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Wieder ist die Zeit der Hexen und der merkwürdigen Ereignisse. Eigentlich sind es alltägliche Begebenheiten, die irgendwie nicht so recht zu erklären sind. Am Ende aber wird so manches klar, erklärbar. Manchmal jedoch erscheint die Situation in einem sonderbar mystischen Licht und wir finden uns nur noch schwer zurecht. Doch auch wenn es oft keine erklärbare Lösung zu geben scheint, zeigt es immer, dass dieses Leben nicht immer real und eindeutig verlaufen will. Es will gelebt und durchgestanden sein, will zeigen, wo man die Kraft noch finden kann. Sie ist tief in uns drin, genau wie unsere unbändige Neugier, die uns Menschen immer weiter kämpfen lässt.
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Seitenzahl: 221
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Verbrenne du Hexe
Lila Wolken
Waldpilzsuppe
Die Kutsche
Nachtspaziergang
Das Haus hinter den Bäumen
Gelbe Rosen
Verfahren
Die alte Bar
Der alte Helm
Begegnung
Das Loch
Seemannsgarn
Alpträume
Die Brücke
Jungbrunnen
Fantasien
Der Ring der Mutter
Virus
Die Pension
Die Frau auf dem Felsen
Das hölzerne Kreuz
Die alte Brigade
Kugelblitze
Geisterzug
Das Gesicht
Das Grauen
Luftschiff
Sturmflut
Rote Lichter
Böse
Kreditvertrag mit dem Teufel
Taxifahrt
Am Tor
Spiegel
Es war nicht sonderlich viel, was sie sich zu ihrem baldigen sechzigsten Geburtstag noch wünschte. Vielleicht ein bisschen Zufriedenheit, ein wenig Gesundheit, und das der Billigfusel nicht so schnell zu Ende gehen mochte. Aber ob das wirklich so sein könnte -oder dürfte-, das wusste sie nicht.
Sie: Traude, 60, arbeitslos, nicht besonders schön, allein lebend, arm!
Die Ideen gingen ihr jedenfalls niemals aus! Und so sann sie vor allem nächtelang nach, wie sie die Leere in ihrem Kopf bekämpfen könnte. Immerhin, sie war ja wieder Single, weil der Kerl, den sie mal hatte, längst davongerannt war. Außerdem kam in diese winzige Plattenbau-Bude sowieso keiner, warum auch immer. Trotzdem, und sie spürte es genau, musste es doch wenigstens noch ein ganz kleines bisschen Hoffnung, oder so etwas wie Freude, geben können, oder?
Da las sie eines nachts in einer der kostenlos verteilten Schmierblätter, dass irgendein Fernsehsender „Freiberufliche Hexen“ suchte, die viel Lebenserfahrungen besaßen und irgendwie eine gewisse Spur von Zukunft voraussehen konnten. Traude wusste nicht, ob sie so was konnte, sie wusste nur, dass sie sich sehr gut vorzustellen vermochte, wie ihr eigenes, nicht gerade sehr sinnreiches Dasein, morgen weiterlaufen würde.
Und so raffte sie die Röcke, schnappte ihre Gürteltasche und lief los.
Die S-Bahn war knallvoll, weil mal wieder irgendwelche Bediensteten streiken mussten. Sie waren wohl mit ihrem Gehalt nicht einverstanden. Traude verstand das nicht, sollten die nicht zufrieden sein mit dem, was sie hatten? War Arbeitslosigkeit und das Gefühl, keine Hoffnung mehr zu haben, nicht viel schlimmer als mal drei Mark weniger zu bekommen? Naja egal, sie wollte jedenfalls schnellstens zu dem Fernsehsender in der Stadtmitte.
