Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
„Am liebsten würde ich das Herz der anderen Menschen an die Hand nehmen und ihm die ganze Schönheit zeigen. Das Herz müsste sie doch sehen? Aber wo ist es bei den anderen Menschen in einem solchen Augenblick?“ Ihrem Tagebuch vertraut die empfindsame 15-jährige Saskia ihre innersten Gedanken an. So entsteht ein berührendes Zeugnis eines jungen Mädchens, das an seiner Umwelt tiefsten Anteil nimmt und selbst oft so allein ist. Der mitempfindende Leser steht vor dem Erleben einer schönen Seele, das ihn selbst reich beschenken kann...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 176
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.
Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...
Es ist seltsam, ein Tagebuch zu beginnen. Aber ich bin froh, dass ich es jetzt endlich tue. Ich habe sonst niemanden, mit dem ich reden könnte. Niemanden, der mir zuhören würde. Und vor allem niemanden, der mich verstehen würde.
Noch fühlt es sich so ungewohnt an... Ich habe mir sogar einen eigenen Füller gekauft, den ich nur für dieses Tagebuch benutzen will. Ist das noch normal? Ein Füller, mit dem man Tinte aus einem Tintenfass aufsaugen kann. Auch das ist noch ganz ungewohnt, aber irgendwie schön. Und ja, obwohl es sich noch so merkwürdig anfühlt, merke ich schon, wie dieses Tagebuch wie ein guter Freund werden wird. Du verstehst mich, nicht wahr? Liebes Tagebuch... So werde ich Dich nennen. Denn das bist Du ja – mein liebes Tagebuch...
Heute wollte ich Dich nur einweihen. Ich konnte es nicht mehr abwarten. Aber ich muss noch lernen. Also warte nur ein wenig, bis morgen, dann schreibe ich weiter. Nur noch das Datum. Es ist der 19. September.
~ ·~
20. September
Liebes Tagebuch!
Schon den ganzen Tag habe ich mich darauf gefreut, schreiben zu können. Ich möchte eigentlich gar nicht sagen, „in Dich hineinzuschreiben“, denn für mich bist Du nicht einfach nur ein Buch, eine Sache... Was ich in Dich hineinschreibe, das weißt Du. Und Du verstehst alles. Du bist mehr als ein Buch. Du bist mein Tagebuch...
Gerade höre ich eines meiner Lieblingslieder. Heart of Gold von Birdy. Kennst Du das, wenn man Lieder hat, die man immer wieder von vorne hören möchte? Und wenn diese Lieder Stellen haben, wo man eine Gänsehaut bekommt? Wo es sich so anfühlt, als ob die ganze Welt wundervoll ist? Als ob alle Menschen einmal glücklich sein könnten? Und man selbst auch – für immer?
Das sind genau die gleichen Stellen, wo die Sehnsucht so groß wird, so tief ... die Sehnsucht danach, dass es wirklich einmal so werden könnte. Vielleicht ist das auch nur bei diesem Lied so. Vielleicht singt Birdy einfach so. Deswegen mag ich sie jedenfalls. Weil sie so singen kann. Dass man diese Sehnsucht bekommt, die man aber längst hat. Dass man sie einfach spürt. Und nichts anderes, für einen Moment.
Aber haben die anderen Menschen das auch? Es müssten doch eigentlich alle Menschen haben, wenn sie so ein Lied hören? Aber ich weiß, dass es nicht so ist. Aber warum nicht? Warum kann es nicht so sein, dass man alle Menschen so ein Lied hören lassen kann – und dass dann alles gut wäre ... die ganze Welt?
So etwas kann ich niemanden fragen. Die Leute würden mich gar nicht verstehen. Emma zum Beispiel – das ist meine beste Freundin –, mit ihr hatte ich neulich einmal versucht, irgendwie darüber zu sprechen. Aber selbst sie hat mich nicht verstanden... Sie kennt auch solche Gänsehaut-Lieder, aber die Sehnsucht hat sie nicht verstanden... Weißt Du, was sie gesagt hat? Saskia, hat sie gesagt, Saskia, Du machst Dir einfach zu viele Gedanken. Sicher wäre es schön, wenn die ganze Welt glücklich wäre, oder besser, aber sie ist es nun mal nicht. Wenn man sich zu viele Gedanken macht, wird man verrückt – oder völlig unglücklich. Das willst Du doch nicht? Genieße Deine Lieblingslieder einfach, ohne gleich an die ganze Welt zu denken. Das hat sie gesagt...
