Sonnenmädchen - Holger Niederhausen - E-Book

Sonnenmädchen E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Als der 17-jährige Valentin in der Zeitung ein engelhaft schönes Mädchen sieht, das sich im Winter nur in einem weißen Kleid auf den Berliner Alexanderplatz stellt, um die Welt zu verändern, verliebt er sich auf den ersten Blick. Bei dem Versuch, ihr zu begegnen, gerät er in eine Entwicklung der Ereignisse, die er sich nicht einmal hätte träumen lassen. Denn dieses Mädchen will wirklich die Herzen aller Menschen erreichen, um sie zu befreien, und lässt sich durch nichts davon abbringen... Ein Roman von der sanften Wucht eines Engelflügels... Mit ungeheurer Dichte und Intensität führt dieser Roman jugendliche und erwachsene Leser mitten hinein in das verlorene Geheimnis unserer Zeit. Wer dem Sonnenmädchen begegnet, wird nicht derselbe Mensch bleiben...

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen…

Der Mann steht, wo die Erde endet,die Frau, wo der Himmel beginnt.(Victor Hugo)

„Also dann, ein schönes Wochenende…“

Die Worte von Herrn Streicher gingen wie üblich im Lärm unter. Der Mathematiklehrer hatte das Schicksal, die letzte Unterrichtsstunde der ganzen Woche zu geben. Deshalb war alles, was er nach dem Klingeln sagte, bereits der Nichtbeachtung preisgegeben. Die letzte Schulklingel bedeutete nun einmal den Beginn des Wochenendes. Kein Lehrer hatte dann mehr etwas zu sagen – oder man hörte es nicht mehr, selbst wenn es gute Wünsche waren.

Alles strömte nach draußen. Er sah, dass Alex bereits durch die Tür verschwand. Kein Wunder, er saß in der ersten Reihe. Kurz danach Cordula, die Unerreichbare. Er selbst war noch damit beschäftigt, das Mathebuch und den Test, den sie zurückbekommen hatten, in seinem Rucksack zu verstauen. Als er dies geschafft hatte, ging er schnell seinem Freund hinterher.

Auf dem Flur hörte er die Gesprächsfetzen der Mitschüler, die ebenfalls zu zweit oder in kleinen Grüppchen dem Ausgang zuströmten. Überall wurden Fragen nach dem Wochenende gestellt oder Verabredungen getroffen, Roland schimpfte wie üblich über den Test.

Er joggte gekonnt kurvenschlagend an den Übrigen vorbei und holte seinen Freund noch im Foyer ein.

„Na, was hast du?“, begrüßte ihn dieser.

„Ich? Ne Drei minus.“

„Integralrechnung ist nicht so dein Ding, oder?“, grinste Alex.

„Nee, überhaupt nicht! Vor allem verstehe ich nicht, wie man sofort nach den Weihnachtsferien einen Test schreiben kann! Der kann doch überhaupt nicht mehr ins Halbjahreszeugnis einfließen.“ „Weißt du doch nicht“, erwiderte Alex.

„Ich hoffe nicht!“

„Dann wird die Note eben mit ins zweite Halbjahr rübergezogen. Du kannst deinem Schicksal nicht entgehen, Valentin!“, erläuterte sein Freund genüsslich.

„Das geht nicht, das ist unzulässig!“, protestierte er.

„Eins von beidem…“, grinste Alex.

„Ich dachte, du bist mein Freund!“

„Bin ich ja auch. Man muss den Schwierigkeiten nun mal ins Auge sehen, dann kommt man schon zurecht.“

„Sagte der, der nie schlechter als Zwei minus ist.“

„Ich hatte bei Streicher auch schon mal ne Drei.“

„Ach, wirklich? Da musst du wohl mal wochenlang überhaupt nicht gelernt haben.“

„Stimmt, war auch so.“

Sie verließen das Schulgelände und bogen wie die meisten Übrigen nach links, Richtung Haltestelle.

„Echt? Das sollte ein Witz sein.“

„Nein, war wirklich so.“

„Wieso das denn?“

„Ich habe damals zur Ukraine-Krise recherchiert.“

„Und deshalb nicht gelernt!?“

„Mensch, Valentin, es gibt Dinge, die sind wichtiger als Schule!“

„Sagte der, der überall auf Zwei steht.“

„Ich mein’ es ernst. Wir könnten irgendwann auch hier Krieg haben! Die Ukraine gehört zu Europa, mein Freund!“

„Ja, und? Was kann ich dafür, dass die sich da die Köpfe einschlagen?“

„Die?“, erwiderte Alex entgeistert. „Es geht darum, ob die Amis und die Russen friedlich miteinander bleiben. Und dann geht es nebenbei noch um ein paar zigtausende Islamisten, die jederzeit in Paris, London oder auch hier eine Bombe hochgehen lassen können oder wieder mal Amok laufen können. Ich weiß nicht, ob du Schule dann immer noch wichtiger findest!“

„Ja, meine Güte – in so einem Fall könnte es wirklich auch mal schulfrei geben!“

„Warum interessiert dich das alles nicht?“

„Tut es ja. Im Prinzip. Aber es ist trotzdem weit weg – für mich. Und machen kann man eh nichts. Wir jedenfalls nicht. Und außerdem –“

Er hatte gesehen, wie nun auch sie bei der Bushaltestelle ankam – sie, die Unerreichbare.

„Außerdem“, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort, „sind andere Sachen noch viel wichtiger – wichtiger als Schule und wichtiger als die Ukraine.“

Alex folgte seinem Blick und erwiderte ebenso gedämpft:

„Sag mal, wie lange geht das jetzt schon? Kannst du nicht mal aufhören? Du lebst doch in einer Traumwelt – sie beachtet dich doch überhaupt nicht und wird es auch nie.“

Er sah noch immer in ihre Richtung. Jetzt sah man ihr Gesicht nicht mehr, weil eine dicke Kapuze mit imitiertem Fellrand ihren Kopf vor der Kälte schützte.

„Das macht ja nichts, aber ich beachte sie. Das ist viel besser als nichts. Wenn sie mich nicht beachtet, ist sie ja nicht weniger schön.“

„Krass“, kommentierte Alex trocken.

„Was.“

„Dass du sie schon zwei Jahre lang anhimmelst, ohne was dafür zu tun oder überhaupt auch Chancen zu haben.“

„Und du?“

„Ich was?“

„Himmelst du niemanden an?“

„Nee, warum?“

„Fehlt dir dann nichts?“

„Keine Ahnung, irgendwann werde ich schon mal jemanden kennenlernen.“

„Ich meine, ob dir was fehlt – jetzt und hier.“

„Wenn ich niemanden anhimmle?“

„Ja.“

„Nein.“

„Dir fehlt nichts?“

„Nein.“

„Du hast keine Sehnsucht?“

„Nach was?“

„Nach einem Mädchen.“

„Nee, nicht besonders.“

„Ein bisschen?“

„Vielleicht, ja.“

„Wie, ‚vielleicht’ – ja oder nein?“

„Ja, hab ich doch gesagt. Aber jetzt nicht extrem. Und jemanden aussichtslos anhimmeln würde ich echt nicht.“

„Vielleicht hast du so jemanden nur noch nicht getroffen.“

„Wieso? Es gibt doch genügend Mädchen. Ich war ja in Cordula auch mal kurze Zeit verliebt.“

„Ja, aber warum war es dann so schnell wieder zu Ende?“

„Weil ich eben auch keine Chance hatte.“

„Und dann hört man so einfach auf?“

„Dann hört es auf.“

„Was ‚es’?“

„Das Verliebtsein.“

„Das hört einfach auf?“

„Ja.“

„Dann ist es keins.“

„Wie bitte?“

„Dann ist es keins.“

„Wieso das nicht?“

„Weil es nicht einfach aufhört.“

„Bei dir vielleicht nicht.“

„Ja, eben.“

„Aber du bist doch jetzt nicht der Maßstab.“

„Nein, aber wirkliches Verliebtsein hört nun mal nicht ‚einfach so auf’!“

„Valentin, du bist wirklich nicht der Maßstab. Wenn etwas aussichtslos ist, hat es keinen Sinn. Man kann weiterträumen, oder man kann es lassen. Ich hab’s einfach gelassen.“

„Ich versteh’s aber nicht. Verliebtsein ist doch nichts, was man einfach so lassen kann!“

„Doch, wenn es Blödsinn ist…“

„Es ist nie Blödsinn.“

„Doch, Träumerei ist Blödsinn, für mich jedenfalls.“

„Ja, für dich.“

„Da kommt der Bus.“

Er drehte sich um. Dann sah er Alex wieder an.

„Was machst du dieses Wochenende noch?“

„Bisschen die Weltlage beobachten“, grinste sein Freund.

„Okay“, sagte er resignierend. „Viel Spaß dabei.“

„Interessier dich auch mal mehr für die wirklich wichtigen Dinge!“

„Das müssen wir nochmal ausdiskutieren, Alex – was wirklich wichtig ist…“

„Gerne. Also bis Montag!“

„Ja.“

Er sah zu, wie sein Freund in den Bus stieg. Dann sah er sie einsteigen. Noch immer nur von hinten, aber einzelne Lockenspitzen ragten aus der Kapuze hervor…

*

Nachdenklich schlenderte er nach Hause.

Wie oft hatte er sich von Alex schon sagen lassen, was für ein Unsinn das war, dieses endlose Verliebtsein. Gab es das überhaupt, zwei Jahre lang verliebt sein? Konnte man es dann überhaupt noch so nennen? Aber wie sollte Verliebtsein je etwas anderes werden, wenn das Mädchen einen abwehrte? Man konnte doch nur verliebt bleiben – etwas anderes ging ja gar nicht.