Es war schon ein ziemlich heißer Tag und sie japste wegen ihrer vielen Kilos, bis sie endlich in der engen Straße ankam. Der Sender befand sich im achten Stock und der Fahrstuhl war defekt. So hielt sie aller zwei Etagen inne und schaute mit verbissener Miene aus dem Hausfenster auf die ziemlich belebte Straße. Als sie oben war, erkundigte sie sich, ob das Angebot auch noch aktuell war. Die junge Blondine an der ein wenig bunt dekorierten Rezeption schaute zwar ein wenig skeptisch, vielleicht weil Traude so gar nicht aussah wie eine zielorientierte Karrierefrau, doch nachdem ihr ein junger Kollege eine Tasse mit duftendem Kaffee vor ihre Nase schob, schien sie doch wohlwollend zu sein, lächelte sogar eine Millisekunde und nickte dann mit ihrem stark geschminkten Köpfchen. Vermutlich bedeutete das so viel wie: Ja, du kannst dich setzen, es kommt gleich jemand. Traude nahm Platz und wartete …und wartete… und wartete …
Und dann öffnete sich eine Tür – ausgerechnet jetzt, wo sie ganz plötzlich und unvermittelt aufs Klo musste. Doch sie biss sich auf die Zunge, wollte diesen wichtigen Termin nicht mit einer solch unheilvollen Banalität verballern.
Der sympathische Mittvierziger, der sich in seinem hoffnungsvoll wirkenden blauen Anzug recht wohl zu fühlen schien, war irgendwie angetan von der mutigen kleinen Frau, die trotz ihrer vielen Pfunde den anstrengenden, wenngleich wenig chancenreichen Weg hierher genommen hatte. Und so bat er Traude ins Büro. Nach einem kurzen Gespräch war klar: Traude bekommt den Job!
Solch eine Freude hatte Traude wohl noch nie zuvor gefühlt, denn die Ablehnungen der letzten Jahre hatten ihrem Selbstbewusstsein schon ziemlich zugesetzt.
Sie durfte auch gleich anfangen, denn eine Kollegin, die bislang als Hexe ausgeholfen hatte, war krank geworden. Traude nahm in dem etwas kleinen, aber immerhin klimatisierten Studio Platz und wartete auf die ersten Anrufe. Der Chef zwinkerte ihr aufmunternd zu, und dann war es endlich soweit, der erste Anrufer wurde durchgestellt!
Zuerst traute sich Traude nicht so richtig, schien ihr doch die ganze Situation nicht so ganz geheuer zu sein. Aber dann, nach einigen Hyperventilationen und dem mehr als lästigen Herzstolpern besann sie sich, dachte an das Geld, welches sie sich dazuverdienen konnte und sprach …
Es gelang alles wunderbar und schon in der ersten Pause fühlte sie sich so richtig gut. Es war ein wundervolles Gefühl, welches sich in ihrem Magen breitmachte, sich dann ihres gesamten Körpers bemächtigte und sie schließlich voll und ganz in sich einhüllte. Ja, so hatte sie es sich wirklich vorgestellt – na, vielleicht nicht ganz so gut, aber es lief!
Der Tag verflog wie am Schnürchen, und dann klingelte das Studiotelefon zum letzten Mal. Eigentlich wollte Traude ihre mittlerweile auswendig gelernte Nummer wie den ganzen Tag auch schon, abspulen, doch dann erschrak sie. Denn die Stimme am anderen Ende schien voller Hass und voller Wut zu sein. Erst murmelte sie, dann zischte sie unverständliches Zeug, bis sie schließlich: „Verbrenne du Hexe!“ brüllte. Mehrmals tat sie das und Traude wusste plötzlich nicht mehr, was sie antworten sollte. Sie war schlichtweg überfordert und schaute unsicher um sich. Eine Redakteurin betrat kaum hörbar das Studio und zeigte andauernd auf das Telefon. Das sollte wohl so viel heißen wie: lege endlich auf, du dumme Nuss! Und endlich begriff es auch Traude, sie legte auf und atmete tief durch. Dennoch ließ ihr dieser bösartige Anruf keine Ruhe mehr. Sie konnte es sich nicht erklären, aber aus irgendeinem Grunde wollte sie wissen, wer das war, wer sie so beschimpft hatte.
Die nette Kollegin meinte zwar, dass so etwas schon mal passieren könnte, man sich deswegen nicht sorgen möge, doch Traude sah das alles anders. Sie spürte es in ihrem Inneren und ein heftiger Druck schnürte ihr beinahe die Kehle zu. Was konnte das nur sein, hatte sie vielleicht am Ende doch diese mystischen Kräfte, welche bei diesem Sender für so hoch- und heilig gehalten wurden? War sie jetzt vielleicht schon spirituell geworden? Sie wollte es nicht glauben, fand aber, dass sie den Anrufer finden musste.