Am liebsten hätte ich da geweint. Denn es sind doch gerade deshalb meine Lieblingslieder, weil ich dabei an die ganze Welt denke. Sie bringen mich dazu. Sie wecken meine Sehnsucht, die ich schon habe – und sie wecken dann die Hoffnung, eine Art Hoffnungs-Sehnsucht... Das macht sie so schön... Aber das versteht Emma nicht. Sie will das auch gar nicht. Aber wenn Emma es nicht versteht, dann versteht es niemand. Wen könnte es noch geben? Nur noch Dich...
Eigentlich wollte ich gar nicht sofort von solchen Dingen schreiben. Ich habe mich doch so gefreut, auf Dich, liebes Tagebuch. Und nun erzähle ich nur solche Sachen! Aber nun lernst Du mich also sofort kennen, wie ich bin. Manchmal verstehe ich mich selbst nicht.
Aber eines verstehe ich: Man kann sich gar nicht zu viele Gedanken machen! Nicht solche Gedanken... Davon kann man sich höchstens zu wenig machen. Und wenn selbst die eigenen Freundinnen sich zu wenig machen, dann tut das so weh! Vielleicht habe ich Dich ja nur deshalb gekauft. Vielleicht haben wir uns nur deshalb kennengelernt – oder tun das jetzt, liebes Tagebuch. Bist Du deshalb enttäuscht? Bitte nicht... Bitte denke nicht, dass ich Dich nur für etwas gebrauche und benutze, das tue ich nicht! Ich brauche Dich. Du bist mein wirklicher Freund.
Auch das ist so seltsam, wie schnell das geht... Gestern erst habe ich Dich gekauft. Und jetzt bist Du mir schon so vertraut, als wären wir schon länger befreundet als Emma und ich, ja als würden wir uns schon länger kennen als jeder Mensch mich kennt. Liegt das nur an meinem Vertrauen Dir gegenüber? Oder hast Du vielleicht sogar schon auf mich gewartet? Das wäre eine schöne Vorstellung...
Ich habe Dich nicht gekauft, um Dich zu benutzen. Ich habe Dich gekauft, weil ich Dich brauche, und weil Du zu mir gehörst, nicht in ein Kaufhaus. Du bedeutest mir unendlich viel. Darum denke bitte nie, nie, dass Du nur ein Ersatz bist. Das bist Du nicht. Du bist viel mehr, als Du denkst...
Gute Nacht, liebes Tagebuch!
~ ·~
21. September
Liebes Tagebuch!
Heute ist Herbstanfang! Weißt Du, dass der Herbst meine Lieblingsjahreszeit ist? Noch so etwas, was niemand versteht... Die meisten mögen den Sommer, sehr viele den Frühling, manche vielleicht den Winter – aber den Herbst?
Ich traue mich schon gar nicht mehr, das zu sagen. Die Leute gucken dann immer nur komisch. Den Herbst? sagen sie dann und betonen das dann so komisch. Und wenn man dann in ihre Augen guckt, weiß man, dass man es gar nicht versuchen braucht, überhaupt zu erklären... Aber dann wird man wieder so traurig, wie der Herbst selbst ist, an einem Oktobermorgen, wenn der Nebel noch über den Feldern liegt, oder wenn er überhaupt den ganzen Tag die Welt in sich einhüllt...
Doch Du brauchst nicht zu denken, dass mir nur die Nebeloder die Regentage gefallen. Ich mag auch den sonnigen Herbst. Wenn langsam die Blätter von den Bäumen fallen oder noch dranhängen, golden, rot, braun, gelb, alle Farben! Und dann die Sonne, wie sie durch die Blätter scheint. Goldenes Licht. Ein Wunder – das ist dann genau das gleiche Gefühl wie bei diesen Stellen in den Liedern...
