es gar nicht erst zu versuchen.

Aber es ging nicht darum, zu Rasses Clique zu gehören, das musste er gar nicht. Es ging nur ums Prinzip. Und im Grunde sogar um mehr. Seine eigene Clique haben und dann Rasse fragen: ,Hey, und bei dir, alles klar?’ Auf Augenhöhe. Weil man genauso cool war.

Er strich also in Gedanken den Punkt ,dazugehören’ durch und schrieb darüber: ,genauso cool sein’. Einen Moment später schloss sogar sein Gedanken-Ich die Augen und schüttelte verständnislos den Kopf. Wie größenwahnsinnig konnte man denn noch sein? Aber gut, der Punkt stand da, und wenn irgendwann einmal ein Zauberer vorbeikäme...

Dann der nächste Punkt. Gut aussehen. Es ging ja gar nicht darum, am besten auszusehen – sondern einfach nur gut. War das denn schon zu viel verlangt? Die meisten anderen sahen doch eh besser aus als man selbst. Konnte man denn nicht wenigstens ins Mittelfeld vorrücken? So etwa auf Platz zwölf, elf, wenn man die Bundesliga als Vergleich nahm?

Aber, na ja, wenn nun wirklich mal ein Zauberer käme... Er strich in Gedanken den Punkt wieder durch und notierte darüber: ,am besten aussehen’. – Sein Gedanken-Ich blieb ruhig. Der Punkt war einfach zu wichtig. Man musste manchmal größenwahnsinnig sein. Dabei war er noch nicht mal bei Punkt eins gelandet. Aber das war gerade das Problem. Punkt zwei hatte mit Punkt eins einfach alles zu tun...

Also gut, dann Punkt eins. Sein Gedanken-Ich begann zu schwitzen, gewissermaßen. Am liebsten hätte er jetzt Geheimtinte genommen. Die, die man nicht sieht. Es sollte niemand sehen, was er jetzt schrieb, nicht mal in Gedanken. Nur der Zauberer durfte es lesen. Sonst niemand. Er schrieb also in Gedanken mit Zaubertinte auf Platz eins, ganz oben auf den vorgestellten Wunschzettel: Mädchen.

Es war klar, was das bedeutete. Der Zauberer würde nicht nachfragen müssen. Zauberer wissen einfach Bescheid. Außerdem gab es bei dem Thema doch nichts zu überlegen. Es war klar, was man meinte.

Nein, man musste wirklich nicht hinschreiben ,die schönsten Mädchen’. Das war zwar gemeint, aber es musste nicht dastehen. Es ging auch gar nicht darum, sich jetzt Mädchen wie im Katalog auszusuchen. ,Also hier haben wir diese zwölf, das sind unsere schönsten. Sie können sich eine aussuchen...’ Obwohl er sich so etwas auch schon vorgestellt hatte. Dass er ein König wäre, ein mächtiger Prinz oder so etwas, und dass dann aus allen Teilen des Reiches die schönsten Mädchen herbeigeschafft wurden, die allerschönsten, und dass sie dann alle vor ihm stehen würden – gefesselt, oder, na ja, ohne Fesseln, aber von selbst gehorsam, ängstlich, auf sein Urteil wartend... Und ja, dann würde er alle Mädchen anschauen, und er würde sich kaum entscheiden können, weil sie alle so schön waren. Aber letztlich bliebe eine übrig, die am allerschönsten war. Und die Entscheidung wäre ganz klar. Er würde es ganz und gar wissen. Sie und keine andere... Und sie, diese eine, würde ihn dann lieben müssen. Aber es wäre kein Zwang. Sie würde es auf einmal von selbst tun. Er war ja der Prinz. Es war eine Auszeichnung, eine Ehre – und sie würde ihn lieben, mit all der Liebe, die sie haben würde. Und sie würde dasjenige Mädchen sein, dass überhaupt am allermeisten Liebe haben würde... Und dann würde sie ganz konkret – –

„Tizian, wie lautet die erste Ableitung der Gleichung?“

Er schreckte aus seinen Gedanken auf.

„Was? Wie bitte?“

Die Klasse brüllte.

Hinter ihm zischte Paul genüsslich zu ihm hinüber:

„Titte denkt an Titten...“

„Halt’s Maul!“, zischte er zur Seite gewandt nach hinten.

„Also?“, beharrte Descartes, der eigentlich Herr Strobel hieß, „ich höre?“

„Ich weiß es nicht.“

Descartes schüttelte seinen Kopf.

„Tizian, Tizian... Ich sehe Sie gerade in Richtung Fünf rutschen, und das wenige Wochen vor der Zeugnisphase...“

„Ja, Herr Strobel.“

„Nicht ,Ja, Herr Strobel’ – etwas anderes wäre mir viel lieber.

Etwa: ,Ja, Herr Strobel, es kommt nicht wieder vor, Herr Strobel, ich werde jetzt lernen.“

Wieder brüllte die Klasse.

„Lernen, was ist das?“, imitierte jemand.

Es war Kimme, aber das war jetzt auch egal. Er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. Noch drei Minuten bis zur Pause, ein Glück.

„Ja, Herr Strobel, ich werde jetzt lernen“, wiederholte er.

Es sollte ironisch sein – die Intonation stimmte. Dennoch brüllte die ganze Klasse erneut, jedoch nicht über seinen gelungenen Witz, sondern noch einmal über ihn...

„Danke, Tizian“, sagte Descartes. „Der Papagei reicht jedoch nicht, um die Geheimnisse der Differentialrechnung zu ergründen.“

Wieder brüllte die Klasse. War es das vierte oder das fünfte Mal? Wen interessierte das... Selbst der Moment war ihm im Grunde völlig egal. Das Schlimmste war, dass Descartes ihn aus der entscheidenden Szene gerissen hatte...

*

Als Paul ihn fünf Minuten später, nach dem letzten Klingeln des heutigen Tages, auf dem Schulhof überholte, fragte er noch einmal:

„Und, wie waren die Titten vorhin...?“

„Halt’s Maul“, wiederholte auch er nur.

Drei, vier andere Jungen gingen ebenfalls lachend an ihm vorbei. Ob sie wegen ihm lachten, wusste er nicht mal – es hörte sich einfach nur alles so an.

