Unschuld - Holger Niederhausen - E-Book

Unschuld E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Die junge Studentin Saskia hat es mit ihrem tief empfindsamen Wesen schwer. Sie sehnt sich so sehr nach einem Freund, doch an der Universität findet sie kaum Anschluss. Die gleichaltrige Freddie, bei der sie gerade noch ein Zimmer zur Untermiete bekommt, ist oft verletzend und scheinbar das genaue Gegenteil von ihr. Und dann sucht auf einmal auch noch ein Mann mittleren Alters ihre Freundschaft, der für sie zweifellos sehr viel empfindet. Wie soll sie auf all das reagieren? Sie kann es nur mit dem ihr eigenen Wesen... Ein Roman über die Macht eines reinen Herzens und die geheimnisvolle Führung der Schicksalswege.

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

Gott ist die Liebe;

und wer in der Liebe bleibt,

der bleibt in Gott

und Gott in ihm.

1. Joh. 4,16

„Saskia Reinhardt“, sagte sie.

Die Frau schaute in ihren Computer.

„Wie schreibt man Reinhardt?“

„Mit d-t.“

Warum schaute die Frau so merkwürdig? Eine leichte Unruhe befiel sie, wie immer, wenn etwas auch nur leise auf mögliche Schwierigkeiten hindeutete.

Die Frau blickte vom Bildschirm auf.

„Tut mir leid, wir haben hier keine Saskia Reinhardt.“

Saskia erstarrte innerlich.

„Aber ... aber das kann doch nicht sein? Ich habe mich doch schon letzten Monat angemeldet! Ich habe doch sogar eine Bestätigung bekommen ... warten Sie...“

In heller Aufregung öffnete sie die Seitentasche ihres kleinen Rollkoffers und holte mit rasendem Herzklopfen das Schreiben des Studentenwerks hervor.

„Hier...“

Sie reichte es der Frau und hoffte inständig, dass sich der Irrtum jetzt aufklärte.

„Hmm, ja, tatsächlich – das ist ja seltsam... Warten Sie mal...“

Sie beruhigte sich ein wenig. Die Frau ging an einen Schrank und zog eine Schublade mit Hängeregistraturen heraus. Sie blätterte ein wenig; zog dann eine weitere Schublade heraus, blätterte wieder. Dann ging sie zurück an ihren Computer und tippte und suchte dort etwas. Schließlich blickte sie wieder auf.

„Tut mir leid, da muss im System etwas schiefgelaufen sein.

Es gab da offenbar sozusagen eine Doppelbelegung. Mit anderen Worten: Das Zimmer ist schon vergeben. Ich kann da leider nichts tun. Sie hätten das Schreiben gar nicht bekommen dürfen...“

Ihr wurde siedend heiß.

„Aber – aber was mache ich denn jetzt? Haben Sie nicht noch ein anderes Zimmer? Es muss doch irgendwo noch ein Zimmer frei sein?“ Die Frau schüttelte den Kopf.

„Nein, leider nicht. Das gesamte Studentenwohnheim ist voll belegt. Das ist immer so.“

„Aber ich habe mich doch rechtzeitig angemeldet!“, sagte sie verzweifelt.

„Ja, das mag sein“, erwiderte die Frau. „Aber wir haben kein Zimmer mehr. Ihr Zimmer ist doppelt belegt worden. Es ist bereits jemand eingezogen. Das können wir jetzt nicht rückgängig machen.“

Sie war völlig verzweifelt.

„Und was soll ich jetzt machen...?“

Die Frau wies an ihr vorbei.

„Da vorn an der Pinnwand sind jede Menge Angebote für WG-Unterkünfte und ähnliches. Allerdings auch jede Menge Gesuche...“

Wenn sie jetzt ging, konnte sie nichts mehr machen... Aber sie fühlte sich so oder so ohnmächtig. Die Frau am Computer konnte sagen, was sie wollte. Sie war sich sicher, dass sie sich rechtzeitig und sogar früher als der Andere angemeldet hatte, aber was nützte das nun noch?

Traurig drehte sie sich um, fühlte sich nicht einmal mehr imstande, zu grüßen – die Enttäuschung war zu groß, und ein Kloß saß ihr im Hals...

„Tut mir leid“, sagte die Frau ihr hinterher.

Ohne Antwort lassen konnte sie eigentlich niemanden. Sie drehte sich noch einmal traurig um und sagte:

„Ist schon gut...“

In Wirklichkeit war sie am Boden zerstört. Sie schämte sich, als wenn sie selbst etwas falsch gemacht hätte. Auch dieses Gefühl hatte sie sehr oft, wenn etwas schief ging. Was sollte sie jetzt ihren Eltern sagen, ihrem Vater? Wenn er hier gewesen wäre, hätte er sicher so lange Druck gemacht, bis ein Zimmer dagewesen wäre – jedenfalls ein Riesentheater. Das wollte sie auch wiederum nicht. Sie konnte das nicht, und sie ertrug es auch nicht, wenn Andere miteinander stritten – nicht einmal, wenn es für ihr, Saskias, Wohl war. Nun jedoch fürchtete sie sich, ihrem Vater zu gestehen, dass sie trotz Anmeldung kein Zimmer hatte – und dass sie dafür auch weder gekämpft noch gestritten hatte... Doppelte Scham, und dann noch immer die Frau in ihrem Rücken...

Hundeelend schaute sie die Pinnwand an. Bei den meisten Angeboten waren schon fast alle Telefonnummern abgerissen. Auch bei solchen, wo erst eine einzige Nummer abgerissen worden war, rechnete sie sich keinerlei Chancen aus – aber es gab keine anderen.