Mir fällt gerade auf, dass das Lied von Birdy auch „Heart of Gold“ heißt. Goldenes Licht, goldenes Herz – das passt doch gut, liebes Tagebuch! Ich verstehe gar nicht, wie man den Herbst nicht schön finden kann! Nicht nur schön, sondern wunderschön. So schön, dass es weh tut...
Ich weiß noch, wie Oma mit mir einmal durch den Wald gegangen ist, und ich dann mit den Füßen durch das Laub geraschelt bin. Da war ich ungefähr zehn. Und ich weiß noch, dass ich in dem Moment unendlich glücklich war – und dass ich glaube ich sogar gedacht habe: An diesen Moment erinnere ich mich mein ganzes Leben. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, aber ich glaube nicht. Die liebe Oma...
~ ·~
22. September
Liebes Tagebuch!
Heute war ein schlimmer Tag! Ich habe Emma erzählt, dass ich Dich habe, also dass ich ein Tagebuch schreibe. Damit konnte sie nichts anfangen. Sie wollte wissen, was ich da hineinschreibe. Ich wusste nicht, wie ich es ihr erklären konnte. Das muss man doch wissen? Was schreibt man denn in ein Tagebuch? Alles, was man im Herzen hat – oder nicht? Aber ich hatte das Gefühl, dass sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, was man so reinschreibt.
Am Ende fühlte ich mich von ihr ein bisschen so angeguckt wie ein kleines Mädchen, elf, zwölf oder höchstens dreizehn Jahre alt, das Pferdezeitschriften liest und sich zum ersten Mal verliebt hat. Ich kam mir so blöd vor! Fast hätte ich vor ihren Augen geweint. Sie hat das dann gemerkt und war dann wieder sehr lieb zu mir, aber ich war trotzdem den ganzen Tag traurig. Warum versteht mich denn keiner – in so vielem, was mir wichtig ist? Nicht mal Emma?
Was schreibt man in ein Tagebuch? Ja, wenn ich Dich als Unterstützung dabei gehabt hätte, sozusagen lebendig, hätte ich vielleicht die richtigen Worte finden können – und mich auch trauen können, sie auszusprechen. Dann hätte ich gesagt: Alles, Emma! Alles schreibt man hinein. Dass die Gänsehaut bei den Liedern nicht nur bedeutet, dass man sie schön findet, sondern dass man noch eine sehr, sehr große Sehnsucht hat. Und man schreibt nicht nur, man redet mit seinem Tagebuch – denn dieses versteht einen wirklich! Aber das würde auch schon wieder niemand verstehen... Und man schreibt hinein, wie traurig man ist, wenn die beste Freundin nicht einmal weiß und versteht, was man in ein Tagebuch schreibt und schreiben kann...
Was ist überhaupt so schlimm an Pferdezeitschriften? Das war zwar mein Vergleich, aber so hat Emma wirklich geguckt. Ich glaube, das Problem ist, dass das alles nicht ernst genommen wird. „Pferdezeitschriften“ – das ist so das Typische für etwas kleinere Mädchen. Und später hört es dann auf. Aber was hört dann eigentlich auf? Ist das nicht gerade das Problem?
Ich habe mir nur einmal eine solche Zeitschrift angeschaut, liebes Tagebuch. Ja, da war ich wohl zwölf oder so. Ich fand das schon damals blöd! Ja – wirklich blöd! Ich habe es damals natürlich noch nicht wirklich verstanden, dass solche Zeitschriften gemacht werden, um damit Geld zu verdienen. Aber gefühlt habe ich es. Ich habe gefühlt, dass es nicht um die Pferde geht. Na ja, irgendwo schon, aber nicht wirklich – verstehst Du? Solche Zeitschriften sind so geschrieben, dass man sie gut finden soll. Dann gibt es die „Storys“, die „Fragen-Seite“ und all diese Dinge – und immer habe ich gemerkt, dass da irgendwas nicht stimmt. Es hat mir nicht gefallen. Jetzt weiß ich, warum...
