Unternehmen Thunderstorm, Band 1 - Wolfgang Schreyer - E-Book

Unternehmen Thunderstorm, Band 1 E-Book

Wolfgang Schreyer

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Beschreibung

Dies ist ein Tatsachenbuch über den Warschauer Aufstand, erstmals 1954 beim Verlag Das Neue Berlin erschienen. Es schildert Dinge, wie sie waren; es verschweigt nichts. Wolfgang Schreyer schrieb nach gründlichem Materialstudium diesen packenden Bericht eines von den Engländern geplanten militärischen Großunternehmens, über das jahrelang fast nichts bekannt geworden ist. Wir erleben das Schicksal einer deutschen Flakbatterie, verfolgen den Weg einer kleinen Gruppe britisch-amerikanischer Fallschirmspringer und das Ringen polnischer Untergrundkämpfer. Der Autor enthüllt die Methoden internationaler Spionagedienste, zeigt Generale, Konzerndirektoren und Diplomaten bei der Arbeit, schildert Verhandlungen in Moskau ebenso wie Operationen der Roten Armee. Durch das ganze Buch weht der heiße Atem einer pausenlosen dramatischen Handlung. In der prallen Fülle ihrer Gestalten und Schicksale ersteht noch einmal eine Welt des Aufstiegs und des Untergangs. Der 1. Teil schildert die Vorbereitung des Aufstandes. INHALT: Erstes Buch Kurs auf Warschau 1. Tausend Gallonen Benzin 2. Der Abschuss 3. "The moon was yellow..." 4. Hartmann tritt ein Erbe an 5. Fallschirm-Agenten 6. Um die Trümmer der "Fortress II" Zweites Buch Stadt im Zwielicht 1. Nacht über der Weichsel 2. Wer ist Dr. Müsch? 3. Südlich des Danziger Bahnhofs 4. Salon Fryzjerski Kazimierz Wohl 5. Oberst Broinitzki 6. Die Wisla-Aktien 7. Sie lagen vor Warka... 8. Varieté-Café "Dancing" Drittes Buch Der Blitz schlägt ein 1. General Bor-Komorowski 2. Im Palais Brühl 3. Die Nacht von Rembertów 4. "Nehmen Sie diese Worte zurück!" 5. Plauderei am Kamin 6. Captain Roberts' Plan 7. Sonja 8. Palastintrigen 9. Soldatenliebe 10. "Es lebe Polen!" 11. Politiker und Generale 12. Überfall

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Impressum

Wolfgang Schreyer

Unternehmen Thunderstorm, Band 1

Roman

ISBN 978-3-86394-083-6 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1954 beim Verlag Das Neue Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Erstes Buch Kurs auf Warschau

1. Tausend Gallonen Benzin

Die beiden Männer zuckten kaum merklich zusammen.

Irgendwo in der Ferne rollte ein dumpfer, Unheil verkündender Donner. Die Fenster klirrten leise. Es waren mehrere schwere Detonationen; wie viel genau, ließ sich nicht feststellen. Captain Roberts versuchte auch nicht, mitzuzählen. Er wusste, und alle wussten es, dass die fliegenden Bomben seit kurzem in Rudeln heranjagten und wahllos in das riesige Häusermeer Londons stürzten, strudelnde Wolken rötlichen Ziegelstaubs und schmutziggraue Rauchpilze aufwerfend. Fünfunddreißig Tage dauerte der Beschuss schon an; denn die Deutschen hatten zehn Tage nach D-Day (der Landung in der Normandie) begonnen, die Stadt auf diese ebenso neuartige wie nervtötende Weise zu bombardieren. Bis heute war es noch nicht gelungen, eine wirksame Abwehr gegen ihre so genannte V 1 zu finden...

"Schauen wir uns doch mal die Karte an, Captain!", rief Colonel Hayes. Er erhob sich unvermittelt und trat zu der zwei bis drei Quadratmeter großen Europakarte, die einen Teil der Längswand des kargen Raumes bedeckte.

Wahrscheinlich, überlegte Roberts, wird er jetzt sagen, was er von dir will. Bisher waren nur belanglose Redensarten ausgetauscht worden. Es kam zwar vor, dass der Oberst in späten Nachmittagsstunden unterstellte Offiziere nur deshalb zu sich rief, um zu plaudern; oder genauer gesagt, um ihnen eine seiner allbekannten arabischen Geschichten zu erzählen. Doch geschah dies in letzter Zeit immer seltener. Außerdem lag da das Aktenstück auf dem Schreibtisch; einer der üblichen hellbraunen Schnellhefter, in denen Nachrichten und Agentenmaterial, bestimmte Einzelobjekte betreffend, gesammelt wurden. Roberts warf einen verstohlenen Blick auf den Deckel, vermochte aber die Beschriftung nicht zu erkennen. Sie schien nur aus einem kurzen Wort zu bestehen. Nun, du erfährst es schon noch.

"Sehen Sie, hier!", brüllte Hayes, dem es nicht möglich war, leise zu reden, es sei denn, er flüsterte. Seine überraschend große, blond behaarte Hand beschrieb einen Halbkreis, der den gesamten östlichen Frontbereich einschloss.

Captain Fred Roberts betrachtete die Karte, die er übrigens genau kannte, mit höflicher Aufmerksamkeit. An drei Stellen steckten Fähnchen. Es gab drei Sorten: rote, blaue und grüne. Die roten Fähnchen hatte Major Fawcett, der die Markierung der Frontlinien persönlich vornahm, für die britischen Truppen reserviert; wahrscheinlich, weil auf den Landkarten das britische Territorium gewöhnlich rot dargestellt ist. Vielleicht auch, weil die englischen Musketiere vor hundertfünfzig Jahren rote Waffenröcke trugen. Fawcett war die rechte Hand des Kommandeurs und im Zivilleben Rechtsanwalt. Für alles, was er tat, gab es gute Gründe.

Die roten Fähnchen steckten im Ostabschnitt der Invasionsfront in der Mündung des Flüsschens Orne, dann unterhalb Caen und in den Orten Villiers Bocage, Caumont und Torigny. Darüber stand: "1. kanadische Armee" und "2. britische Armee". Von St. Lô an wurden die Fähnchen blau; sie zogen sich über Coutances bis zur Küste des Golfe de St. Malo, den sie bei Granville, zehn Kilometer nördlich Avranches, erreichten. "1. US-Armee" und "3. US-Armee" war hier eingetragen.

Ein ähnliches Bild bot Italien, wo die blauen Standarten der 5. US-Armee den linken Flügel der Front beherrschten. Sie steckten fünfzig Kilometer südlich Florenz und am Trasimenischen See, während die Kennzeichen der ruhmreichen 8. britischen Armee (der Besiegerin Rommels) sich bis Ancona am Strande der Adria hinzogen.

Vollkommen anders sah es im Osten aus, über den die behaarte Hand des Kommandeurs jetzt hinwegstrich. Hier spießten grüne Fähnchen. Doch bildeten sie keine schöne, übersichtliche Linie. Jene Klarheit des Frontverlaufs, die allein das Herz des Militärtheoretikers erfreuen kann, vermisste man hier.

Besonders der Mittelabschnitt bot einen chaotischen Anblick. Sämtliche Armeebezeichnungen fehlten. Stattdessen fanden sich hier und da sonderbare Ausdrücke wie "Zweite ukrainische Front" oder "Erste belorussische Front". Fähnchen steckten fast nur in größeren Orten: Newel, Witebsk, Wilna, Grodno, Minsk, Baranowitschi, ostwärts Lublin und bei Lwow.

Captain Roberts hatte den Eindruck, dass Fawcett die dortigen Ereignisse über den Kopf gewachsen waren. Auch schien er mit seinem Vorrat an grünen Fähnchen nicht zurechtzukommen: sie waren dünn gesät, und ab und zu hatte er ersatzweise papierne Angriffspfeile eingeschoben. Sie wiesen auf Pskow, Daugarpils, Kowno und Brest-Litowsk.

Eine gewaltige Offensive war dort auf zwölfhundert Kilometer Frontbreite im Gange.

"Vor 'nem halben Jahr schrieben unsere Zeitungen", erklärte Hayes lärmend, "die Nazi-Festung Europa hätte vielleicht stabile Mauern, aber kein Dach. Heute zeigt sich, dass auch die Mauern abbröckeln. Monty hat sich in die linke Schulter dieser Burschen verbissen, Alexander frisst ihren Stiefel auf, die Russen erteilen von rechts einen verdammten Rippenstoß, und wir klopfen ihnen auf den Schädel..."

Mit 'wir', dachte Roberts, meint er offenbar die Royal Air Force im Allgemeinen. Hätte er 'wir' in engerem Sinne gebraucht, so wäre eher von 'Nadelstichen in den Rücken' zu reden gewesen. Denn schließlich ist Hayes der Chef eines Sonderkommandos der britischen Luftwaffe, das die Aufgabe hat, Fallschirmagenten im feindlichen Hinterland abzusetzen. Dabei war es mit dem Absetzen allein nicht getan. Man musste mit diesen Männern in ständiger Funkverbindung bleiben, musste sie teilweise sogar, wie die Franzosen in Hochsavoyen oder die Tito-Leute, mit Waffen und Nahrungsmitteln versorgen, Weisungen durchgeben und Meldungen in Empfang nehmen. Diese Meldungen gingen zur weiteren Auswertung an die Nachrichtenoffiziere des Empiregeneralstabs oder (über ein Koordinierungsbüro) an die Amerikaner, die im Austausch eigenes Agentenmaterial dafür lieferten. In bestimmten Fällen fanden sie auch ihren Niederschlag in jenen hellbraunen Schnellheftern, die gewöhnlich im Safe verwahrt wurden und von denen der eine – wüsstest du nur, welcher! – jetzt auf dem Schreibtisch des Kommandeurs lag...

Inzwischen war der Colonel dazu übergegangen, an Hand der Karte einen längeren, optimistisch gefärbten Vortrag über die Kriegslage zu halten.

"Die Aufmarschmassierung der Russen", führte er gerade aus, "war enorm. Hier –", er deutete auf den Raum zwischen Witebsk und Bobruisk, "standen vor vier Wochen 125 Schützendivisionen und acht bis neun Panzerkorps, das sind anderthalb Millionen Mann und fast viertausend Panzer. Heute stehen sie 450 Kilometer weiter westlich, am Njemen und am Bug. Die Weichsel wird bei dem augenblicklichen Tempo in acht oder zehn Tagen erreicht sein. Übrigens, sie scheinen Sinn für historische Daten zu haben, sie starteten ihre Offensive am dritten Jahrestag des Überfalls der Deutschen; exactly."

Roberts gefiel das alles nicht. Warum erzählt er dir das, fragte er sich. Es muss etwas dahinterstecken. Irgendein unangenehmer Auftrag wahrscheinlich. John Hayes war zwar nicht dafür bekannt, dass er lange Umschweife liebte. Doch beschloss der Captain, auf der Hut zu bleiben. Seit er vor etwa zehn Minuten diesen Raum betreten hatte, wurde er das Gefühl nicht los, dass von irgendeiner Seite her ein Schlag gegen ihn fallen würde. Von Zeit zu Zeit, wenn der Oberst eine Pause einschob, um Atem zu schöpfen, sagte er: "Jawohl, Sir", oder: "Auch meine Ansicht." Er war nicht bei der Sache.

Hayes bemerkte das nicht. Er schwatzte weiter. Doch einmal erschöpfte sich das Thema. "Weihnachten sind wir endgültig zu Hause", schloss er, "bei Weib und Kind. Auch Sie, Roberts..." – – Er brach ab, einen Fluch unterdrückend. "Beg pardon. Das war sehr ungeschickt..."

Fred Roberts sah zur Seite. Er hatte keine Familie mehr. Barbara und der kleine Ted waren bei einem der ersten Angriffe umgekommen, damals, im Herbst 1940...