Sie schaute zu der Frau hinüber. Sie war nahezu außer Hör-weite, also würde sie hier zumindest telefonieren können. Sie versuchte es mit dem ersten Angebot – schon vergeben. Das zweite – niemand da. Das dritte – vergeben. Bei dem vierten Angebot aber hatte sie Glück! Gerade hier hatte sie sich keinerlei Chancen ausgerechnet. Eine Studentin in ihrem Alter, ebenfalls neunzehn, suchte eine Mitbewohnerin für ein kleines Zimmer von vierzehn Quadratmetern.

„Wenn du dich beeilst, nehm’ ich dich vielleicht“, hörte sie die dominante Stimme am anderen Ende. „Hat gerade jemand abgesagt für heute – die Leute denken offenbar, dass das Zimmer tagelang zu haben ist! Nachher kommt noch jemand anders, den guck ich mir auch noch an. Aber ich denke, dann hab ich jemand Passenden.“

„Okay, ich bin gleich da...“, sagt sie schnell. „Ich geh jetzt vom Studentenwerk los...“

„So genau wollt’ ich’s nicht wissen...“

„Ja, also, bis gleich...“, stotterte sie.

„Bis gleich.“

Wieder schämte sie sich. Wahrscheinlich hatte sie auch dieses Zimmer bereits jetzt wieder verloren. Sicher war sie garantiert nicht die ‚Passende’. Aber sie musste unbedingt ein Zimmer bekommen!

Sie schaute auf den Stadtplan, den sie sich gekauft hatte. Man musste den Bus nehmen. Sie beeilte sich, das große Gebäude zu verlassen.

Als sie im Bus saß, fragte sie sich, wie es anderen Studienanfängern ging. Vielleicht war das Mädchen – sicher war es auch ein Mädchen –, das heute abgesagt hatte, einfach nur krank geworden. Und nun nahm sie, Saskia, auch ihr das Zimmer weg... Wieso war die Welt so? Wieso mussten immer einige zu kurz kommen? Sie fühlte sich gegenüber dem Mädchen, das sie sich vorstellte, schuldig... Und zugleich fand sie die Frau am Telefon viel zu hart. ‚Den guck ich mir auch noch an...’ Konnte man sich die Leute einfach so ‚angucken’ und dann sagen: den nehm’ ich, den nehm’ ich nicht? Ihr würde das viel zu schwer fallen, sie würde das nicht können...

*

Schließlich stand sie in einer Seitenstraße nahe der Altstadt vor dem Häuschen, in dem in der einen Wohnung das Zimmer angeboten wurde. Wieder schlug ihr Herz bis zum Hals.

Dies war im Grunde ihre einzige und letzte Chance! Andernfalls stand ihr ganzer Studienbeginn in Frage. Morgen wollte sie sich immatrikulieren. Dafür könnte sie auch noch in einer Jugendherberge übernachten – aber dann brauchte sie ein Zimmer! Sie brauchte dieses Zimmer. Und doch war sie sich sicher, dass sie bestimmt abgelehnt werden würde.

Sie klingelte. Aus der Gegensprechanlage ertönte es:

„Ja?“

„Ich bin es – Saskia. Ich hab’ vorhin angerufen...“

Der Türöffner surrte.

Keine Antwort war auch eine Antwort. Ihr Gefühl wurde immer mulmiger.

Im zweiten Stock stand an der Tür schon eine mittelgroße, rothaarige Studentin mit einem Piercing in der Nase. Okay, sie hatte verloren...

„Na, hast dich ja ganz schön beeilt!“ Sie fühlte sich kurz von oben bis unten gemustert.

Ohne eine weitere Begrüßung ließ die Frau sie herein.

Zögernd betrat sie die kleine Wohnung. Rechts ging es unmittelbar in eine kleine Küche. Links in ein gemütliches Zimmer mit Schreibtisch am Fenster, Bett, einigen großen Kissen am Boden und Postern an den Wänden. Nach der Küche folgte dann ein anderes Zimmer, in dem ebenfalls an einem kleinen Fenster ein Schreibtisch und an der Wand ein Bett stand.

„Das wär’s“, sagte die junge Frau kurz. „Ich bin übrigens Freddie.“

Sie hielt Saskia die Hand hin.

Irritiert erwiderte sie den Gruß unbeholfen.

„Was guckst du so komisch? Freddie für Friederike, falls dich das wundert. Also was ist jetzt – willst du das Zimmer haben oder nicht?“

„Ich, äh“, sagte sie völlig verwirrt, „würde ... ich es denn bekommen?“

„Hab ich vorhin doch gesagt. Ich guck mir nachher noch jemand anders an und dann entscheid’ ich mich.“

„Ja, also ... gut ... ja, natürlich würde ich es gerne haben. Unbedingt sogar...“

Die junge Frau musterte sie kurz.

„Also gut. Du rufst mich einfach um fünf nochmal an, dann sag ich dir Bescheid.“

Sie sah die junge Frau an. Für diese war im Moment alles geklärt.

„Okay, dann ... gehe ich jetzt erstmal wieder.“

Die Frau begleitete sie zur Tür. Dann sagte sie:

„Bis dann.“

„Bis dann...“, erwiderte Saskia. Unsicher sah sie die Frau noch einmal an, dann hob sie ihren Koffer hoch, um ihn wieder die Treppe hinunterzutragen.