Für Alex war die Sache klar: Dann musste eben auch das Verliebtsein aufhören. Aber konnte man so etwas einfach so aufhören lassen? Bei Alex klang es fast wie ein Entschluss.

Natürlich, man konnte sich entschließen, in ein Mädchen nicht mehr verliebt zu sein. Vielleicht klappte das sogar. Aber warum? Er wollte das gar nicht. Er wollte ja verliebt sein – er wollte ja überhaupt nicht, dass es aufhörte. Wie konnte man das wollen?

Natürlich, es war heftig gewesen, wie sie ihn damals abgewiesen hatte, vor zwei Jahren, auf der Klassenreise. Sie waren in der zehnten Klasse eine Woche an die Nordsee gefahren. Auf der Abschlussdisco hatte er allen Mut zusammengenommen und sie gefragt, ob sie zu einem sehr langsamen Song mit ihm tanzen würde… und sie hatte nein gesagt. Einfach so.

Es war furchtbar gewesen. Er wusste noch genau, wie er zurück zu dem Platz gegangen war, wo er gestanden hatte, am Fenster, er hatte vorher nur bei ein paar Liedern getanzt, und dann hatte er den ganzen Abend nicht mehr getanzt. Er wusste noch, wie er an Robin Hood hatte denken müssen – sie hatten es wenige Wochen vorher in Englisch gelesen – und wie er sich vorstellte, zu sterben, mit einer tödlichen Wunde. Er lag in Marians Armen und starb in ihnen. Und Marian war zugleich Cordula, die ihn getötet hatte, aber nun sein Sterben bedauerte und über ihm weinte…

Vielleicht hatte Alex doch Recht. Er träumte einfach nur. Die echte Cordula hatte danach noch mehr einen Bogen um ihn gemacht und ihn im übrigen weiterhin nicht beachtet. Trotzdem hatte er nie aufgehört, in sie verliebt zu sein.

Sicher, es gab auch noch andere schöne Mädchen in der Klasse, sogar nettere, aber für ihn war keine so schön wie sie – und auch alle anderen hatten inzwischen einen Freund, entweder aus der gleichen Klasse oder aus einer der Nachbarklassen. Es gab also gar keine Alternative zu der, hoffnungslos verliebt zu sein – außer, überhaupt nicht verliebt zu sein. Diese Alternative bevorzugte offenbar Alex. Für ihn war das keine Alternative. Es war nur die Sinnlosigkeit schlechthin.

Als er zuhause ankam und die Wohnung aufschloss, begrüßte er seine Mutter mit dem üblichen kurzen ‚Hi, Mam’ und ging in sein Zimmer.

Dort setzte er sich auf sein Bett, nahm die feste Unterlage, die neben dem Nachttisch lehnte, legte sie vor sich hin und hob dann vorsichtig das Schachbrett von seinem Schreibtisch, um es vor sich auf die Unterlage zu setzen und sich in die Stellung zu vertiefen…

Seit seinem zwölften Lebensjahr hatte er begonnen, sich für das Schachspiel zu interessieren, und auch damit hatte er nie wieder aufgehört. Dies konnte man wahrscheinlich nicht als Verliebtheit bezeichnen, vielleicht war dies einfach ein ‚Hobby’, aber Alex nannte auch dies eine ‚Besessenheit’ – wahrscheinlich, weil er dem Schachspiel nichts abgewinnen konnte. Er hatte oft genug versucht, ihn dafür zu begeistern. Jetzt stand vor ihm zum Beispiel eine der berühmten Partien von Kasparow, die er nachspielte. Aber sooft er Alex auch versuchte, die ganze Spannung zu vermitteln, die in jedem einzelnen Zug steckte – sein Freund begriff es einfach nicht. Also sprach er von Besessenheit, während es eine Begeisterung war, die er nicht verstand. Genauso wenig wie seine Liebe zu Cordula, der Unerreichbaren.

Er fragte sich, ob er für sie sein Schachspiel aufgeben würde. Er schaute aus dem Fenster und erinnerte sich an den Moment an der Bushaltestelle. Wie sie da stand, unsichtbar ihr Gesicht für ihn, aber da waren die Spitzen ihrer Haare, die aus der Kapuze hervorschauten, lockig, lockend… Ach, wenn er sich vorstellte, dass sich dieser Kopf zu ihm umdrehen würde, ihm zulächeln würde, dass das Lächeln dieser Augen, die ihn dann anschauen würden, wirklich ihn meinen würde…

Es gab gar keinen Zweifel, dass er dann das Schachspiel aufgeben würde, wenn sie es wollen würde – oder wenn es einen Zauber gäbe, dass sie ihn so anschauen würde, wenn er es täte. Er würde alles aufgeben, wenn dies möglich werden würde.

Seufzend wandte er sich wieder dem Brett zu. Auch hier auf dem Brett hatten die Damen, die Königinnen, für ihn immer einen besonderen Zauber gehabt. Nicht immer – aber seit er dreizehn, vierzehn gewesen war, immer mehr…

Aber er selbst war für Cordula nur wie einer dieser Bauern. Es gab Bauern auf dem Spielfeld, die eigentlich die ganze Partie lang keinen wesentlichen Zug machten, die auch überhaupt nicht beachtet wurden. Genauso gut könnten sie eigentlich fehlen – es würde keine Rolle spielen. Nicht einmal auffallen würde es. Er seufzte. Er war für Cordula vielleicht sogar noch weniger als ein solcher Bauer.

Der nächste Zug von Kasparow war zufällig einer mit einem Bauern. Erstaunt stellte er im Laufe der nächsten halben Stunde fest, dass dieser Zug sogar sehr wichtig war. Die Dame blieb an ihrem Platz, aber dieser Zug gab dem Spiel eine bedeutsame Wende.

Die Partie wurde der Inhalt seines Wochenendes…

Am Montag galt die erste Pause wie gewöhnlich dem Austausch über das Wochenende. Seine eigenen Schachpartien interessierten Alex nicht, er dagegen hörte gern, was Alex so alles trieb. Seltsamerweise war es für ihn kein Problem, ihm stundenlang zuzuhören, welche Recherchen er zum Beispiel betrieben hatte, auch wenn er das selbst nie tun würde. Zumindest lernte er auf dem Umweg über Alex ständig etwas über die Welt – und das war ja nicht ganz sinnlos.

„Na, wie war dein Wochenende?“, fragte er, wie üblich.

„Syrien.“

„Syrien?“

„Ja.“

„Aha.“

Alex grinste.

„Geht’s auch etwas genauer?“

„Du weißt doch, wie es in Syrien aussieht. Ich hab mich einfach weiter in die ganzen Hintergründe vertieft. In die wirklichen Geschehnisse und in die Propaganda, auf allen Seiten.“

„Aha.“

Er wusste in Wirklichkeit nicht, wie es in Syrien aussah. Er wusste, dass es dort irgendeinen Krieg gab, aber mehr eigentlich nicht. Alex hatte es ihm vor ein paar Wochen einmal erklärt – aber er hatte nahezu alles wieder vergessen. Die Syrer kämpften gegeneinander, gegen ihren Präsidenten – wie hieß er noch gleich? –, und die IS hatte auch ihre Finger im Spiel. Und alle nahmen an den Kämpfen dort teil, auch deutsche Flieger. Mehr wusste er nicht. Warum, weshalb, wieso – es war ihm einfach zu kompliziert. Alex tauchte ständig ein in die ‚Hintergründe’, ihm war das alles zu anstrengend… Alex konnte sie ihm erklären – und er konnte sie ein paar Tage später doch wieder vergessen und durcheinander gebracht haben.

„Aber weißt du, was gestern in den Morgennachrichten kam?“, fragte Alex nun.

„Nein, was?“

„Auf dem Alex1 hat am Wochenende eine junge Frau für eine bessere Welt demonstriert.“

„Aha.“

„Einfach so.“

„Ja, und?“

„In einem weißen Kleid.“

„Ja – und?“

„Nur in einem weißen Kleid.“

„Nur? Nichts anderes?“

„Ja – ein weißes Kleid… und sogar barfuß.“

„Bei dieser Kälte?“

„Genau.“

„Und warum macht man so was?“

„Keine Ahnung. Am Samstagnachmittag wurde sie mit Unterkühlung ins Krankenhaus eingeliefert.“

„Ist doch verrückt.“

„Ich find’s extrem cool!“

„Und was hat das nun gebracht?“

„Ich weiß nicht. Es muss nicht immer etwas was bringen. Es war eine unglaublich coole Aktion – oder etwa nicht?“

„Weiß nicht.“

„Mensch, Valentin, sei doch nicht immer so gleichgültig!“

„Ich bin doch nicht gleichgültig – ich find’s nur nicht besonders vernünftig.“

„Sagte der, der schon zweieinhalb Jahre lang ‚die Unerreichbare’ anhimmelt.“

„Was?“

„Vernünftig“, wiederholte Alex. „Wer ist nun vernünftiger? Du oder sie?“

Er überlegte kurz.

„Ich lass mich wenigstens nicht mit Unterkühlung ins Krankenhaus einliefern.“

„Das ist aber auch der einzige Unterschied. Dafür war ihre Aktion wesentlich sinnvoller.“

„Wieso?“

„Sie wollte etwas bewirken.“

„Ja, und? Ziemlich erfolglos würde ich sagen.“

„Nein, einfach extrem cool.“

„Ja, extrem cool. Viel zu kühl.“

„Valentin, du bist einfach unverbesserlich. Ich weiß jedenfalls, was ich heute Nachmittag recherchieren werde.“

Verständnislos starrte er seinen Freund an.