Als er schließlich allein die Straße entlangging, kickte er wütend eine zertretene Dose nach vorn. Sie bekam jedoch einen Drive und traf den Kotflügel eines Autos. Fluchend sah er sich schnell um. Hinter ihm ging nur eine Frau – aber die hatte es natürlich gesehen. Noch einmal fluchend ging er einfach weiter, versuchte, aus dem Augenwinkel zu erkennen, ob das Auto einen Kratzer hatte, und beschleunigte seinen Schritt nochmals. Vielleicht hatte es einen...

Zuhause warf er sich aufs Bett.

Was für ein Scheißleben... Fluchend dachte er wieder, nein, noch immer, an das Ende der letzten Stunde. Wieso musste dieser idiotische Lehrer immer den richtigen Riecher haben, dass man träumte? War Mathe so wichtig? Und wenn er eh wusste, dass man sich ,der Fünf näherte’ – wen interessierte das? Mochte er ihm dann eben eine Fünf verpassen. Konnte er ihn im Gegenzug dann nicht wenigstens in Ruhe lassen? Aber nein...

Und dann diese Scheißrolle, in die er in der Klasse geraten war. Er verfluchte die Rolle, er verfluchte die Klasse, er verfluchte seine Eltern. Wie konnte man seinen Sohn nur ,Tizian’ nennen! Und alles nur, weil sein Vater Kunstgeschichte an der Uni lehrte und zusätzlich vor sechzehneinhalb Jahren plusminus sechs bis neun Monaten die umnachtete Idee hatte, dass dieser Name wieder ,im Kommen’ sei. In seiner grenzenlosen Naivität hatte sein Vater dies ihm gegenüber bei einem der vielen anklagenden Gespräche einmal einfach so zugegeben. ,Im Kommen’ sei er gewesen!

Wäre sein Vater in einem anderen Moment nicht ,am Kommen’ gewesen, würde es ihn gar nicht geben. Das wäre wahrscheinlich das Beste gewesen. Mit so einem Namen zu leben, war einfach nur die reinste Strafe. Dann lieber tot sein – oder gar nicht geboren.

Tizian! Und nicht genug damit. Tizian wurde natürlich zu Titte. Ein paar Monate hatte er das sogar cool gefunden. In mehrfacher Hinsicht. Ein cooler Name – und weg von Tizian. Endlich. Die Klasse hatte den richtigen Riecher gehabt, dass es bei manchen Namen einfach Abwandlungen brauchte, Spitznamen, eine Rettung vor der Idiotie der Eltern.

Aber dann geriet auch dieser Name auf eine schlimme Bahn. Alles begann damit, dass er einmal mit Frank, Karsten und Kimme durch die Stadt geschlendert war. Er hatte sich irgendwie dazumischen können. Sie hatten einen guten Tag gehabt und ihn mitkommen lassen. Er hatte sich gut gefühlt, dazugehörig. Bis dann der Moment mit dem Plakat kam.

Sie waren an einer Riesenwerbung für Triumph-Unterwäsche vorbeigekommen. Dessous nannte man das. Auf dem Plakat lag eine Frau in weinroter Unterwäsche. Er war der Einzige, der sich immer nicht traute, solche Plakate anzusehen – offen. Die anderen glotzten offen hin und machten ihre Witze. Er schaute nicht hin, nur heimlich – aber das merkte man natürlich gerade. Er fand die Frau schön. Aber gerade in dem Moment, als er sie heimlich anschauen wollte, kriegte Karsten das mit, grinste über beide Ohren und fragte mit leise übertriebener Deutlichkeit: ,Na, Titte, trauste dich nicht?’

Daraufhin hatten dann alle drei nur noch darüber ihre Witze gemacht. Und dann hatte die ganze Geschichte ihren Weg auch in die Schule gefunden. Es hatte einige Wochen gedauert, und er hatte die Wege nie nachkonstruieren können, aber fortan galt er als derjenige, der heimlich alles Mögliche anschaute, Plakate, Zeitschriften, Filme... Er hatte noch nie solche Filme geschaut, und er konnte wetten, dass ein Drittel der Jungs in der Klasse solche Filme schaute. Aber an ihm blieb so was dann hängen. Er hatte den Versuch gemacht, sich dagegen zu wehren. Aber wie lautete die Regel? Wer es abstreitet, gibt es zu... Er hatte diese Regeln nicht gemacht. Er musste nur am eigenen Leib erleben, dass es sie gab. Ziemlich schnell hatte er es aufgegeben, sich zu wehren. Er hatte gehofft, dass sich die Sache selbst ebenso schnell legen würde. Aber das hatte sie nicht getan. Fortan war er also ,Titte, der an Titten dachte’...

Er hatte mit seiner ganzen Klasse abgeschlossen – eigentlich mit der ganzen Schule. Noch zwei Monate und dann noch zwei Jahre. Am liebsten würde er überhaupt kein Abitur machen. Aber bevor er später einen Scheißjob bekam, würde er sich doch durchringen. Wenn er es überhaupt schaffen würde, das Scheiß-Abi. Er wusste, dass er sich dafür hinsetzen müssen würde und mehr lernen. Er hatte sich selbst eine Frist bis zum Herbst gesetzt. Zum Glück war es erst April.

Wieder verfluchte er die Schule, seine Klasse. Es dachten doch alle mehr an Frauen und Mädchen als er. Es verlief doch kein Gespräch, ohne dass sie irgendwann das Thema waren. Und, ja, auch er griff sich beim Zahnarzt heimlich das Bravo-Heft, wenn es da lag, und blätterte es durch, um zu sehen, ob irgendwo ein schönes Mädchen abgebildet war. Aber er machte keine Witze darüber – und er kaufte sich keine Hefte mit nackten Frauen, schaute keine Filme. Nur manchmal suchte er im Internet Bilder von schönen Frauen. Weil sie schön waren – und nicht nackt.

Die meisten Jungs hatten natürlich auch bereits eine Freundin – und umgekehrt. Davon konnte er nur träumen. Aber da es an seiner Schule sowieso aussichtslos war – und generell auch –, träumte er lieber überhaupt. Die Mädchen, die vor ihm gestanden hatten, davon konnte selbst Rasse nur träumen. Aber da war er auch ein Prinz gewesen, ein mächtiger Prinz. Hier war er ein Niemand. Und hier, im wirklichen Leben, hatte Rasse Livia bekommen, ein Mädchen, dem man schon hinterhersehen konnte. Livia als Freundin – das war etwas...