*

Sie hatte noch zwei Stunden Zeit. Sie ging zurück zu der Straßenkreuzung, wo die Fußgängerzone und der Aufstieg zur Altstadt begann. Dort holte sie ihren Stadtplan wieder hervor und überlegte, was sie tun konnte. Sie sah, dass unweit der Stelle, wo sie sich jetzt befand, der Fluss durch die Stadt zog und von Grün gesäumt war. Sie beschloss, dort zu warten...

Als sie den Fluss erreichte, sah sie, dass ein wunderschöner, von alten Bäumen gesäumter Weg an ihm entlang führte. Ihr Herz weitete sich, als sie an diesem wunderschönen frühen Oktobertag diesen idyllischen Weg entlangging. Ein ganzer Strom von Empfindungen erfüllte ihr Inneres...

Schließlich fand sie eine Bank, auf der sogar niemand saß. Sie stellte ihren Koffer an der Seite ab und setzte sich. Sie sah auf den Fluss, das Licht der Herbstsonne glitzerte tanzend auf dem langsam dahinströmenden Wasser. Wunderschön... In ihrem Herzen strömte eine namenlose Sehnsucht. Warum konnte nicht alles so schön sein?

Ein Schwanenpaar kam langsam von der anderen Seite in ihre Richtung. Als es vorbeizog, folgte sie den beiden Tieren mit ihrer ganzen Liebe. ‚Was die beiden wohl gerade füreinander empfinden mögen?’, dachte sie lächelnd.

Natürlich wusste sie, dass Tiere nicht empfanden wie Menschen, aber sie wünschte sich oft, dass sie es könnten. Wenn sie in der Nähe von Tieren war, fühlte sie immer wieder schmerzlich die Trennung zwischen Mensch und Tier, zwischen dem Tier und sich. Sie selbst liebte Tiere von ganzem Herzen. Aber die Tiere wussten davon nichts, konnten es allenfalls ganz unbewusst fühlen... Was lebte im Innern eines Pferdes, einer Kuh, eines Rehs? Und was lebte in zwei solchen edlen, schönen Schwänen, die zusammen waren, die so wunderschön vereint diesen glitzernden Fluss hinaufschwam-men? War sich ein solches Schwanenpaar nicht ein Leben lang treu?

Ihre Gedanken schweiften zurück ins Reich der Menschen. Oh, wie gern wäre auch sie jemandem treu. Aber wo war der Junge, dem sie ihre Liebe schenken könnte? Sie hatte ihn noch nicht gefunden... Wie gern hätte sie ihn, den Freund, auf den sie wartete, jetzt hier bei sich auf der Bank; mit ihm würde sie all ihre Gefühle teilen, all ihre Empfindungen, wie sie sie jetzt hatte – diese Schönheit, diese Sehnsucht, die wie eine wunderschöne Melodie in ihrem Herzen klang...

Aber gab es diesen Jungen überhaupt? Diesen einen, wunderbaren Freund? Gab es jemanden, der sie verstand – ganz? Sie sah nur wenige Jungen, bei denen sie überhaupt anfing, sich zu fragen, was sie innerlich fühlten, dachten. Die meisten lebten ein ganz anderes Leben, hatten andere Interessen, ein anderes Verhalten, eine andere Sprache – die sie nicht verstand. Sie verstand die Worte, sie verstand die Interessen und all das, aber es war ihr so fremd, so fremd... Und so fürchtete sie manchmal, diesen einen Jungen würde es nie geben, nicht für sie...

Oft hing sie ihren Gedanken nach, vor allem abends, hörte eine ruhige Musik oder schaute einfach auf die langsam untergehende Sonne, hörte den Vögeln zu, die den Ausgang des Tages begleiteten, die Amseln, verfolgte den Flug der Mauersegler, und in ihrem Innern lebte dann eine ganz eigene Melodie, ein Lied aus Gefühlen...

Ja, einige wenige Jungen hatte es gegeben, von denen sie sich berührt gefühlt hatte. So jemanden wie diesen einen Jungen aus der Parallelklasse, mit dem sie aber nie zu tun gehabt hatte. Sie kannte auch nicht mehr als seinen Namen, Leon. Er war ähnlich still wie sie gewesen. Wenn sich ein Junge einmal für sie interessieren würde, dann müsste er so ähnlich sein wie dieser Junge aus ihrer alten Schule... Er war ihr sofort aufgefallen, weil er niemandem auffiel, so wie sie. Aber er hatte sich nie für sie interessiert – und sie hätte es nie gewagt, einen Jungen von sich aus anzusprechen.

Wenige Male war sie in der Oberstufe mit auf Feten gegangen. Sehr wenige Male war sie dort angesprochen worden. Und immer hatte sie durch ihre zurückhaltende Schweigsamkeit und Schüchternheit nach kurzer Zeit das Interesse dieser Jungen verloren. Dann war sie mit ihren Freundinnen nicht mehr mitgegangen...

Nun saß sie hier auf einer Bank und wartete darauf, dass sie in das Zimmer einer Frau in ihrem Alter ziehen durfte, die wiederum ganz anders war... Sie war sich sicher, dass sie, wenn sie das Zimmer bekäme, es nicht lange aushalten würde. Sie würde diesem gleichaltrigen Mädchen hoffnungslos unterlegen sein, so wie der Frau vorhin im Studentenwerk. In jedem Fall würde sie sich so früh wie möglich um ein Zimmer im Wohnheim für das nächste Semester bewerben, noch vor allen anderen.