„Die Frau“, sagte er ungläubig.

„Genau – ‚die Frau’.“

„Na ja, wenn du meinst.“

„Ja, ich meine.“

Es klingelte – die Pause war zu Ende.

*

In der Geographiestunde, die folgte, wanderten seine Gedanken immer wieder zu ihrem Pausengespräch. Eine junge Frau im weißen Kleid, bei dieser Kälte. Barfuß… unterkühlt ins Krankenhaus.

Ironischerweise behandelten sie gerade die Tropen. Aber dies ging an ihm vorbei wie ein Lied, das im Hintergrund spielte, während man Hausaufgaben machte. Er hörte die Stimme des Lehrers, aber nicht, was er sagte. Nicht, was die Schüler auf seine Fragen sagten. Er sah vor sich eine junge Frau in der Kälte, mit einem weißen Kleid. Er fragte sich, warum sie das machte. Aber die Vorstellung ließ ihn nicht los.

„Valentin?“

Verwirrt sah er auf, sah dem Lehrer in die Augen.

„Kannst du wiederholen, was Jasmin gerade gesagt hat?“

„Ich? Äh… nein.“

Einige Schüler lachten.

„Das habe ich auch vermutet“, sagte Herr Martens. „Könntest du dich dazu bequemen, ab jetzt etwas mehr aufzupassen?“

„Ja, klar.“

Noch einmal lachten Einzelne.

Der Unterricht nahm seinen Fortgang. Er verfolgte angestrengt die Problematik der Regenwaldböden und der Unmöglichkeit eines nachhaltigen Landbaus nach Brandrodung, aber irgendwann… war er wieder im Berliner Winter, und vor seinem inneren Auge stand eine junge Frau im weißen Kleid. Er wusste nicht einmal, ob sie Zettel verteilte, ob sie ein Schild hielt, ein Plakat, vielleicht ein bemaltes Laken oder so etwas…

Er wusste, als es klingelte, nicht einmal mehr, wann er angefangen hatte, sich vorzustellen, dass es Cordula war, die da stand, nur mit einem weißen Kleid…

Alex kam in der gesamten Pause nicht mehr auf das Thema zurück, belehrte ihn vielmehr mit weiteren Hintergründen zur Zerstörung der Regenwälder. Er versuchte, auch hier so gut wie möglich zu folgen, aber die ganzen Fakten gingen, so schlimm sie auch sein mochten, an ihm vorbei. Wer konnte sich das alles behalten – wer konnte sich für das alles interessieren? Er konnte es nicht.

Als die Pause sich ihrem Ende zuneigte, fragte er Alex vorsichtig: „Also du recherchierst heute zu dieser… Frau?“

Sein Freund sah ihn einen Moment irritiert an.

„Ja“, sagte er dann. „Wieso?“

„Sagst du mir morgen, wenn du noch was Interessantes rauskriegst?"

Noch einmal musterte Alex ihn.

„Ja, klar, kann ich machen – wieso?“

„Och“, sagte er betont gleichgültig, „nur so.“

„Wie jetzt? Interessiert es dich auf einmal doch?“

„Na ja – einfach so.“

Nochmals fühlte er sich von seinem Freund gemustert.

„Verstehe, wer will…“, kommentierte dieser dann. Er schwieg.

„Oder“, hakte Alex nach, „findest du die Aktion jetzt etwa auf einmal auch cool?“

„Ich?“, erwiderte er, fast wie bei der Frage des Lehrers vorhin. Dann gab er zu: „Na ja, ein bisschen vielleicht…“

*

In den kommenden Schulstunden war seine Konzentrationsfähigkeit wieder hergestellt – und wo nicht, kehrte sie entweder zu der Schachpartie vom Wochenende zurück oder wandte sich dem unerreichbaren Mädchen zu, das auf der anderen Seite zwei Reihen vor ihm saß.

Stundenlang konnte er sie von hinten anschauen. Es machte, wenn man es einmal untersuchen würde, wahrscheinlich mindestens eine Note aus, diese Aufmerksamkeit, die er für ihre schönen Haare hatte und nicht für den Unterricht. Wäre er nicht in sie verliebt, wäre er mit Sicherheit fast so gut wie Alex. Vielleicht nicht so interessiert, aber fast so gut…

Zuhause stürzte er sich dann mit Feuereifer auf die nächste Partie von Kasparow. Er hatte ein ausführliches Buch mit allen berühmten Partien, und dies war seine Freude und sein Interesse: all dies nachzuspielen, einzutauchen in die Welt des Schachgroßmeisters. Und hier begriff er nicht, wie man sich dafür nicht interessieren konnte…

Der Anfang jeder Partie war immer gleich. Alle Figuren standen auf ihrem Ausgangspunkt. Doch dann! Dann war keine Partie wie die andere. Vielleicht noch die Eröffnungen. Aber irgendwann wurde jedes Spiel einzigartig. Und die Dramatik nahm zu. Mit jedem Zug. Und welche Dramatik dies sein konnte! Auf einem so kleinen Brett kam es plötzlich zu den dramatischsten Entscheidungen. Spielzüge, die sich über Stunden von Bedenkzeit hinziehen konnten und die das ganze Spiel entschieden. Ein einziger Zug konnte unabsehbare Folgen haben. Im Laufe der nächsten Stunden und Züge offenbarte sich dann die volle Dramatik, die volle Genialität eines solchen Zuges. Offenbarte sich ein Sieg oder eine Niederlage, die am Anfang noch gar nicht sichtbar war, aber schon in diesem einen, einzigen Zug gelegen hatte.

Und wieder tauchte er ein in eine Welt, die viel dramatischer, spannender und lebendiger war als die wirkliche Welt, für ihn…

1 Alexanderplatz

„Willst du wissen, was ich rausgekriegt habe?“

Er musste auf Alex’ Frage hin eine Sekunde überlegen, bis er sich wieder erinnerte, dass er ihn ja gestern selbst darum gebeten hatte, davon zu berichten. Die Frau im weißen Kleid.

In demselben Moment, wo ihm dies wieder einfiel, bedauerte er, dass es nicht Cordula gewesen war. Dann hätte er sich dafür wirklich interessiert, mit allem, was er hatte…

„Ja?“, erwiderte er halbherzig.

„Du wirst es nicht glauben. Ich habe ja meine verschiedenen Quellen. Es gab einige kleine Meldungen. Auf einer meiner Hintergrundseiten gab es sogar ein kleines Interview mit ihr und ein kurzes amateurhaftes Video, aber immerhin: Man sah sie da stehen, genau, wie die Nachrichten gesagt hatten. Im weißen Kleid, barfuß…

Doch dann – dann kam ich über noch manchen Umweg schließlich auf unsere geliebte Berliner Boulevardzeitung, und sie hat es wieder geschafft, eine Story daraus zu machen. Die Story ist natürlich wieder mal schlimmste Sorte, aber das Foto… Es haut dich um. Wirklich.“

„Wieso?“

„Wieso?“, fragte Alex, als wenn man fragte, warum eins und eins zwei ist. „Meine Güte, Valentin, wenn ich es dir zeige, besteht die Gefahr, dass du Cordula vergisst. Ich dürfte es dir also genau genommen gar nicht zeigen. Aber, Moment mal… vielleicht sollte ich es gerade deshalb tun! Um dich von deiner Träumerei zu erlösen. Aber, na ja – dann würdest du nur von einer Träumerei in die andere geraten. Insofern ist es eigentlich auch egal.“

Er wurde fast ein wenig wütend auf seinen Freund. Wenn es so leicht wäre, ihn zu ‚erlösen’! Wofür hielt Alex ihn eigentlich? Cordula war doch nicht irgendein Mädchen – das man dann für die nächstbeste junge Frau eintauschte. Überhaupt hatte er schon so viele Male gehört, dass irgendeine Frau einen ‚umhauen’ sollte, und er hatte an den meisten dann eigentlich sehr wenig gefunden. Immer nur das Typische, auf das viele Jungs standen, auch Alex irgendwo, wie er in den letzten Jahren gemerkt hatte. Sicher, Cordula hatte davon auch vieles. Aber sie hatte eben auch noch dieses Andere… und darum ging es eigentlich. Nur für ihn hatte sie es nicht… Aber sie hatte es. Etwas, was jene Frauen, die einen ‚umhauen’ sollten, regelmäßig nicht hatten. Sie sahen vielleicht ‚um-hauend’ aus, aber sie waren es nicht.

„Du hast ja eine ganz schön schlechte Meinung von mir“, sagte er missbilligend.

„Was?“

Alex sah ihn irritiert an. Dann erwiderte er:

„Nein, Valentin. Du hast offenbar eine ganz schön schlechte Meinung von dieser Frau.“

„Nein, wieso? Habe ich gar nicht. Ich weiß nur, wen ich liebe.“

„Ja, jetzt noch.“

„Hör auf, sag mal, spinnst du?“

„Wart’s ab“, grinste Alex.

„Ich will mich mit dir doch nicht streiten!“

Er sah ihn grinsend und geheimnisvoll an.

„Da kannst du lange warten“, entgegnete er angriffslustig.

„Die Frage ist, was bei dir ‚lange’ ist. Natürlich kann ein Schultag ziemlich lang sein.“

Alex grinste noch immer genüsslich.

