An fremder Küste - Uwe Goeritz - E-Book

An fremder Küste E-Book

Uwe Goeritz

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Beschreibung

"An fremder Küste" Altersempfehlung: ab 16 Jahre Es ist ein schwarzer Tag für Ælsbeth, die Tochter eines sächsischen Stammesführers, als ihr Dorf von einem rivalisierenden Stamm überfallen, ihre Familie getötet und sie in die Gefangenschaft verschleppt wird. Allerdings entpuppt sich ihrer Gefangennahme nicht als das Martyrium, das sie zunächst befürchtet. Ælsbeths Leben ändert sich zwar gravierend, denn sie wird die Sklavin von Thoralf, aber aus dem Schmerz wird eine Liebe, die gefordert ist, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Diese Geschichte erzählt vom Konflikt zwischen Ælsbeth, die ihrem alten Glauben nicht abschwören will, und ihrer Herrin Claudia, die bereits dem Christentum angehört, vor dem Hintergrund der Christianisierung der Angelsachsen durch Augustinus, den späteren Erzbischof von Cantwaraburg (dem heutigen Canterbury), im Jahre 597. Sie handelt vom Kampf des Glaubens, von Liebe, Verrat und der Kraft, die ein liebendes Herz aufbringen kann. Die weiteren Bücher in dieser Reihe, erschienen im Verlag BoD, finden Sie unter www.buch.goeritz-netz.de

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Inhaltsverzeichnis

An fremder Küste

Sturmtag

Beute

Nachtgedanken

Ostsächsische Nacht

Ein fremdes Land

Der Weg eines Kriegers

Verwirrende Gedanken

Die richtige Wahl?

Eine Halle der Götter

Sklavin und doch frei

Ein Sklavenlos

Ein ketzerischer Anhänger

Die Reize der Frauen

Männer und Frauen

Seelenschwestern

Blutmond

(

K)ein gutes Jahr?

Vorbereitung eines Festes

Eine Schweinemagd

Barbarische Feste

Verpasste Chancen

Katze oder Göttin?

Mann oder Maus?

Rebellion unter Frauen

Freundinnen?!

Glaubensfragen

Gedankenreisen

Herbstwind

Am Wegekreuz

Novemberregen

Gottes Wege

Ein Bote Gottes

Bücher!

Grüne Augen

Ein unüberlegter Schritt

Ohne Gedanken!

Den Schweinen zum Fraß vorgeworfen

Vertraute Nähe

Saft, der Leben schenkt

Spuren der Nacht

Schlaf des Gerechten

Die Rache einer Magd

Fremder Gott

Winternächte

Zeit der Märchen, Zeit des Glaubens

Ein teuflischer Plan?

Gedanken in der Nacht

Alleine oder zusammen?

In Gottes Armen

Im Bann der Gefühle

Zeit des Wandels

Gefährte und Gefährtin

Noch ein Fest!

Ein einziges Wort

Die Stärke Gottes

Das Licht der Welt

Winterzeit, Liebeszeit!

Entscheidung der Lust

Die Enthaltsamkeit eines Mönches

Dafür oder dagegen?

Im Angesicht Gottes

Mond der Saat

Zeitenwende?

Von Entsetzen erfüllt!

Neue Zeiten

Getrennte Wege

Den Samen in die Furche

Pfade in die Zukunft

Auf nach Cantwaraburg!

Ferne Glocken

Ein kleines Glück

Ein Sturm zieht vorüber

Zeitliche Einordnung der Handlung

An fremder Küste

E s ist ein schwarzer Tag für Ælsbeth, die Tochter eines sächsischen Stammesführers, als ihr Dorf von einem rivalisierenden Stamm überfallen, ihre Familie getötet und sie in die Gefangenschaft verschleppt wird. Allerdings entpuppt sich ihrer Gefangennahme nicht als das Martyrium, das sie zunächst befürchtet. Ælsbeths Leben ändert sich zwar gravierend, denn sie wird die Sklavin von Thoralf, aber aus dem Schmerz wird eine Liebe, die gefordert ist, diese Schwierigkeiten zu überwinden.