Und das ist eigentlich das Schlimme! Das Schlimme ist, dass kleine Mädchen solche Zeitschriften lesen und dass sie ein, zwei Jahre ganz begeistert von Pferden sind – und dass es dann irgendwann aufhört! Und ich glaube, auch wegen der Zeitschriften. Ist das nicht schlimm? Eigentlich machen die Zeitschriften das Ganze selbst kaputt. Sie sind so geschrieben, dass man sich irgendwann zu alt dafür fühlt, das ist doch klar. Aber nicht nur das – man fühlt sich dann auch für das Thema zu alt. „Pferde – das ist was für elfjährige Mädchen“. Aber genau das ist das Problem!
Das Ganze wird zu einer bloßen „Phase“. Aber wie kann Liebe zu Tieren eine bloße Phase sein? Ich glaube, die Zeitschriften machen die Liebe gerade kaputt! Und warum? Weil sie daraus etwas machen, womit man Geld verdienen kann. Die Zeitschriftenmacher interessieren die Pferde gar nicht! Sonst würden sie noch ganz anders schreiben. Und das ist es eigentlich, was man merkt – auch wenn man noch gar nicht weiß, was es ist.
Wahrscheinlich liegt es sogar daran, dass es nur um Pferde geht. Oder um Hunde. Oder Katzen. Wie ein Hobby. Wie das, was eben elfjährige Mädchen interessiert. Oder Hundenarren und so weiter. Das ist doch schlimm!
Ich habe lange gebraucht, bis ich anfing, zu merken, dass ich Tiere mehr liebe, als es Andere tun. Und noch immer glaube ich, dass das doch eigentlich gar nicht sein kann. Warum ist das so?
Emma interessiert sich für Tiere gar nicht besonders. Und wie kann man Tiere in diesen Riesenställen halten, die nicht mal mehr Ställe sind, sondern „Anlagen“. Massentierhaltung. Wie kann man auch nur so ein Wort erfinden, ohne bis ins Innerste zu erschrecken, was man da eigentlich tut? Wie kann es Menschen geben, die solche großen Anlagen bauen, um da Tiere hineinzupferchen? Obwohl sie genau wissen, dass die Tiere dort gequält werden, dass sie zu nichts anderem dienen, als geschlachtet zu werden? Liebes Tagebuch! Was für ein schreckliches Wort ist dies schon! Man will es gar nicht schreiben, nicht schreiben, nicht aussprechen, nicht einmal daran denken! Und doch tun es viele Menschen – sie töten unzählige Tiere, jeden Tag! Immer neue. Die Tiere werden geboren und werden getötet. Sie müssen sterben, ohne dass sie überhaupt gelebt haben! Nichts anderes kennen sie als die Enge der Anlagen, Tier neben Tier. Und dann werden sie geschlachtet – zum Essen! Wenn ich daran denke, muss ich wirklich weinen...
Warum lieben die Menschen die Tiere nicht? Wie geht das? Wie kann man die Tiere nicht lieben? Ich kann das nicht, ich weiß nicht, wie das geht...
Diesen Sommer habe ich, als ich mit Mama und Papa einmal an einem See spazierenging, eine Ringelnatter auf dem Wasser gesehen. Ich hatte vorher noch nie eine Ringelnatter schwimmen sehen! Ich war wie verzaubert. So schöne Bewegungen – und wie ist es möglich, damit zu schwimmen? Scheinbar mühelos, als könnte sie überhaupt nicht untergehen. So schön... Ich kann es nicht erklären, liebes Tagebuch. Ich glaube, ich habe noch nie eine so schöne Bewegung gesehen, in ihrer Art. So elegant, aber das ist das ganz falsche Wort... Es war ein Traum, ein Zauber, es war reine Schönheit! Du verstehst mich ja, selbst wenn mir die Worte fehlen...
Aber weißt Du, was Mama sagte? Sie sagte „Ih, eine Schlange!“ Ich fragte, wo, und als ich sie sah, sah ich dieses Wunder... Aber warum nur ich? Liebes Tagebuch – warum sehen die Anderen das nicht...?