Sein Gedanken-Ich schüttelte wieder den Kopf. Er hätte keine Chance, sie auch nur einen Tag zufriedenzustellen. Er würde jämmerlich versagen. Nicht im Bett oder so etwas. So konkret dachte er gar nicht. Nein, überhaupt. ,Willst du ein Eis, Livia?’ Ein mitleidiger Blick. ,Von dir doch nicht, du Lappen.’ Das war’s dann...

Im Reich der Träume war es umgekehrt. Da blickten die Mädchen ängstlich auf einen und warteten, wie das Urteil des mächtigen Prinzen ausfallen würde. Oder sie blickten voller Vertrauen, voller Liebe – sie wollten erwählt werden... Und wenn sie liebten, dann liebten sie voller Hingabe, treu und sanft...

Livia war attraktiv. Aber sie war genauso launisch und gefährlich wie Rasse. Darum waren sie sich auch ebenbürtig. Und manchmal sah man sie auf dem Schulhof auch streiten. Er würde mit einem Mädchen niemals streiten. Und das Mädchen, von dem er träumte, würde auch mit ihm niemals streiten. Es würde ihn lieben. Und doch gab es nur zwei Wege, ein solches Mädchen zu finden. Entweder war man ein mächtiger Prinz, dem alle gehorchten – oder man war cool und gut aussehend. Im Grund blieb ihm nur das Träumen...

*

Er freute sich auf das Wochenende. Da fuhren sie zu einem Handballturnier. In solchen Momenten konnte man alles andere vergessen. Es gab nur noch das Spiel. Beim Training war es auch so. Sein Verein war super. Nicht von der Leistung her, aber von der Stimmung. Hier zog keiner über den anderen her. Man verstand sich gut. Hier hieß er auch nicht ,Titte’, sondern ,Tiez’. Das Handballtraining war der Ausgleich für alles. Er trainierte dreimal pro Woche.

Nach ihnen trainierte immer eine Mädchenmannschaft. Drei der Mädchen, die dann immer in die Halle kamen, wenn sie sie verließen, waren bildhübsch. Auch deshalb liebte er die Trainingsstunden – deshalb noch mehr. Immer dieser Moment am Ende. Man ging – und die Mädchen kamen. Und immer auch diese drei...

Er wusste, dass er auch bei ihnen keine Chance hätte. Er wusste nicht einmal, ob sie nicht schon längst alle einen Freund hatten. Natürlich hatten sie das. Aber es reichte ihm, sie zu sehen. Dreimal pro Woche. Das waren seine Wochenhöhepunkte. Drei schöne Mädchen, die nur im Abstand von wenigen Metern an ihm vorbeigingen. Wenn er sie am Eingang erwischte, berührte man sich manchmal sogar fast...

Er dachte an eines der Mädchen. Sie war noch hübscher als die anderen beiden – für ihn jedenfalls. Er stellte sich vor, wie sie ihm einmal beim Handball zuschauen und ihn bejubeln würde...

Schließlich dachte er an das Turnier. Er kannte die anderen Mannschaften nicht. Es war irgendein Freundschaftsturnier. Sie hatten Chancen auf eine gute Platzierung. Und er hatte durchaus auch sportlichen Ehrgeiz. Drei Trainings pro Woche waren auch nicht umsonst. Aber wenn man dadurch doch auch nur ein wenig schöner werden könnte... Dann würde er auch sieben Tage pro Woche trainieren...

Das Wochenende war dann viel zu schnell zu Ende gegangen. Sie hatten nicht besonders gut abgeschnitten. Ein Spiel hatten sie durch einen Fehler von ihm knapp verloren. Die Stimmung war entsprechend gewesen. Aber die Mannschaft war nicht nachtragend. Jeder machte mal Fehler. Nur packte man jetzt in nicht besonders gehobener Stimmung wieder seine Sachen.

Sie hatten in einem Massenlager geschlafen, einer Turnhalle, zusammen mit anderen Mannschaften. Es war ein Turnier verschiedener Ballsportarten gewesen. Volleyball und Basketball gehörten auch dazu. Von diesen Spielen hatte er nichts mitbekommen. Das ganze Turnier hatte über die Stadt verteilt an verschiedenen Orten stattgefunden, auch die Sie-gerehrungen waren je nach Sportart getrennt geblieben. Dennoch war es regional ein ziemliches Ereignis gewesen. Es fühlte sich trotz allem gut an, dazuzugehören. Die Stimmung an den Abenden in der Fußgängerzone war gut gewesen. Man erkannte die anderen Teilnehmer oft an ihren Trainingsanzügen. Er mochte diese Atmosphäre. Man kannte sich nicht – und kannte sich irgendwo doch.

Aber nun ging es also wieder nach Hause. Auf dem Weg zum Bahnhof dachte er in sinkender Laune wieder an den morgigen Wochenanfang. Erneut Schule. Das Leben war eine Katastrophe. Die Ausnahmen durchsetzten es stundenweise. In der Straßenbahn musterte er seine Vereinskameraden. Geschätzt achtzig Prozent von ihnen sahen ebenfalls besser aus als er. Er hatte zwar mal gehört, dass man sich selbst oft hässlicher fand, als es die Umgebung tat, und doch war er sicher, dieses Verhältnis von achtzig Prozent – mindestens achtzig – in seinem Fall ganz objektiv beurteilen zu können. Es war definitiv so. In Sachen Aussehen gehörte er nicht einmal zum Mittelfeld...

Solange man nicht daran dachte, war es gar nicht so schlimm. Solange man nur an den Sport dachte, konnte man sich sogar ziemlich cool fühlen. Wer fuhr schon übers Wochenende zu einem überregionalen Turnier? Wer spielte schon Handball – und trainierte drei Tage pro Woche? Das hatte schon was. In manchen Momenten fühlte er sich damit ziemlich erwachsen... Aber diese Momente müssten einfach häufiger und länger sein, sie müssten sich auch über das Wochenende hinaus erstrecken...

Am Bahnhof hatten sie noch zwanzig Minuten Zeit. Auch andere Mannschaften, die nach Hause reisten, bevölkerten bereits die umliegende Grünfläche. Sie lagerten ihr Gepäck um eine Bank herum und setzten sich ins Gras.

Er suchte sich ein schönes Fleckchen und genoss die Atmosphäre – die Geräusche der Gespräche, die Morgensonne, die milde Temperatur, das ganze vergangene Wochenende.