Diese Geschichte erzählt vom Konflikt zwischen Ælsbeth, die ihrem alten Glauben nicht abschwören will, und ihrer Herrin Claudia, die bereits dem Christentum angehört, vor dem Hintergrund der Christianisierung der Angelsachsen durch Augustinus, den späteren Erzbischof von Cantwaraburg (dem heutigen Canterbury), im Jahre 597. Sie handelt vom Kampf des Glaubens, von Liebe, Verrat und der Kraft, die ein liebendes Herz aufbringen kann.

Die handelnden Figuren sind zu großen Teilen frei erfunden, aber die historischen Bezüge sind durch archäologische Ausgrabungen, Dokumente, Sagen und Überlieferungen belegt.

Ich danke Frau Katharina Münz für die tatkräftige Unterstützung bei diesem Buchprojekt.

1. Kapitel Sturmtag

D unkle Wolken ziehen im schnellen Flug über das mit Buschwerk bewachsenen Land zur aufgewühlten See hinüber. Ein Blitz zuckte unvermittelt zu Boden. Die Gischt brandete am felsigen Ufer empor und der Wind trieb Schaumflocken davon weit auf die offene See hinaus.

Unaufhaltsam näherten sich die Schatten der Wolken einem kleinen Dorf in Ostsachsen, das aus etwas mehr wie einem Dutzend strohgedeckter Hütten, einigen Ställen und Scheunen bestand. Irgendwann, in vielen hundert Jahren, würde diese Gegend Essex und das Meer Nordsee heißen, aber das wusste noch keiner der Bewohner. Für sie war es die Ostküste von Ængelland und der dritte Sommer, den Melowin diesen Stamm hier anführte.

Erneut zuckte ein Blitz herab und der fast zeitgleiche Donner riss Ælsbeth von den Füßen. Auf Händen und Knien abgestützt blickte sie zur Seite. Keine fünfzig Schritte von ihr entfernt hatte der Blitz in einen knorrigen Baum eingeschlagen. Dessen Krone nun lichterloh brannte. Ælsbeth sprang auf und lief los. Die Angst trieb sie voran, aber es war nicht die Furcht vor dem Gewitter, die Ælsbeth jagte!

Mit einem flüchtigen Blick über die Schulter sah Ælsbeth die Finsternis, die sich schnell auf sie zubewegte. Es war gerade erst Mittag und dennoch schien die Nacht gekommen zu sein.

Der Himmel hinter ihr entsprach den dunklen Gedanken, die in ihrem Kopf herumsausten. Ein weiterer Blitz zuckte hinter ihr zu Boden und riss dabei einen Teil der Landschaft für einen Wimpernschlag aus der Finsternis. Gehetzt rannte sie weiter, doch nach ein paar Schritten verhedderte sich der Saum ihres Kleides in einem Gebüsch. Mit aller Kraft riss sich Ælsbeth davon los. Das Geräusch des zerreißenden Stoffes klang überlaut in ihren Ohren und als sie weiterhastete, flatterten die Fetzten des Kleides hinter ihr her. Es war ihr Lieblingskleid, das sie gerade zerstört hatte, aber darüber konnte sie sich im Moment keine Gedanken machen.

Der Schein des letzten Blitzes hatte ihr gezeigt, dass eine Gruppe von Männern nicht weit hinter ihr herlief. Daher rannte Ælsbeth ohne Rücksicht auf den steinigen Pfad weiter. Nur nicht stehen bleiben!

Ihre hastige Flucht und die Angst verdrängten jeden Gedanken aus Ælsbeths Kopf. Vom schnellen und ungewohnten Lauf rasselte ihr Atem. Schnaufend durcheilte sie das Buschland und ihre Augen suchten dabei das Ziel ihrer Flucht. Der Wind verstärkte sich zum Sturm und zerrte an ihrem zerfetzten Kleid, aber er trieb sie auch weiter vorwärts. Er schob sie fort von den Verfolgern, doch er würde auch die Männer schneller machen. Und im Lärm des Sturmes konnte Ælsbeth ihre Verfolger nicht mehr hören.

Nur noch einige hundert Schritte trennten Ælsbeth vom rettenden Ufer. Sie lief immer schneller! Gejagt setzte sie die Füße auf die Steine, die nur locker aufeinander lagen. Immer wieder rollten sie zur Seite und brachten sie dadurch zum Straucheln.