Morgen musste sie sich dann erst einmal für das Studium einschreiben. Einerseits war sie sehr froh, dass sie im Nachrück-verfahren diesen Studienplatz bekommen hatte. Und doch zweifelte sie auch hier, ob es das Richtige für sie war. Eigentlich konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen. Tiermedizin... Aber ob sie die Richtige war, daran zweifelte sie. Sie hatte Angst davor, dass sie es nicht richtig machen würde. Dass sie nicht operieren könnte, dass sie Tiere nicht wirklich behandeln könnte. Sie liebte sie zu sehr. Sie würde selbst einem verletzten Tier nicht noch ein Skalpell in den Leib stechen und es aufschneiden können... Und woher sollte man immer wissen, was man tun musste? Und wenn man es theoretisch lernen würde, konnte man es dann auch?

Vielleicht würde sie das mit dem Operieren ja alles irgendwie lernen – doch dann hatte sie Angst, dadurch ihre Liebe zu den Tieren zu verlieren. Sie hatte Angst, dass der Mut, ein Tier aufzuschneiden, gleichzeitig die Liebe töten würde; dass der Skalpell auch die Liebe zerschneiden und zur Routine lassen würde...

Sie verstand nicht, warum die meisten Menschen Tiere so viel weniger liebten. Ja, sie hatten ihre Hunde und Katzen, aber was empfanden sie, wenn sie bei einem Pferd waren, bei einem Kaninchen, bei einem Vogel? Zuneigung ja, das hatten viele Menschen. Man fand Tiere ‚süß’, wurde von ihnen irgendwie berührt. Aber wer empfand diese tiefe, innige Liebe zu ihnen, die fast weh tat...

Die meisten Menschen aßen Tiere sogar – und waren gleichgültig gegenüber den Qualen, den die Tiere für den Menschen litten, durch den Menschen litten. Massentierhaltung, gewöhnliche Tierhaltung, Tierversuche. Sie fand es furchtbar, dass man bis in die Sprache hinein einfach nur von ‚Produktion’ sprach. Fleischproduktion! Aber Tiere waren doch lebendig; sie fühlten doch; sie hatten doch Angst, Schmerzen, Empfindungen... Sie wollten doch leben.

Immer wenn sie daran dachte und ihr die Bilder aus der Massentierhaltung oder den Tierversuchslaboren in den Sinn kamen, stieg eine unendliche Traurigkeit in ihr auf, oft hatte sie dann auf einmal tränenfeuchte Augen...

Diese Grausamkeit begann ja manchmal schon in der Kindheit. Nie würde sie den Moment vergessen, wo sie als etwa achtjähriges Mädchen etwas abseits von einem Spielplatz drei Jungen sah, die auf dem Boden hockten und so vertieft in etwas waren, dass sie sich ihnen näherte. Was sie dann sah, hatte sie so schockiert, dass sie tagelang immer wieder nur daran denken konnte. Sie hatte fast nichts gesehen, aber die Jungen hatten ihr gesagt, was sie machten. Sie verbrannten Ameisen mit einer Lupe, die sie als Brennglas benutzten.

Sie hatte ein kleines, schwarzes Etwas gesehen und einen strahlend hellen Punkt, von dem dann ein haarfeiner Rauchfa-den aufstieg. Ihr Vater hatte ihr erklären müssen, wie das möglich war. Vor dem Schlafengehen hatte sie dann lange, lange geweint, weil ihr die Ameisen so leid taten...

Warum hörten die Menschen nicht auf damit? Und sie empfanden ja immer weniger, je mehr es nicht mehr um das einzelne Tier ging, sondern je mehr das Töten und Quälen in Massen, mit Hilfe von Maschinen und anonym geschah. Das Überfischen der Meere mit immer größeren Netzen, nur damit die Massen von Fisch in die Supermarktregale quollen, billig. Das Töten von Küken und das Transportieren der Leichen mit riesigen Schaufelladern... Wieder waren Tränen in ihren Augen...

Und die Zerstörung ganzer Lebensräume aus egoistischen, sinnlosen Gründen. Und es waren zu wenig Menschen, die noch für einen kleinen Tümpel kämpften, für einen einzelnen Frosch. – Sie würde, wenn sie entscheiden dürfte, nie eine Autobahn bauen, wenn dadurch Tiere sterben mussten. Sie würde lieber zwei Stunden länger Zug fahren, als durch eine neue Bahnstrecke die Lebensräume zu zerstören, die den Tieren doch gehörten, die ihre waren...

Und stellten die Menschen es sich nie konkret vor? Wie unter den Schaufelladern und Planierraupen konkret und wirklich die Kaninchen starben, die Frösche, die Mäuse, die Eidechsen und Blindschleichen, die Käfer, die Ameisen? Würden sie es denn noch tun, all diese Tiere töten, wenn sie es sich einmal konkret vorstellen müssten?

*

Was für ein Mensch war diese ‚Freddie’, diese Friederike? Auch dies fand sie seltsam, diese Namen, an denen man nicht mehr erkennen konnte, ob es ein Junge oder ein Mädchen war – oder die bei Mädchen sogar mehr jungenhaft klangen. Warum wollten manche Mädchen das? Warum stachen sie sich Metall in die Haut, sogar in den Mund oder in die Nase? Sie konnte das nicht verstehen. Auch nicht, dass man seine Haut tätowieren konnte – mit etwas, was nie wieder wegging. Sie empfand all das als ein Hässlichermachen, und sie hatte eine leise Abscheu davor...