Er hatte es sich im Schneidersitz bequem gemacht – und fühlte sich vollkommen dazugehörig, aufgenommen in dieser Gemeinschaft, die aus unterschiedlichsten Orten für dieses Wochenende hierhergekommen war. Er sog einmal tief die frische Morgenluft ein. Man roch das Grün, den Morgen, in gewisser Weise sogar den Sonntag. Einige hatten sich in einer nahen Bäckerei Croissants gekauft...

Als er sich ein wenig umschaute, blieb sein Blick an dem Mädchen hängen, das eine Reifenschaukel besetzt hatte.

Es gab nur diese eine Schaukel, und auf ihr saß ein Mädchen, das etwa so alt sein mochte wie er. Sie hatte einen blaugrauen Trainingsanzug an, das Oberteil war unten blau und oben dunkelgrau. Auf ihrem Rücken mochte der Schriftzug ihres Vereins stehen. Aber das alles war in diesem Moment nicht wichtig, nur ihr Anblick war es. Sein Blick blieb nicht nur an dem Mädchen hängen – je länger er hängen blieb, desto mehr versank er...

Er vergewisserte sich kurz, dass er selbst nicht beobachtet wurde. Nein, er saß im Moment allein und ungestört auf seinem Fleck. Dennoch starrte er das Mädchen nicht an. Er beobachtete sie so heimlich wie möglich. Aber in dieser Heimlichkeit versank er in ihrem Anblick.

Er verstand selbst nicht, was es war – aber er dachte auch keine Sekunde darüber nach. Er schaute einfach, schaute sie an. Sie... Noch nie hatte er ein so schönes Mädchen gesehen. Dabei war es gar nicht herausragend schön. Aber wie sie da saß... Sie war sicher so groß wie er, hatte nur schulterlanges dunkelbraunes Haar, und sie bewegte die Schaukel nur fast unmerklich, ihre Füße am Boden, ihre Hände an der Kette. Sie wirkte traurig, ein wenig, oder einfach nachdenklich. Noch nie hatte er ein solches Mädchen gesehen. Bei ihrem Anblick schien es ihm, als hätte er überhaupt noch nie ein Mädchen gesehen. Sie war das erste wirkliche Mädchen, das er sah. Noch bevor er es wusste, hatte er sich in sie verliebt. Sie war es. Sie war diejenige, die er sich immer gewünscht hatte.

Als er merkte, wie sehr sein Herz pochte, schaute er sich erschrocken wieder um. Nein, noch immer hatte niemand bemerkt, wie innig er dieses Mädchen betrachtete. Er schaute kurz in verschiedene Richtungen, so als würde er sich für alles Mögliche interessieren – dann gab es für seine Augen wiederum nur dieses Mädchen. Sie war weit genug weg, damit man nicht unmittelbar sah, wen er anschaute. Er hätte jederzeit etwas anderes behaupten können. Aber er wollte es gar nicht. Wenn man ihn gefragt hätte – er hätte es auch ohne Weiteres zugegeben. Er wollte dieses Geschöpf überhaupt nicht verraten oder verleugnen.

Mädchen, wie heißt Du...? Zu gerne hätte er ihren Namen gewusst. Wie wunderschön sie war! Wie sie da saß, die Hände an der Kette, wie sie schaukelte, fast unmerklich.

Auf einmal wurde sie gerufen. Er verstand den Namen nichts. Sie wandte kurz den Kopf zu ihrer Kameradin, erwiderte lachend etwas, und war dann wieder für sich.

Voller Gefühle verfolgte er dies alles. Überglücklich war er, dass sie nicht aufstand und wegging. Und ebenso überglücklich war er, dass alles blieb, wie es war. Manchmal hatte er es schon erlebt, dass er sich in den Anblick eines Mädchens verliebt hatte, und dann hatte sie eine Bewegung gemacht, und aller Zauber war verflogen – man wusste, dass es doch nicht die Richtige war. Aber sie ... sie hatte eben gelacht und war noch immer wunderschön gewesen, und nun schaute sie wieder so gedankenverloren vor sich hin – und war noch viel schöner...

Noch nie war er so verliebt gewesen – und würde es auch nie wieder bei jemand anderem sein. Sie war es. Er wusste es.

Worüber sie wohl nachdachte? Er stellte sich vor, sie würden sich kennen, und er würde mit ihr dort sitzen können, und sie würde sich ihm anvertrauen, nur ihm. Ihr ganzes Herz würde sie ihm offenbaren, voller Vertrauen... Oh, wie gerne wäre er ihr Freund, der, dem sie vertraute. Wie gern würde er sie trösten, wann immer sie traurig wäre. Oder bei ihr sein, wenn sie einsam wäre. Vielleicht war sie dies gerade jetzt. An was dachte sie? Sie sah noch immer so leise traurig aus, ganz leise, ein wenig einsam – und so schön...

Überall um sie herum schwirrten die Gespräche, gab es ausgelassenes Lachen, Dutzende Andere, ganze Mannschaften belebten die Grünfläche, aber sie saß da, allein, als wenn nur sie dasitzen würde. Und auch für ihn gab es niemanden sonst. Alles andere drang wie von ferne an sein Ohr, aber da war dieses eine Mädchen, sie war allein, und er war allein. Warum war sie so allein? Es machte sie so unendlich schön...

Jetzt blickte sie in seine Richtung. Er sah sofort woanders hin. Eine heiße Woge durchfloss seinen Körper. Dann schielte er vorsichtig in ihre Richtung. Wieder schaute sie wie nachsinnend vor sich hin, sich nur ganz leise hin und her wiegend. Und ihre Arme ... wie sie sich an der Kette festhielt. Die Art, wie sie dasaß, hielt auch ihn fest... Wie konnte er sie nur kennenlernen? Wie machte man so etwas? Wie machte man so etwas bei so einem Mädchen? Er wusste es nicht. Und er wagte es nicht. Und doch kreisten seine Gedanken wie verrückt um diesen einen Punkt.

*

Er brauchte einige Momente, um zu realisieren, dass sein Trainer das Zeichen zum Aufbruch gegeben hatte. Eine Art Panik bemächtigte sich seiner. Er bemerkte, dass auch die anderen Mannschaften sich allmählich auf den Weg machten, das kleine Stück über den Bahnhofsvorplatz zu den Gleisen zu gehen.