Mittlerweile hatte die Gewitterwand Ælsbeth eingeholt. Nur vor ihr war noch ein heller Streifen Himmel zu sehen. Der Sturm, der ihr im Moment noch half, würde ihre weitere Flucht sicherlich verhindern, aber stehen bleiben, und sich ihres Schicksals ergeben, das konnte Ælsbeth nicht!

Von vorn mischte sich das ohrenbetäubende Donnern der Brandung in das Tosen des Sturmes und einige Schritte später stand Ælsbeth an einer Felskante zwischen Wasser und Wind. Hier endete ihre Flucht!

Verzweifelt blickte sie sich um, doch hinter ihr war alles in Finsternis gehüllt. Wie nahe waren ihr die Verfolger schon gekommen? Von unten spritzte Gischt bis zu ihr herauf und durchnässte ihr Kleid. Ælsbeth drehte sich erneut der See zu, die vom Sturm aufgepeitscht wurde. Der Wind sprühte salziges Wasser in ihr Gesicht, im Zwielicht versuchte sie den Strand zu finden. Eigentlich hätte er direkt zu ihren Füßen sein müssen, doch jetzt tobte dort nur die See. Ælsbeth starrte auf eine weiße, schaumige Fläche von tosenden, mannshohen Brechern, statt der erwarteten sandigen Fläche.

Nicht eines der von ihr so sehnlichst erhofften Boote war zu sehen. „Vater!“, brüllte sie verzweifelt gegen den Wind, doch ihr Ruf würde nicht gehört werden. Ælsbeth hob den Kopf und sah in die Ferne. Jenseits des Meeres war einstmals ihre Heimat gewesen, aus der sie vor Jahren hierhergekommen waren. In diesem Moment schien dort sicher noch die Sonne, doch hier war keine Rettung mehr in Sicht!

Jetzt konnten ihr nur noch die Götter helfen. Ælsbeth hob ihren Blick, bis sie die Wolken sah und schrie so laut sie es nur vermochte: „Sturmvater Wodan! Hilf mir!“ Das Toben des Windes wurde nun ohrenbetäubend und sie musste die Hände auf ihre Ohren pressen. Der von ihr herbeigerufene Sturm umtoste sie und riss an ihrer Kleidung, er zerzauste ihr Haar.

Grausige Bilder der Erinnerung sausten durch Ælsbeths Kopf und sie sah wieder, wie ein anderer sächsischer Stamm ihr Dorf überfallen hatte. Nur weil sie eine Zeugin war, wurde sie gerade verfolgt, denn sie hatte die Schilde und Helme erkannt. Die Räuber würden sie kaum am Leben lassen!

Ein erneuter Blitz zuckte zu Boden, riss Ælsbeth aus ihren Gedanken und sie fuhr herum. Die Männer waren nur ein Dutzend Schritte hinter ihr.

Im Licht der Blitze konnte sie die Helme mit den Masken sehen. Acht Männer waren ihr gefolgt und wenn Wodan jetzt nicht ein Wunder geschehen ließ, dann war sie verloren, denn mit ihrer kopflosen Flucht hatte sie sich in eine ausweglose Lage gebracht. Vor ihr standen die Männer und einen Schritt hinter ihr befand sich das tobende Meer. Der Tod war nah und zerrte an ihrem Kleid. Nur mit Mühe stemmte sie sich gegen den Sturm, aber wozu tat sie das eigentlich? Nur um anschließend von Schwertern durchbohrt zu werden?

Ælsbeth drehte sich zur See zurück, hob die Arme und schloss die Augen. In Gedanken verabschiedete sie sich von ihrer Familie, die erschlagen hinter ihr im Dorf lag. Alle, bis auf den Vater, der mit den Männern zum Fischfang ausgelaufen war.

Eine Träne lief ihre Wange herab und vermischte sich mit dem Wasser der See, das der Sturm ihr unablässig ins Gesicht schleuderte. Nur noch ein Schritt war nötig, aber als sie den Fuß hob, erfasste sie eine Böe und warf sie zurück. Gegen den Sturm stemmte sie sich vorwärts auf die letzte Spitze eines kleinen Felsens hinauf.