In diesem Augenblick trat Major Fawcett ein.

Er war ein hochgewachsener, sehr blasser und magerer Mann von fünfundvierzig; gut zehn Jahre älter als Roberts. Er gehörte Brats' Club an und war vor dem Kriege Mitglied einer Gruppe gewesen, die sich für den Genuss fleischloser Kost einsetzte. Gleichwohl konnte er sich jetzt nicht mehr dazu entschließen, auf seine Ration zu verzichten.

"Was bringen Sie uns, Major?", fragte Hayes.

"Nichts Besonderes", winkte Fawcett ab und öffnete seine Mappe. "Die 8. Luftflotte will wissen, ob es zutrifft, dass sich am Nordrand von Magdeburg eine Fabrik für synthetisches Benzin befindet. Wenn es sich lohnt, wollen sie das Werk auf ihre August-Liste setzen. Dann eine Anfrage, die die Befestigungen an der Riviera betrifft. Der Interessent ist wahrscheinlich Devers."

"Generalleutnant Jacob L. Devers, der jetzt auf Korsika sitzt?"

"Jawohl. Die Amerikaner bezeichnen ihn als Spezialisten für offensive Panzerkriegsführung."

"Haben Sie schon mal etwas von defensiver Panzerkriegsführung gehört?"

Hayes liebte es bisweilen, die "Zivilisten" aus der Schar seiner Untergebenen in Verlegenheit zu setzen. Fawcett erwiderte irgendetwas; der Captain hörte nicht hin. Fawcett fiel es niemals schwer, eine geschickte Antwort zu geben. Und das war, im Rahmen des Stabsbetriebes gesehen, eine bedeutsame Fähigkeit. Roberts dachte sich, dass er für den Kommandeur unentbehrlich sein musste.

Ein seltsames Paar, überlegte er flüchtig. Eine französische Emigrantin hatte ihm einmal erklärt, im Grunde könne man alle Engländer, ihrer äußeren Erscheinung nach, in zwei Kategorien einteilen; es gäbe den Gentleman-Typ und den John-Bull-Typ. "Wozu würden Sie mich dann rechnen?", hatte Roberts gefragt. Doch die Französin wollte es offenbar mit ihm nicht verderben. "Sie sind eine gute Mischung", lachte sie, "zwei Drittel Gentleman, ja?"

Möglich, dass bei ihm eine Mischung vorlag; die beiden Vorgesetzten indes verkörperten die Typen ziemlich rein. Fawcett war zweifellos der klügere, gebildetere von beiden; er kleidete sich korrekt, und das Tuch seiner ausgezeichnet sitzenden Uniform war von bester Qualität. Er sprach stets gedämpft, sorgfältig artikulierend und sehr deutlich. Er war unverheiratet, machte sich nichts aus Alkohol und rauchte kaum. Niemals hätte man ihn an einem Vorkriegssonntag in Brighton treffen können, wenn halb London hinausfuhr, um den Rennen zuzusehen und Wetten abzuschließen. Gentleman mit Hang zum Puritanismus, überlegte Roberts spöttisch.

Hayes dagegen hatte unzweifelhaft etwas von einem Textilfabrikanten um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts, der Frauen und Kinder unter menschenunwürdigen Bedingungen beschäftigte und dem das nichts ausmachte... oder von einem Freibeuter aus der Zeit Queen Elizabeths. Hayes liebte Burgunderwein und gab, da er die südafrikanische Ersatzware verschmähte, viel Geld dafür aus, sich Originalerzeugnisse zu verschaffen. Er hatte in den dreißiger Jahren in Transjordanien schnell Karriere gemacht, wo er sich im Kampf mit unbotmäßigen Araberstämmen hervortat, eines Tages mit seiner "Gladiator"-Maschine notlanden musste und sich in abenteuerlicher Flucht, über die viele Geschichten im Umlauf waren, nach Aden zu den eigenen Leuten durchschlug: John Bull mit exotischer Beigabe. – Selbst jetzt, da Unruhe ihn erfüllte, konnte Roberts sich solche Betrachtungen nicht versagen. Warum schließlich auch; die anderen erfuhren ja nichts davon...

"Und dann wäre noch eine innerdienstliche Angelegenheit", bemerkte Fawcett abschließend, wobei er den Captain mit missbilligendem Blick streifte.

Nun werden sie dich hinausschicken, vermutete Roberts. Die RAF folgt in diesen Dingen den Grundsätzen der Geheimdiplomatie; worin sie sich übrigens weder von Army und Navy, noch von einer beliebigen anderen Streitmacht auf der Welt unterscheidet. Überall, wo es Heerwesen und Bürokratismus gibt...

"Worum handelt es sich?", fragte der Oberst.

Fawcett war damit beschäftigt, eins der grünen Fähnchen aus "Minsk" herauszuziehen, um es ostwärts Bialystok neu einzuspießen. "Um einen Tatbericht von Captain Roberts, Colonel. Er bezieht sich auf die Fehlmenge von tausend Gallonen Flugbenzin."

"Aha", machte Hayes, "bleiben Sie hier, Captain. Ich hörte bereits davon. Wir werden diese Sache klären. Es ist gut, dass Sie gerade anwesend sind."

"In seinem Bericht", bemerkte Fawcett, "bezichtigt er so halb und halb Lieutenant Gregory der Täterschaft."

"So – –", knurrte der Kommandeur, seine buschigen blonden Brauen hebend.

Roberts wurde es warm.

"Sie verzeihen, Major", sagte er heiser, "so habe ich mich nicht ausgedrückt. Lieutenant Gregory ist für das Spritlager der Geschwaderreserve verantwortlich, er besitzt den Schlüssel. Die Vermutung, dass er ihn nicht sorgfältig verwahrte, liegt nahe, und etwas anderes steht nicht in meinem Bericht."

"Das läuft auf dasselbe hinaus", entgegnete Fawcett.

"Nicht ganz..."

"Ruhe!", befahl der Colonel. "Wir werden diesen verdammten Dingen auf den Grund gehen. Setzen Sie sich, Roberts, und auch Sie, Fawcett, nehmen Platz."

Fred Roberts setzte sich. Er hielt die zur Schau getragene Entschlossenheit des Kommandeurs nicht für echt. Seit sie hier in Westham lagen, waren bereits zwei Unterschlagungen vorgekommen, die gleichfalls ungeklärt blieben. Es handelte sich um amerikanische Fleischkonserven und um Zigaretten. In beiden Fällen hatte Roberts die Beschwerden der Mannschaft dem Oberst vorgetragen und damit nur erreicht, dass er unangenehm auffiel.

Diesmal nun glaubte er, einige Beweise zu haben: Aussagen der Flugplatzwache, die seinem Bericht beilagen. Die Schwierigkeit war jedoch, dass Lieutenant Gregory, gegen den sich der Verdacht vorwiegend richtete, in irgendeinem verwandtschaftlichen Verhältnis zu Hayes stehen sollte...

Roberts wurde sich in dieser Sekunde bewusst, dass dies die wahre Ursache seiner Unsicherheit, seiner heimlichen Befürchtungen war, die ihn befallen, seit er den Raum betreten hatte. Hm –; das war natürlich lächerlich. Nun, da er wusste, woran es lag, wurde er ruhiger. Er beschloss, in der Benzinaffäre nach Möglichkeit jeden Vertuschungsversuch zu vereiteln. Die Schuldigen mussten ermittelt und entsprechend bestraft werden, nur so konnte man diesen Vorfällen, die berechtigte Empörung bei den Mannschaften zur Folge hatten, ein Ende setzen.

"Während ich Ihren Bericht durchsehe", sagte der Colonel, "können Sie sich mit dem da einmal befassen..."

Er reichte ihm den hellbraunen Schnellhefter hinüber, der die ganze Zeit auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. Roberts sah nun, was auf dem Deckel stand. Es war nur ein Wort: "WARSCHAU". Die Mappe erschien ihm ziemlich dünn; das Material konnte nicht besonders umfangreich sein. Der Captain schlug sie auf.

"Warschau", las er, "Größe 141,5 qkm, Einwohnerzahl (1939) 1,2 Mill., auf dem linken, 25 m über Mittelwasser liegenden Diluvialufer der schiffbaren Weichsel, dort, wo eine Moränewelle mit tonigem Untergrund unmittelbar an den Fluss herantritt, 80 m über Meeresspiegel. Die Flussniederung ist hier nur 1100 m breit. Seit langem lag hier eine Verkehrskreuzung: aus dem Balkanraum zur Ostsee, und aus dem Wartheland nach Russland. So wurde Warschau später zum bedeutenden Eisenbahnknotenpunkt. (Bahnen: W.–Wilna, W.–Kowel, W.–Siedlce, W.–Czenstochau, W.–Kalisch, W.–Lodz, W.–Kutno, W.–Danzig, W.-Posen, W.-Laskowitz.) Diesen Verkehr bewältigen fünf Bahnhöfe....

Der Flugplatz Okecie liegt im Süden der Stadt..."

Die üblichen einleitenden Bemerkungen, dachte Roberts. Entstammen vermutlich dem Oxford-Lexikon oder einem Band der Geographischen Jahrbücher. Diluvialufer und Moränewelle, schöner Unsinn. Das hätten sie sich sparen können. Schließlich sind wir hier kein Institut, das die Eiszeitphasen erforschen will.

Das nächste Blatt brachte den Stadtplan, in dem es von schwer aussprechbaren Straßenbezeichnungen wimmelte: Nowy Swiat, Marszalowska, Kierbedz-Brücke, Plac Zbawiciela, Aleja Ujazdowska, Plac Napoleona. Die wichtigsten öffentlichen Gebäude und Werke (Metall- und Maschinenindustrie, graphische Betriebe, Chemie, Seide, Jute, Elektrizität) waren rot umrandet.

Er blätterte um. Das hier war eine Aufstellung aller deutschen Dienststellen, die sich gegenwärtig in Warschau befanden: Etappenstäbe, Stadtkommandant, Nachschubformationen, Arbeitsamt, Soldatenheim, die Reichsbahn, Lazarette. Nicht einmal die Entlausungsanstalt war vergessen worden.

Roberts hielt diese Liste für ziemlich wertlos, da sich mit dem Herannahen der Front dauernd Veränderungen ergeben mussten. Dasselbe galt in noch stärkerem Maße für die nun folgenden Berichte über Art und Anzahl der dort stationierten deutschen Truppen. Aber vielleicht wurden diese Angaben durch Funkspruch laufend ergänzt?

"Erklären Sie ihm das", brummte Hayes, ohne aufzusehen.

"Bevor ich Ihnen Näheres mitteile", begann Major Fawcett, "weise ich besonders darauf hin, dass es sich um eine Angelegenheit handelt, die über den normalen Rahmen hinaus aufs strengste geheim zu halten ist. – – Wie Sie wahrscheinlich wissen, überschreiten Teile der I. weißrussischen Heeresgruppe unter Marschall Rokossowski im Augenblick bereits den Bug. Sie dürften die Weichsel..."

"Hab' dem Captain das vorhin an Ihrer Karte erläutert", unterbrach ihn der Kommandeur.

"Jawohl, Sir. Ich kann mich also kurz fassen. Angesichts dieser Lage sieht die polnische Exilregierung in London nunmehr die Möglichkeit, aktiv in den Kampf zur Vertreibung der Deutschen einzugreifen. Die Zahl der polnischen Widerstandskämpfer übertrifft die der deutschen Streitkräfte, die zu ihrer Bekämpfung abgezogen werden können, um ein Mehrfaches. Sie warten nur auf das Signal, das ihnen die Regierung Mikolajczyk gibt, um sich im Rücken des deutschen Heeres zu erheben. Der Schwerpunkt des Aufstandes wird in Warschau liegen. Die Operation trägt den Decknamen 'Unternehmen Thunderstorm'. Unsere Aufgabe ist es dabei, den polnischen Verbündeten die Hilfe zu geben, die wir ihnen im September 39 aus bekannten Gründen nicht leisten konnten. Verstehen Sie den Zusammenhang?"