Und so erkundigte sie sich nach der Telefonnummer, die in der Redaktion aufgezeichnet wurde. Zunächst wollte man ihr die Nummer nicht geben, aber dann, und nach einigem Augenzwinkern später, willigte die lesbische Redakteurin endlich ein. Traude bedankte sich artig und verabschiedete sich nett. Dann rannte sie die Treppen nach unten und blieb in einer Hausecke abrupt stehen. Krampfhaft zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer, die sie sich auf einem Zettel notiert hatte. Es meldete sich wieder diese sonderbare Stimme, von der sie nicht erkennen konnte, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. Die Stimme hörte sich blechern, einsilbig, ja sogar so hoch wie eine Frauenstimme an, was sie aber dann doch wieder nicht sein konnte, weil sie einen tiefen basshaften Unterton in sich trug.
Schnell drückte Traude den Anruf weg und wusste nicht, ob sie ihren Plan immer noch ausführen sollte. Vielleicht war das ja doch zu dämlich, vielleicht sollte sie diesen albernen Anrufer sein lassen und morgen einfach ganz normal, als sei nie etwas gewesen, weitermachen. Doch so war sie nicht, sie konnte nicht „einfach so weitermachen“! Sie war nicht so, sie hatte Gefühle und sie hatte Stolz. Sie hatte auch eine grenzenlose Neugierde in sich drin, die sie wahrlich selten genug auslebte. Und so rief sie einfach nochmal an! Diesmal meldete sie sich mit „Polizeiobermeisterin Traude Müller“, die einem anonymen Hinweis nachgehen sollte. Unverblümt fragte sie nach der Adresse der fremden Person und erfuhr diese nach einigem Stöhnen sogar. Die Person lebte in Kreuzberg, in einem unsanierten, düsteren Mietshaus. Ziellos stand Traude davor und wusste nicht genau, ob sie an der Klingel mit der Aufschrift „Knaupe“ klingeln sollte. Wer war Knaupe wohl, ein Mann, eine Frau, am Ende vielleicht ein Kind, ein Teenager vielleicht? Sie klingelte, meldete sich, und dann knarrte der Türöffner. Schnell sprang sie in das dunkle modrige Treppenhaus und las an einer Tafel, dass Knaupe in der dritten Etage lebte. In einer Ecke entdeckte sie einen Fahrstuhl, der wohl noch aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen musste. Sie wagte es, stellte sich in die kleine miefige Gondel und schloss dann die schmiedeeiserne Gittertür des Liftes. Langsam und rumpelnd setzte sich das altertümliche Ding in Bewegung und irgendwann blieb es in der dritten Etage stehen. Dort sah es auch nicht viel gepflegter, und schon gar nicht sauberer aus. Überall lag Dreck, den niemand weggekehrt hatte, lagen zerrissene Zeitungen, und dort, wo am meisten Dreck herumlag, entdeckte sie das Klingelschild mit dem Namen „Knaupe“. Die Klingel musste man noch drehen, und irgendwie hatte Traude den Verdacht, für diese antike Klingel in einem Antiquariat vielleicht noch einiges zu bekommen. Sie drehte einmal und der blecherne Klingelton erschreckte sie ein wenig. War ihr Entschluss wirklich richtig?
Es dauerte ein wenig, aber dann öffnete jemand und Traude musste grinsen. Denn sie konnte noch immer nicht erkennen, wer das war, der da vor ihr stand. Das hutzelige, ärmlich bekleidete Männchen war doch weder Fisch noch Fleisch, war´s nun eine Frau oder doch ein Mann? Schließlich stellte sich heraus, dass es ein Mann war, ein junger Mann, der sie höflich aber bestimmt in die kleine Wohnung bat. Dort sah es beinahe so heruntergekommen aus wie im gesamten Gebäude. Doch das störte Traude in diesem Moment nicht so sehr. Sie wollte nur wissen, wer die Person da vor ihr war. Es gestaltete sich ein wenig schwierig, mit dem einsilbig wirkenden Mann zu sprechen. Doch dann ließ sie ihre Maskerade fallen und redete ungezwungen mit dem Mann, der sich Günter nannte. Sie wollte wissen, warum er sie so angebrüllt hatte, und sie wollte wissen, warum sie verbrennen sollte.