„Du glaubst also wirklich“, sagte er, noch immer leise verärgert, „dass ich so treulos wäre?“

Sein Freund sah ihn überlegen lächelnd an.

„Ich sage nichts mehr. Es ist deine Sache…“

„Ich muss es mir nicht einmal anschauen.“

„Richtig – musst du nicht.“

„Und wenn ich es tue, werde ich mich sicher nicht auf einmal in jemand anders verlieben, den ich nicht einmal kenne.“

„Sicher“, stimmte Alex zu.

„Dann ist ja gut, dass wir uns jetzt verstehen.“

„Ja“, grinste Alex.

„Was grinst du so?“

„Ich? Nichts…“, feixte sein Freund.

„Du bist echt blöd!“

„Wieso denn?“

„Das weißt du ganz genau!“

Lächelnd fragte Alex:

„Kannst du deinem alten Freund nicht auch mal vertrauen?“

Verständnislos sah er ihn an, seinen alten Freund.

„Nein!“, sagte er dann entschieden. „Bei so was nicht! Damit macht man nicht einmal Späße!“

„Nein, aber die Probe aufs Exempel.“

„Was?“

„Die Probe aufs Exempel. Mit anderen Worten: Wir werden ja sehen. Mehr sage ich dazu nicht.“

„Dann ist gut. Korrekt. Wir werden ja sehen.“

„Ja, korrekt“, grinste sein Freund wieder.

*

Nach der Schule fragte Alex ihn:

„Gehen wir zu dir oder zu mir?“

„Was?“, erwiderte er irritiert.

„Zu dir oder zu mir?“

„Wofür?“

„Valentin“, sagte Alex mit Nachdruck, „wir hatten vor sechs Schulstunden über etwas gesprochen. Erinnerst du dich vage? Seit wann ist Schule derart in der Lage, dich abzulenken?“

„Ach das!“, der Zusammenhang wurde ihm nun deutlich.

„Kannst du mir nicht einfach den Link schicken?“

„Nein, kann ich in diesem Fall nicht. Ich will dabei sein.“

„Wieso?“

Langsam wurde ihm die ganze Sache ziemlich mysteriös. Sein Freund hatte offenbar doch eine ziemlich realitätsferne Vorstellung von seiner Treue. Sicher, er könnte die junge Frau schön finden, er könnte das auch zugeben. Dennoch würde er sich nicht gleich in sie verlieben – oder gar seine Liebe zu Cordula vergessen. Was sollte das ganze Getue?

„Sagen wir, um ganz wissenschaftlich und neutral den ersten Eindruck selbst beobachten zu können.“

„Du spinnst ja!“

„Nö.“

„Also gut, gehen wir halt zu dir.“

„Schön“, freute sich Alex. „Vielen Dank für Ihre Teilnahme an unserer Studie…“

„Idiot!“, schimpfte er grinsend.

Alex grinste zurück und sagte:

„Sie wissen, dies ist eine ehrenamtliche Studie eines armen Forschungsinstituts. Wir können leider keinerlei Entschädigung zahlen. Auch nicht für den Fall, dass Sie sich entlieben, ich meine, in Bezug auf die Unerreichbare…“

„Alex! Jetzt hör auf. Das ist nicht mehr lustig!“

„Alles klar. Bin schon still.“

Sie warteten auf den Bus. Er hatte gesehen, dass schräg hinter ihm auch sie stand. Hier war sie immer allein. Ihre zwei besten Freundinnen fuhren nicht mit dem Bus – und ihr Freund, das wusste er, besuchte eine andere Schule. Es war bereits ein schönes Gefühl, sie in solcher Nähe stehen zu wissen. Noch viel näher als in der Klasse, wo sie der halbe Raum trennte. Hier trennten sie vielleicht zwei Meter…

Als sie einstiegen und er sich neben Alex hingesetzt hatte, sah er, wie sie an ihm vorbei weiter nach hinten ging. Jeden kleinen Blick in ihr Gesicht fand er schön. Er hatte sich daran gewöhnt, dass sie ihn nicht beachtete. Es reichte ihm, sie zu beachten. Sie war so schön…

Er wusste sogar, wann sie aussteigen musste. Es war drei Stationen vor der Haltestelle, bis zu der Alex fahren musste. Sie stieg dann immer aus und ging in Fahrtrichtung weiter. Weil der Ausstieg hinten war, konnte man sie dann noch ein letztes Mal von der Seite sehen – noch einen Moment lang sehen, wie sie nach Hause ging… Ach, was gäbe er darum, einmal mit ihr zu ihrem Zuhause gehen zu können. Träume…

„He!“

Alex’ Stimme weckte ihn aus seinen Träumen.

„Oh, was? Sind wir schon da?“

„Quatsch nicht so viel – steh endlich auf, sonst kommen wir nicht mehr raus!“

Als sie sich draußen wiederfanden, fragte Alex:

„Sag mal, bist du noch nie hier gewesen, oder was?“

„Doch – ich war nur gerade in Gedanken versunken.“

Sein Freund sah ihn vielsagend an.

„Was ist?“, fragte er angriffslustig.

„Nichts…“, erwiderte Alex, „mir lag nur gerade wieder was auf der Zunge.“

„Hüte dich!“

„Mach ich ja“, grinste Alex.

„Blödmann!“

Grinsend setzte sich sein Freund in Bewegung – und er folgte ihm, in Gedanken wiederum zurückkehrend, drei Haltestellen zuvor…

Schließlich standen sie vor dem Mietshaus, in dem Alex wohnte, stiegen die zwei Stockwerke hoch, wo er dann die Tür aufschloss.

„Voilà“, sagte er, „bitte treten Sie ein.“

Drinnen kam ihnen seine Mutter entgegen.

„Oh, hallo, Valentin. Wart ihr heute verabredet?“

„Nicht direkt“, erwiderte Alex. „Sagen wir, es hat sich irgendwie ergeben…“

„Ergeben?“, fragte seine Mutter.

„Männergeschichten“, grinste Alex.

„Männergeschichten?“, betonte seine Mutter fragend.

Sie sah von einem zum anderen.

Er verfluchte Alex für seine Bemerkung.

„Geht es“, fragte seine Mutter, „um irgendeine Verliebtheit oder um Schlimmeres?“

„Nichts Schlimmeres“, grinste Alex wieder.

Nun verfluchte er seinen Freund wirklich…

„Na ja, ihr macht das schon“, erwiderte seine Mutter. „Viel Spaß.“

„Danke.“

Sie gingen zu Alex’ Zimmer.

„Idiot!“, zischte er ihm zu.

„Wieso?“, feixte Alex. „Man soll immer die Wahrheit sagen. Hat meine Mutter mir beigebracht…“

„Du fängst damit ja schon an, bevor jemand danach fragt!“

„Ich wollt’s ja verheimlichen.“

„Von wegen!“

„Sie hat einfach einmal zuviel gefragt.“

„Toll! Was soll bei deinen ‚Männergeschichten’ auch anderes passieren!“

„Bist du jetzt sauer?“

„Oh, nein!“, beteuerte er sarkastisch. „Merkt man das irgendwie?“

„Jetzt ehrlich?“, fragte Alex ernst.

„Quatsch“, erwiderte er. „Mach es aber bloß nie wieder!“

„Genehmigt.“

„So“, sagte er, „bringen wir es hinter uns. Zeig das Foto.“

„He!“, erwiderte Alex, „nicht so schnell! Du scheinst es ja gar nicht erwarten zu können… So geht man mit einer Dame aber nicht um!“

„Mit Cordula geht man so auch nicht um. Ist alles deine Schuld, dass ich jetzt so bin.“

„Hä? Ich sag doch gar nichts gegen Cordula. Ich hab einfach nur eine wissenschaftliche Arbeitshypothese aufgestellt – die wir gleich beweisen werden.“

„Nein, eben nicht! Wir werden gar nichts beweisen. Wir werden uns einfach ein Foto angucken, und das war es dann. Können wir das jetzt bitte tun?“

„Natürlich können wir das“, grinste Alex. „Aber warum diese Eile?“

„Damit dieser Blödsinn aufhört!“

„Blödsinn nennst du das also“, erwiderte Alex. „Gut, dann stellen wir das als eine weitere Arbeitshypothese daneben“, fügte er dann grinsend hinzu. „Prima, ist doch gut…“

Nun verlor er langsam wirklich die Geduld.

„Können wir jetzt…?“

Alex musterte ihn kurz und erkannte den Stimmungsumschwung.

„Ja, sorry, Valentin, war nicht so gemeint.“

Während er seinen Laptop hochfuhr, sagte er mit vollkommen ernsthaftem Tonfall:

„Es war eigentlich auch ihr gegenüber gemein von mir – gegenüber dieser Frau meine ich. Es ist ja nicht nur so, dass ich deine Reaktion sehen möchte. Ich bin… ich habe mich selbst auch sozusagen verliebt. Ist schon irgendwie nicht zu verhindern gewesen…“

Der Wandel im Tonfall seines Freundes überraschte ihn. Er nahm es ihm sofort ab, dieses Bekenntnis. Nur konnte er sich noch immer nicht vorstellen, dass sein Freund und er in irgendeiner Weise den gleichen Geschmack haben würden. Er vermutete stark, dass Alex diesbezüglich wieder einmal einem Irrtum aufsaß. Dies war nicht die erste Frau, die er ihm zeigte. Ihm war es eher ein Rätsel, warum er diesmal trotzdem wieder so sicher war. Lernte er es nie, dass er sich in andere Mädchen – oder Frauen – verliebte?