Irgendwie wollte der Wind verhindern, dass sie sich herabstürzte, doch was war die Alternative? Sie wagte es nicht mehr, sich umzudrehen. Wie nahe waren die Männer ihr wohl schon gekommen? Sicherlich hielt auch sie der Wind zurück, doch retten würde sie das kaum. Nur die Männer ihres Vaters hätten dies vermocht, doch die kämpften weit draußen auf dem Meer mit dem Sturm.

Es gelang Ælsbeth nicht, bis zur Felskante nach vorn zu kommen, denn der Wind warf sie immer wieder zurück. Gegen den Sturm zu kämpfen war aussichtslos! Sollte sie sich den Feinden kämpfend entgegenstellen? Ihre Hand berührte den Griff der Waffe an ihrem Gürtel. Nur ein kurzer Dolch gegen acht Schwerter! Diese Gegenwehr wäre genauso aussichtslos wie der Kampf gegen den Sturm, aber sie würde kämpfend sterben und die Walküren würden sie über die Regenbogenbrücke führen! Hatte sie Wodan nicht darum gebeten?

Zu allem entschlossen riss Ælsbeth den Dolch aus der Scheide am Gürtel, fuhr herum und schrie den Angreifern entgegen: „Ich bin Ælsbeth, Tochter des Melowin! Hier stehe ich und kämpfe!“

In einem neuerlichen Lichtblitz erkannte sie, dass sie nur noch fünf Schritte von den Männern trennten! Schwankend im Wind, mit zerfetztem Kleid, wartete sie auf den Tod!

Der vorderste der Männer besaß sicher ihre doppelte Schulterbreite. Schild und Schwert in den Händen, stand er direkt vor ihr und seine Haare, die lang unter dem Spangenhelm hervorragten, flogen hinter ihm im Wind. Seine Augen lagen im Dunkel, er stand einfach nur unbeweglich dort.

„Warum kommst du nicht? Du Feigling!“, schrie Ælsbeth. Der Wind schlug ihr die langen Haare ins Gesicht und für einen Moment stand sie im Dunklen, bevor sie diese mit der einen Hand bändigen konnte. Schreiend und mit erhobenem Dolch stürzte sie auf die Männer los. Nach kurzem Handgemenge lag sie entwaffnet, gefesselt und geknebelt am Boden. Zornig und wehrlos funkelte Ælsbeth die Angreifer an.

2. Kapitel Beute

T horalf sah auf das verschnürte Bündel Mensch herab. Vor einem Augenblick hatte er noch vorgehabt, sie einfach die Klippe hinabzustürzen, doch der Mut der Frau hatte ihm imponiert. „Ich bin Ælsbeth, Tochter des Melowin!“, hatte sie geschrien. „Hier stehe ich und kämpfe!“ Doch töten konnte er sie später immer noch.

Nun war Ælsbeth fest verschnürt, Thoralf gab seinen Schild an seinen Freund weiter und warf sie sich wie einen Sack über die Schulter. Die Beine vorn, der Oberkörper hinten. Inzwischen ließ das Gewitter nach und auch der Wind legte sich. Stumm schritt er an der Spitze seiner Männer zurück zu der kleinen Siedlung.

Ohne die Anstrengung, gegen den Wind anzukämpfen, war der Weg ziemlich kurz und schon wenig später erkannte Thoralf die Dächer der Häuser und die Männer seines Stammes sah er ebenfalls, besser gesagt, er hörte sie überall herumwühlen, denn nun, nach dem Ende des Sturms, war der Lärm nur überdeutlich zu vernehmen. Die Männer seiner kleinen Gruppe liefen an ihm vorbei und Thoralf stand schon kurz darauf alleine vor dem ersten Haus.

Die Frau auf seiner Schulter zappelte und strampelte heftig, doch so gefesselt wie diese Ælsbeth war, konnte sie sich nicht aus ihrer Lage befreien. Thoralf wollte sie noch nicht zu Boden lassen, sein Blick suchte zwischen den Männern die auffällige Gestalt seines Vaters.

Vater überragte die Männer um fast eine Haupteslänge und war ihm viel zu ähnlich. Endlich hatte Thoralf ihn erspäht und trat an ihn heran.

„Wen hast du denn da mitgebracht?“, fragte Vater, als er hinter einer Scheune hervortrat.