Was der vermeintliche Günter dann meinte, ließ sie beinahe erschaudern. Denn Günter war ein Hexenhasser, ein Frauenfeind, der schon seit Jahren niemanden mehr hatte.
Die beiden unterhielten sich eine ganze Weile und Traude merkte auf einmal, dass sie die Menschen nicht ändern konnte, auch, wenn sie mit ihnen persönlich sprach. Günter war uneinsichtig und böse. Immerfort meckerte er, schimpfte auf die vielen, viel zu freizügig gekleideten Frauen und meinte dann, dass Traude eine hässliche Hexe sei. Als er aber plötzlich von Hexenverbrennungen und lodernden Flammen sprach, in welche man alle Hexen werfen müsse, hatte Traude genug. Sie verließ die Wohnung und bedankte sich doch noch für die Zeit, die dieser Günter für sie erübrigt hatte. Immerhin, sie hatte sich getraut und sie hat die Adresse ausfindig machen können. Sie war mutig und war der Sache auf den Grund gegangen.
Doch die letzten Worte von Günter waren nicht sehr nett, denn leise zischte er: „Du Hexe, du auch sollst brennen!“ Traude war froh, nach wenigen Minuten wieder auf der sicheren Straße einzutreffen. Sie atmete erst einmal tief durch und spürte, dass sie trotz ihrer eigenen Sorgen doch ein wesentlich freieres und schöneres Leben führen konnte als dieser offensichtlich total verbitterte und verbiesterte Kerl. Und sie strich durchs Haar und fühlte sich irgendwie frei, befreit sogar. Als sie in der S-Bahn in Richtung Heimatadresse rauschte, gab es plötzlich einen heftigen Knall. Ruckartig blieb die Bahn stehen und qualmte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund ließen sich die Türen nicht mehr öffnen und Traude bemerkte mit Schrecken, dass an einigen Stellen Flammen aus dem Fußboden quollen.
Sie konnte gar nicht so schnell denken und bekam furchtbare Panik. Wie sollte sie, wie sollten all die anderen Menschen, hier nur wieder herauskommen? Da bemerkte sie, wie sich in dem dichten Rauch ein Gesicht zu formen begann. Bildete sie sich das nur ein oder war es wirklich da? Offensichtlich hatte sie bereits Halluzinationen, oder ihre Angst spielte ihr einen gehörigen Streich, jedenfalls lachte das Gesicht und Traude erkannte es sofort: es war Günter, den sie eben besucht hatte! War das seine Rache? War das sein Fluch vielleicht, dass sie nun doch brennen würde? Aber wieso, was hatte sie eigentlich falsch gemacht, dass sie so bestraft werden müsste? Sie sah es nicht ein, ließ sich nicht darauf ein, fuchtelte mit ihren Händen im Qualm herum und zerstörte das Rauchgesicht. Einige der Fahrgäste waren bereits bewusstlos zu Boden gefallen, doch Traude hielt sich noch immer recht wacker und recht senkrecht in der brennenden Hölle.
Plötzlich nahm sie all ihren Mut zusammen, bündelte die noch verbliebenen Kräfte und richtete sich wieder auf. Mit lauter schriller Stimme brüllte sie, und sie konnte es beinahe selbst nicht fassen, was sie da tat: „Fort mit dir, Satan! Denn nichts anderes bist du! Ich bin keine Hexe, ich bin ein guter Mensch und ich werde nicht brennen, niemals!“ Damit trat sie wie ein tollwütiger Stier gegen die verschlossene Tür. Und welch Wunder, dieser Tritt saß derart fachgerecht, dass alle Türen auf einmal aufsprangen. Die Menschen bekamen wieder Luft und die Flammen schienen sich aus irgendeinem unbekannten Grunde in den Boden zurückzuziehen. Traude half den bereits gefallenen Menschen wieder auf die Beine und keiner der Mitfahrenden war zu Tode gekommen. Was für ein Erfolg, was für eine wunderbare Entscheidung von der kleinen, etwas dicken Person Traude, sich auf die inneren Kräfte zu besinnen. Und nachdem die Feuerwehr den restlichen Motorbrand gelöscht hatte, wunderten sich alle, dass nicht noch Schlimmeres geschehen war. Traude hingegen war heilfroh, noch am Leben zu sein, und sie wusste es genau: sie war weder eine Hexe noch würde sie jemals brennen!