Als der Laptop hochgefahren war, sagte Alex:

„Noch nicht gucken, dreh dich um.“

„Hör auf!“

„Doch, ich mein’s ernst. Guck noch weg.“

Widerwillig drehte er sich etwas zur Seite und schaute aus dem Fenster.

Er hörte, wie Alex auf der Tastatur tippte. Schließlich hörte er ihn sagen:

„Jetzt muss ich es noch ein wenig vergrößern…“

Er verfluchte seinen Freund von neuem wegen seinem Getue.

Nach wenigen Momenten sagte dieser:

„So – jetzt kannst du…“

Er wandte sich wieder seinem Freund zu, kam betont desinteressiert einen Schritt näher und richtete seinen Blick auf den Bildschirm.

Er blickte in die Augen des schönsten Mädchens der Welt. Er wusste es, noch bevor er denken konnte – und er konnte die ganzen nächsten Momente nicht mehr denken. Er konnte nur blicken, schauen, wahrnehmen, versinken… Er versank… vollkommen, vollkommen in Schönheit, in vollkommene Schönheit. Er versank, er vergaß alles, seinen Freund, den Bildschirm, das Zimmer, die Welt überhaupt. Er sah nur noch diese Augen, nur noch dieses Gesicht… ‚So sieht also das schönste Mädchen der Welt aus…’ Als ihm wieder bewusst wurde, dass er von neuem zu denken angefangen hatte, war dies tatsächlich der erste Gedanke, den er in sich vorfand. So sieht also das schönste Mädchen der Welt aus.

Das Zweite, was er wahrnahm, war die unglaublich heiße Wärme, die auf einmal seinen ganzen Kopf zu erfüllen schien. Er musste auf einmal so rot sein wie noch nie zuvor in seinem Leben. Das Dritte, was ihm bewusst wurde, waren seine eigenen Worte:

„Sag nichts, Alex, bitte, sag jetzt nichts…“

Und das Vierte war, dass er dankbar bemerkte, wie sein Freund weiter schwieg…

Er konnte seine Augen nicht von dem Mädchen wenden. Es war noch ein Mädchen. Es war noch keine junge Frau. Sie war sicher älter als sie, ein, zwei Jahre, aber sie war noch keine zwanzig… Sie war die Schönste von allen. Es gab niemanden, der je schöner sein könnte, nicht einmal genauso schön. Niemanden… Sie war es… Eine heilige Schönheit, überirdisch schön. Man sah den Beginn ihres weißen Kleides, aber das war es nicht. Es war ihr Gesicht, es waren ihre Augen. Ihr Mund und ihre Augen. Ihr Blick. Ein einziger Blick von ihr – und man war von Schönheit durchdrungen, durchtränkt, überwältigt…

„Sag nichts, Alex…“, wiederholte er vollkommen gedankenverloren.

Er wusste nicht, wie lange er in diese Augen geschaut hatte. Irgendwann sagte Alex trotz allem:

„Meine Güte, Valentin, du kannst nicht den ganzen Abend auf dieses Bild starren…“

„Wie spät ist es…“, fragte er, ohne den Blick abzuwenden.

„Na ja, sagen wir drei, vier Minuten später.“

„Dann lass mich…“

„Valentin, übertreib’s nicht… schon wieder.“

„Ich übertreibe nicht.“

„Doch.“

Er wandte den Blick seinem Freund zu, sich wirklich losreißend. Nun ihn ansehend sagte er, mit vollem Ernst:

„Ich übertreibe nicht, Alex, und ich muss dir ein einziges Mal in meinem Leben vollkommen Recht geben. Du hattest vollkommen Recht – es sei denn, dass du es selbst noch nicht stark genug gesagt hast. Sie ist umwerfend, aber sie ist noch unendlich viel mehr. Sie ist… sie ist es, für die alle Worte nicht ausreichen. Sie wirft selbst die Sprache um, Alex. Für sie gibt es keine Worte!“

Er wandte seinen Blick wieder ihr zu – ihr, die alle Worte sinnlos erscheinen ließ, wie sinnlose Versuche, etwas zum Ausdruck zu bringen, wofür sie gar nicht geschaffen waren…

„Wer ist das, Alex?“, fragte er schließlich.

„Sie heißt Sonja Engel.“

„Nein!“

„Was ‚nein’?“

„Sie heißt nicht wirklich Engel.“

„Doch, Sonja Engel – so heißt sie.“

„Das ist nicht möglich, Alex“, sagte er, unverwandt in diese Augen blickend. „Wie kann jemand, der so aussieht, wirklich auch noch Engel heißen?“

„Ich weiß es nicht. So ist es eben. Zufall.“

„Zufall…“, wiederholte er gedankenverloren.

„Willst du noch hören, was unsere liebe Zeitung dazu schreibt?“

„Ich weiß es nicht…“

„Doch, hör es dir an. Es ist schlimm – aber man muss es doch wissen, gerade weil es so schlimm ist.“

Sein Freund las vor:

„Überschrift: Ein unterkühlter Engel auf dem Alex. Dann: Am Samstag trauten die Berliner und Berlinbesucher ihren Augen kaum. Mitten auf dem Alex stand, obwohl Weihnachten längst vorbei ist, ein Engel. Sonja Engel (19) verbrachte den Tag nur in einem dünnen weißen Kleid auf dem Alex. Selbst die Schuhe fehlten. Barfuß verteilte sie bei 6 Grad Flyer, in denen sie dazu aufrief, die Welt zu retten und etwas gegen Krieg, Klimawandel, Armut und Naturzerstörung zu tun. Ihr Freund Liam (20) war ebenfalls dabei – winterlich angezogen. Befragt über den Sinn ihrer Aktion, sagt Sonja: ‚Ich will die Herzen erreichen.’ Das hat sie offenbar getan. Mehrere Menschen brachten Decken, die sie aber ablehnte. Auch von einer Polizeistreife ließ sie sich nicht vom Platz bewegen – und musste im Lauf des Nachmittags schließlich mit Unterkühlung ins Krankenhaus gebracht werden. Die Herzen hat der schöne Engel sicherlich erreicht – ob auch mit seiner Botschaft, bleibt offen. Zu wünschen wäre es.“

„Das ist typisch!“, sagte er mit tiefster Abneigung, „das ist so richtig eine typische Meldung dieser hirnvergiftenden Zeitung.“

„Sage ich ja“, bestätigte Alex.

„‚Zu wünschen wäre es’ – die interessiert doch nicht einen Moment etwas von dem, was das Mädchen wollte!“

„Nö – aber sich das alles auf die Fahnen schreiben, das können sie. Das sind die größten Parasiten des Planeten. Dagegen ist alles andere harmlos.“

„Ich verstehe nicht, wie sie dieser Zeitung überhaupt nur ein einziges Wort schenken konnte.“

„Nun, immerhin hat diese Zeitung uns ihr Foto geschenkt.“

„Ja, das ist wahr… Das ist wahrscheinlich die einzige gute Tat dieses Blattes in allen letzten Jahrzehnten.“

„Und allen künftigen.“

„Ja, und allen künftigen.“

„‚Zu wünschen wäre es’“, wiederholte nun auch Alex voller Verachtung. Diese schleimigen Lügner!“

„Wieso merkt das niemand?“

„Von den Lesern?“

„Ja.“

„Weil du denen alles verkaufen kannst. Die Welt ist so, wie es in der Zeitung steht. Und dann ist die Zeitung der Gott der Wahrheit. Und ach wie menschlich! Der arme Engel, er verteilt seine wichtige Botschaft, und die wichtigste Zeitung der Welt ist hautnah und voller Mitgefühl dabei – das ist die Message. So wird täglich wieder das Gehirn der Leser massiert, und es fühlt sich dabei offenbar wohl. Man kann so richtig mit-fühlen, man kann sich so richtig genüsslich suggerieren, dass man das echte, wunderbare Mitgefühl hat, dass man so ein richtiger, unglaublicher Gutmensch ist. Diese ekelhafte Zeitung gibt einem so richtig ein gutes Gefühl. ‚Von Menschen für Menschen – und immer hautnah beim Mitmenschen’. Ekelhaft! Durch und durch verlogen. ‚Der unterkühlte Engel’ als willkommene Story, an der man wieder schön parasi-tieren kann – und mit der man wieder seine verlogene Message in die Köpfe drücken kann. Sie lautet: Es ist alles in Ordnung, und wo nicht, wollen wir alle, dass es anders wird. Nichts wollen die! Die wollen Krieg, Armut, Ausländerhass. Die bedienen jede beliebige Botschaft, und am liebsten soll alles so bleiben, wie es ist. Zementierung des Ist-Zustandes – darum geht es. Zementierung der Abwärtsspirale. ‚Zu wünschen wäre es’ – das ist Neusprech, der genau das Gegenteil meint, nämlich: Kleines Engelchen, wenn du aus dem Krankenhaus kommst, hast du wahrscheinlich gelernt, dass auch du nichts bewirken wirst.