"Durchaus..."

"Gut. Ich komme jetzt zu den Einzelheiten. Im Rahmen dieses Projekts, das eins der bedeutendsten seiner Art im Verlauf des Zweiten Weltkrieges sein dürfte, fällt unserer Einheit eine wichtige Aufgabe zu: Das Absetzen polnischer Patrioten und anderer geeigneter Personen, die die Führung der Widerstandskämpfer übernehmen werden, im Raum von Warschau..."

Trotz der dürren, unpathetisch und leise gesprochenen Worte des Majors erfasste Roberts sofort die ungeheure Tragweite des Planes. Er erschien ihm kühn und großartig. Die von den Russen zertrümmerten Bruchstücke der Wehrmacht würden über die Weichsel zurückfluten, vielleicht schon in halber oder vollständiger Auflösung, wie einst die Große Armee Napoleons über die Beresina. Eine offene Erhebung des polnischen Volkes in diesem Augenblick musste den völligen Zusammenbruch der deutschen Ostarmee und damit ein baldiges Kriegsende zur Folge haben! Schluss mit den Nazis! Hunderttausende britischer, amerikanischer und russischer Männer brauchten ihr Blut nicht mehr zu vergießen! Der Sieg schien in greifbare Nähe gerückt...

"Die Organisierung der Fallschirmabsprünge, von denen ich sprach", sagte Fawcett gedämpft, "überträgt der Kommandeur Ihnen."

Roberts blickte verwirrt auf.

"Ja..., aber ich habe keine Ahnung von Polen..."

"Sie wissen, dass unser Polenspezialist, Captain Goldman, sich zurzeit in Italien befindet. Die Aktion muss aber von hier aus, in enger Zusammenarbeit mit Sosnkowskis Stab, eingeleitet werden."

"Captain Goldman könnte mit dem Flugzeug in zehn Stunden hier sein..."

"Kaum. Er brauchte, mit Zwischenlandung in Gibraltar, mindestens vierzehn Stunden. Die Aktion muss aber sofort gestartet werden. Sie haben Goldmans Leute."

Roberts gab es auf, zu widersprechen. Zwar war er für die gegenwärtig mit Aufträgen vollkommen überlastete Deutschlandabteilung verantwortlich; doch hoffte er zu beweisen, dass er in zwei Jahren Dienst im Heimatgebiet das Wichtigste noch nicht verlernt hatte: einzuspringen, wenn es sein musste, und zu improvisieren. "Selbstverständlich werde ich tun, was ich kann."

Der Colonel hob die Hand.

"Wir wollen auf das da", er klopfte auf Roberts Bericht, der in seinen kräftigen Fingern knisterte, "noch einmal zurückkommen. Fünfundzwanzig Fässer Gasolin..., eine unangenehme Geschichte. Sie taten gut, Captain, sich der Sache anzunehmen."

"Ich hielt es für meine Pflicht, Sir."

"Fünfundzwanzig Fässer", bemerkte Hayes kummervoll. "Man kann es nicht gerade eine Kleinigkeit nennen."

"Diese tausend Gallonen bringen im Schwarzhandel acht- bis zehntausend Schilling, Colonel", stellte Roberts fest. "Man kann sich einen Wagen dafür kaufen."

"Einen gebrauchten höchstens", versetzte Fawcett. "Mit tausend Gallonen übrigens kommt ein einziger 'Lancaster'-Bomber knapp bis nach Berlin. Aber nicht zurück. Es empfiehlt sich nicht immer, Geschrei zu erheben. Wir werden die Posten verstärken, um künftighin..."

"Aber unsere Jungs fragen, wo der Sprit geblieben ist! Sie wissen, dass tausend Gallonen fehlen..."

"In zwei Wochen denken sie nicht mehr daran."

"Major, sie erwarten im Gegenteil eine Untersuchung der Vorgänge..."

"Wer sagt Ihnen, dass diese Untersuchung nicht stattfinden soll?", fragte Fawcett sanft, "nur wird man kaum so vorgehen können, wie Sie es sich vorstellen. Erwägen wir einmal objektiv, in welcher Richtung sich unsere Ermittlungen bewegen müssten. Da sind zunächst die vielen ausländischen Emigranten, die hier im Umkreis wohnen und mit denen wir zusammenarbeiten: Franzosen, Holländer, Tschechen, Jugoslawen, Norweger, Dänen und so weiter. Sie leben bei uns im Allgemeinen unter schwierigen materiellen Bedingungen, und es ist möglich, dass in ihren Reihen die Täter zu suchen sind. Aber wäre es wohl klug, unsere Verbündeten durch Verhöre zu verärgern? Wegen eines Benzindefizits, das dem halben Verbrauch einer 'Lancaster' entspricht? Können wir es uns leisten, die Militärpolizei auf unsere Helfer zu hetzen?"

"Zweifellos wäre es besser, wenn wir zuerst bei uns selbst anfingen."

Fawcett lächelte dünn.

"Captain Roberts", sagte er leise, "kennen Sie eine Miss Harald? Sie ist eine Bekannte von Lieutenant Gregory und, wie ich glaube, auch von Ihnen..."

Roberts hatte das Empfinden, alles Blut schieße ihm ins Gesicht. Fawcetts Behauptung traf zu, er pflegte niemals etwas offenbar Falsches zu sagen, und doch war es eine beispiellose Gemeinheit, sie in diesem Zusammenhang vorzutragen! Und der Colonel? Warum duldet er, dass man dich in seiner Gegenwart beleidigt? Er schien in diesem Spiel die Rolle des unbeteiligten Zuhörers zu beanspruchen, der über den Parteien steht. – Zum zweiten Mal dachte Roberts, dass der ehemalige Anwalt für den Kommandeur geradezu unentbehrlich sein musste.

"Sehen Sie", fuhr Fawcett beinahe flüsternd fort, "wir könnten, gesetzt den Fall, Ihr Verdacht bewahrheitete sich, Lieutenant Gregory einsperren lassen. Sei es auch nur wegen Fahrlässigkeit. Jedoch, was hätten wir davon? Er fehlte uns. Sie wissen, wie dringend wir jeden einzelnen Mann, jeden Offizier brauchen. Wir jedenfalls haben kein Interesse..."

Hayes schaltete ihn durch eine Handbewegung aus. Wahrscheinlich hielt er die Methode des persönlichen Angriffs, deren sich der Major bediente, nicht für wirksam.

"Wir wollen offen reden!", rief er. "Captain, Sie müssen begreifen, dass ich jetzt keinen Kriminalfall gebrauchen kann. Selbstverständlich soll der Vorgang genau geprüft werden, aber die Form Ihres Berichts würde mich zwingen, ihn an übergeordnete Stellen weiterzuleiten. Verstehen Sie das? Ich habe ihn Satz für Satz gelesen. So, wie Sie ihn aufgemacht haben, ist es eine Angelegenheit für das Kriegsgericht."

"Ich habe einfach das niedergeschrieben, was ich in Erfahrung bringen konnte."

"Gut", sagte der Oberst, "das ist klar. Sie handelten in bester Absicht. Die Frage ist nun, sind Sie bereit, mit Rücksicht auf den Ruf unseres Geschwaders und das Ansehen der ausländischen Helfer, Ihren Bericht zurückzuziehen und ihn in gemäßigter Form neu einzureichen?"

Roberts zögerte. Das ganze Gerede über die Form des Berichts war Unsinn, da es um den Inhalt ging. Ihn in "gemäßigter Form" neu vorzulegen, hieß nichts anderes, als die Aussagen der Flugplatzwache zu unterschlagen; aus dem "Ermittlungsverfahren gegen Lieutenant Gregory" wurde dadurch ein "Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt", das von Fawcett mit Hinweis auf die Emigranten, die man keinesfalls verärgern dürfe, leicht niedergeschlagen werden konnte. Stimmte er jetzt zu, so bedeutete dies das Ende aller Untersuchung. Seine abgemilderte Eingabe würde zu derjenigen gelegt werden, mit der er im April auf die niemals ausgeteilten amerikanischen Konserven hingewiesen hatte, – und eines Tages verschwunden sein. Weigerte er sich aber, so mochte das für ihn selbst einige unangenehme Folgen haben. Doch wurde dann einmal gründlich reiner Tisch gemacht; er konnte seinen Jungs wieder in die Augen sehen...

"Überlegen Sie es sich in Ruhe", riet Fawcett, "Sie müssen nicht gleich antworten."

"Colonel", sagte Roberts, "ich möchte den Bericht lieber so aufrechterhalten, wie er jetzt ist. Er entspricht den Tatsachen, soweit sie mir bekannt geworden sind."

Colonel Hayes nickte schwerfällig. Sein rötliches Antlitz färbte sich um eine Spur dunkler, doch beherrschte er sich ausgezeichnet. "Wir dürfen und wollen keinerlei Druck auf Sie ausüben", stellte er fest. Er versah den Bericht mit seinem Sichtvermerk und reichte ihn Fawcett zu.

"Heute ist es schon zu spät", bemerkte der Major, "morgen geht er der Militärpolizei zu. Sollten Sie, Captain Roberts, in der Zwischenzeit Ihren Entschluss ändern, so lassen Sie es mich wissen."

"Wir müssen uns", sagte der Kommandeur, "noch einmal mit der polnischen Frage beschäftigen. Ich glaube, der Major ist vorhin nicht dazu gekommen, Ihnen alles richtig zu erklären. In erster Linie setzen wir natürlich polnische Emigranten in der Nähe Warschaus ab. Aber da später auch Ausrüstungsstücke britischen oder amerikanischen Ursprungs abgeworfen werden, müssen die Aufständischen jemanden haben, der ihnen den Gebrauch dieser alliierten Erzeugnisse erklärt. Was die Waffen betrifft, so habe ich keine Sorge. Es sind jedoch auch kompliziertere Dinge dabei, Funkgeräte, Radiosender und dergleichen. Kurz, wir haben uns entschlossen, einen eigenen Mann zu schicken, der die Polen berät. Auch in taktischer und operativer Hinsicht. Begreifen Sie die Notwendigkeit, Captain?"

"Jawohl, Sir."

"Nun gut. Dieser Mann werden Sie sein."

Roberts konnte nicht antworten. Die Zunge lag ihm wie ein dicker, schwerer Kloß im Mund. Der Schlag ist gefallen, dachte er. Sein Blick irrte über die fast kahlen Wände des Raumes, blieb an dem breiten, schartigen Beduinensäbel hängen, den der Griff einer Nilpferdpeitsche und der rostige Lauf eines unendlich langen arabischen Vorderladers kreuzten. Die Trophäen des Colonels verschwammen ihm vor den Augen.

"Ich spreche nicht polnisch...", hörte er sich sagen.

"Sie sprechen deutsch", erinnerte Fawcett leise. Etwas wie Mitleid schwang in seiner Stimme.

"Und das genügt", ergänzte Hayes.

"Ich verstehe kein Wort polnisch...", wiederholte der Captain sinnlos. Ev, dachte er verzweifelt. Du siehst sie nicht wieder...

"Es gibt bei uns kaum Leute, die polnisch und deutsch sprechen", erwähnte Fawcett.

"Jeder zweite Pole versteht deutsch", behauptete der Colonel, "nach fünf Jahren Okkupation!"

"Wir haben an Sie gedacht", flüsterte Fawcett, "weil Sie damals in Tobruk mit dabei waren, als Rommel die Festung einschloss. Sie haben Erfahrung in solchen Dingen."

"Wäre ich in Ihrem Alter", rief Hayes, "ich würde selbst fliegen!"

"Sie brauchen nicht einmal Ihren Namen zu ändern", sagte der Major ohne den leisesten Anflug von Spott, "Alfred Roberts – ein deutscher Name."

"Nun, Captain, wie denken Sie darüber?"