Wie ein Ertrinkender musste er mit ansehen, dass auch das Mädchen die Entwicklung bemerkte, sich umschaute und schließlich von dem Reifen aufstand und zu ihren Freundinnen ging. Sie nahm eine große Sporttasche und schloss sich den anderen an. In seiner Panik sprang er auf und versuchte gleichzeitig, das Mädchen nicht aus dem Auge zu verlieren und eine Nachzüglerin anzusprechen. Er fragte sie nach ihrem Verein, da der Aufdruck auf dem Rücken der Trikots nicht eindeutig war. Das Mädchen nannte ihm den vollen Namen des Vereins. Sie spielten Basketball – und fuhren ebenso wie er zurück in die Großstadt. Das bedeutete, auch sie lebte dort! Es war für ihn wie ein Wunder.

Schnell fragte er dasselbe Mädchen noch beiläufig:

„Und wann trainiert ihr immer?“

„Dienstag und Donnerstag. Wieso?“

„Ach, nur so...“

Am liebsten hätte er sie auch noch nach dem Namen des Mädchens gefragt, in das er sich so heftig verliebt hatte, aber das konnte er nicht tun.

Er lief zu seiner eigenen Sporttasche und versuchte, von seiner Gruppe aus, die jetzt losging, das Mädchen im Auge zu behalten. Es gelang ihm aber nicht. Ihre Gruppe war schneller. Sie ging bereits auf den Bahnhof, als sie den Vorplatz noch nicht einmal überquert hatten. Seine Hoffnung war, sie auf dem Bahnhof gleich wiederzusehen. Doch das geschah nicht. Es war dort so ein Gedränge, dass man niemanden wiederfinden konnte. Nicht einmal ein einziges Trikot ihres Vereins sah er. Die von ihrem Verein reservierten Plätze mussten in einem ganz anderen Teil des Zuges liegen.

Nach wenigen Minuten fuhr der ICE dann auch ein. Sie bestiegen ihren Waggon und fanden ihre Plätze, die in einem Großraumabteil lagen. Er setzte sich auf einen Platz am Gang, und sein Herz pochte noch immer wie wild. Irgendwo in diesem Zug saß auch das Mädchen, und sie würde jetzt wie er mehrere Stunden nach Hause fahren...

*

Noch bevor jeder einen Platz gefunden hatte, setzten die Gespräche ein. Auch er wurde von Kalle, der sich neben ihn an den Fensterplatz gesetzt hatte, sofort in ein Gespräch verwickelt. Er konnte dem gar nicht folgen, versuchte es nicht einmal – und nach kurzer Zeit verlegte Kalle seine Gespräche auf andere Kameraden. Rund um ihn sprach es – und er wusste nicht, was er tun sollte. Er fühlte sich wie in eine Kugel eingeschlossen, losgelöst aus Zeit und Raum...

Wenn er an sie dachte – oder vielmehr an die Möglichkeit, sie irgendwie anzusprechen –, pochte sein Herz bis zum Hals. Und dennoch kehrten seine Gedanken immer an diesen Punkt zurück. Er musste sie ansprechen. In Gedanken ging das auch. Da wuchs er über sich hinaus. Er stellte sich vor, dass er sie auf dem Gang abfing, vielleicht wenn sie zur Toilette ging. Er malte sich bis ins Einzelne die Worte aus, die sie dann wechseln würden.

,Ähm, Entschuldigung... Ich habe dich vorhin auf der Schaukel gesehen. Ich konnte dich nicht mehr vergessen...’

Sie würde dann einen staunenden Ausdruck in ihren Augen bekommen und berührt ein Gespräch mit ihm beginnen. Tief würden sie einander vom ersten Moment an verstehen – und unzertrennlich auf dem Gang stehen und sich alles erzählen, alles...

Aber das Schlimme war immer, sich den ersten Moment vorzustellen. Den Moment, wo man noch nicht wusste, wie sie reagieren würde. Den Moment, wo die Angst übergroß wurde, weil man nun sprechen musste. Immer dann klopfte sein Herz noch stärker, als wenn sie im Training Dauerläufe machten. Er konnte so was nicht. Er hatte das noch nie gemacht. Nicht bei einem solchen Mädchen.

Und doch gab ihm die Sehnsucht in der Vorstellung immer wieder übermenschliche Kräfte. Immer wieder überwand er in der Vorstellung seine Angst und sprach sie an – auf dem Gang, wo sie einander unsicher begegneten, wo auch sie für einen winzigen Moment offen war, unsicher, vielleicht auch wiederum einsam. Ein Moment, wo er eine Chance hatte – eine Chance, ihr Herz zu erreichen.

Er stellte sich vor, wie er stundenlang wartete, dass sie aufstand und auf den Gang kam, wo er unauffällig wartete. Aber vielleicht saß sie auch in einem Abteil? Und wenn sie nie herauskam? Aber Mädchen mussten normalerweise öfter auf Toilette als Jungen. Aber er konnte doch nicht stundenlang warten... Und wenn sie zu zweit auf Toilette gingen...? Seine Gedanken wurden immer verzweifelter. Vor allem, weil er auch die erfolgreichen Vorstellungen immer wieder durchging, aber sich nicht traute, wirklich aufzustehen.

Schließlich stand er doch auf. Und schon jetzt klopfte sein Herz wie wild.

Schräg hinter ihm saß ihr Trainer.

„Ich geh mal ein bisschen im Zug rumgucken...“, murmelte er.

Der Trainer nickte.

„Wohin gehst du?“, fragte Lutz, der vier Reihen dahinter saß.

„Nur so ’n bisschen rum...“

Er fühlte sich einerseits jetzt schon hundeelend. Im Grunde hatte er sie doch gerade bereits verleugnet. Konnte er nicht mal zugeben, dass er sich in ein Mädchen verliebt hatte und sie jetzt suchte, im ganzen Zug? Wieso war so etwas für alle Anderen scheinbar so leicht? Wieso machten sie sich nie etwas aus nichts? Die meisten jedenfalls – geschätzt achtzig Prozent wieder mal. Wieso immer die Anderen? Und wieso hatte er es damit so schwer? Am liebsten wäre er zurückgegangen und hätte sich korrigiert: ,Nein, sorry, ich meinte, ich suche jetzt ein Mädchen. Mein Traummädchen.’ Aber das wagte er absolut nicht. Er wäre gern mutiger gewesen. Aber so mutig war er nicht. Sonst würde er auch das Mädchen ohne Schwierigkeiten kennenlernen können. Aber die Schwierigkeiten waren riesig...