Aber wieviel taten die Menschen, was sie hässlicher machte und schädlich war. Wieso rauchte man? Wieso trank man Alkohol? Wieso nahm man Drogen? Alle wussten, dass es schädlich war, und sie taten es trotzdem. War ihnen ihr Körper so egal? Wie lange lebte man überhaupt auf dieser schönen Welt? Wollte man denn weniger lange leben? Und zerstörte man die Welt deshalb – damit es einem auch überhaupt nicht leid tat, wenn man früh starb? Wieso das alles...

Ihr Vater hatte einmal, als sie ungefähr dreizehn war, gesagt, sie mache sich zu viele Gedanken. Er hatte das wie ein Scherz gesagt – und zugleich hatte sie gewusst, dass er es sagte, weil er ihr helfen wollte; weil er natürlich nicht wollte, dass sie Leid empfand.

Tief verletzt und erschüttert war sie aus der Küche gelaufen und hatte sich auf ihr Bett geworfen – und angefangen zu weinen. Die größte Verletzung war es für sie gewesen, dass er es halb im Scherz gesagt hatte. Das Schlimme war, dass sie sogar sehr genau empfunden hatte, dass ihr Vater ihr helfen wollte – und doch musste sie seinen Standpunkt aus ganzem Herzen ablehnen. Dies gab ihr wiederum neuen Schmerz, ja, sie schämte sich sogar dafür, dass sie ihren Vater, der ihr doch helfen wollte, verurteilte. Und doch verstand sie dies alles nicht! Warum kam es darauf an, weniger zu leiden? Warum war sie ihrem Vater so wichtig – aber nicht alles andere? Warum wollte er, dass sie weniger litt? Mussten die Menschen nicht sogar mehr leiden?

Wenn ihr Vater sie wirklich liebte, warum stand er ihr dann nicht bei, warum teilte er ihr Leid nicht? Warum litt er nicht mit ihr, wie sie, gemeinsam mit ihr? Sie hatte sich dies damals heftig, ja verzweifelt gewünscht: dass ihr geliebter Vater ihr Leid hätte teilen können, sie verstehen können, um mit ihr zu leiden...

Indem sie sich daran erinnerte, rannen wiederum Tränen aus ihren Augen... Es konnte sich doch nur dann etwas ändern, wenn man mehr leiden konnte, unter dem, was man fortwährend tat. Niemals wollte sie weniger leiden! Sie wollte, dass die anderen Menschen auch endlich anfingen, zu leiden – Mitleid zu haben mit den Tieren, mit denen sie doch fortwährend zusammenlebten. Einfach nur Mitleid... Warum hatte niemand Mitleid...

*

Als es fünf Uhr war, rief sie an.

„Ja, hallo, hier ist Saskia. Weißt du jetzt, wen du für dein Zimmer nehmen wirst...?“

Die junge Frau lachte.

„Willst du es denn gar nicht?“

„Doch...“

„Dann kannst du’s haben. Die andere Type wollte ich nicht.

War so ’ne superkorrekte Pharmazie-Studentin. Nein, danke!“

Sie war völlig verwirrt.

„Oh, danke ... vielen Dank! Ja dann ... dann komme ich jetzt nochmal...“

„Ja, das denke ich“, sagte die Stimme leicht spöttisch.

„Gut – bis gleich. Ich beeile mich.“

Wieder lachte diese Freddie belustigt.

„Das brauchst du jetzt nicht mehr.“

Wieder wurde ihr heiß vor Scham.

Sie kehrte auf demselben Weg mit ihrem Koffer zurück. Sie musste sich wirklich Mühe geben, nicht ganz so naiv zu sein.

Sie musste versuchen, sich etwas an diese Freddie anzupassen, sonst würde es nicht gut gehen, das fühlte sie...

Als Saskia wieder in ihrer Wohnung stand, erklärte Freddie kurz:

„Also ich hab’ die Wohnung gemietet, du bist Untermieterin.

Meinetwegen kannst du ab sofort einziehen, das rechnen wir dann um. Ich mach noch einen kleinen Untermietvertrag.

Was es kostet, hast du ja gesehen, zweihundertachtzig Euro.

Hast du irgendwelche speziellen Fragen?“

Sie fühlte sich von der kurzen, fast technischen ‚Aufklärung’ etwas überwältigt.

„Äh, nein, erstmal nicht. Das ist dann also mein Zimmer“, sie zeigte auf den rechten, halb leeren Raum, „und das ist dann unsere gemeinsame Küche, und da“, sie deutete auf die letzte Tür, „ist wahrscheinlich das gemeinsame Bad...?“

„Bingo!“, sagte Freddie, und wiederum fühlte sie sich kurz leise abschätzig gemustert.

„Ich mache das zum ersten Mal“, verteidigte sie sich. „Eigentlich hatte es für mich ein Zimmer im Studentenwohnheim gegeben, aber dann hatten sie da heute eine Doppelbelegung im Computer und mich erst gar nicht gefunden, obwohl ich mich ganz früh angemeldet hatte und auch eine Bestätigung bekommen habe.“

„Typisch Papierkram!“, kommentierte Freddie. „Und warum hast du dann nicht auf deinem Zimmer bestanden?“

Sie spürte, dass sie rot wurde.

„Da war nichts zu machen. Das Zimmer war weg.“

„Das war doch deren Fehler! Da müssen sie dir Ersatz schaffen. Wenn du schon eine Bestätigung hattest!“

„Ja, aber sie haben gesagt...“

„Was die sagen, ist doch egal! Du hast die Bestätigung und kannst es notfalls sogar einklagen. Was sagen deine Eltern dazu?“

„Ich...“, erwiderte sie verwirrt, „meine Eltern wissen noch nichts. Ich will das jetzt so lassen – ich meine, ich darf doch hier wohnen, oder?“

Freddie sah sie einen langen Moment an.