"Denn, wer sollte es sonst übernehmen? Schließlich – Sie haben keine Angehörigen..."

Roberts hörte ihre Worte, doch verstand er nicht, was sie sagten. Bald sprach der eine, bald der andere. Er begriff nur, dass sie ihn um jeden Preis nach Warschau schicken wollten. Alles Übrige schien ihnen nebensächlich zu sein. Warschau, jagte es ihm durch den Kopf, Moränewelle und Diluvialufer – Ev Harald – Lieutenant Gregory – tausend Gallonen Sprit – der halbe Bedarf einer "Lancaster" – dein alberner Tatbericht – Aufstand im Rücken der Deutschen – Warschau – Warschau – Warschau...

Bist du ein Feigling? Hast du nicht vorhin... den Plan gutgeheißen... ihn kühn und großartig genannt... und nun, da du selbst...

"Colonel, ich gehe nach Warschau."

"Ich danke Ihnen. Ich kann natürlich keinen derartigen Befehl aussprechen; Sie gehen freiwillig. Sie werden Ihre Uniform zurücklassen müssen, und Sie wissen, was das bedeutet."

"Sie stehen dann außerhalb der Genfer Konvention", erklärte Fawcett (ganz überflüssig, wie Roberts fand, und in ekelerregend besorgtem Ton), "die Deutschen können Sie ohne weiteres erschießen lassen."

"Sie müssten mich erst haben, Major. Wann starte ich?"

"Nicht vor morgen Abend. Zunächst müssen Sie die Gesamtaktion organisieren. – Sollten Sie Ihren freiwilligen Entschluss eventuell ändern, so lassen Sie es den Kommandeur wissen."

"Ich denke, es bleibt dabei."

"Es wird gewiss alles klargehen, alter Junge", brüllte Hayes, "ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Wir drücken Ihnen beide Daumen!"

Plötzlich standen Kognakgläser auf dem Tisch.

"Für mich nur halb voll, Sir", bat Fawcett.

"Sie werden die Siegesfeier in Warschau erleben!", rief der Colonel. Er schenkte ein.

"Die polnischen Mädchen sollen nicht ohne sein", ergänzte Major Fawcett lächelnd.

"Sie werden echten Slibowitz trinken, Captain!" Hayes hob sein Glas, dessen Inhalt, eine farblose Flüssigkeit, überzuschwappen drohte.

In diesem Augenblick schnarrte der Fernsprecher.

Fawcett nahm den Hörer ab. Eine scharfe Stimme quakte in der Membrane.

"Sind Sie sicher?", erkundigte sich der Major zweimal. Dann hängte er ein.

"Vor einer halben Stunde ist auf Hitler ein Attentat verübt worden. Anscheinend nicht ohne Erfolg. Zurzeit weiß niemand, wer in Deutschland die Macht hat: die Nazis, die Generäle oder wer sonst."

"Eine gute Nachricht!", sagte Roberts. Er ertappte sich dabei, dass wie ein leuchtender Funke ihn die Hoffnung durchzuckte: du fliegst nicht nach Warschau... jetzt ist das vielleicht überflüssig geworden...

"Eine Nachricht, die erst bestätigt werden muss", bemerkte Fawcett. "Wir haben keine Einzelheiten."

"Ich... glaube nicht daran...", versetzte der Kommandeur schwerfällig. Er wollte trinken; doch er hatte das Glas umgestoßen.

Irgendwo in der Ferne rollte ein dumpfer, Unheil verkündender Donner. Im Herzen Londons barsten Mauern; brachen Häuser auseinander.

Die Fenster klirrten leise...

2. Der Abschuss

"Und darum müssen wir der Vorsehung danken, Kameraden, dass sie diesmal wieder, wie schon vor sechs Jahren bei dem ruchlosen jüdischen Zeitzünder-Attentat im Münchener Bürgerbräukeller und bei unzähligen anderen Gelegenheiten, von denen wir gar nichts wissen, ihre schützende Hand über unseren Führer gehalten hat. Die feigen Mordbanditen – es sind zumeist degenerierte Adlige, von denen glücklicherweise niemand unserer Waffengattung, der Luftwaffe, angehörte –, haben sich verrechnet! Unser Führer lebt!!"

Jemand rülpste.

Oberwachtmeister Störtebecker spähte vom Rednerpodium hinab suchend in die Menge, vermochte aber nicht festzustellen, welches Schwein das gewesen sei. Manchmal verrieten die Banknachbarn durch ihr Grinsen den Täter. Aber diesmal – nichts.

Müder Haufen heute, dachte Störtebecker zornig. Na ja, die Hitze. Aber schließlich: Dienst ist Dienst.

"Reißt euch mal ein bisschen zusammen, Männer", mahnte er, "ich schwitze auch. Denkt mal an die Afrikakämpfer, die braten Spiegeleier auf ihren Panzern, da herrschen ganz andere Hitzegrade... Was haben Sie da zu murmeln, Faber? Stehen Sie auf!"

Der neunzehnjährige Gefreite Jürgen Faber schnellte hoch; ein langaufgeschossener Junge mit welligem blondem Haar und spöttischen Augen. "Bitte Herrn Oberwachtmeister darauf aufmerksam machen zu dürfen, dass seit Mai 43 in Afrika keinerlei Kampfhandlungen mehr stattfinden."

Wider Erwarten lächelte Störtebecker diplomatisch. "Gut", brummte er, "ich wollte nur mal feststellen, ob hier eigentlich noch zugehört wird. Setzen."

Der Gefreite Faber klappte augenblicklich zusammen und nahm, die Hände flach auf den Knien, eine so starre Sitzhaltung an, wie sie nicht einmal die Heeresdienstvorschrift von Rekruten verlangte.

Warte, Bürschchen, dachte Störtebecker. Dir versaue ich den nächsten Wochenendurlaub; deine Frechheiten habe ich satt. Wenn du denkst, weil du das Abitur hast, kannst du einen Portepeeträger verarschen, dann sollst du mich kennenlernen. Beim nächsten Stubendurchgang nehme ich mir dein Spind vor, und dann wollen wir mal sehen, was mit Afrika ist, du grüner Lümmel...

Dies alles brüllte der Oberwachtmeister nicht laut heraus; ganz gegen seine Gewohnheit dachte er es nur. Denn es waren in der Kantinenbaracke (der ständigen Stätte seiner weltanschaulichen Schulungen) nicht nur die Unteroffiziere und Mannschaften der schweren Flakbatterie 1./539 zugegen, sondern auch ihre zwei Offiziere. Darauf musste Rücksicht genommen werden.

Der Batteriechef allerdings, der glatzköpfige und klapprige Hauptmann Stodte, zählte nicht recht. Das war ein verkalkter Sechziger, pensionierter Regierungsrat der Berliner Wasserstraßendirektion, der die maßlose Torheit begangen hatte, sich als alter Weltkriegsoffizier freiwillig zum Wehrdienst zu melden. Über ihn ging das Gerücht, er sei leidenschaftlicher Käfersammler und habe außerdem eine wissenschaftliche Abhandlung über Regulierung und Erschließung einiger südafrikanischer Flüsse geschrieben. Verschrobener Gelehrtentyp, urteilte Störtebecker, litt natürlich auch unter dem – wie der Führer es prägnant ausgedrückt hatte – deutschen Objektivitätsfimmel. Seinen Spitznamen "Onkel Sambesi", der ihn als vertrottelten, sich von der Volksgemeinschaft absondernden Einzelgänger kennzeichnete, trug er zu Recht. Jetzt übrigens war sein Glatzkopf bedenklich weit vornüber gesunken: Hauptmann Sambesi schien zu schlafen. Ein gewohntes Bild und zugleich ein Schandfleck für die Batterie. Stets kämpfte er während der Schulungsvorträge eine Zeitlang gegen bleierne Müdigkeit an, schreckte wohl noch ein paar Mal hoch, um dann endgültig unter leisem Röcheln einzupennen. Sollte er doch auf seiner Bude bleiben! Als Offizier war er keineswegs verpflichtet, an diesem Unterricht teilzunehmen. Wollte wahrscheinlich 'nen guten Eindruck schinden, der alte Ziegenbock. So aber nicht, mein Lieber, so nicht...!

Oberwachtmeister Störtebecker überflog kurz seinen Redeentwurf. Er hatte eingangs über das gestrige Hitlerattentat gesprochen und kam nun erst zum eigentlichen Thema. Es war nicht eins der üblichen, wie etwa "Um Blut und Boden", "Nie wieder Versailles", "Systemzeit – 15 Jahre Schmach und Schande", "Der Bolschewismus ohne Maske", "Deutschland – Wesen, Werden, Wirken", "Volk und Rasse", oder "1918 – unbesiegt verraten"; Dinge, die man als ehemaliger SA-Scharführer, Kreispropagandaleiter und Träger des Goldenen Ehrenzeichens ohne weiteres aus dem Ärmel schüttelte. Sondern etwas ziemlich Kniffliges. Aber auch das musste sein, denn es stand ja auf dem Dienstplan.

"Kameraden", begann er, "an der Spitze meines Vortrags soll wie stets ein Wort Adolf Hitlers stehen. Der Führer sprach es am 19. Oktober 1935 aus: 'Nur wer dauernd nach Höchstleistungen strebt, kann sich in dieser Welt durchsetzen.' Unser heutiges Thema heißt: Lohn und Leistung. Es befasst sich mit der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik."

Schon während Störtebecker dies sprach, war ihm nicht besonders wohl zumute. Er sollte über die Wirtschaft reden, und das war ein Gegenstand, von dem auch andere möglicherweise etwas wussten und über den man nicht irgendwelche Sprüche machen konnte. Zwar hatte er sich gründlich vorbereitet, Stichpunkte notiert und hoffte, es werde ihm gelingen, allen Klippen auszuweichen. Doch wusste man, was für Zwischenfragen kamen? Zudem störte ihn die Anwesenheit des Leutnants Tolkemit, der (im Gegensatz zu Sambesi) auf der letzten Bank hockte und aufmerksam lauschte.

Auch Tolkemit hatte hier eigentlich nichts zu suchen. Aber während der greise Batteriechef mehr oder minder aus Angst gekommen war, man möge an seiner politischen Zuverlässigkeit zweifeln, saß Tolkemit hier, weil er anschließend einen Vortrag über Flakschießlehre halten wollte. Der Leutnant, ein vierzigjähriger Mann, der eine scharfe Brille trug, war im Zivilleben Lehrer in einer märkischen Kleinstadt. Solange ihm nicht zu Ohren kam, dass man hinter seinem Rücken seinen Namen umdrehte und ihn etwa als Molketitt aussprach, pflegte er verträglich zu sein. Er war als Meisterpädagoge in allen Berliner Flakbatterien bekannt, die er mit der Hartnäckigkeit eines Wanderpredigers bereiste, um auch dem allerdümmsten Kanonier die Grundbegriffe der modernen Flakschießlehre einzutrichtern. Da Störtebecker ebenfalls im Regimentsbereich überall umherfuhr und vor jeder Einheit sprach, hatte sich zwischen ihnen ein gewisser Konkurrenzneid entwickelt. Dieser Arschpauker, dachte der Oberwachtmeister, soll sich nur nicht einbilden, er könne bessere Vorträge halten als ein alter Kämpfer, der mit seinen Reden dem Führer zur Macht verholfen hat. Freilich, seien wir ehrlich: nicht immer mit Reden allein. Auch Stuhlbeine und Bierseidel spielten manchmal eine Rolle. Das fiel leider hier weg. Aber wir stehen auch so unseren Mann.