Tage später fuhr sie nochmals nach Kreuzberg, zu dem alten Haus, wo sie diesen vermaledeiten bösen Günter kennengelernt hatte. Sie wollte ihm sagen, dass seine Flüche nichts bewirkt hatten, er vollkommen umsonst seinen Hass gegen sie gerichtet hatte.
Doch als sie an die Stelle kam, wo sich kürzlich noch das alte Haus befand, gähnte eine metertiefe Baugrube. Wie konnte das sein, hatte man in dieser kurzen Zeit tatsächlich das Haus abgerissen? Wo war es nur hin und wo war Günter ab-geblieben? Als sie eine vorübereilende alte Dame nach dem vermeintlichen Haus befragte, schaute die nur unwirsch und nicht gerade erfreut zu der blauäugigen Traude auf. Dann meinte sie mit zittriger Stimme, und was sie sagte, ließ Traude bis ins Mark erschaudern: „Das alte Haus? Das steht doch schon lange nicht mehr! Das haben die doch schon vor zehn Jahren abgerissen, weil es durch einen Brand total zerstört wurde. Es hieß, dass im dritten Stock ein recht sonderbarer Kauz gelebt haben soll, von dem man unkte, er sei der Teufel persönlich. Auch das Feuer ist damals in der dritten Etage ausgebrochen und ließ sich angeblich nicht mehr löschen. Irgendjemand meinte, dass der Sonderling wohl Günter geheißen haben soll, aber das wusste niemand“
Traude konnte es nicht fassen, und als sie in die tiefe Baugrube starrte, glaubte sie für eine Sekunde, das Gesicht eines Gehörnten zu erkennen. Und dieser Gehörnte sah dem ominösen Günter irgendwie ziemlich ähnlich …
Nils lebte in den Bergen und betrieb dort eine kleine Wetterstation. Ihm gefiel es, das Wettergeschehen hautnah zu erleben. Routine oder Eintönigkeit kannte er nicht. Aber so seltsam wie an diesem Tag zeigte sich sein Berg noch nie. Schon am Morgen war die Berghütte von dicken li-lafarbenen Wolken eingehüllt. So etwas hatte Nils noch nie gesehen. Obwohl er eigentlich die neuesten Wetterkarten auswerten musste, beunruhigte ihn diese Erscheinung. Gegenüber der Hütte, auf einem etwas höher gelegenen Felsplateau, befand sich die Messstation. Regelmäßig las Nils dort die aktuellen Werte ab. Da die rätselhafte Wolken- Erscheinung nicht verschwand, wollte Nils sofort nach den Werten in der Messstation sehen. Vielleicht gab es einen Hinweis auf irgendein Naturereignis oder einen dramatischen Wettereinbruch. Und tatsächlich, es dauerte nicht lange, da setzte ein heftiger Sturm ein. Laut heulend pfiff er um die einsame Berghütte. Nils ließ sich aber nicht abhalten. Mit aller Kraft kämpfte er sich gegen die beinahe übermächtigen Orkanböen. Kaum kam er vorwärts. Plötzlich spürte er ein Vibrieren unter seinen Füssen. Gleichzeitig vernahm er zwischen dem Heulen des Sturmes ein sirenenartiges Surren. Erschrocken blieb er stehen. Die Wolken schienen sich heftig um den Berg zu drehen, immer schneller und schneller! Außerdem wurde es stockdunkel. Nils glaubte, das Ende Welt käme über ihn. Mit einem lauten Knall trennten sich die lila Wolken vom Berg und türmten sich unmittelbar vor Nils zu einer riesigen Gestalt auf. Nils packte die kalte Angst. Ein Weiterlaufen war vollkommen unmöglich. Die riesige Wolkengestalt kam bedrohlich auf ihn zu und veränderte ständig ihr Erscheinungsbild. Mal sah sie aus wie ein gieriges Monster dann wieder wie ein feuerspeiender Drache. Panisch rannte Nils