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Ist es möglich, sich eine grenzenlose Unschuld vorzustellen? Und nicht nur dies ... sondern ihr auch wirklich zu begegnen? Einer absoluten Aufrichtigkeit? Einem zutiefst reinen Herzen? Und was wäre, wenn wir ihm begegneten? Könnte unser eigenes Herz diese Unschuld überhaupt fassen? Sich von ihr berühren lassen? Was würde geschehen, wenn wir von ihm getroffen würden? Von dem Blick des Mädchens...
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Seitenzahl: 97
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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.
Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...
Habt doch Mitleid! Mitleid mit allem... Mit eurem eigenen Herzen, das stirbt, weil ihr es nicht lebendig haltet. Das schwach bleibt, weil ihr nicht schwach seid. Das nicht berührt wird, weil ihr die Liebe nicht mehr kennt. Habt doch Mitleid...
Wir leben in einer Zeit, in der es vielen materiell besser geht als je zuvor – und zugleich in einer Zeit, in der alle Gewissheiten zu zerbrechen drohen. Die Welt kann jederzeit zugrunde gehen, und der Einzelne fühlt sich machtlos, aber es interessiert ihn auch immer weniger. Wir werden mit Nachrichten überflutet, aber die Herzen sterben...
Der Mensch ist eigentlich etwas unendlich Heiliges im Weltenganzen, aber er erkennt dieses Heilige gar nicht mehr – und das Weltenganze ebenso wenig. Er hat sein eigenes Wesen noch gar nicht wahrgemacht – und verliert es bereits immer mehr. Es liegt darin eine ungeheure Tragik. Aber diese Entwicklung ist nicht zwangsläufig. Denn der Mensch hat noch ein Herz. Dieses Herz mag sterben ... aber es ist noch nicht zu spät. Tief innerlich in den Herzen lebt noch immer eine Sehnsucht. Und diese Sehnsucht ist die Hoffnung für das Leben der Herzen, denn solange in ihnen eine Sehnsucht lebt, ist es nie zu spät – niemals...
Wir sehen unsere eigene Sehnsucht nicht – und wir verleugnen sie auch. Es gehört zu der modernen Erziehung der Seelen, sich zu verleugnen. Denn die Seele selbst wird in unserer Zeit ebenfalls verleugnet. ,Psyche’ darf sie sich noch nennen, um die ,Psyche’ kümmert man sich. Sie darf auch krank sein, dann war man nicht ,stark genug’, den Anforderungen des Lebens nicht ganz ,gewachsen’. Das darf sein, es gibt Menschen, die sich dann um einen kümmern, die Gesellschaft ist ja nicht herzlos, sie ist im Gegenteil gut organisiert und darauf vorbereitet. Aber dass unsere Gesellschaft selbst krank sein könnte – sehr, sehr krank –, wer wagt das offen auszusprechen?
Die tiefste Krankheit ist es, die je denkbar war. Es ist die Krankheit, von der etwa die Bücher von Michael Ende handeln: ,Momo’ und ,Die unendliche Geschichte’. Es ist die Krankheit vom Verleugnen der Seele – und vom Verleugnen des Zartesten, was die Seele überhaupt hat: der Sehnsucht...
Eine Zeit, die die Sehnsucht zu leugnen beginnt, hat in demselben Moment begonnen, den Todeskeim in sich aufzunehmen – und dieser Keim wird sich von da an unaufhaltsam ausbreiten, weil ja dasjenige zu leugnen begonnen wurde, was das Leben selbst ist. Die Sehnsucht ist es, die das Leben der Seele ist. In ihr liegt das heilige Geheimnis verborgen. Das Geheimnis dessen, was noch alles werden kann. Was die Seele noch werden kann. Der Mensch noch werden kann. Das menschliche Miteinander noch werden kann. Was die Welt noch werden kann. Ein heiliger Ort. Ein Ort, wie ihn jetzt zunächst nur die Sehnsucht kennt – aber sie kennt ihn...
Es gehört zu der modernen Marter der Seele, zu ihrer Konditionierung in einer furchtbaren ,Gehirnwäsche’, dann, wenn sie von solchen Worten berührt zu werden ,droht’, sogleich dasjenige zu denken, was sie dann denken soll, weil die moderne Kultur es ihr beigebracht hat. Sie soll denken: fruchtloser Idealismus, sinnlose Phantasterei und Träumerei, die nicht geeignet ist, das Leben zu bestehen und den Anforderungen gewachsen zu sein. Sie ist nur geeignet, lebensuntauglich zu werden, entweder ein Träumer oder krank von den Verhältnissen. Und beide sind gleich lebensuntauglich – der Träumer und der Kranke, der Idealist und der Depressive.