"In den Jahren der schlimmsten Arbeitslosigkeit", eröffnete Störtebecker nunmehr sein Referat, "konnte man auf den Berliner Arbeitsämtern gelegentlich einen sehr charakteristischen Vorgang beobachten. Ein Mann sprang auf eine Bank und rief den rings wartenden Arbeitslosen mit lauter Stimme zu: 'Alles mal herhören! Ich bin Schuhmacher und suche einen Tapezierer, der mir meine Stube tapeziert. Ich besohle ihm dafür seine Stiefel. Ist einer da, der tapezieren kann und ein Paar Schuhsohlen braucht?' Nun, Kameraden, vielleicht fand sich einer, vielleicht auch nicht. Das Schwierige war dabei, dass einer, der tapezieren konnte, auch gerade Schuhsohlen brauchte und nicht zum Beispiel ein paar Zentner Kohlen. Das Problem der Arbeitsbeschaffung wurde aber durch diesen Vorgang in ganz eindeutiger Weise umschrieben: Auf der einen Seite standen die arbeitsbereiten Menschen und auf der anderen Seite die Konsumenten. (Er unterbrach sich und spähte lauernd umher.)

Stabsgefreiter Sieverle, was sind Konsumenten? Sitzen bleiben! Also, was sind Konsumenten?"

Sieverle glotzte.

"Sie wissen nicht, was Konsumenten sind? Warum wird dann nicht gefragt? Hier braucht sich keiner zu genieren!"

"Ich... ich hab' das mal gewusst, Herr Oberwachtmeister", verteidigte sich Sieverle hilflos.

"Dann denken Sie mal nach, Mann. Schließlich sind das die elementarsten volkswirtschaftlichen Grundtatsachen."

"Konsumenten", sagte Sieverle, der sich besann, worauf Störtebeckers Unterricht meist hinauslief, "sind Juden."

"Ruhe!", gebot Störtebecker. "Es ist unkameradschaftlich, darüber zu lachen. Konsumenten sind Verbraucher, merken Sie sich das. Die Leute, die Ihre Milchsuppe essen, sind die Konsumenten, während Sie der Produzent sind, weil Sie den Pamps gekocht haben. Haben Sie das verstanden?"

"Jawohl, Herr Oberwachtmeister."

"Ich komme zurück zur Wirtschaftskrise. Die arbeitsbereiten Menschen stellten nun – in ihrer Gesamtheit – gleichzeitig wieder die Konsumenten dar. Die erste Aufgabe der Arbeitsbeschaffung war, diese beiden Menschengruppen wieder zueinander in natürliche wirtschaftliche Beziehungen zu bringen."

Jürgen Faber neigte sich zu seinem Nachbarn, einem breitschultrigen, dunkelhaarigen Kanonier gleichen Alters. "Bis jetzt spricht er halbwegs vernünftig", kommentierte er flüsternd.

"Pass auf, wie es weitergeht", raunte der zurück und lächelte unmerklich.

"Der oben geschilderte Vorgang", rief Störtebecker, der dadurch verriet, dass er ablas, "beruhte auf dem Prinzip des Naturalaustausches! Dabei war es natürlich schwer, den Bedarf des einen mit der Leistung des anderen zusammenzubringen. Fand der Schuhmacher seinen Tapezierer, der gerade Schuhe brauchte, so war die gelähmte deutsche Wirtschaft hier zu einem ganz kleinen Teil in Gang gebracht. Dieser Teil der Wirtschaftsbelebung war gar keine Arbeitsbeschaffung im eigentlichen Sinne – denn die Arbeit war ja da, weil der Bedarf da war! – er war nur Arbeitsorganisation, Arbeitsausgleich, Ausgleich zwischen Arbeit und vorhandenem Bedarf. Weiter nichts..."

Leutnant Tolkemit erhob sich mit einem Ruck und schritt, um Störtebecker nervös zu machen, im Mittelgang zwischen den Bankreihen auf und ab. Seine Stiefel knarrten vernehmlich. Der Kerl hat nicht übel begonnen, stellte er fest; seine Geschichte vom arbeitslosen Schuster interessiert sie. Waren wohl auch schon mal arbeitslos gewesen, die meisten...

Bloß Türpe passt nicht auf, puhlt mit dem Taschenmesser unter den Fingernägeln. Denkt wohl, weil er Unteroffizier ist, hm? (Was sich jetzt schon so Unteroffizier nennt; mein Gott – na ja.) Der war bloß einmal zackig in seinem Leben, nämlich als Obergefreiter, kurz bevor er befördert wurde. Die Mannschaft nennt ihn Gartenzwerg, und so sieht er auch aus: schlecht gewachsen, große Hände und Füße, immer etwas schmuddelig. Übrigens braucht er sich nicht zu wundern, dass er keine Autorität genießt: Haben wir doch selbst beobachtet, wie er vor seinem letzten Heimaturlaub von Baracke zu Baracke gezogen ist, mit 'nem Sack in der Hand, kaum zu glauben. Hat doch der Kerl in jeder Stube nachgefragt, ob noch alte Brotkanten herumlägen; die wollte er seinen Karnickeln mitnehmen! Er puhlt immer noch, dieser kleine Kretin...

Eine Reihe dahinter sitzt der Küchenbulle Sieverle. Auch so ein Blindgänger. Ist das nicht überhaupt der Bursche, der neulich den Skandal verursacht hat, als die Mannschaften sich weigerten, Mittagessen zu fassen? Weil dieser Pflaumenheini beim Wasserpumpen seine Zahnprothese herausrutschen und in den Kübel mit Salzkartoffeln fallen ließ? Derselbe, der auch seinerzeit auf dem Transport zum Schießplatz Stolpmünde mit der Gulaschkanone nicht zurechtkam und Nudelsuppe mit Pfefferminztee kochte, in welcher schließlich noch ein Zigarrenstummel gefunden wurde? Natürlich Sieverle! Jetzt sitzt er da, schwitzt und glotzt mit seinen wasserblauen Augen immer in die Ecke. Ach so, da steht das Fass mit Fliegerbier, wie das Zeug heißt. Vollkommen unlogisch übrigens, denn die Trinkenden sind keine Flieger, und das Getränk ist nicht Bier, sondern Brause. Abscheulich, solche unzutreffenden Bezeichnungen. Könnte man es nicht beispielsweise "Wehrmachtsgetränk 44" nennen, wie es ja auch "MG 34" oder "Karabiner 98" hieß...

Neben Sieverle hockt noch so eine unsoldatische Erscheinung: der Schreibstubenhengst Sperling, der erst kürzlich wegen Wachvergehens mit geschärftem Arrest belegt werden musste. Er selbst, Tolkemit, hatte ihm den Karabiner unter dem Vorwand abverlangt, er wolle prüfen, ob sich die Waffe in schussfertigem Zustand befände. Offenbar wusste Sperling, dass er als Posten das Gewehr nicht aus der Hand geben durfte. Doch als wir ihn ein bisschen anbliesen, da schlotterten dem schlappen Sack die Knie, und er ließ sich entwaffnen. Am nächsten Morgen wurde er, mit Kommissbrot und Decke unterm Arm, in Richtung des Abteilungsbunkers in Marsch gesetzt. Etwas blasser, aber sicher nicht gebessert, kehrte er nach drei Tagen zurück. – Ist wahrhaftig kein Vergnügen, diese Trauergestalten anzusehen. Setzen wir uns also wieder!

"Die Voraussetzung dafür", fuhr Störtebecker fort, den das Umherstelzen seines Rivalen ein wenig aus der Ruhe gebracht hatte, "die Voraussetzung dafür, dass dieser primitive Leistungsaustausch zustande kam, war unter anderem, dass die beiden Wirtschaftspartner noch Leder und Tapeten zur Verfügung hatten. Diese Materialien werden heute unter Einsatz eines komplizierten Apparates moderner Maschinen hergestellt. Trotzdem bleibt die Fragestellung im Grundprinzip die gleiche: Warum sollte es nicht möglich sein, das Zusammenwirken der Kräfte so zu organisieren, dass auch verschiedene Großbetriebe – mit ihren Schaffenden – untereinander in Leistungsaustausch gebracht wurden? Dies war, in allgemeinen Zügen dargestellt, diejenige Frage, mit der wir Nationalsozialisten uns im ersten Stadium der Arbeitsbeschaffung zu beschäftigen hatten. Kameraden, wie hat unser Führer nun diese Frage gelöst? Wie konnte er die Wirtschaftskrise in Deutschland überwinden?"

"Es wird langweilig", flüsterte Jürgen Faber seinem Nebenmann ins Ohr. Die beiden saßen nahe der Wand. "Wollen wir?", fragte er. Der andere schüttelte den Kopf; trotzdem hob Faber vorsichtig zwei dünne Drähte auf, die unsichtbar an der Scheuerleiste entlangliefen. An ihren Enden war die Isolierung abgeschabt worden. Sollte er damit noch warten?

Ja, wie hat er das eigentlich gemacht? Der Oberwachtmeister gestand sich, dass er das ganz genau auch nicht wusste. Sein Redeentwurf ging an dieser Stelle in zusammenhanglose Stichworte über: "Autobahn, Reichsarbeitsdienst, sozialer Wohnungsbau, Arbeitsfront, Kraft durch Freude"...

"Obergefreiter Sperling", fragte er, "wissen Sie eigentlich, wie unser Führer das angefangen hat?"

"Jawohl. Die Autobahn", antwortete der Schreiber einsilbig. Er war ein kleiner Berliner Geschäftsmann, der bei jedem Bombenangriff um seinen Laden bangte. Politik hatte ihn nie interessiert. Nur dass die Nazis ihr Versprechen brachen, die erdrückende Konkurrenz der großen Warenhäuser zu beseitigen, hatte sich ihm eingeprägt.

"Richtig. Aber weiter. Weiß noch jemand etwas darüber?", drängte Störtebecker.

Fabers dunkelhaariger Nachbar hob die Hand.

"Na, Kanonier Huse?"

"Die Rüstungsindustrie, Herr Oberwachtmeister. So haben viele wieder einen Arbeitsplatz gefunden."

"Ganz falsch! Die Rüstungsproduktion war eine sekundäre Erscheinung, die uns durch das feindliche Verhalten des Auslands aufgezwungen wurde, das unserem Aufstieg mit neidischen Augen zusah! Von den verschiedenen Abrüstungsvorschlägen Adolf Hitlers haben Sie wohl nie etwas gehört? Ja, was wollen Sie, Faber?"

"Ich verstehe jetzt nach Ihren Ausführungen, Herr Oberwachtmeister, wie unsere Arbeitslosen zu Lohn und Brot kamen, nämlich durch die Autobahn, die wir jetzt im Kriege sogar gut gebrauchen können, und durch andere Bauvorhaben, wie zum Beispiel den Westwall, den Mittellandkanal, schöne neue Gebäude, Kasernen und so weiter. Ein Teil rückte wohl auch zum Arbeitsdienst ein, andere kamen zur Wehrmacht. Dann kam die uns durch den Hass des Weltjudentums aufgezwungene Rüstungsproduktion dazu. Das war natürlich ein vielseitiges und bestimmt sehr erfolgreiches Arbeitsbeschaffungsprogramm. Aber eigentlich... das heißt, ich verstehe natürlich nicht viel davon..."

"Nun reden Sie schon, Mensch!"

"Ja, also finanziert werden musste doch das alles von den Steuergeldern. Damit kann man also nicht angefangen haben, bei sieben Millionen Arbeitslosen, die gar keine Steuern zahlten. Sie sagten auch vorhin, Herr Oberwachtmeister, wenn der Schuhmacher und der Tapezierer zueinander in Beziehungen traten, das sei eigentlich gar keine Arbeitsbeschaffung – denn die Arbeit war ja da, weil der Bedarf da war –, das sei nur Arbeitsorganisation oder Arbeitsausgleich, Ausgleich zwischen Arbeit und vorhandenem Bedarf, weiter nichts..."

"Was wollen Sie denn eigentlich!", rief Störtebecker gereizt. Er lief allmählich rot an.

Es war nicht das erste Mal, dass ihm dieser Lümmel alles durcheinander brachte und die ohnehin trüben Geister der Zuhörer vollends verwirrte...