Am liebsten würde ich es den anderen Menschen erklären – aber wie kann ich es, wenn mir die Worte fehlen? Oder wenn Worte gar nichts nützen? Denn was nützen die Worte, wenn sie es dann immer noch nicht sehen? Am liebsten würde ich das Herz der anderen Menschen an die Hand nehmen und ihm die ganze Schönheit zeigen. Das Herz müsste sie doch sehen? Aber wo ist es bei den anderen Menschen in einem solchen Augenblick?
Wo ist es überhaupt in so vielen Augenblicken?
Ich habe auch nie verstanden, wie man noch das kleinste Tier totmachen kann. Mama macht immer die Motten tot, wenn sie sie erwischt. Na ja, sie sollten natürlich nicht die Kleider fressen – aber was können sie tun? Sie können doch nur das... Selbst bei einer kleinen Motte werden meine Augen feucht, wenn Mama wieder eine totgemacht hat. Ich muss dann immer denken: Auch diese kleine Motte wollte doch leben... Und ich sehe doch, wie sie leben will! Und wie schön sie ist, so goldschimmernd. Ein bisschen zappelig, wenn sie irgendwo langläuft. Mama findet sie eklig. Aber ich verstehe das nicht...
Ich glaube, ich muss aufhören, liebes Tagebuch. Wenn ich daran denke, werde ich einfach zu traurig. Aber glaubst Du, ich könnte noch ein kleines Gedicht schreiben? Ich will es versuchen, mir kam diese Idee gerade. Ein Gedicht für die kleine Motte – für alle Motten auf der Welt.
Liebe kleine Motte,
gold schimmert Dein zarter Flügel,
schön bist Du,
auch wenn man es nicht sieht,
aber ich sehe es,
und wie gern ließe ich Dich leben,
unruhig läufst Du hin und her,
und man versteht nicht Dein kleines Leben,
man schlägt es tot,
weil Du Löcher machst,
das reicht als Grund,
doch Deine Schönheit sehen sie nicht,
Dein Gold,
Deinen Willen zu leben,
sie sehen es nicht...
Verzeih, kleine Motte, verzeih ihnen,
und verzeih auch mir,
dass ich Dich nicht retten konnte...
Sie sehen es nicht...
~ ·~
23. September
Liebes Tagebuch!
Am liebsten würde ich Dir jeden Tag so viel erzählen wie gestern. Aber gestern war Sonntag... Ich versuche es trotzdem, jeden Tag Zeit zu finden. Es gibt noch so viel zu sagen...
Gestern schrieb ich Dir von der Motte. Die kleine, liebe Motte! Wie ist es mit Menschen? Sehen sich auch die Menschen gar nicht wirklich? Wie ist das bei Anderen?
Es gibt in der Nähe einen Supermarkt, davor sitzt fast immer ein Bettler. So ein alter Mann. Die meisten gehen einfach an ihm vorbei. Kennen ihn ja schon. Oder auch nicht. Wie geht man an einem solchen Menschen vorbei? Ich verstehe das nicht. Sieht man ihn dann, oder sieht man ihn nicht? Interessiert er einen nicht?
Ich verstehe nicht einmal, wie man im Gespräch vertieft an ihm vorbeigehen kann. Man sieht ihn doch! Man kann dann doch nicht einfach weiterreden? So als ob ... als ob er kein Mensch wäre! Aber er sitzt doch da, und er hat keine Wohnung, und er hat keine Freunde, und er hat kein Geld, er hat nichts... Kann man sich das denn gar nicht vorstellen? Dass da ein Mensch auf diesen Steinen sitzt, mit so einem Becher, der vor ihm steht, und dass dieser Mensch nichts hat? Wirklich nichts...? Wie kann man dann noch an ihm vorbeigehen?