Verkünden kann man vieles – aber auch nur einen Finger krumm machen, das tut keiner. Die Kampfpresse unterstützt die herrschenden Parteien, die nicht das Geringste ändern, jedenfalls nicht zum Guten. Und die, die was ändern wollen, die werden in verniedlichenden Artikeln für einen Tag zur Story – nur um am nächsten schon wieder totgeschwiegen zu werden! Das ist kein Journalismus mehr, war es bei diesem Blatt noch nie – das ist Verdummungsdiktatur! Gehirnwäsche mit jeder Zeile.“

„Aber sie haben uns ihr Foto geschenkt…“, sagte er wieder abwesend. Dann wandte er sich wieder an seinen Freund und bat ihn: „Alex, kannst du mir alle Links schicken, die du gefunden hast?“

„Das weiß ich doch jetzt nicht mehr! Du kannst doch auch selbst recherchieren.“

„Ja, aber du kannst es besser. Kannst du nachher nochmal suchen und mir trotzdem helfen? Dieses eine Interview, was du erwähnt hast, und so weiter. Ja? Bitte!“

„Ja, ja, kann ich machen. Aber was hast du vor? Was wird das?“

„Ich will einfach alles über sie wissen.“

„So wie über Kasparows Schachpartien?“

„Hör auf, Alex! Ich meine es ernst.“

„Das ist dir doch auch ernst?“

„Ja, aber noch ernster.“

„Oh, dann ist es wirklich ernst“, kommentierte Alex.

Er sah seinen Freund hilflos an.

„Eine rein wissenschaftliche Zwischenfrage“, sagte dieser nun, „was ist mit, nun ja, unseren beiden Hypothesen…“

„Alex!“, erwiderte er. „Du hast es doch selbst gesehen – oder nicht?“

„Heißt das, ich hatte Recht?“

„Alex!“

„Könntest du es bitte sagen?“

„Ja, du hattest Recht.“

„Danke, mehr wollte ich gar nicht.“

„Hättest du mir nicht vorher sagen können, wie unendlich wunderschön sie ist?“

„Das habe ich doch getan.“

„Du hast nur gesagt ‚umwerfend’.“

„Und du hast doch selbst gesagt, dass Worte nicht ausreichen.“

„Ja, aber ‚umwerfend’ sagt überhaupt nichts!“

„Wie bitte? Wenn das überhaupt nichts sagt, wozu soll dann die Sprache überhaupt gut sein?“

„Ich meine, was du normalerweise umwerfend findest…“

„Ja, aber hast du nicht gemerkt, dass ich es diesmal anders meine?“

„Keine Ahnung – ich dachte, das ist eine von deinen üblichen Geschichten.“

„Typisch, Valentin, der nie irgendwelche Unterschiede merkt.“

„Du machst ja normalerweise auch keine.“

„Ja, aber diesmal. Gerade das hättest du doch bemerken können.“

„Bei dir weiß man nie.“

„Ich habe doch die ganze Zeit gesagt, wie sicher ich bin. Kam dir das gar nicht komisch vor?“

„Doch, ein bisschen.“

„Na, also.“

„Aber ich habe nicht gewusst, dass es ein so schönes Mädchen überhaupt gibt.“

„Du hättest mich ja fragen können: Sag mal, Alex, könnte es sein, dass du mir ein Mädchen zeigen willst, das schöner ist, als ich es überhaupt für möglich halten könnte?“

„Blödmann!“

„Aber so ist es doch, oder?“

„Ja…“

*

Als er wieder nach Hause fuhr, gingen seine Gedanken nur noch zu diesem Mädchen. Ein Engel… Irgendwie musste er an das Märchen vom Sterntaler denken. Vielleicht, weil sie nur noch dieses Kleid anhatte… Und griff sie nicht sogar mit ihrer Botschaft nach den Sternen? Indem sie die Herzen erreichen wollte? War das nicht so etwas wie, nach den Sternen zu greifen? Sternenmädchen… Dieses Wort war auf einmal dagewesen. Ja, das war sie. Sternenmädchen…

Zuhause machte er auch seinen Laptop an und suchte den Artikel noch einmal. Als er ihr Foto gefunden hatte, sah er, dass Alex es mindestens um das Doppelte vergrößert hatte. Er machte einen Screenshot, schnitt es aus und beschloss, gleich morgen einen postergroßen Abzug zu machen, den er sich über den Schreibtisch hängen würde. Es war ihm egal, was seine Mutter denken würde. Er stand dazu, dass er dieses Mädchen liebte – nur dieses…

Er versuchte, das Interview zu finden, aber er wusste nicht, wie man recherchierte, und er kannte auch nicht die Quellen, die Alex kannte. Er suchte mit ‚Alexanderplatz’ und ‚Engel’, aber die hauptsächlichen Suchergebnisse brachten alle nicht das, was er suchte. Er stieß schließlich zwar auf einige interessante Kurzmeldungen, aber das Interview war nicht dabei. Erst als er den Vornamen des Mädchens dazunahm und auch die Suchergebnisse der jeweils folgenden Bildschirmseiten noch überprüfte, fand er das Interview.

Es war eine linke Seite, die viele Hintergründe brachte. Die Einleitung besagte, dass der Interviewer, Roman, die junge Frau zufällig auf dem Alex gefunden hatte. Das hieß, sie hatte die Aktion offenbar nicht weiter vorbereitet oder im voraus angekündigt. Dies zeigte sich dann auch im Interview. Er las:

Roman: Was möchtest du mit dieser Aktion erreichen?

Sonja: Die Herzen der Menschen.

Roman: Was heißt das?

Sonja: Das muss man doch verstehen. Ich möchte die Herzen erreichen. Ich möchte, dass man wirklich zu fühlen beginnt, worum es geht.

Roman: Deswegen stehst du hier barfuß und nur mit einem Kleid?

Sonja: Ja.

Roman: Wie, denkst du, erreichst du die Menschen dadurch?

Sonja: Ich habe darüber auch nicht so sehr nachgedacht. Ich habe auch gefühlt, dass ich das tun muss – und will.

Roman: Du stehst hier aus einem Gefühl heraus?

Sonja: Das klingt anders, als ich es meine. Gefühle sind das Wichtigste, was der Mensch hat.

Roman: Kannst du das erklären?

Sonja: Ohne Gefühle sind wir keine Menschen.

Roman: Ja, das ist wohl richtig.

Sonja: Und deshalb stehe ich hier.

Roman: Denkst du, die Menschen fühlen etwas, wenn sie dich hier so sehen?

Sonja: Es wäre schlimm, wenn nicht.

Roman: Du willst die Menschen also über Gefühle erreichen – Mitleid und so etwas?

Sonja: Ja.

Roman: Sollte man nicht besser aufklären? Auf deinem Zettel stehen nur wesentliche Themen, Schlagworte, aber keine Hintergründe…

Sonja: Das kannst du ja machen.

Roman: Und du? Warum machst du es nicht?

Sonja: Weil ich glaube, dass wir schon lange genug Aufklärung haben. Wir müssen fühlen, was richtig ist. Das ist es, was fehlt.

Roman: Und du denkst, du kannst das erreichen?

Sonja: Ja – ich hoffe es.

Roman: Hast du bisher den Eindruck?

Sonja: Die Menschen sind berührt. Sie nehmen die Flyer, und sie lesen sie. Sie lesen sie wirklich.

Roman: Und du denkst, sie ändern dann auch wirklich etwas?

Sonja: Das kann ich nicht beeinflussen… Das kann ihnen nur ihr Herz sagen.

Roman: Wie lange willst du hier stehen?

Sonja: So lange, wie ich kann.

Roman: Morgen auch wieder?

Sonja: Ich werde nicht nach Hause gehen.

Roman: Du willst hier gar nicht wieder weggehen?

Sonja: Nein.

Roman: Du könntest in der Nacht erfrieren.

Sonja: Wenn es so ist, dann werde ich erfrieren…

Roman: Du würdest hier sterben?

Sonja: Ich will hier so lange bleiben, wie ich kann…

Roman: Bitte tu das nicht.

Sonja: Warum nicht?

Roman: Weil du mehr tun kannst, wenn du am Leben bleibst.

Sonja: Manche Menschen taten mehr dadurch, dass sie starben.

Roman: Aber du nicht.

Sonja: Woher willst du das wissen?

Roman: Ich weiß es nicht. Vielleicht fühle ich es ja.

Sonja: Du fühlst? Das ist schön…

Roman: Also geh bitte nicht bis an die Grenzen.

Sonja: Man muss an die Grenzen gehen, um die Herzen zu erreichen – man muss es einfach…

(An dieser Stelle begann Sonja zu weinen. Das Interview musste abgebrochen werden).

Erschüttert las er den letzten Satz. Das ganze Interview hatte ihn zutiefst berührt – der letzte Satz aber erschütterte ihn wirklich.

Was war dieses Interview für ein unendlicher Gegensatz zu dem Artikel der furchtbaren Tageszeitung! Warum konnten Zeitungen heute nie mehr solche Interviews bringen? Interviews, in denen zutiefst die Seele eines Menschen sichtbar wurde? Interviews, die wirklich die Herzen bewegen konnten, weil sie das innerste Herz eines Menschen zeigten? So ein unbeschreiblich erschütterndes Herz… ‚Man muss es einfach…’

In diesem Interview stand das, was er vom ersten Moment an gesehen hatte und in das er versunken gewesen war. In diesem Interview stand dasselbe, was in den Augen dieses Mädchens stand. Es war eine unendliche Schönheit – eine Schönheit, vor der alle Worte versagten.

Sternenmädchen… Ein Engel war vom Himmel herabgestiegen, um auf Erden zu wandeln. So entschlossen, dass sie sogar bereit war zu sterben…

Er schaute in das Impressum der Seite und schrieb der Redaktion eine E-Mail, in der er fragte, ob irgendeine Kontaktmöglichkeit zu diesem Mädchen bekannt war…

Als er schließlich schlafen ging, konnte er noch immer keinen einzigen anderen Gedanken fassen. Sternenmädchen… ‚Wir müssen fühlen, was richtig ist. Das ist es, was fehlt.’