„Du bist echt ’ne komische Type! Zahlst freiwillig mehr für ein Zimmer, wo du im Wohnheim was haben wolltest!“

„Und du?“

„Ich wollte da kein Zimmer. Zu viele Leute auf einem Haufen gehen mir auf den Geist. Ich denke, dich kann ich aushalten.“

Saskia erschrak vor so wenig Wärme.

„War ein Witz!“, sagte Freddie. „Du bist ganz in Ordnung.

Jedenfalls ist jemand wie du mir hundertmal lieber als diese oberkorrekten Typen, die schon jetzt nur einen einwandfreien Abschluss anpeilen und die an einem Piercing zwanghaft vor-beigucken müssen...“

Verlegen sagte sie:

„Okay, ich ... werde jetzt mal meine Eltern anrufen, damit das alles in Ordnung geht.“

„Mit dem Piercing?“

„Nein!“, sagte sie erschrocken.

„Mann, Saskia, auch das war ein Witz!“

Beschämt lächelte sie kurz, dann verschwand sie in ihrem neuen Zimmer. Sie fühlte sich immer hundeelend, wenn sie einen Witz nicht bemerkte, aber in den letzten Worten von Freddie hatte sie zum ersten Mal so etwas wie wirkliche, leichte Wärme gespürt. Vielleicht konnte sie mit ihr doch irgendwie auskommen...

Als sie das Immatrikulationsbüro wieder verließ, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Wenigstens das hatte alles so geklappt, wie es sollte. Nun hatte sie jede Menge Papiere im Rucksack, Studienordnung, erste Studienpläne und weitere Informationen zum Studiengang, Fristen, Prüfungstermine und so weiter. Vieles kannte sie schon, das andere musste sie durcharbeiten. In zwei Wochen begann das Semester.

Sie traf sich mit Freddie in einem Café in der Altstadt. Es war Freddies Vorschlag. Sie hatte ihr beschrieben, wo das ‚Maestro’ lag, und es war leicht zu finden. Als sie das Café betrat, saß Freddie schon an einem Tisch am Fenster. Sie setzte sich zu ihr und sah sich um.

„Schön hier, nicht?“, sagte Freddie.

„Ja.“

„Und – hat alles geklappt?“

„Ja.“

Die Bedienung kam und brachte die Karten.

Freddie sagte:

„Für mich bitte einen Milchkaffee.“

„Ich muss noch kurz gucken...“

„Natürlich.“

Die Bedienung entfernte sich wieder. Als sie kurze Zeit später den Milchkaffee brachte, sagte Saskia:

„Für mich bitte einen Apfelsaft.“

Wieder spürte sie einen merkwürdigen Blick von Freddie.

„Wir sind hier in einem Café...“, sagte diese mit dem verständnislosen Unterton eines ‚und was bestellst du für einen Quark?’

Saskia fühlte sich einmal mehr naiv und beschämt.

„Ich ... bin keine Kaffeetrinkerin. Ich habe auch sehr wenig Geld – und Apfelsaft schmeckt mir nun mal.“

„Kaffee ist doch nicht Kaffee!“, sagte Freddie. „Morgens trinkt man Kaffee. Hier trinkt man etwas ganz anderes – ein Milchkaffee am Nachmittag ist nicht Kaffee, es ist Kultur!“

Sie fühlte sich von Freddie in die Enge getrieben.

„Trotzdem ist das nicht ... meine Gewohnheit“, versuchte sie unbeholfen, sich zu verteidigen.

„Okay, ist ja gut – wenn du meinst. Kommt es bei dir wirklich auf jeden Euro an?“

„Ja. Mein Vater war schon wegen des Zimmers ... na ja, etwas erstaunt... Und meine Eltern sind auch nicht reich. Sie können das Zimmer erst einmal bezahlen, aber ich brauche einen Job. Und Taschengeld habe ich so gut wie nicht – auch nur so lange, bis ich einen Job gefunden habe.“

Als der Apfelsaft gebracht wurde, musterte Freddie diesen noch einmal mit einem abschätzigen Blick. Dann sagte sie:

„Also ehrlich – zusammen in ein Café zu gehen und dann allein Milchkaffee trinken zu müssen, das ist schon hart!“

Beschämt sagte sie:

„Tut mir leid...“

„Na ja“, wiegelte Freddie ab, „vielleicht kann ich dir ja mit der Zeit noch was beibringen.“

Sie hasste es, wenn jemand so etwas sagte. Man konnte nicht anders, als sich dann sehr klein fühlen. Selbst wenn es gut war, was man lernen konnte, wurde es einem sozusagen ‚aufgepfropft’, war es ausschließlich das Verdienst dessen, der einem etwas ‚beibrachte’. Man war bloß wie ein Kind... Sie hasste es auch, wenn sie spürte, dass Kinder anders behandelt wurden, als sie es eigentlich wollten. Sie spürte das immer sehr genau... Aber sie konnte dann nie etwas sagen, weder bei einem Kind noch bei sich selbst. Es war, als wenn ihr in solchen Momenten der Mund verschlossen wurde...

„Was studierst du überhaupt?“

Freddies Frage riss sie aus ihren Gedanken. Noch immer spürte sie ihre Abwehr. Dennoch erwiderte sie, als wenn nichts geschehen wäre:

„Tiermedizin.“

Freddie pfiff leise durch die Zähne.