zu seiner Hütte zurück, riss die Tür auf und sprang mit einem Satz hinein. Hinter sich knallte er die Tür zu und schob in Windeseile einen Schrank davor. Dann lief er zum Fenster, um die Läden zu verschließen. Doch was war das? Die grauenvolle Wolkengestalt, die lila Wolken, die sich eben noch vor ihm auftürmten, alles war verschwunden. Auch der Sturm hatte sich gelegt. Es wurde wieder hell und die Sonne strahlte, als sei nichts geschehen. Nils konnte sich das nicht erklären, zitterte noch immer am ganzen Leib. Ausgerechnet ihm, der nie an irgendwelchen faulen Zauber geglaubt hatte, ausgerechnet ihm musste so etwas Unfassbares passieren. Nervös griff er zum Telefon. Er wollte die Station im Tal informieren. Doch das brauchte er gar nicht mehr. Sein Handy klingelte und ein Mitarbeiter der Talstation erkundigte sich aufgeregt nach seinem Befinden. Nils meinte, dass ihm nichts fehlte. Von seinem mysteriösen Erlebnis erzählte er jedoch nichts. Am anderen Ende wurde es still, lediglich ein erleichtertes „Gott sei Dank“ war zu hören. Nach einer kurzen Pause klärte der Mitarbeiter Nils auf, dass es soeben ein Erdbeben gegeben habe. Näheres würde er in der Talstation erfahren. In Kürze wollte man ihn mit einem Helikopter vom Berg evakuieren. Nils wunderte sich, dass er von einem Beben gar nichts bemerkt hatte. Er erinnerte sich lediglich an die seltsamen Vibrationen. Sollte das etwa … unmöglich. Der Helikopter kam schnell und Nils musste sofort mit ins Tal. Während des Fluges sah er das Ausmaß der Zerstörung. An der Stelle, wo sich seine Messstation befand, ragte nur noch eine abgebrochene Felsnase in den Himmel. Entsetzt starrte Nils auf den kahlen Felsen. Die Station und der kleine Pfad, der zu ihr führte waren nicht mehr da. Nils wurde klar, dass ihm die Wolkengestalt das Leben gerettet hatte. Sie hielt ihn davon ab, die Messstation aufzusuchen. Als der Helikopter aufsetzte, bemerkte Nils mehrere kleine lila Wolken, die sich ganz langsam vom Berg trennten und davon flogen…
Seit Jahren war Klara Schmidt auf der Suche nach ihrer Schwester. Damals in den letzten Tagen des Krieges hatten sie sich aus den Augen verloren. Sie mussten aus ihrer geliebten Heimat „Posen“ fliehen, weil die Front immer näher rückte. In Deutschland trennten sich schließlich ihre Wege. Klara ging nach Berlin, heiratete und bekam Kinder. Wo Else abgeblieben war, bekam sie nie heraus. Irgendwann glaubte sie nicht mehr daran, Else je wieder zu sehen. Die vielen langen Jahre des Aufbaus, die Familie, das Leben verdrängten sehr Vieles aus der vergangenen Zeit. Jetzt, wo sie alt geworden war, den Mann verloren hatte und die Kinder längst ihr eigenes Leben lebten, kehrten die Gedanken an ihre eigene Kinderzeit zurück. Beinahe täglich kramte sie die alten Fotos aus dem Schrank. Dann schwelgte sie in Erinnerungen und konnte nicht glauben, wie schnell die Zeit vergangen war. Dennoch ging es ihr nicht gut. Das Herz machte ihr zunehmend Probleme. Manchmal glaubte sie, ein merkwürdiges Abschiedsgefühl in sich zu fühlen. Doch sie wollte noch nicht gehen. Nicht, bevor sie ihre Else wieder gefunden hatte! Sie wünschte es sich so sehr. Oft betete sie und bat um irgendein Zeichen. Aber der Himmel schwieg und ließ sie traurig zurück. Eines Tages