Und er fühlte… auf einmal so viel. Dieses Mädchen hatte schon im allerersten Augenblick, in dem allerersten Moment, in dem er in ihre Augen geblickt hatte, so unendlich viel Gefühl in ihm ausgelöst. Nun löste dieser eine Satz von ihr, den er innerlich immer wieder hörte, wie von ihr selbst gesprochen, auch das aus, was er beinhaltete. Er fühlte auf einmal so viel von dem, was… sie erwecken wollte.

Auf einmal hatte er das Gefühl, als würde er wie in seinem Herzen sein – oder als würde sein Herz immer größer. Er fühlte, was sie sagte: ‚Wir müssen fühlen, was richtig ist.’ Und auch dieses andere: ‚Das ist es, was fehlt.’ Auf einmal fühlte er in seinem Herzen eine unendliche Sehnsucht, genau dies zu können, genau dies zu fühlen. So viel wie möglich von dem zu fühlen, was sie wollte und hoffte, dass man es fühlte… Eine Sehnsucht, die immer größer wurde. Ein Entschluss, der immer größer wurde. Eine Liebe, die immer größer wurde. Ein sehnsuchtsvoller Entschluss, genährt durch eine unendliche Liebe zu diesem Mädchen…

Es war, wie wenn er zum ersten Mal sein eigenes Innerstes kennenlernte – sein wirkliches Herz. Er war ganz darinnen, und es gab nichts anderes als die Liebe zu diesem Mädchen. Und diese Liebe entzündete die allertiefste Sehnsucht, das zu können und das zu tun, was sie wollte: zu fühlen, was richtig ist. Und er fühlte zutiefst, was dies bedeutete.

Und er fühlte, dass er zu fühlen begann, was sie fühlte. Es war eine unendliche Liebe zur Welt. Er begann zu fühlen, was sie fühlte – und erlebte dies in tiefster Verwunderung. Es war etwas unendlich Heiliges. Das Herz dieses Mädchens war ein Heiligtum.

Sternenmädchen… Was für ein Engel bist du…?

Am nächsten Tag stand ein anderer Mensch aus dem Bett auf – jener Mensch, der am Abend zuvor geboren worden war. Von nun an wollte er so leben, wie sie es erhoffte. Er wollte sich für alles interessieren, er wollte immer mehr fühlen können, er wollte nirgendwo mehr teilnahmslos sein, wo es um etwas Wichtiges ging. Und er erkannte das ungeheure Versäumnis seiner ganzen letzten Jahre – er erkannte es, weil er es auf einmal fühlte… Vor allem aber sehnte er sich danach, ihr zu begegnen, ihr, dem Sternenmädchen…

Er konnte dem Unterricht kaum folgen. In der Pause war er froh, sich seinem Freund anvertrauen zu können. Wäre er ganz allein gewesen, er wäre vor Sehnsucht und Einsamkeit verrückt geworden.

„Na, Valentin, wie hast du geschlafen?“, grinste Alex.

„Alex, bitte, lass deinen komischen Humor. Die Sache ist unglaublich ernst. Ich vertrage diesen Humor nicht mehr. Ich sage dir zwei Sachen: Ich liebe dieses Mädchen zutiefst. Und ich will so werden, wie sie es sagt. Ich habe das Interview gelesen. Seitdem ist die Welt anders. Es gibt eine Welt vor diesem Mädchen, und es gibt eine Welt mit diesem Mädchen. In der lebe ich jetzt – und nie mehr in einer anderen.“

Sein Freund sah ihn einen Moment lang in tiefstem Erstaunen an – und dieser Moment wollte gar nicht mehr aufhören. Er erwiderte den Blick seines Freundes so lange, wie dieser dauerte. Dann sagte Alex nachdenklich:

„Das Interview… Ja, das war ein sehr besonderes Interview. Du hast es also selbst gefunden…“

„Ja.“

Er erwiderte den Blick seines Freundes noch immer. Dann sagte er: „Ich meine es wirklich, wie ich es gesagt habe, Alex. Ich kann nicht mehr so sein wie bisher. Ich bin ein anderer – und ich will ein anderer sein. Du hast dich schon immer für die Welt interessiert. Ich will es jetzt auch – und ich will es so wie sie. Ich will, dass ich es so kann, wie sie es will. Ich will das fühlen, was sie will, dass wir es fühlen. Ich will fühlen, was sie fühlt. Das will ich. Ich habe keine größere Sehnsucht…“

„Nicht vielleicht, sie kennenzulernen?“, grinste Alex.

„Alex!“, erwiderte er nachdrücklich. „Ja, natürlich. Aber bitte lass diesen Humor weg. Er passt nicht zu ihr. Ich vertrage ihn wirklich nicht mehr – bitte glaube mir. Sie stand da in diesem weißen Kleid und war bereit, zu sterben, zu erfrieren, verstehst du? Ich kann keine Witze mehr machen, auch nicht mitmachen. Ich kann nur noch das machen, was ihr Herz auch mitmachen würde. Alex, bitte, du musst das verstehen. Es klingt vielleicht wahnsinnig, aber es ist absolut klar und entschieden: Ihr Herz ist das, was für mich ab jetzt als Einziges zählt. Ich habe noch nie etwas Reineres und Schöneres gesehen – und es gibt auch nichts. Man kann nur versuchen, es ernst zu nehmen. Das ist das Einzige, worauf es ankommt. Alles andere ist wertlos. Wirklich…“

„Auch Kasparow?“, fragte Alex vorsichtig.

„Ja, auch Kasparow…“

„Ich bin gerade Zeuge der größten Verwandlung, die ich je gesehen habe“, kommentierte sein Freund ernsthaft.

„Alex – was ist mit dir? Hat sie dich denn nicht auch etwas verwandelt? Was ist mit dir? Bist du der Gleiche wie bisher?“

„Sie hat mich schon auch beeindruckt. Sehr sogar…“

„Aber ich meine, innerlich. Was fühlst du? Hat sich dein Fühlen verwandelt?“

„Du weißt ja, dass ich mich immer schon für diese ganzen Dinge interessiert habe.“

„Aber das ist doch nicht dasselbe. Ich würde doch sonst nicht diesen Unterschied spüren! Den Unterschied, Alex, verstehst du? Du hast doch gestern selbst von diesem Unterschied gesprochen. Was ist in dir passiert, als du sie gesehen hast? Als du das Interview gelesen hast? Alex – sag es mir!“

„Ich war tief beeindruckt. Du weißt ja, ich fand die Aktion unglaublich…“

„Ja, aber du hast gesagt, unglaublich ‚cool’. Das reicht aber nicht, Alex. Was war noch? Was ist mit dem Interview? Was ist mit dem Ende?“

„Dem Ende?“, fragte sein Freund. „Ach, du meinst, dass sie angefangen hat zu weinen?“

„Ja, was ist damit?“

„Was soll damit sein? Ziemlich berührend war das…“

„Ziemlich, Alex? Ziemlich?“

Er sah seinen Freund an, als wenn er vor einem Rätsel stand.

„Ja“, erwiderte dieser. „Was willst du hören? Ich sagte doch, auch ich habe mich in sie ganz schön verliebt.“

„Aber wie sehr, Alex – wie sehr? Das ist doch die entscheidende Frage!“

„Na ja, jedenfalls nicht so sehr wie du, stelle ich fest…“

„Ja, das erlebe ich – aber warum nicht?“

„Willst du Konkurrenz?“, grinste Alex.

„Alex, begreifst du denn gar nicht? Darum geht es nicht! Es geht um das, was sie will. ‚Wir müssen fühlen, was richtig ist. Das ist es, was fehlt.’ Erinnerst du dich? Das möchte sie! So möchte sie die Herzen erreichen – dass sie das können!“

„Du konntest das bisher sehr wenig…“

Schmerzlich schwieg er. Er hatte das Gefühl, dass er es jetzt gerade sehr viel mehr konnte als sein Freund. Aber das konnte er ihm nicht sagen. Wenn er es nicht selbst fühlte, gab es auch hierfür keine Worte… Und natürlich hatte Alex auch Recht. Er konnte es bisher überhaupt nicht. Er hatte kein Recht, irgendetwas zu sagen. Er konnte nur versuchen, ihr nun gerecht zu werden. Etwas anderes zählte überhaupt nicht mehr…

„Alex, ich muss sie kennenlernen. Wenn du irgendwie herausfindest, wie man sie erreichen kann, bitte sag es mir…“

„Ja, natürlich“, grinste sein Freund.