"Ich bitte fragen zu dürfen, womit der Führer denn angefangen hat, mit der Arbeitsbeschaffung oder mit der Arbeitsorganisation?"

"Darauf komme ich später zu sprechen", entschied der Oberwachtmeister wütend, "das ist ungefähr dasselbe, als wenn Sie wissen wollen, was war eher da, das Ei oder die Henne. Der geniale nationalsozialistische Plan kann selbstverständlich nur von Leuten begriffen werden, die ein Mindestmaß an Intelligenz besitzen. – Vor allen Dingen, ehe direkte Eingriffe in das Wirtschaftsgefüge vorgenommen wurden, musste ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis geschaffen werden. Nicht länger mehr durften Arbeitgeber und Arbeitnehmer einander feindlich gegenüberstehen. Die Kräfte der deutschen Nation sollten nicht in kleinlichem Lohngezänk zersplittert oder gar durch Streik lahm gelegt werden. Manche Volksgenossen begriffen das anfangs nicht, sie sahen auf den Gewinn des so genannten Unternehmers, ohne zu berücksichtigen, dass dieser seine Einkünfte immer nur zum kleinen Teil für sich selbst verbrauchte. Nach außen hin sah es vielfach so aus, dass ein 'Unternehmer' beispielsweise hundertmal soviel verdiente wie einer seiner Arbeiter. Aber, wenn der Arbeiter drei Paar Schuhe besitzt, glaubt ihr dann, Kameraden, der Unternehmer kauft sich dreihundert? Wenn er viel hatte, waren es ein Dutzend. Und wenn beim Arbeiter vier Anzüge im Schrank hängen, glaubt ihr wirklich, bei seinem Chef hingen vierhundert?"

"Unser Chef, der Hermann", murmelte Sperling seinem Nachbarn zu, "hat mindestens viertausend."

"Das ist natürlich Unsinn", fuhr Störtebecker fort. "Was tat also der 'Kapitalist' mit seinem Geld? Er steckte es wieder ins Geschäft. Viel Geld ließ er stets zum Nutzen der Volksgemeinschaft wieder in das Werk zurückfließen..."

"Oder", mutmaßte Huse leise, "er überwies es der NSDAP."

"Wenn er nicht bald aufhört, gebe ich Alarm", flüsterte Faber zurück, die blanken Drahtenden in der Hand verbergend.

"Bloß vorsichtig, Jürgen. Der Leutnant sitzt hinter uns."

"Jetzt aber", rief Störtebecker, "ist wohl inzwischen allen klar geworden, dass wir Deutsche eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Wir sitzen alle in einem Boot, wie Dr. Goebbels das letzthin sehr anschaulich in der Zeitschrift 'Das Reich' umschrieb. Der deutsche Arbeiter ist der beste der Welt. Seinen absoluten Gegensatz haben wir im Juden. Es gibt übrigens keine Rasse, die derart willenlos einer Maschine gegenübersteht wie der Jude. Sein Erbgut versagt ihm die souveräne Stellung eines Beherrschers der Maschine. Ähnlich verhält es sich mit den Bolschewisten. Es gibt in Russland keine Arbeiterschaft, die die Garantie der geforderten Leistungsfähigkeit der russischen Industrie unter den gegebenen Verhältnissen erfüllen könnte. Das Problem der russischen Unterbilanz ist das Problem der russischen Erbmasse des russischen Arbeiters. Eine Maschine, die aus Stücken besteht, wo das hundertstel Millimeter, das das exakte Arbeiten verbürgt, nicht mehr gesehen, sondern nunmehr gefühlt wird, bedingt ein Verhältnis, das ein Beherrschen der Maschine darstellt und sich zusammensetzt aus dem faustischen Wollen, dem Instinkt und der Selbstverständlichkeit fachlichen Könnens, das wiederum gebunden ist an die Rasse. Denn Rasse ist die Gestalterin der Dinge, nicht aber, wie lebensfremde jüdische Intellektuelle glauben, die Umwelt, die angeblich den Menschen formt. Von der Existenz solcher Urkräfte, den eigentlichen Garanten unseres Endsieges..."

In diesem Augenblick schrillte die Alarmglocke: gellend, abgehackt, in nervenpeitschendem Rhythmus.

Mit einem Schlage war alles wach. Hauptmann Stodte taumelte hoch, schwenkte den Leibriemen wild umher (er pflegte ihn abzulegen, da er seine Verdauung beeinträchtigte) und schrie mit zitternder Kinnlade ein heiseres: "Flieee-ger-aaa-laaarm!"

Im Türrahmen entstand heftiges Gedränge. Einige sprangen aus dem Fenster. Stabsgefreiter Sieverle versuchte, rasch noch einen Becher Fliegerbier abzuzapfen, wurde aber von Störtebecker daran gehindert. Türpe knüpfte fieberhaft an seinem linken Schuh, den er einiger Druckstellen wegen ausgezogen hatte. Bänke stürzten um; eine Scheibe splitterte.

Das Durcheinander nutzend, riss Jürgen Faber die beiden Drähte, über die er den Stromkreis der Alarmklingel geschlossen hatte, unbemerkt aus der Hauptleitung heraus. Das musste geschehen, denn der Fernsprech-Unteroffizier würde später das Kabel peinlich genau absuchen, um den Täter zu ermitteln...

Leutnant Tolkemit beobachtete, obgleich sein Flakschießunterricht nunmehr ausfiel, voller Genugtuung den stürmischen Aufbruch. Die unglaubliche Hast, die die Männer an den Tag legten, war sein Werk. Immer wieder hatte er ihnen eingeschärft, dass der moderne Luftkrieg ein Höchstmaß an Schnelligkeit verlange. Mit 380 Stundenkilometer jagen die "Fliegenden Festungen" heran, pflegte er seinen Leuten vorzuhalten, und sie sollten dies einmal mit ihrem Tempo vergleichen. Natürlich fiel eine solche Betrachtung stets zuungunsten der Flak aus; doch schien sie anspornend zu wirken: Seit einiger Zeit konnte die 1./539 zumeist als erste Batterie dem Abteilungskommandeur ihre Feuerbereitschaft melden. Allerdings war es überflüssig und verwerflich, deswegen Fensterscheiben zu zerschlagen. Höchste Zeit, dass wir wieder mal einen Vortrag über pflegliche Behandlung von Wehrmachtseigentum halten!

Tolkemit verließ als letzter die Kantine und hetzte in langen Sprüngen über endlose Lattenroste dem Befehlsstand zu. Es war ein heißer, windstiller Julitag, mit zwitschernden Schwalben, greller Sonne und fadendünnen weißen Kondensstreifen am tiefblauen Firmament.

"Eigene Maschinen", versicherte ihm der Seitenrichtmann am Kommandogerät. Tolkemit nickte. Offenbar stiegen die Fw-190-Jäger bereits auf, um den Feind zu empfangen. Die Bereitschaftsmeldungen der Geschütze trafen rasch nacheinander ein. Dreihundert Meter entfernt schwenkte das Funkmessgerät suchend seinen dunklen Hohlspiegel. Dahinter flimmerte, in durchsichtige Dunstschleier gehüllt, der Umriss der Südberliner Vororte Zehlendorf und Lichterfelde. Das Stahlgerüst des Funkturms war nur ganz schwach zu erkennen. Würde heute über der Stadt wieder die schwarze Wand abrollender Bombenteppiche emporwuchten? Genau achtunddreißig Sekunden brauchte die feindliche Abwurfmunition, um aus sechstausend Meter Höhe (in der die Amerikaner stets angriffen) den Boden zu erreichen; eine scheußliche Dreiviertelminute, angefüllt von unheimlich schrillem Fauchen, das einem das Blut in den Adern gerinnen ließ... Ach was! Zivilisten vielleicht. Uns nicht. Schließlich sind wir Soldat und deutscher Offizier...

Der Leutnant stülpte den Stahlhelm über, dessen Riemen sich wie stets in seinen Brillenbügeln verfing, wandte sich um und wurde Zeuge eines sonderbaren Anblicks: Aus der Schreibstubenbaracke stürzte ein großer, kräftiger Mann, dem zwei kleinere Gestalten folgten. Unter Aufbietung aller Kräfte lief diese Gruppe auf den Schuppen des Gerätewarts los, drang dort ein und zerrte hastig ein schweres Maschinengewehr heraus, um es am Südrand der Batterie in einem eigens dafür vorbereiteten Grabenstück in Stellung zu bringen. Hier wurde sofort der Gurt eingelegt und die schussfertige Waffe drohend auf ein achthundert Meter entferntes Ostarbeiterlager gerichtet.

Tolkemit kannte die Vorgeschichte dieser kriegerischen Demonstration. Vor zwei Monaten war bei einem britischen Nachtangriff ein großer Brandkanister in das Barackenlager gefallen, aus dem sofort helle Flammen schlugen. Die zu Tode erschreckten Ukrainer, für die es keine Luftschutzräume gab, stoben nach allen Richtungen davon, wobei drei oder vier von ihnen zufällig auf den Batteriebereich zuliefen.

Der Spieß, Stabswachtmeister Muhr, sah sie kommen. Da er als ehemaliger österreichischer Infanterist von der Flak nichts verstand, leitete er bei Fliegeralarm stets die Brandwache; eine Tätigkeit, die ihn vermutlich nicht ganz ausfüllte. Kaum wurde er der flüchtenden Ostarbeiter ansichtig, als er zum Gefechtsstand lief und mit einem schnaufend herausgebrüllten: "Dö Rrruussen kommen!" dem greisen Batteriechef namenloses Entsetzen einjagte.

Einige Tage zuvor waren Flugblätter gefunden worden, in denen die Westalliierten alle fremdländischen Zwangsarbeiter aufforderten, sich zu geheimen Widerstandsgruppen zusammenzuschließen. Als Hauptmann Stodte nun jenen Schreckensruf vernahm, glaubte er, russische Rebellen seien im Ansturm auf die Stellung der 1./539 begriffen, und ihm war klar, dass die Bolschewisten alles niedermetzeln würden, jeden einzelnen, von der kleinen Nachrichtenhelferin bis hinauf zu ihm selbst. Er griff zur Pistolentasche, um wenigstens kämpfend (die letzte Kugel für sich aufsparend) zu fallen; doch das Unglück wollte, dass er nur den Holzrevolver umgeschnallt hatte, weil die schwere Originalpistole das Koppel nach unten zog, was wiederum sein empfindlicher Leib nicht vertrug...

Manches musste dem alten Hauptmann in diesen furchtbaren Sekunden, da er die Ausweglosigkeit seiner Lage erkannte, durch den Kopf gegangen sein. Jeder seiner herausgekrächzten Befehle erwies sich als nicht durchführbar. Seine Anordnung, aus allen vier 8,8-cm-Kanonen rasendes Sperrfeuer zu eröffnen und es als tödliche Walze vor die Heranstürmenden zu legen, scheiterte an dem Umstand, dass die Geschützrohre nicht auf den für Nahbeschuss notwendigen flachen Winkel heruntergedreht werden konnten. Sie stießen auf die Umwallung auf. Für direktes Feuer fehlten zudem Erdzielfernrohre. Auch hochgezogene Sprengpunkte konnten nicht geschossen werden, weil die Tabelle, nach der die Zündereinstellung erfolgen musste, nicht zur Hand war, sondern in der Schreibstube lag. Die Männer an den Kanonen waren waffenlos, nicht einmal Seitengewehre trugen sie, und inzwischen rückten die entmenschten Bestien immer näher, um mit langen Messern ihn und seine Leute abzuschlachten... oh...! Da schlug der Stabswachtmeister Muhr vor ihm die Hacken zusammen und schnarrte: "Herr Hauptmann, wir ha'n an altes Masching'wehr dorten in Schuppen, wenn ich dürft' das benutzen..."