stand sie in ihrer kleinen Küche und kochte sich eine Suppe. Es war eine Waldpilzsuppe. Die hatte sie schon als Kind immer gern gegessen. Immer wieder schmeckte sie die Suppe ab. Sie mochte es, ein bisschen Rosmarin hinein zu geben. Plötzlich und völlig unvermittelt kochte die Suppe hoch und verteilte sich über die Herdplatten. In Windeseile schaltete Klara den Herd ab und griff nach dem Wischtuch. Gerade setzte sie an, um die übergelaufene Suppe weg zu wischen, da geschah etwas Seltsames…
Die übergelaufene Suppe bewegte sich unkontrolliert zwischen den Herdplatten und schien irgendetwas zu formen. Es sah aus wie Buchstaben. Irritiert starrte Klara auf den Herd. War sie jetzt verrückt geworden? Oder schienen die Aufregung der letzten Tage und die ständigen Gedanken an Else vielleicht doch zu viel für sie zu sein? Ein wenig taumelnd hielt sie sich am Herd fest. Doch es wurde ihr nicht schwarz vor den Augen wie manchmal, wenn sie zu viel gearbeitet hatte. Nein, sie fühlte sich eigentlich gar nicht so schlecht. Unterdessen hatte die Suppe ein Wort gebildet – zwischen den Herdplatten stand deutlich „Posen“ zu lesen. Fassungslos schaute Klara auf die rätselhafte Schrift. Und plötzlich kamen auch die Erinnerungen zurück. Sie waren plötzlich ganz nah – die Kindheit, die Schulzeit, ihre Heimatstadt Posen. Wie konnte der Name ihrer Heimatstadt ausgerechnet auf dem Herd erscheinen? Was ging hier nur vor? Sie begann die rätselhafte Schrift weg zu wischen. Doch sie war derart fest angebacken, dass sie sich einfach nicht beseitigen ließ. Klara kam ins Schwitzen. Mit ganzer Kraft rubbelte und kratzte sie, doch die festgebackene Suppe und damit auch das Wort „Posen“ haftete wie Leim auf dem Herd. Mehr noch, die Buchstaben veränderten sich plötzlich. Sie formten sich zu einem neuen Wort: Binder! Jetzt hatte Klara genug! Was sollte der Unfug? War die Suppe vielleicht präpariert und irgendwo gab es eine versteckte Kamera? Machte sich etwa irgendjemand lustig über sie? Genervt schaute sie sich um. Doch sie stand ganz allein in ihrer Küche und der aufgerissene Suppenbeutel lag zerknüllt in der Ecke des Regals. Sie wusste genau, wie irrsinnig dieser verrückte Gedanke war. Aber war es nicht ebenso irrsinnig, was soeben auf ihrem Herd ablief? Sie musste sich erst einmal setzen. Zu anstrengend waren diese unfassbaren Erlebnisse für sie. Nachdem sie sich ein wenig erholt hatte, fasste sie einen Entschluss. Sie wollte der Sache auf den Grund gehen! Vielleicht war das Ganze ja ein Zeichen? Auch, wenn sie nicht an Übersinnliches glaubte, konnte sie sich doch gegen eine gewisse Vermutung nicht erwehren. Auch verspürte sie so ein seltsames Stechen im Herzen. Doch es war ein angenehmes Stechen, welches sie keineswegs ängstlich werden ließ. So ließ sie die festgebackene Schrift auf dem Herd stehen und rief schon am Nachmittag bei der Auskunft an. Und tatsächlich fanden sich mehrere Familien in der polnischen Stadt Posen, die den Namen „Binder“ trugen. Am Abend startete sie ihre Anrufe. Als sich beim vierten Male eine Else Binder meldete, schwieg sie und glaubte eine Sekunde lang, der Blitz hätte sie getroffen. Das war sie, Else, ihre geliebte Schwester! Plötzlich und nach endlosen Jahren des Hoffens war sie da, einfach so!