„Und belächle mich nicht! Offenbar bin ich für dich gerade etwas komisch – aber ich habe mich nie normaler gefühlt als jetzt. Unnormal sind alle, die weniger fühlen, verstehst du das nicht Alex? Wir fühlen alle zu wenig. Auch du. Wir können gar nicht genug fühlen, begreifst du? Sie hat gezeigt, was man fühlen kann! Hast du das nicht auch gefühlt? Bei ihr? Sie zeigt es uns, Alex – sie zeigt es! Was sie fühlt, das ist erst menschlich! Sie sagt, ‚ohne Gefühle sind wir keine Menschen’. Aber wenn das so ist, dann ist niemand so sehr Mensch wie sie. Denn sie fühlt am meisten! Wirkliche Menschen sind wir erst, wenn wir so viel und so tief fühlen wie sie. Das ist es, was ich erlebe.“

„Kann sein“, sagte Alex. „Aber kann man denn so viel fühlen wie so ein Mädchen? Sie ist doch gerade deswegen etwas so Besonderes, weil sie mehr fühlt als wir…“

„Ja, aber sie macht es vor – damit wir es können…“

„Ja, das sagt sie. Also sie meint es. Aber genauso viel – das geht doch, glaube ich, gar nicht.“

„Nein, vielleicht nicht. Aber möglichst genauso viel. So viel wie möglich. So viel wie möglich, um so nah wie möglich in ihre Nähe zu kommen. Verstehst du?“

„Ja – ich sehe es an dir.“

„Was siehst du?“

„Wie du das versuchst.“

„Und du nicht?“

„Ich weiß nicht. Ich fühle mich dem ja schon relativ nah.“

„Relativ – was ist relativ, Alex? Alles ist relativ. Aber relativ ist relativ. Es ist nur relativ, verstehst du? Es muss mehr sein als relativ! Relativ ist zu wenig.“

„Mach es vor, Valentin. Mach es erstmal richtig vor.“

„Ja, ich werde es versuchen.“

Er sah seinen Freund ernst an. Und leise spürte er zum ersten Mal einen kleinen Abstand – einen schmerzlichen Abstand, in dem er seinen Freund nicht so nah empfand, wie er es so sehr erhoffte. Vielleicht war dies dasselbe, was Alex über all die Jahre gefühlt hatte, als er sich für nichts interessieren konnte, womit Alex sich schon immer beschäftigt hatte. Er wusste noch immer nichts im Gegensatz zu Alex. Er fühlte nur etwas… etwas, was Alex offenbar nicht fühlte, nicht so stark, nicht so tief.

*

Als er an diesem Nachmittag zuhause saß, dachte er noch einmal an ihr Gespräch.

Er hatte gesagt, man wäre erst wirklich menschlich, wenn man so wäre wie sie. Und zugleich war sie wie ein Engel. Sternenmädchen… War man erst wirklich menschlich, wenn man so war wie dieses Mädchen? Er fühlte es noch immer so – aber vielleicht konnten dies nicht alle Menschen.

Aber man musste es doch zumindest wollen können? Man musste doch eine Sehnsucht danach haben? Allein schon, wenn man sie sah? Wenn man dieses Mädchen sah… allein schon dadurch…

Entzündete das Sternenmädchen nicht in jedem Herzen eine Sehnsucht nach den Sternen? Aber was waren ‚die Sterne’ eigentlich? Ging es nicht um das Fühlen dessen, was richtig war? Wenn aber das Herz das Richtige fühlte – waren die Sterne nicht immer schon im Herzen? Musste das Herz nicht nur dieses Eine lernen: Überhaupt wirklich zu fühlen? Und wenn es dies tat, lag dann nicht alles in ihm? Alle Sterne? Das Sternenmädchen… es hatte das menschlichste Herz von allen, es fühlte als Einzige von allen ganz und gar das Richtige. Nicht sein Herz griff nach den Sternen… nein, die Sterne kamen zu ihm.

Waren schon immer bei ihm. Das Sterntaler-Märchen musste umgeschrieben werden. Es war einmal ein Mädchen, das hatte von Anfang an den Himmel und alle Sterne in seinem Herzen…

Er ging noch einmal zum Drogeriemarkt um die Ecke, um ihr Foto ausdrucken zu lassen.

Als er an dem Automaten stand, der aus einer Datei auf dem USB-Stick ein Foto in jeder gewünschten Größe machen konnte, kam es ihm fast wie ein Vergehen vor, ihr Bild einfach auf einem echten Foto auszudrucken, von einem Automaten. Vielleicht würde sie das gar nicht wollen. Sie wusste es ja nicht einmal… Aber seine Sehnsucht nach ihrem Bild war zu groß.

Er schämte sich, als er den Automaten bediente. Seine einzige Entschuldigung war seine Liebe zu ihr. Er wollte ihr Bild nicht so betrachten, wie Andere Poster von leicht bekleideten Stars betrachteten – bei ihr war es etwas völlig anderes. Er sehnte sich so nach ihrem Gesicht, ihrem Blick.

Als dann das Foto im A3-Format herauskam, schämte er sich wieder. Wie konnte man ein so schönes Gesicht einfach ausdrucken? Einfach in die Hände nehmen, bezahlen, nach Hause gehen…

Ein weiteres Mal schämte er sich, als er ihr Foto an die Wand hinter seinem Schreibtisch hielt. Man durfte mit diesem Bild einfach nicht wie mit einer ‚Sache’ umgehen – und doch musste man es, wenn man prüfen wollte, ob es dort hängen konnte. Es war eigentlich furchtbar. Und ähnlich schlimm war der Gedanke, dass nun seine Mutter oder sein Vater hereinkommen könnten und irgendeine Bemerkung machen könnten. Eine völlig unpassende, überflüssige, idiotische Bemerkung. Selbst jede interessierte Frage war schon unpassend. Es ging sie gar nichts an. Am liebsten hätte er ihr Bild vor jedem versteckt – und doch wollte er es nicht verstecken müssen. Er wollte aber auch nicht darüber sprechen müssen. Sich gar rechtfertigen müssen, warum er sich ein so wunderschönes Bild aufhängte. Vielleicht würde man dann auch wieder von ‚Träume-rei’ reden – und nichts das Geringste verstehen.

Aber man musste seine Scham einfach überwinden und zu dem stehen, was man empfand. Man empfand Liebe zu diesem Mädchen – und man empfand das Bedürfnis, sein Bild immer vor sich zu haben, wenn man schon nicht selbst bei ihr sein konnte… Die Anderen mussten das einfach akzeptieren und nicht weiter darüber reden.

Er bat sie selbst innerlich noch einmal um Erlaubnis. Dann befestigte er hinten auf dem Foto umgebogene Tesafilmstücken, um es so an der Wand haften zu lassen.

Als er ihr Bild auf diese Weise angebracht hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und sah sie einfach nur an. Wieder versank er in ihre Augen, in Sehnsucht nach diesem Mädchen…

Während des folgenden Tages litt er am meisten darunter, dass er nicht wusste, wie er Kontakt zu ihr aufnehmen konnte.

Als er mit Alex in der Pause darüber sprach, erwiderte dieser:

„Da bist du offenbar nicht der Einzige.“

„Wieso?“

„Du liest eben keine Boulevardpresse. Sie haben eine weitere kleine Nachricht gebracht.“

„Welche?“, fragte er aufgeregt.

„Titel: ‚Schüchterner Engel?’ Und dann schreiben sie, dass sie ganz viele Anrufe, Mails und sogar Post bekamen und ihr über das Krankenhaus davon Nachricht gegeben haben. Sie hätte sich dann zwar gemeldet, war aber zu keinem weiteren Interview bereit. Sie würde aber demnächst etwas auf Youtube einstellen.“

„Auf Youtube?“

„Ja.“

„Und kann man jetzt Kontakt zu ihr aufnehmen oder nicht?“

„Du kannst ja ebenfalls an das Lieblingsblatt unserer Eltern schreiben“, grinste Alex.

„Das werde ich garantiert nicht tun!“

„Dann gibt’s keinen Kontakt mit ihr.“ „‚Schüchterner Engel?’ Die sind echt so blöd!“

„Sind wahrscheinlich nur sauer, dass sie kein Interview gekriegt haben.“

„Gut so!“, sagte er.

Er konnte seine Liebe zu diesem geheimnisvollen Mädchen nicht in Worte fassen. Selbst der Titel ‚Schüchterner Engel’ gefiel ihm noch – nur nicht als Schlagzeile der schlimmsten Zeitung der Stadt. Wenn sie ein schüchterner Engel war, dann konnte jede solche Überschrift das alles nur absolut… entheiligen. Er stellte sich vor, dass sie einerseits schüchtern war, andererseits dieser Zeitung ganz bewusst ein Interview verweigert hatte. Ein Interview hatte sie schließlich schon gegeben – und zwar gerne.

Das Sternenmädchen wusste sicher ganz genau, was es tat und warum es manches nicht wollte. Wunderbar war sie…

*

Beim Abendessen ereilte ihn dann, was er befürchtet hatte – die Aufmerksamkeit seiner Eltern.

„Ich habe“, sagte seine Mutter beiläufig, „beim Bettenabziehen das Foto über deinem Schreibtisch gesehen. Ist das nicht das Mädchen vom Wochenende, auf dem Alex?“

„Ja, das ist sie.“

„Süßes Mädchen!“, erwiderte seine Mutter augenzwinkernd.

„Mama!“, sagte er empört. „Sie ist nicht süß!“

„Was denn?“

„Jedenfalls nicht süß!“

„Ist ja schon gut. Also dann nicht süß.“

„Die im weißen Kleid?“, erkundigte sich sein Vater.

„Es ist auch keine ‚die’!“, widersprach er.

„Was denn?“, fragte nun auch sein Vater.

„Ihr versteht das nicht.“

„Doch, ich schon“, sagte seine Mutter.

„Dann erklär es Papa.“

„Man sagt einfach nicht ‚die’“, erklärte seine Mutter, an ihren Mann gewandt. „Nicht, wenn dein Sohn ein Foto von ihr über seinem Schreibtisch hängen hat.“

„Oh…“, sagte sein Vater gespielt erstaunt. „Okay, alles klar.“

Er rollte mit den Augen und hoffte, dass es nun vorbei war.

Doch nun fragte sein Vater:

„Und wieso hängst du sie dir über den Schreibtisch?“