Er durfte es benutzen, und mit dem bald einsetzenden MG-Geknatter kehrte Farbe in die bleichen Wangen des alten Sambesi zurück. Zehn Minuten später konnte der Spieß atemlos melden, der Angriff sei abgeschlagen. Zum Glück hatte er niemanden getroffen. Nur seinen Schützen zwo, den Kammerunteroffizier Lobedanz, erwischte ein Flaksplitter im Gesäß; er wurde später durch einen der Schreiber ersetzt. Muhr, Sperling und Sieverle sicherten von nun an die Batterie bei jedem Alarm gegen das Ostarbeiterlager; der erste stolz, kriegerisch und in dem Bewusstsein, eine strategisch wichtige Stellung zu halten; die beiden anderen fluchend und mit eingezogenen Köpfen.

Der Leutnant zuckte die Achseln. Gegen diesen armen Irren, den Spieß, konnte er nicht vorgehen, zumal der seit dem Russensturm uneingeschränkt das Vertrauen des Chefs genoss. Wenn sie doch nur endlich einmal Sambesi ablösten und nach Hause schickten! Dann würden wir mit dem Kamerad Schnürschuh rasch fertig werden! Außerdem wäre dann wohl auch, e-hem, unsere Beförderung zum Oberleutnant und Ernennung zum Batteriechef fällig, die (wie einem der Adjutant unlängst verraten hatte) vom Kommandeur bewusst hinausgezögert wurde, um uns noch als Lehrer im ganzen Regimentsbereich einsetzen zu können. Ganz schön, solche ehrenden Beweggründe, aber eine Batterie haben, ist besser. Wir würden eine Mustereinheit daraus machen. Wenn der Stodte doch mal irgend 'nen Fehler beginge, während des Gefechts... zum Beispiel das Feuer zu spät eröffnete...

Neulich war es dicht daran gewesen, als er des Nachts auf sehr tieffliegende "Mosquito"-Störbomber schießen ließ und dabei die Dächer einiger Dahlemer Villen ruinierte, darunter auch das Haus der Schwester des Kommandeurs... Aber das hatte noch nicht gereicht.

Tolkemit stieg langsam in den Unterstand hinab, der die Befehlszentrale barg. Hier standen zwischen Feldfernsprechern, papiernen und gläsernen Lagekarten, auf die ein Soldat mit bunter Kreide allerlei Pfeile malte, und den grauen Holzkästen der Ultrakurzwellenempfänger einige Apparate, die teils geschmacklose Bezeichnungen (wie zum Beispiel "Kindersarg") trugen und von denen der Leutnant wusste, dass die meisten Flaksoldaten mit ihnen nicht umgehen konnten. Sogar von denen, die hier ihrer eingedrillten Tätigkeit nachgingen, hatten nur ganz wenige einen Schimmer, wie das Ding, an dem sie da drehten, eigentlich arbeitete. Leider, leider; denn jeder Soldat sollte wissen, wie seine Waffe funktioniert. Wieder mal war nun heute unser Vortrag ausgefallen! Ein Jammer, na ja. Aber das wird nachgeholt!

Der Leutnant trat jetzt zu seinem Lieblingsgerät, das aus einer drehbar gelagerten, kreisrunden Tischplatte und mehreren geheimnisvollen Trommeln und Drähten bestand, die über zahlreiche Rollen liefen. Ein Major der Flakartillerie namens Malsi, der vielleicht Studienrat, gewiss aber ein guter Mathematiker war, sollte es erfunden haben. Es kostete die Wehrmacht höchstens einige sechzig Mark, war also billiger als eine 8,8-cm-Granate, erforderte neun Mann Bedienungspersonal und bot den Vorteil, dass es die Wege der jeweiligen Feindmaschinen auf einem riesigen Bogen eingespannten Papiers für alle Zeiten kartographisch festhielt; mit gewissen fehlerhaften Abweichungen freilich, die indes selten größer waren als ein Kilometer. Übrigens war es bei scharfem Drill der Bedienungsmannschaft durchaus möglich, solche Abweichungen in engeren Grenzen zu halten. Ein Kilometer, oder fachmännisch: zehn Hektometer, galten als dasjenige Maß, über das hinaus Fehlleistungen der Flak seitens höherer Stäbe ernstlich übel genommen wurden. Zehn Hektometer betrug auch die Entfernung, in der die Flugzeuge auf Schießplätzen den als Ziel angenommenen Luftsack hinterdrein schleppten. Traf eine Batterie trotzdem die Maschine selbst – der 1./539 passierte das noch nie! –, so geriet sie für lange Zeit in Verruf. Gewiss hatte das Malsi-Gerät schwache Seiten: die Feindmaschine durfte nach Möglichkeit weder Kurs und Flughöhe noch ihre Geschwindigkeit ändern, wenn sie Wert auf Treffer legte. Doch wurde all dies in Tolkemits Augen reichlich aufgewogen durch die Tatsache, dass fast die gesamten Regeln der Euklidschen Geometrie in der Arbeitsweise des "Malsi" offen zutage traten und hieran ausgezeichnet erklärt werden konnten. Oftmals war ihm sogar der Gedanke gekommen, es später als wichtiges Schauobjekt dem Lehrmittelbestand seiner Schule einzuverleiben; doch stand dem die Größe des Tisches, dessen Durchmesser fast drei Meter betrug, sowie der Umstand im Wege, dass es sich um ein geheim zu haltendes Gerät des militärischen Gebrauchs handelte. Sehr bedauerlich... Na, schauen wir mal hinüber zur Karte!

Die Luftlage war unklar, er stellte das, vor den Planquadraten der großen Karte stehend, sogleich fest. Teile der in Italien stationierten 15. US-Luftflotte waren in Süddeutschland eingedrungen. Die üblichen drei Divisionen "Fliegende Festungen" der 8. US-Luftflotte, etwa achthundert Maschinen, standen mit ihrer Masse über der Scheldemündung, waren also noch eineinhalb Flugstunden entfernt. Über diesem Bomberstrom hing starker Jagdschutz. Weitere Jägergruppen schirmten nach Norden und Süden ab. Die Spitze des Gegners hatte den Raum zwischen Arnheim und Eindhoven erreicht; sie schob sich langsam auf die Reichsgrenze zu. Ein starker Verband "Mustangs" war bereits bis Osnabrück vorgestoßen, wo er plötzlich auseinandersplitterte und im Tiefflug deutsche Rollfelder angriff, um möglichst viele "Fw 190"- und "Messerschmitt"-Maschinen am Boden zu zerstören. Gleichzeitig kreuzte ein schwächerer Kampffliegerpulk über Hessen, alle fünf Minuten seinen Kurs wechselnd und nacheinander Frankfurt, Würzburg und Kassel anfliegend. Es war das gewohnte Bild eines amerikanischen Großeinsatzes, bei dem niemand wusste, ob er fränkischen Kugellagerfabriken, der Ruhr, den Leunawerken oder Berlins Wohnvierteln galt. Immerhin waren all diese Verbände noch recht weit entfernt, und Tolkemit fragte sich, warum denn das Regiment so frühzeitig Alarm gegeben habe.

"Schon der Untergruppe die Feuerbereitschaft gemeldet?", rief er der rothaarigen Telefonistin zu.

"Ich bekomme keine Verbindung", antwortete das Mädchen unbekümmert, "da quasseln welche in der Leitung 'rum..."

Tolkemit wandte sich ärgerlich ab. Zum Kotzen mit dem weiblichen Hilfspersonal! Brach doch neulich sogar eine dieser geschminkten Amazonen in Tränen aus, als sie hörte, ihr Haus sei getroffen. Während des Einsatzes! Fing einfach an zu heulen und war nicht mehr imstande, ihren Posten auszufüllen. So was ging denn doch zu weit! Aber mit den Männern vom Fernsprechtrupp herumpoussieren...

"Wenn Sie die Meldung nicht binnen drei Minuten durchgegeben haben", versetzte er schneidend, "lasse ich Sie ablösen, merken Sie sich das!"

"Herr Leutnant", schrie der Mann von der Karte her, "dreißig dicke Autos in Emil-Gustav eins, gibt der Flaksender eben durch, Kurs Ost!"

Mit einem Satz war Tolkemit bei ihm. Das Planquadrat Emil-Gustav bezeichnete den Raum um Stendal, und "dicke Autos" war der Deckname für viermotorige Bomber. Hol's der Teufel, wo kamen die plötzlich her? Und die Mustangs standen schon bei Hannover...

Da ertönte draußen das heisere Brummen schwerer Flugmotore. Der Leutnant hastete, immer drei Stufen nehmend, die Treppe hinauf. Es wäre nicht das erste Mal, dass das Meldesystem versagte! Immer diese verdammte Unklarheit...

Hauptmann Stodte schreckte hoch. Friedlich hatte er neben dem Kommandogerät in der Sonne gesessen; das Antlitz im Schatten, die dürren Schenkel, in denen das Rheuma steckte, den wohltuenden Strahlen darbietend.

"Maschine im Anflug!", rief jemand.

"Feindmaschine?", erkundigte sich Stodte nervös.

"Eindecker, viermotorig..."

"Kommandogerät aufgefasst", meldete der Gefreite Faber. Alberne Brüllerei, dachte er. Ehe so eine Batterie den ersten Schuss 'rausjagte, waren ein Dutzend solcher Ausrufe erforderlich.

"Funkmessgerät aufgefasst!", schrie der Telefonist.

"Maschine im Feuerbereich!", brüllte Oberwachtmeister Störtebecker, der Leiter der Mess-Staffel, mit mächtiger Stimme.

Das Motorengeräusch schwoll an.

Der Batteriechef reckte den faltigen Hals. In seiner Erregung sah er das Flugzeug nicht; das grelle Sonnenlicht blendete ihn. Er wusste, dass es galt, zu entscheiden, ob geschossen werden sollte oder nicht. Jetzt lag die ganze Last der Verantwortung auf seinen Schultern...

"Höhe?", fragte er aufgeregt und furzte.

"Dreihundert! Direkter Anflug auf Batterie! Entfernung siebentausend..."

"Geschütze klar!", heulte Störtebecker und sah den Chef dabei auffordernd an.

Hauptmann Stodtes eiförmiger, sauber rasierter Schädel bedeckte sich rasch mit großen Schweißperlen. Mein Gott, mein Gott, was tun...?

In diesem Augenblick tauchte des Leutnants Nickelbrille aus dem Treppenschacht empor. Tolkemit hob zunächst sein Fernglas. Von zahllosen Unterrichtsstunden her kannte er sämtliche Flugzeugmuster bis in die letzte Einzelheit. Die dort über den Wipfeln des Potsdamer Forstes herandonnernde Maschine, das sah er sogleich, war viermotorig, hatte ein einfaches Seitenleitwerk und eine Bodenwanne. Infolge geringer Höhe und des beinahe direkten Anflugs waren die Hoheitszeichen nicht zu erkennen. Es handelte sich entweder um eine amerikanische "Fliegende Festung" oder um eine deutsche "Focke-Wulf 200". Andere Möglichkeiten schieden aus. Allerdings, für eine "Fliegende Festung" erschien das Leitwerk reichlich niedrig... ja, viel zu niedrig...

In jähem Entschluss trat Tolkemit auf den Chef zu, legte die Finger an den Stahlhelmrand und rief: "Herr Hauptmann, melde gehorsamst, dreißig feindliche Bomber im Anflug von Westen."

Dies gab den Ausschlag.

"Feuer frei!", krächzte Stodte heiser heraus, wobei sein Adamsapfel gefährlich hüpfte.

Störtebecker nahm das Kommando begeistert auf. "Gruppenfeuer!", heulte er in das Kehlkopfmikrophon hinein, das ihn mit den Geschützführern verband...

"Halt!", rief Jürgen Faber vom Kommandogerät her, "das ist doch eine deutsche Maschine! Das ist eine Fw 200...!"

"Sind Sie wahnsinnig?", zischte der Leutnant. "Halten Sie Ihren Mund!"