Mit klopfendem Herzen ging er durch den Zug. Mit jedem Großraumabteil, das er betrat, beschleunigten sich die Schläge bis ins Unerträgliche. Und immer wieder war er fast dankbar, wenn er die Farben ihres Vereins noch immer nicht erblickte... An manchen Abteilen, an denen er vorbeikam, waren die Vorhänge zugezogen. Was, wenn sie nun in einem dieser Abteile saß... Er versuchte, durch die Lücken zu schauen, die es manchmal an den Seiten gab. Aber er sah sie nicht.

Inzwischen durchquerte er längst Wagen vier. Es war kaum wahrscheinlich, dass sie in der anderen Richtung saß.

Und tatsächlich, als er den nächsten Wagen betrat, sah er die Trikots ihres Vereins. Er blieb wie angewurzelt stehen. Das Pochen seines Herzens wurde unerträglich. Was sollte er jetzt machen? Er besann sich auf die verschiedenen Szenarien von vorhin. Es gab auch welche, in denen er sie direkt an ihrem Sitz ansprach – todesmutig, egal, was alle anderen um sie herum dachten oder mithörten. In seinen Vorstellungen hatte sie sich dennoch immer erhoben und war mit ihm gegangen... Aber diese Vorstellungen hatten hier keine Gültigkeit mehr – sie zerfielen wie nichts, denn sein Mut zerfiel ... und auch sein Vertrauen, dass sie so reagieren würde. Er wusste, dass das nicht geschehen würde. Kein Mädchen reagierte so. Nicht einmal sie...

Und dennoch musste er wissen, wo sie saß. Nur dann konnte er weiter überlegen. Er musste es wissen.

Er nahm all seinen Mut zusammen und betrat das Großraumabteil. So beiläufig wie möglich ging er durch das Abteil und fühlte sich wie in feindlichem Gebiet. Er sah, wie ihn verschiedene Mädchen anschauten – und fühlte sich fortwährend durchschaut. Sein Verstand sagte ihm, dass das gar nicht sein könne, sein Herz sagte ihm, dass jedes einzelne Mädchen ganz genau wusste, was er hier tat.

Und dann sah er sie tatsächlich. Innerhalb eines Sekundenbruchteils ging er einfach weiter. Sie saß am Fenster und hatte gerade mit einer Kameradin gesprochen. Sie hatte in seine Richtung geschaut, ihn aber nicht weiter bemerkt. Als er durch das ganze Abteil gegangen war, blieb er stehen, um seine Gedanken zu sammeln – soweit man bei hektisch hin und her fliegenden Gedankenfetzen von ,sammeln’ sprechen konnte. Was konnte er nur tun? Nichts. Rein gar nichts.

Sie hatte gerade mit einem anderen Mädchen gesprochen. Vielleicht ihre Freundin. Sie war gar nicht so einsam. Vielleicht hatte er sich einfach getäuscht. In jedem Fall konnte er sie nicht ansprechen. Sie würde nichts von ihm wissen wollen. Sie würde nicht mit ihm mitkommen. Und vor allem wusste er nicht, wie er sie dazu bringen konnte. Es war aussichtslos. Er war verzweifelt. Aber er konnte nichts tun. Das Einzige, was er tun konnte, war, an einem Dienstag oder Donnerstag zu ihrem Training zu kommen – wenn er den Ort herausgefunden hatte. Und dann auf sie zu warten...

Wieder klopfte sein Herz bis zum Hals, als er noch einmal durch den Waggon ging. Jetzt durchschaute ihn garantiert jeder. Kaum wagte er es, noch einmal in ihre Richtung zu schauen, zumal man erst im letzten Moment wissen konnte, welche Reihe es tatsächlich gewesen war. Nur aus den Augenwinkeln meinte er, sie noch einmal gesehen zu haben. Sie unterhielt sich gerade nicht mehr. Vielleicht schaute sie jetzt aus dem Fenster. Nicht einmal das wusste er zu sagen...

Es war furchtbar, als er wieder bei seinem Platz ankam. Es war eine vernichtende Niederlage. Schlimmer hätte man bei dem ganzen Turnier gar nicht abschneiden können – selbst wenn sie letzter geworden wären. Die Niederlage war so vollständig, dass er sich auch in seiner eigenen Mannschaft jetzt von jedem durchschaut fühlte. Er bestand nur noch aus Scham, Niederlage und Verzweiflung. Und irgendwo im Zug – und nun wusste er auch genau, wo – saß ein wunderschönes Mädchen, in dem er sich keineswegs getäuscht hatte. Er liebte sie noch immer unendlich. Vielleicht wollte sie von ihm nichts wissen – aber er wollte nichts sehnlicher, als sie kennenzulernen, sie zumindest einmal treffen zu dürfen.

Die ganze übrige Rückfahrt war die Hölle. Er schämte sich vor sich selbst. Er verging in Sehnsucht nach ihr. Er wollte mit niemandem reden. Er stellte sich Situationen vor, in denen er doch wiederum mutig zu ihr ging – und in denen sie doch wiederum innig seine Bitte erwiderte. Und er versank in Scham, wenn er seinen Mut in der Wirklichkeit befragte...

*

Als sie am späteren Nachmittag endlich in ihrer Heimat einfuhren, ging es ihm hundeelend. Nun würde er sie gehen lassen müssen. Er hatte zwar diese innige Hoffnung, sie schon übermorgen zu suchen, aber was zählte das gegenüber dem fehlenden Mut, sie jetzt, wo sie da war, einfach anzusprechen? Er hoffte so sehr, sie zumindest auf dem Bahnsteig noch einmal kurz an sich vorbeigehen zu sehen – aber selbst das blieb ihm versagt. Sie war fort... Einsilbig und voller Trauer verabschiedete er sich von seinen Kameraden. Und mit tiefster Sehnsucht im Herzen fuhr er das letzte Stück mit dem Bus nach Hause...