Ich kann das nicht – und ich will es auch gar nicht! Ich gebe ihm jedes Mal etwas, 20 Cent oder auch 50 Cent, und immer habe ich das Gefühl, es ist viel zu wenig. Ich schäme mich immer bei dieser kleinen Münze, aber ich komme fast jeden Tag an ihm vorbei. Ich bekomme selbst nicht viel Taschengeld, liebes Tagebuch, manchmal, wenn Freitag war, habe ich ihm schon meine letzte Münze gegeben, aber ich wusste ja, morgen bekomme ich selbst wieder etwas...
~ ·~
24. September
Liebes Tagebuch!
Wenn jeder dem Mann ein bisschen geben würde, würde er doch genug zum Essen haben – und vielleicht sogar einmal eine Wohnung finden können. Aber da gehen immer ganz viele Leute vorbei, und keiner gibt etwas – nur ganz Wenige! Und dann tut es mir noch mehr leid, dass ich selbst nur so wenig geben kann. Verstehst Du, liebes Tagebuch?
Warum verstehen die anderen das nicht?
Am meisten schäme ich mich, dass ich ihm nichts gebe, wenn ich mit Anderen zusammen an ihm vorbeigehe – zum Beispiel mit Emma oder mit Mama. Ich schäme mich dann furchtbar – vor ihm und vor mir selbst. Und doch kann ich das einfach nicht, bisher jedenfalls. Die Anderen verstehen das einfach nicht, die gehen an dem Mann einfach vorbei, als ob er nicht da wäre. Ich gehe dann mit ... aber schäme mich unendlich dafür. Sie reden einfach weiter, und ich würde am liebsten eine Stop-Taste drücken, die Zeit anhalten, dem Mann etwas geben, ganz ehrlich, nicht einfach im Vorbeigehen, nicht einfach so nebenbei, sondern wirklich – und dann die Zeit weitergehen lassen...
Ich glaube, wenn man einmal gesehen hat, dass der Andere ein Mensch ist, kann man das nicht mehr vergessen. Der Mann ist schon alt. Er hat einen grauen Bart und buschige graue Augenbrauen und ganz helle blaue Augen. Mit denen guckt er einen dann manchmal an... Und man sieht die Falten in seinem Gesicht, und wenn er jemand anders anguckt, sieht man auch an seinem Hals die Falten, man sieht, wie alt er ist. Und man sieht die Augen, mit denen er einen manchmal anschaut. Verstehst Du, liebes Tagebuch? Ich kann es einfach nicht erklären – Du musst es so verstehen! Man sieht, dass das ein Mensch ist, und zwar dieser Mensch. Dieser eine. Und wenn er morgen nicht mehr da wäre, dann fehlt er, verstehst Du? Es ist nicht irgendein Mensch, es ist dieser Mensch. Aber was ist, wenn man das gar nicht sieht...?
Diesen Menschen gibt es nur einmal auf der Welt – es ist genau dieser alte Mann. Und er lebt doch mit uns, jetzt, hier? Aber er hat nichts – er hat nur die, die ihm was geben, und das, was sie geben. Mehr hat er nicht... Ich kann das nicht verstehen. Warum ist die Welt so? Und warum geht man dann noch an ihm vorbei? Man müsste ihn doch fast mitnehmen, man müsste doch eigentlich sagen: Komm, Du kannst bei uns wohnen, Du sollst nicht hier auf der Straße sitzen müssen...
Einmal habe ich gesehen, wie morgens die Stadtreinigung vorbeifuhr, so ein kleines Fahrzeug, das den Straßenrand saubermachte. Da habe ich gedacht: Selbst um den Asphalt und um die Steine kümmert man sich mehr! Und der Mann sitzt vor dem Supermarkt. Wenn die Leuchtreklame kaputt ist, repariert man sie. Und in der Nähe ist eine Bank. Das ganze Gebäude besteht aus Steinblöcken, die sehr teuer aussehen. Dafür ist Geld da, für alles, und um alles kümmert man sich. Aber der Mann sitzt nur da, jeden Tag, und er hat diese Falten und ist schon alt, und diese hellen Augen, die einen manchmal anschauen, und er hat nichts, nur diesen Pappbecher, und die Leute gehen vorbei, einfach vorbei...
~ ·~
25. September
Liebes Tagebuch!