"Gruppe!", brüllte Störtebecker mit so gewaltiger Stimmkraft, dass die Geschützführer ihn auch ohne Drahtübertragung hörten.

Die Batterie erbebte unter einem einzigen scharfen Knall. Sekundenlang versanken die Geschützstände in Wolken aus Qualm und Dreck. Das in langen Sommerwochen zu Staub gedörrte Erdreich der Umwallungen zitterte auf, drang den Kanonieren bräunlich in Nase und Mund, nahm ihnen die Sicht.

"Gruppe!", schrie der Oberwachtmeister, auf seine Stoppuhr starrend. Ein zweiter Knall peitschte. Pulvergeruch breitete sich aus. Jürgen Fabers Trommelfelle schmerzten, und sein Herz hämmerte wild: Da ballern sie auf eine deutsche Maschine, und du bist schuld... mit deinem Alarm... eine Fopperei für den Naziredner sollte das sein... und jetzt... und jetzt... wenn sie bloß nicht treffen...

"Gruppe!", keuchte Störtebecker, bestrebt, die Schussfolge aufs äußerste zu steigern. Wieder zitterte Staub auf, wurde dichter, legte sich nicht mehr...

"Gruppe...!"

"Sauber, sauber", lobte Leutnant Tolkemit, "keine Kleckerei. Hol's der Teufel, sogar Caesar kommt diesmal mit..."

"Herr Unteroffizier", sagte Werner Huse, eine gelbe Granate im Arm, "wir haben unsere Mündungskappe noch drauf."

Der kleine Türpe, Geschützführer von Caesar, blickte verzweifelt nach oben: es stimmte. "Schetz is' zu schpät..."

"Gibt 'ne Zigarre", brummte Huse.

"Macht mich nich verrückt", jammerte Türpe, "das scheene Leder! Schon geht's los... Feuer!"

Mit ohrenbetäubendem Krachen sprang das Rohr zurück. Huse riss die nächste Granate aus der Zünderstellmaschine, stieß sie in den zuschnappenden Verschluss. Brauner Dreck wogte hoch, verhüllte die Gestalten der sowjetischen Kriegsgefangenen, die neue Geschosse aus den Munibunkern heranschleppten.

Heiße Messingkartuschen polterten über die Kreuzlafette. Immer steiler kurbelte der Höhenrichtmann das Rohr, immer mehr Kraft erforderte das Laden, Schweiß rann Huse über Brust und Rücken...

Hart vor dem Flugzeug zerplatzten die Watteknäuel der detonierenden Granaten. Stabswachtmeister Muhr beobachtete das aus zusammengekniffenen Augen. Er hatte es fertig gebracht, sein MG gleichfalls auf dieses Ziel zu richten. Fünfzehn Sekunden lang schoss die 1./539 solcherart aus allen Knopflöchern. Dann setzte das MG aus.

"Ladehemmung, Herr Stabswachtmeister", stammelte Sieverle.

"Sie Tupf", erboste sich Muhr und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Kopf. Sieverles Augen verschwanden unter dem Stahlhelmrand. Der zornige Spieß beseitigte die Hemmung, Sieverle schoss jetzt weiter. Plötzlich fielen aus der ganz von weißen Bällen umgebenen Maschine drei rote und sechs grüne Leuchtkugeln.

"Drei rot, sechs grün!", rief Sperling entsetzt.

"Jesusmaria, Feuer einstellen!", kreischte der Spieß.

Sieverle hörte nicht. Sieverle fuhr fort, knatternde Feuerstöße ins Blaue zu jagen. Kampfrausch hatte ihn gepackt. Da versetzte ihm Muhr einen zweiten Hieb. Diesmal rutschte der Helm dem dicken Koch bis über die Nase. Erschreckt schnellte er hoch, die Mündung der Waffe senkte sich überraschend, doch vergaß Sieverle in seiner Verwirrung, den Abzug loszulassen: Eine MG-Garbe strich pfeifend über den Gefechtsstand hinweg, bohrte sich, kleine Staubfontänen aufwerfend, in die Böschung...

Oberwachtmeister Störtebecker sah wohl die Leuchtzeichen, die das für diesen Tag vereinbarte Signal der eigenen Maschinen bildeten; doch kaum wollte er ernüchtert sein Schnellfeuer abbrechen, als Sieverles Kugeln rings um ihn einschlugen. Psssiuuuhh-psssiuuhh-psssiuuhh pfiff es, Dreck spritzte hoch, das Holz der Wandverschalung splitterte...

"Volle Deckung!", rief Leutnant Tolkemit. Er warf sich platt auf den Boden. Störtebecker, der es aus Tapferkeit stets verschmähte, einen Stahlhelm zu tragen, verspürte einen heftigen Schlag überm Ohr und ließ sich augenblicklich fallen – auf etwas Hartes, Zappelndes. "Er schießt aus Bordwaffen", keuchte er und tastete seinen Schädel ab, "das Aas..." Die Hand kehrte blutbeschmiert zurück. "Sanitäter! Sanitäter!!" Jemand wickelte ihm das ganze Verbandspäckchen um die Stirn. Erst jetzt bemerkte er, dass er auf dem zuckenden Rücken des Batteriechefs saß. Auch den Führer hat es gestern erwischt, dachte er. Verwundet..., ja. Der Führer war gleichfalls verletzt, doch er kämpfte weiter...! Der Führer lebt!

"Gruppe!", stöhnte er in sein Kehlkopfmikrophon hinein; "Gruppe!!" – Eine letzte verzettelte Salve krachte...

Da rissen sie ihm das Mikrophon vom Hals.

Tolkemit beobachtete die Maschine mit zusammengepressten Lippen. Sein Mund glich einem in Klammern gesetzten Minuszeichen. Sie flog gemäß den Regeln der klassischen Flakschießkunst schnurgeradeaus und auch nicht besonders schnell. Jedem, der Euklid und seine geometrischen Lehrsätze kannte, musste es klar sein, dass sie in der nächsten Sekunde getroffen sein würde. Während unten die Geschütze schon schwiegen, tanzten rings um sie weiter die Sprengpunkte.

Plötzlich trat schwarzer Qualm aus einem der Außenmotore; ein wenig tiefer öffneten sich mehrere Fallschirme. Die brennende "Fw 200" verlor langsam an Höhe, hielt aber weiterhin, eine dunkle Rauchspur nachziehend, auf den Flugplatz Tempelhof zu. Offenbar blieb der Pilot an Bord und versuchte notzulanden.

"Mein Gott, mein Gott. Fürchterlich", hauchte Hauptmann Stodte. Die Kreuze unter den Tragflächen waren jetzt deutlich zu erkennen.

"Herr Hauptmann", rief die rothaarige Nachrichtenhelferin von der Treppe her, "der Kommandeur verlangt Sie sofort am Apparat!"

Stodte drehte sich um und wankte hinab.

Aus der Ferne ertönte schwach eine Explosion; über dem Tempelhofer Feld stieg eine dünne Rauchsäule auf.

"Abschuss", bemerkte Tolkemit ruhig und folgte dem Batteriechef in den Unterstand. Die Mannschaften flüsterten nur noch. Alle sahen sich betreten an...

"Abschuss...", wiederholte Störtebecker lallend, "Abschuss... Sieg... Sieg...!"

3. "The moon was yellow..."

Es war um die Mittagsstunde des 22. Juli, als Captain Roberts am nördlichen Themseufer entlang auf das Stabsquartier zuschlenderte. Seit einiger Zeit war Hayes' Abteilung in dem kleinen Bürohaus einer Teeimportfirma untergebracht, die bald nach Ausbruch der Feindseligkeiten ihre Handelstätigkeit eingestellt und alle Räume dem Kriegsministerium abvermietet hatte. Der Emigranten wegen, die meist in London wohnten und zu denen die Verbindung nie abreißen durfte, musste darauf verzichtet werden, den Stab ganz aus der Stadt herauszunehmen und ihn in die Nähe des Flugplatzes, auf dem die Maschinen des Geschwaders standen, zu verlegen. Das altmodische Gebäude, in dem man einige Jahrzehnte lang die Einfuhrziffern indischen Tees, schwankende Preise, Frachtsätze und Maklerprovisionen in mächtige Bücher eingetragen hatte, lag eine Viertelstunde vom Hafenbecken der Royal Albert Docks entfernt, dort, wo das graue Eastham in die fruchtbare, jedoch langweilige Ebene der Grafschaft Essex übergeht. Die Themse verbreitert sich dort und beginnt, wie der Meeresstrand, nach Tang und toten Fischen zu riechen. Zahlreiche Unternehmen, die schon um die Jahrhundertwende näher dem Zentrum zu keinen Platz mehr fanden, hatten hier zwischen Elendshütten, modernden Schuppen und in fauligem Wasser schwimmenden Wohnkähnen ihre nüchternen, ja hässlichen Zweckbauten errichtet.

Dies ist die Gegend, sann Roberts, in der Wallace und andere Kriminalautoren der zwanziger Jahre viele ihrer Romane beginnen ließen; das traditionelle Revier der großen Rauschgiftschmuggler und Mädchenhändler, die sich nachts bei dickem Nebel mit gedrosseltem Motor an den Polizeibooten vorbeischlichen und ihre Beute auch in Sicherheit gebracht hätten, wenn da nicht ein Sergeant Boones oder Percy gewesen wäre... Vielleicht verbarg er sich damals zwischen den moosbewachsenen Rammpfählen jener kurzen Landungsbrücke, als er den Gangsterchef Richard LePage belauschte, der später in Lambeth verhaftet, jedoch von Komplicen befreit wurde und den erst in der verrufensten Kneipe von Whitechapel schließlich das Schicksal ereilte? – Und diese offenbar verlassene, halbzerfallene Fachwerkvilla dort, konnte sie nicht der Sitz des geheimnisvollen Mr. Wootton gewesen sein, der, nach außen hin ehrbarer Exportkaufmann, einer der größten Rauschgiftlieferanten Londons war? Der im Keller über dem Kokainvorrat ein Wasserrohr angebracht hatte, das er, als die Polizei bei ihm eindrang, vom Schreibtisch aus anstellte, worauf das weiße belastende Pulver hinweggeschwemmt wurde und er nicht ins Zuchthaus Dartmoor kam? – Aber so schlau sie es auch anfingen, jene geriebenen Spitzbuben, die zwischen den alten East India Docks und Gravesend ihr Unwesen trieben, sie alle erwischte am Ende der kleine Scotland-Yard-Inspektor Brown, ein scheinbar schwächliches, hinkendes Männchen von spleenigem Gebaren, das gummibesohlte Schuhe trug, nach eigener Methode arbeitete, sich mit seinen Vorgesetzten überwarf, Pfeife rauchte, hilflos zu lächeln und unmittelbar aus der Tasche zu schießen pflegte. Brown verfolgte, regenschirmbewehrt, die berüchtigte Li-Feng-Chinesenbande, die mittels eines Gummischlauchs Giftgas in seine Privatwohnung blies, ihn durch fingierte Telefonanrufe (Mord planend) in finstere Gassen lockte und deren Sachgebiet Fassadenklettereien und Erpressungen waren, wozu sie die hübschen Töchter reicher Leute nachts aus duftenden Himmelbetten rissen, gefangen setzten und ihnen hin und wieder, wenn das Geld nicht pünktlich kam, dann auch mit echten Chinesenschwertern die Köpfe abschlugen. Brown spürte sie in ihrer gelbseiden drapierten Höhle auf, die sich nirgendwo anders als in Soho befand, und lieferte sie, obgleich das Zimmer in Wirklichkeit ein Fahrstuhl war und plötzlich hinab in den Keller sauste, dennoch im Hauptquartier von Scotland Yard an der Westminsterbrücke ein, wo sie, tausend Schritte vom Buckingham Palace und hundert vom Parlamentsgebäude entfernt, umfassende Geständnisse ablegten, wie schon so viele vor ihnen...