Er hatte herausbekommen, wo sie trainierten. Es war ganz woanders als sein eigenes Training. Er fuhr am Dienstag mit dem Fahrrad hin. Man brauchte eine halbe Stunde. Aber das war nichts gegen eine Begegnung mit ihr. Er wartete am Ausgang des Sportgeländes, bis die Trainingszeit ihrer Altersgruppe zu Ende sein würde. Die verbleibende halbe Stunde stellte er sich fortwährend vor, was er sagen würde. Auch wenn sie mit einer Freundin zusammen herauskam – er würde den Mut fassen, ihr zu sagen, dass er sie am Sonntag auf der Schaukel gesehen hatte und sie seitdem nicht mehr vergessen konnte...

Immer wieder quälte ihn sein Gedanken-Ich dann mit der Vorstellung, dass sie erwidern könnte: ,Aber ich habe dich nicht gesehen’ – und einfach weitergehen. Er wusste nicht, was er dann tun sollte. Dann hätte er sich in ihr doch einfach getäuscht. Aber sie könnte so antworten. Viele Mädchen würden so antworten. Aber wenn sie so wäre, wie er es sich vorstellte, nein, wie er es gesehen hatte, dann würde sie das nicht einfach sagen können. Dann wäre sie ganz, ganz anders... Und doch – was wäre, wenn sie seine stille Bitte nicht erwidern würde? Er hatte nur eine einzige Chance. Was würde sie erwidern?

Schließlich war die Trainingszeit, die man ihm am Telefon genannt hatte, zu Ende. Und tatsächlich kamen etwa zehn Minuten später die ersten Mädchen und nach und nach andere Mädchen heraus, gingen an ihm vorbei – die meisten, ohne ihn anzusehen –, und schließlich kam keine mehr. Sie war nicht dabei gewesen. War es die richtige Gruppe gewesen? Es musste die richtige gewesen sein.

Sogar noch als eine Frau hinausging, die ganz sicher die Trainerin war, wartete er noch weitere zehn Minuten. Wenn sie jetzt kommen würde ... dann würde er wirklich eine Chance haben. Dann war sie tatsächlich irgendwie einsam und allein. Aber er hatte die Hoffnung im Grunde schon aufgegeben. Und tatsächlich kam sie nicht mehr.

Wo war sie? War sie krank geworden? Konnte sie heute nicht? Er kannte nicht einmal ihren Namen... Wenn er Donnerstag wieder herkommen würde, würde schon so viel Zeit vergangen sein. Was sollte er nur machen? Und würde er Donnerstag mehr Mut haben? Doch eher noch weniger! Weil er auf ihre Antwort immer weniger würde vertrauen können. Er tat es ja jetzt schon nur in der Vorstellung...

In tiefstem Leid fuhr er wieder nach Hause. Er hatte sich unsterblich in ein Mädchen verliebt – und kein einziges Wort mit ihr sprechen dürfen. Und nun entfernte sie sich bereits wieder aus seinem Leben, wurde die Chance, ihr zu begegnen und sie kennenlernen zu dürfen, kleiner und kleiner. Klein wie eine Feder...

*

Er hob eine solche kaum daumengroße Feder auf, als er sich am Donnerstag wieder auf den Weg zu ihr machte. Sie hatte neben seinem Fahrrad gelegen. Andächtig strich er über sie hinweg. Dann steckte er sie vorsichtig in seine Hosentasche.

Auf dem Trainingsgelände angekommen, wollte er ihre Halle aufsuchen, um sie irgendwie beim Training zu sehen. Aber er verirrte sich in dem Gebäude. Irgendwann sah er von ferne einige Mädchen in ihrem Trainingsanzug einen Gang entlanggehen, aber als er ihnen nachlaufen wollte, hielt ihn ein Mann fest. Er erschrak heftig.

„Ich weiß, wen du suchst.“

„Was? Was meinen Sie? Ich suche niemanden!“

Die Angst selbst hatte ihm die Antwort eingeflößt.

„Natürlich suchst du jemanden.“

Der Mann grinste. Er hatte eine abgetragene Hausmeisterkleidung an, aber das konnte auch Tarnung sein. Man spürte, dass sich dahinter etwas verbarg. Plötzlich tat der Mann sehr freundlich.

„Ich weiß, wen du suchst...“, wiederholte er noch einmal.

„Du hast sie auch vorgestern schon gesucht. Genauer gesagt, vergeblich auf sie gewartet...“

„Woher wissen Sie das?“, fragte er betroffen.

„Ich weiß alles – alles, was ich wissen will. Aber lassen wir das. Du willst sie doch kennenlernen, oder – deine Schöne...“

„Ja...“

„Dann verschaffe ich dir diese Möglichkeit...“

„Wie wollen Sie das machen?“

„Das lass mal schön meine Sorge sein.“

„Sie würden mir helfen?“

„Das sagte ich doch gerade.“

„Und was muss ich machen?“

„Nichts weiter.“

„Aber wie...“

„Ich verschaffe dir diese Möglichkeit. Du musst nur einverstanden sein.“

„Wie meinen Sie das?“

„Einfach nur einverstanden. Soll ich dir helfen oder nicht?“

„Ja.“

„Gut.“

Der Mann ging wenige Schritte bis zum nächsten Raum auf dem einsamen Flur, und es war klar, dass er ihm folgen sollte. Es war einer dieser uralten Hausmeisterräume, in denen alte Eisenschränke standen, Gerätschaften an der Wand hingen und herumlagen. Sie schienen immer schon ewig und drei Tage in Gebrauch gewesen zu sein.

Der Mann zog aus einer Schublade eines alten Holztisches, dessen graue Farbe überall abplatzte, einen Zettel. Diesen legte er auf den Tisch, daneben einen Bleistift.

„Unterschreib das.“

Er war verwirrt. Was sollte das jetzt?

„Was ist das?“

„Das ist nicht so wichtig. Unterschreib es einfach.“

Er fühlte, dass hier etwas nicht stimmte. Er konnte auch die Schrift auf dem Zettel nicht lesen. Es war eine Schrift, die er überhaupt nicht kannte.

„Was ist das?“, wiederholte er noch einmal.

„Ich habe gesagt, das ist nicht wichtig!“, zischte der Mann.

„Willst du deiner Schönen nun begegnen oder nicht? Die Zeit läuft dir davon...“

„Warum?“, fragte er voller Schrecken.

„Das kann ich dir nicht sagen. Nur, dass es so ist...“

Er bekam Panik. Würde ihr etwas passieren? Würde sich das Zeitfenster schließen, in dem er einzig und allein die Möglichkeit hatte, ihr zu begegnen? Sein Herz raste.