Wie aber, wenn nicht diese Seelen krank wären, sondern unsere Welt? Wenn wir endlich erkennen würden, wie krank unsere Welt wirklich ist? Von Anfang bis Ende, unrettbar krank, nur noch von Grund auf zu erneuern? Und wie, wenn dieses ,von Grund auf’ bedeuten würde, zunächst einmal: von innen. Von ganz innen. Von der Seele her...
Was, wenn wir den Mut hätten, uns dies einzugestehen?
Und unsere Seele würde es sich in dem Moment eingestehen, in dem sie in der Lage wäre, in diesem einen einzigen Moment zu verweilen, der sie retten würde. Und dieser Moment würde aus dieser Welt bestehen, wie wir sie kennen, mit all ihren Einzelheiten, die wir kaum überschauen, obwohl wir sie alle kennen, wirklich alle, jede Einzelheit dieses modernen Lebens, einer Welt, die scheinbar gut funktioniert, die aber an allen Ecken und Enden wie ein furchtbares Geschwür auseinanderzubrechen droht, dieser Welt also ... und dann dem einen, reinen, unschuldigen Blick eines Mädchens, das mit entsetzten, mit unendlich erschütterten Augen auf diese selbe Welt blickt und dessen ganzes Herz in allertiefstem Leid ruft:
Was tut ihr!?
Nur dieser eine Augenblick würde die Seele retten. Ein einziger Augenblick würde reichen – aber es muss dieser Augenblick sein. Und er müsste erlebt werden. Mit dem Blick des Mädchens... Ein Blick, in dem auch sein ganzes Herz lebt, das Herz des Mädchens...
Aber wir haben weder den Blick des Mädchens, noch haben wir sein Herz. Wir können allenfalls für einen Moment fühlen, was das Mädchen fühlen mag, und auch dies nur im Ansatz – und dann fallen wir wieder in unsere eigene Seele zurück, die bereits so herz-los geworden ist, so gleichgültig, so gewöhnt an alles, so abgestumpft...
Wir wissen – wenn wir noch einen Rest an Empfindung haben –, was das Mädchen fühlt – reines Entsetzen, reine Erschütterung, ein tiefstes Nicht-fassen-Können –, wir verstehen es bis ins Letzte, wir verstehen das Mädchen, wir verstehen auch, warum es das fühlt – aber wir können es nicht mehr, wir können dies nicht mehr fühlen. Sogar dann nicht, wenn wir ganz und gar verstehen, warum wir dies fühlen sollten. Warum es richtig wäre, dies zu fühlen, so zu fühlen – so zu fühlen wie das Mädchen...
Wir verstehen das Mädchen ganz und gar. Wir sind von seinem reinen, zutiefst aufrichtigen Empfinden berührt, vielleicht sogar tief berührt – aber wir sind nicht das Mädchen. Wir sind kein Mädchen. Wir sind abgestumpfte Seelen. Die sich sogar noch dahinter verstecken, dass sie sich als ,vernünftig’, ,erwachsen’ und ,lebenstauglich’ bezeichnen, während sie all dies im gleichen Moment dann doch dem Mädchen absprechen müssen. Und zugleich berührt es uns und wissen wir, dass nicht wir, sondern das Mädchen das Allermenschlichste wahrmacht – mit seinem Entsetzen, mit seiner Fassungslosigkeit, mit seiner tiefen Erschütterung, der dann seine Tränen folgen werden, weil es nicht glauben kann, was es sieht...
Der Blick des Mädchens...
Wenn man in diesem einen, nur diesem einen Moment verweilen könnte...
Wenn man dies könnte, würde dieser eine Moment langsam, sanft, unendlich zart ... auf einen übergehen. Man würde sich leise, allmählich, mit ihm durchdringen. Er würde einen durchdringen. Dieser Moment selbst wäre es, der die Seele leise, sanft, allmählich verwandeln würde. Der Blick des Mädchens... Nicht, weil wir ihn haben. Sondern weil wir ihn in uns leben lassen. So lange, bis unsere Seele leise beginnt, auch mit diesem Blick zu blicken... So lange, bis dieser Blick sanft in uns übergeht, weil wir es nicht mehr anders wollen. Weil wir uns von ihm berühren lassen wollen – bis es unser Eigenes zu werden beginnen kann.