„Hat das nicht einen ziemlich hohen NC?“

„Na ja – ich bin im Nachrückverfahren reingekommen.“

„Kann ja auch kein viel schlechteres Abi gewesen sein.“

„Das ist doch nicht so wichtig...“

„Ich mein’ ja nur. Du bist aber nicht so wie die Pharmazeutin, von der ich gestern erzählt hab’?“

„Nein.“

„Und warum Tiermedizin? Doch nicht etwa wegen der Kleine-Mädchen-Liebe zu Tieren?“

Sie fühlte einen Stich tief in ihr Herz dringen. Wenn sie so etwas hörte, verschloss sich ihr Mund vollkommen ... für jede wahrhaftige Antwort. In einem solchen Moment wusste sie von Grund auf, dass sie mit diesem Menschen nicht von ihrer wirklichen Liebe zu den Tieren sprechen konnte. Auch ein solcher wusste dann nichts von dieser Liebe... Schmerzlich durchdrang dann das Gefühl der Einsamkeit ihre ganze Seele.

Sie wusste nicht, ob sie eine ‚Kleine-Mädchen-Liebe’ hatte.

Sie wusste nur, dass sie sie schon seit ihrer Kindheit hatte und dass diese Liebe, trotz aller Wandlungen, immer tiefer geworden war...

Freddie fragte stutzend:

„Was? Doch deswegen?“ Sie studierte ihre Gesichtszüge.

„Oh Gott – das rührt mich jetzt echt.“

Hundeelend ... der Mund verschlossen, ein seltsames Ziehen im Magen wegen des absoluten Nicht-verstanden-Werdens, unsägliche Traurigkeit...

So schlimm hatte sie sich mit dieser Frage noch nie gefühlt.

Deswegen brachte sie schließlich doch leise hervor:

„Was weißt du von der Liebe zu Tieren...“

Sie konnte in Freddies Augen genau lesen, was in dieser jetzt vorging. Sie rang gerade mit sich, ob sie das Gespräch überhaupt weiterführen wollte oder angesichts der ‚übertriebenen Dramatik’ einfach weggehen sollte, nach dem Motto: ‚Diesen Schuh zieh’ ich mir jetzt nicht an!’ – Und wieder fühlte sie sich selbst auch schuldig und zugleich noch einsamer...

Schließlich entspannte Freddie sich wieder und sagte nur leichthin:

„Stimmt – ich weiß davon eigentlich nichts. Wär’ mir ehrlich gesagt auch zu viel.“

Wie konnte man dies so fast feindselig abtun! Sie fühlte eine tiefe Verzweiflung. Es gab niemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte.

Freddie musterte sie noch einmal. Dann sagte sie:

„Okay – wir können jetzt hier ein Drama draus machen, oder wir lassen es einfach. Worauf hast du Lust? Ich meine, ich kann dir noch so weit entgegenkommen, dass ich sage: War wahrscheinlich auch mein Fehler. Falsche Frage zur falschen Zeit. Also vergessen wir’s. Zurück auf Null. Kannst du das?“

Es war eine herausfordernde Frage, eigentlich wirklich eine Forderung.

Sie musste die Verletzungen einfach vergessen, wie so oft...

Noch immer tief getroffen, versuchte sie, die Forderung genau wie gewünscht zu erfüllen, und ging nahtlos zu einem anderen Thema über. Mit noch etwas belegter Stimme fragte sie:

„Und was studierst du?“

Froh, ein größeres Drama umschifft zu haben, sagte Freddie trocken:

„Islamistik.“

„Was?“

„Wieso nicht? Islamwissenschaften. Ist ein Studium mit Zukunft.“

„Aber was ... ich meine, was interessiert dich daran?“

Sie konnte es sich absolut nicht vorstellen.

„Was mich daran interessiert? Keine Ahnung. Das werde ich schon herausfinden. Mit verschleierten Frauen habe ich jedenfalls nichts am Hut. Vielleicht will ich den Laden ja nur mal aufmischen? Stell dir mal vor, wenn ich später Reiseführerin oder Professorin oder was bin und dann ... ach, keine Ahnung. Vielleicht werde ich auch Politikberaterin und erkläre dann den Jungs da oben, wo die ISIS herkam oder wie geil Burkas sind. Ich habe wirklich noch keine Ahnung.“

Sie konnte das fast nicht glauben. Wie war es möglich, ein Studium anzufangen, von dem man noch gar nicht wusste, was einen daran interessierte – oder vielleicht noch interessieren könnte?

Freddie schien ihre Gedanken gelesen zu haben, denn sie sagte:

„Ich mache einfach gern Sachen, die nicht so naheliegen.“

„Ein Studium ist doch keine ‚Sache’!“

„Doch – was denn sonst?“

„Es ist doch eine Art Berufsentscheidung!“

„Ja und? Dann werde ich eben Islamistin. Sagte ich doch bereits. Und wenn ich merke, dass es gar nichts ist, kann ich

ja immer noch wechseln. Machen doch viele.“

Na ja, es war ja ihre Sache...

Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, welche gemeinsamen Themen es mit Freddie geben konnte.

„Hast du einen Freund?“

Freddies Frage ließ sie wiederum erschrecken. In einem Sekundenbruchteil erkannte sie dankbar, dass Freddie das Gespräch in Gang halten wollte, aber das Thema war wieder das falsche...

„Nein...“

„Ich meine nicht hier – überhaupt.“

„Das habe ich schon verstanden.“

Freddie musterte sie von neuem.

„Und ... aber doch schon einmal einen gehabt?“

„Nein.“

Halb beschämt, halb trotzig hielt sie Freddies Blick stand.