„Ist es etwas Schlimmes?“

Er meinte den Inhalt des Zettels.

„Quatsch.“

„Warum ist es dann so wichtig?“

Der Mann wurde ungehalten.

„Ich kann es auch wieder weglegen.“

Er nahm den Zettel und machte Anstalten, ihn zurück in die Schublade zu legen.

„Halt!“, rief er verzweifelt. „Geben Sie her – ich unterschreibe.“

Der Mann grinste.

„Geht doch...“

Er trat einen Schritt zur Seite.

Zögernd näherte er sich dem Tisch, studierte noch einmal den Zettel, um irgendetwas zu erkennen – aber er verstand kein einziges der Zeichen.

Seine Sehnsucht nach dem Mädchen ließ ihn nach dem alten Bleistift greifen. Noch einmal zögerte er kurz – dann unterschrieb er den Zettel.

„Gut!“, grinste der Mann mit einer unangenehmen Zufriedenheit. Dann nahm er den Zettel an sich.

„Und wie kann ich sie nun kennenlernen?“, fragte er angstvoll, aus einer leisen Ahnung, dass der Mann ihn betrogen haben könnte.

„Das wirst du schon sehen...“

„Heißt das, Sie helfen mir gar nicht?“

„Doch“, grinste der Mann. „Ich helfe dir sehr wohl. Frag nicht so viel, warte einfach ab. Es dauert nicht mehr lange.“

„Und wie lange?“

„Du wirst sie noch heute wiedersehen...“

„Wie heißt sie?“

Die Sehnsucht trieb ihn zu dieser Frage. Er wollte ihren Namen gar nicht aus dem Mund des Mannes hören – und doch hatte ihm die Sehnsucht diese Frage eingegeben.

Der Mann beugte sich nahe zu ihm, so dass er dessen üblen Mundgeruch ertragen musste.

„Miriam heißt sie...“

Er fühlte ihren Namen schon durch das bloße Aussprechen des Mannes unerträglich beschmutzt. Ihr Name war so schön – aber er hatte ihn mit Gift erkauft...

Unschlüssig stand er einen Moment da, als der Mann bereits zischte:

„So, und nun verschwinde!“

Er fühlte sich völlig verraten und ausgeliefert. Nichts würde der Mann tun...

„Hast du gehört!?“, herrschte dieser ihn an.

Er musste dieser Stimme gehorchen. Ein winziges inneres Aufbäumen beantwortete der Mann mit einem letzten scharfen Satz:

„Du wirst sie heute noch wiedersehen. Jetzt verschwinde endlich!“

Die letzten Worte waren verächtlich gesprochen.

Wie ein geprügelter Hund verließ er den Raum und bog hilflos wieder auf den Flur ein, während das Gefühl des Verrats ihn immer mehr völlig zu ertränken schien. Auf halber Höhe blickte er sich noch einmal um. Er sah den Mann nicht mehr.

Die Tür des Raumes schien noch immer offenzustehen. Er hörte aber nur noch seine eigenen Schritte. Das Gefühl des Unheimlichen entfaltete sich nun erst in seiner vollen Stärke – jetzt, nachdem dies alles vorbei war...

Angst stieg in ihm auf. Er schien in diesem Gebäude auf einmal völlig allein zu sein – allein mit diesem Mann, der vielleicht immer noch in diesem uralten Raum war. Sein stinkender Atem lag ihm noch immer in der Nase, verbunden mit dem Namen dieses Mädchens, nach dem er eine solche Sehnsucht hatte. Hatte er sie? Oder war dies alles jetzt ein schlimmer Traum, aus dem er am liebsten einfach nur erwacht wäre? Aber der Klang ihres Namens hatte diesen ganz besonderen Zauber. Ja, er wollte sie finden. Er wollte ihr begegnen. Er hatte Sehnsucht nach ihr...

Doch nun hatte er vor allem eins: Angst. Die Stille nahm immer mehr zu. Das Hallen seiner Schritte auch. Er blickte sich um – niemand war zu sehen. Er war längst um eine Ecke gebogen. Mit heftigem Herzklopfen realisierte er, dass er den Weg vergessen hatte. Das Gebäude kam ihm auf einmal wie ein riesiges Labyrinth vor. Er begann zu laufen. Er kam an Turnhallen vorbei, deren Türen geschlossen waren, aber man sah durch kleine Oberlichter, dass es Hallen waren. Alles totenstill. Er beschleunigte seine Schritte, auch sein Herz raste nun. Neue Flure, neue Hallen. Verschlossene Türen, nackte Gänge. Das Gebäude schien kein Ende zu nehmen. Immer wieder bog er um Ecken – und immer wieder kein Ausgang, nur neue Flure.

Seine Angst wuchs stetig, längst glich sie einer Panik. Und er hatte fortwährend das Gefühl, hinter der nächsten Ecke von neuem dem Mann zu begegnen – und ihm dann völlig ausgeliefert zu sein.

Und dann bog er in einen toten Gang ein. Am Ende war nur eine große Doppeltür, wie sie zu den Hallen führte. Ganz sicher war sie verschlossen. Oder er würde in eine Halle kommen – und dann dort gefangen sein.

Er lief auf die Tür zu und zog daran – sie war verschlossen.

Nun hörte er Schritte hinter sich. In blinder Panik rüttelte er mit aller Kraft an der Tür. Irgendwie schaffte er es, sie zu öffnen – und stand tatsächlich in einer riesigen alten Sporthalle. Spinnweben hingen von den Decken, die Körbe waren halb zerbrochen, ein muffiger Geruch hing in der Luft. Hastig schloss er die Tür und sein gehetzter Blick suchte nach einem Versteck.

Er rannte auf den Geräteraum zu – und konnte die Schiebetür nach oben bewegen. Es gelang ihm, sie von innen wieder zu schließen, während er hörte, wie die Tür der Halle erneut geöffnet wurde.

In panischer Angst versuchte er, im völligen Dunkel vorwärtszukommen und sich irgendwo zu verbergen. Er stieß sich an Mattenwagen, an Holmen von Barren und an anderen Geräten, die ihm ihre Hindernisse in die Brust, an die Schienenbeine und vor den Kopf stießen. In blinder Hast krabbelte er weiter, möglichst weit nach hinten, irgendwohin...