Die Seele berührt immer nur das, was mit ihrer tiefsten Sehnsucht zu tun hat. Dass der Blick des Mädchens unsere Seele bis ins Innerste berührt, zeigt, wie sehr sein Blick dem Innersten unserer Sehnsucht entspricht...
Der Blick des Mädchens ist reinste Aufrichtigkeit. In ihm lebt noch nichts von der Abstumpfung und Konditionierung unserer Welt. Keine falschen Begriffe von einem ,du sollst’ und ,du musst’ und ,du darfst nicht’. Deswegen sieht es alles, wie es ist. Und wegen seines Herzens. Denn auch dieses ist nicht abgestumpft. Weder seine Begriffe, sein Denken, noch seine Empfindungen, sein Fühlen. Und auch sein Wollen nicht. Das Mädchen will das unbeschreiblich Gute, das reine Gute.
Deswegen lebt in seinem Blick das reine Entsetzen, das tiefe Nicht-fassen-Können. Weil es rein und tief erkennt und empfindet, wie schlimm die Welt ist – und weil sein ganzes Wesen sich dagegen wehrt und es anders will. Es erkennt mit reinen Begriffen, die noch durch nichts konditioniert sind, und vor allem mit einem unmittelbaren Fühlen, in dem ja das Begreifen, die Weisheit des Herzens lebt.
Das Mädchen erkennt das, was jeder mit einem reinen Herzen erkennen könnte – aber es erkennt dies unendlich tief, weil sein Herz noch ganz rein ist. Und nicht nur sein Herz, sondern auch sein Wille. Es will das Gute mit einer unbändigen Liebe zum Guten. Das Mädchen kann sich von seinem ganzen Wesen her nicht damit abfinden, dass in der Welt etwas nicht gut ist.
Leidenschaftliche, unerschütterliche Liebe zum Guten – das ist das Wesen des Mädchens. Das ist sein Herz. Das – das und nichts anderes lebt in seinem Blick.
So aufrichtig aber, wie sein Blick ist, ist sein ganzes Wesen. Denn sein Blick ist sein Wesen. Es kann nur aufrichtig blicken, weil sein Wesen Aufrichtigkeit ist. Es erkennt und empfindet, was in der Welt schlimm ist, und leidet darunter, weilsein eigenes Wesen so ganz und gar anders ist. Das Wesen des Mädchens empfindet das Wesen der Welt...
Es ist immer das Wesen des Menschen, das erkennt und empfindet. ,Sage mir, was du empfindest, und ich weiß, was für ein Mensch du bist...’ Sind das Denken und das Empfinden abgestumpft, ist es das Wesen des Menschen.
Wie kann der Blick eines Mädchens so rein und so unschuldig sein? Die Antwort sagt einem unmittelbar der reinste Teil des eigenen Herzens...
Der Blick eines Menschen ist immer nur so rein wie sein ganzes Wesen. Im Lukasevangelium sagt Christus es mit folgenden Worten:
,Niemand aber, der eine Leuchte angezündet hat, stellt sie ins Versteck, auch nicht unter den Scheffel, sondern auf das Lampengestell, damit die Hereinkommenden den Schein sehen. Die Leuchte des Leibes ist dein Auge; wenn dein Auge lauter ist, so ist auch dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. Sieh nun zu, dass das Licht, welches in dir ist, nicht Finsternis ist.’ (Lukas 11,33-35)
Man kann die Schrecken der Welt nicht mehr sehen, wenn das Schreckliche bereits in einen eingegangen ist. Die Abstumpfung, die Kriege möglich macht, ist die gleiche wie die, die bei Nachrichten von Kriegen gleichgültig bleibt. Die Abstumpfung, mit der die Bauern heute Gift über Gift auf die Äcker sprühen, ist die gleiche, mit der wir die Waren unserer toten Äcker aus den neonbeleuchteten Supermarktregalen kaufen.
Und wenn sich unsere Seele gegen diese ,Moralisierung’ auflehnt und empört, so ist es die gleiche Empörung, mit der an anderer Stelle der Reichtum gerafft und ,vor dem Fiskus in Sicherheit gebracht’ wird – oder mit der die Großmächte in neue Kriege ziehen, ihre Machtspiele spielen, das Menschliche aber geringschätzen. Es ist immer das Gleiche. Es ist immer der Gegensatz zur vollen Aufrichtigkeit und zur reinen Liebe zum Guten. Es ist immer und überall der gleiche Gegensatz zu ... dem Blick des Mädchens.