Diese versuchte, das Ganze wieder auf eine humorvoll-ironische Ebene zu ziehen, und fragte, das Ende offenlassend:

„Keine Lust gehabt oder...“

‚...oder keinen gefunden?’, ergänzte Saskia in Gedanken.

„Nein, ich habe keine Lust gehabt“, erwiderte sie. „Jedenfalls nicht auf den falschen...“

Freddie lehnte sich gemütlich zurück.

„Das war eine coole Antwort!“, sagte sie zufrieden.

„Und du?“, fragte Saskia. „Hast du schon viele Freunde gehabt?“

„Ja“, erwiderte Freddie und musterte sie wiederum kurz. „Ja, aber dann doch auch nach einiger Zeit immer wieder die falschen.“

„Was meinst du mit ‚nach einiger Zeit’?“

Irritiert antwortete Freddie:

„Nach einiger Zeit eben. Was ist daran nicht zu verstehen?“

„Ich meine“, erklärte sie, „kann ein Freund zuerst der Richtige und dann auf einmal der Falsche sein?“

„Na ja, man hat eben erstmal Spaß – und hinterher merkt man, was für ein Scheißkerl er ist. Oder manchmal, was für andere Seiten jemand noch hat – und wenn man die dann nicht so prickelnd findet, ist es eben der Falsche. Wirst du sicher auch noch merken.“

Sie konnte es nicht ertragen, dass man über dieses Thema so sprach. Wenn Andere es taten, war das zwar ihre Sache, aber sie würde nie so sprechen, nie so empfinden. Für sie war dieses Thema das Heiligste, was es gab. Der Freund war mit Sicherheit der Richtige – wenn man Freundschaft schloss, war man bereits sicher. Man konnte das doch fühlen... Wenn der Richtige da war, war doch kein Zweifel mehr möglich...

Sie sagte:

„Der Richtige kann nicht nach einiger Zeit wieder der Falsche sein. Er ist von Anfang an der Richtige – oder nicht der Richtige...“

„Ja, aber das erkennt man eben nicht sofort.“

„Doch.“

„Na, du bist ja süß. Vielleicht machst du es mir mal vor?“

„Ja, vielleicht...“

Freddie lachte einmal kurz, wie man es machte, wenn jemand etwas scheinbar Unmögliches behauptete und man dessen felsenfesten, naiven Glauben einfach nicht fassen konnte.

„Na gut – da bin ich dann mal gespannt.“

„Vielleicht liegt es daran, dass du nicht den Richtigen suchst, sondern dass du ... bloß ‚Spaß’ haben willst, wie du sagst.“

Freddie wurde ernst und musterte sie, als müsse sie den Sinn der Worte erst einmal begreifen.

„Meinst du jetzt ‚den Richtigen’ im Sinne von ‚für immer’, ‚Treue für’s Leben’ und so?“

„Ja – suchst du nicht solch einen Freund?“

Freddie winkte ab.

„Ich suche für den Moment den Richtigen. Natürlich wär’s toll, wenn er auch nach einiger Zeit noch der Richtige wäre.

Aber an dieses Zeug von ‚lebenslang’ und so glaube ich absolut nicht. Ich kenne nur Beispiele von ‚lebenslänglich’ – so was brauch’ ich echt nicht.“

Immer wenn in dieser Weise davon gesprochen wurde, fröstelte es sie innerlich. Sie fragte:

„Aber ... träumst du nicht wenigstens von einem solchen Freund, der ... für immer der Richtige sein wird?“

Freddie schüttelte den Kopf.

„Nein, das hab ich mir abgewöhnt, gleich beim ersten.“

Sie beharrte.

„Aber hoffst du es nicht bei jedem Mal wieder?“

Freddie hielt mit der Antwort kurz inne.

„In gewisser Weise schon – ich meine, hofft das nicht jeder?

Dass man nicht nach einiger Zeit schlechte Seiten entdeckt?

Dass es nur so bleibt, wie man es als ersten Eindruck hat?

Aber – das ist sozusagen nur die naive Seite. In Wirklichkeit weiß man doch, dass es so nicht ist. Natürlich tauchen nach und nach auch andere Seiten auf – und entweder man nimmt die dann auch ... oder man macht von seinem Rückgaberecht Gebrauch...“

Sie war erschüttert. Diese Sprache ließ sie einfach nur erschauern. Auch sie gehörte zu den negativen Seiten. Nur dass man sie bei Freddie sofort bemerkte.

Einmal mehr musterte Freddie sie nun, dann fragte sie:

„Aber du – du glaubst wirklich, dass vom Kennenlernen bis zum Tod nur die positiven Seiten auftauchen und dass die anderen gar nicht existieren? Dass man den Rundum-positiv-Freund finden kann, der das auch bleibt? Dann müsste man ja auch von Anfang an sämtliche Seiten eines Menschen kennen? Einen perfekten Menschen gibt es doch gar nicht!“

Sie versuchte, zu fühlen, wie es bei ihr war. Dann sagte sie:

„Ja, ich glaube wirklich, dass man, wenn man sich kennenlernt, wirklich erlebt und weiß, was für ein Mensch der Andere ist – und entweder man liebt ihn, oder man liebt ihn nicht. Wenn es der Richtige ist, liebt man ihn, man liebt alles an ihm. Sonst ist es nicht der Richtige...“

Sie fühlte sich wieder angeschaut wie eines der Weltwunder.

Dann sagte Freddie:

„Das ist doch wirklich eine Märchenprinz-Vorstellung! Saskia, du lebst doch gar nicht in der Realität. Jeder