Es stellte sich heraus, dass Else nach dem Krieg wieder zurück nach Posen gegangen war. Dort heiratete sie einen Edgar Binder. Und auch sie hatte lange nach ihrer Schwester gesucht. Doch wie ihre Schwester fand sie niemanden mehr. Ebenso wie Klara hatte auch sie in der letzten Zeit wieder öfter an die Schwester denken müssen. Sogar der Wunsch, Klara wieder zu sehen, keimte in ihr auf. Doch wie sollte sie jemals zu ihr finden, wenn sie keinerlei Anhaltspunkte fand. Klara erzählte ihr die kuriose Geschichte mit der Waldpilzsuppe. Die beiden fielen sich lachend und weinend in die Arme. Und bei ihrem großen Wiedersehen mit Familie und Freunden gab es natürlich eine Waldpilzsuppe, so wie damals, mit Rosmarin …
08. September 1899
Fürst Hademar von Blankenstock hatte sein altes Schloss sanieren lassen. Und das verschlang Millionen. Millionen, die er eigentlich gar nicht besaß. Er musste eine hohe Hypothek auf die gesamte Schlossanlage aufnehmen. Dennoch fühlte sich der Fürst wunderbar. Immer wenn er durch den neu angelegten Schlossgarten schritt und die herrlich erblühenden Rosen betrachtete, wusste er, dass der Entschluss zur Renovierung des Schlosses das Beste war, was ihm je einfiel. Aber der Fürst war auch ein sehr volksverbundener Mann. Sein Schloss, sowie die wunderschönen Parkanlagen durfte jeder bewundern. Und an Feiertagen gab es rauschende Feste mit reichlich Speisen und Getränken für alle Leute. Doch trotz all diesen schönen Dingen schien der Fürst bedrückt und manchmal sehr traurig. Vor zehn Jahren verstarb seine Ehefrau an Krebs. Seit diesem furchtbaren Verlust hatte er sich mit keiner Frau mehr einlassen wollen. Zu sehr hing er an den alten Erinnerungen - und an einer alten Kutsche. In dieser Kutsche fuhren die beiden damals oft durch die Lande und waren sehr glücklich miteinander. Die Kutsche stand in einem großen Pferdestall, hinter einem abgetrennten Verschlag. Der Fürst hatte sie nicht aufarbeiten lassen und niemanden, außer seinen Stallmeister ließ er an das Gefährt heran. Manchmal nachts saß er lange darin und gab sich weinend seinen Erinnerungen an seine so sehr geliebte, verblichene Ehefrau hin. Dennoch, das Volk verlangte nach einer neuen Fürstin. Und so musste er sich wohl oder übel auf Brautschau begeben. Nach einem Jahr fand er endlich eine wunderschöne schwarzhaarige Gräfin, die sich rein zufällig im Schloss als Kammerzofe verdingen wollte. Sie war sehr schlau, aber der Fürst erfuhr niemals, woher sie kam. Doch obwohl sie ihm so gut gefiel, wollte sie keine Kinder. Immer öfter entschuldigte sich der Fürst vor seinem Volk dafür und verkündete, dass die neue Fürstin an einer unbekannten Krankheit litt und deswegen keine Kinder bekommen konnte. Man nahm ihm diese Lüge ab. Und tatsächlich umgab die schwarze Schönheit ein merkwürdiges Geheimnis. Sie war geldgierig und falsch! Hinter dem Rücken des Fürsten tätigte sie so manche krummen Geschäfte. Sie erließ heimlich Verordnungen, die dem Volk noch mehr Steuern abknöpfen sollten als bisher. Als der Fürst dahinter kam, redete sie sich gekonnt heraus. So schob sie Unwissenheit und Schwäche vor ihr böses, eiskaltes Verhalten. Sie meinte, sie habe es nur gut gemeint und wäre darauf bedacht, die marode Stadtkasse wieder aufzufüllen. Das stimmte natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. Heimlich traf sie sich mit dem Bankdirektor, der dem Fürst damals den großzügigen Kredit für die Schlosssanierung gewährt hatte. Mit ihrer spitzen Zunge und ihren durchaus üppigen weiblichen Reizen wickelte sie den Bankdirektor