„Meine Beute“, antwortete Thoralf.

„Eine Sklavin? Du solltest sie doch einfach töten!“, erklärte Vater und trotz des Helmes, der das Gesicht des Vaters vollständig bedeckte, konnte Thoralf den Zorn in den Augen des alten Mannes sehen.

„Keine Zeugen!“, zischte er Thoralf an.

Thoralf hielt die Frau mit beiden Händen fest, damit meldete er seinen Besitzanspruch an, das musste auch Vater anerkennen, denn das war Gesetz unter den Sachsen.

„Los Männer! Packt alles zusammen, was ihr haben wollt! Lasst keine Zeugen zurück!“, brüllte Vater und Thoralf verstand, dass der letzte Teil des Satzes vor allem ihm galt. Vaters Blick auf Ælsbeths Beine hätte es dabei gar nicht mehr bedurft.

Thoralfs Blick glitt über die Siedlung. Noch standen die Hütten, denn sie wollten durch das Feuer und den Rauch nicht die Männer des Stammes auf ihr Tun aufmerksam machen, aber die erste Fackel wurde gerade entzündet.

Das Schicksal der Gemeinschaft war schon lange besiegelt! Überall lagen tote Frauen und Kinder.

„Jetzt mach schon!“, brüllte Vater ihn an, weil Thoralf noch immer untätig zwischen den Scheunen stand.

Sollte er die Frau einfach hier irgendwo ablegen?

Vor ihm töteten die Männer gerade ein paar der Frauen und deren Schreie musste auch Ælsbeth hören. Sie konnte aber nicht sehen, was gerade geschah. Erneut strampelte sie heftig.

Thoralf warf sie zu Boden, griff vorn in ihr Kleid und zog ihren Kopf nahe zu seinem Gesicht. Missmutig sah er ihr in die vor Schreck aufgerissenen Augen und brüllte sie an: „Willst du sterben?“

Wegen des Knebels konnte sie zwar nicht sprechen, doch er sah die Angst in ihren Gesichtszügen.

Er zog den Dolch der Frau aus seinem Gürtel und hielt ihn ihr an die Kehle. „Bleibe hier sitzen und rühre dich nicht, oder dein Dolch wird dein Blut trinken!“, setzte Thoralf fort, schob die Waffe wieder in die Scheide und trat zu seinem Vater.

„Sie ist meine Beute!“, sagte er noch einmal demonstrativ zu dem alten Mann.

„Meinetwegen!“, blaffte ihn Vater an und nun eilten sie zu ihren Männern. Alles irgendwie Verwertbare oder Wertvolle wurde zur Seite geschleppt und danach in Säcken verpackt. Kurz darauf lagen diese neben der Frau, die anscheinend nicht verstehen konnte, dass sie noch lebte. Immerhin bewegte sie sich nicht von dort fort.

Vater schritt noch einmal durch die Siedlung und sah in jede Hütte. Offensichtlich vertraute er nur seinen eigenen Augen, doch die Männer hatten ganze Arbeit geleistet, wenn man das Überfallen einer wehrlosen Siedlung als Arbeit sehen wollte.

Thoralfs Blick ging zurück zu Ælsbeth. Eigentlich waren es Sachsen, wie sie auch, das hatte er an der Sprache der Frau gehört. Allerdings kamen von der anderen Seite des Meeres, aus ihrer alten Heimat, immer mehr hier herüber und dieses Land konnte sie nicht alle versorgen. Nur der Stärkere überlebte!

„Abmarsch!“, brüllte Vater und griff sich die Fackel.

Das erste Strohdach ging in Flammen auf und die Männer traten zu ihrer Beute. „Willst du die wirklich mitnehmen?“, fragte Vater Thoralf schließlich erneut und zeigte dabei auf die Frau.

„Sie ist meine Beute. Dafür verzichte ich auf meinen Anteil vom Rest!“

„So sein es, aber sorge dafür, dass sie dir nicht entkommt!“, legte Vater fest.

Thoralf warf sich den verschnürten Leib über die Schulter und gemeinsam schlossen sie sich der Abteilung der schwer bepackten Männer an.

Das Knistern der entzündeten Dächer verstärkte sich immer mehr und der Qualm des brennenden Strohs zog hinter ihnen her.

Sein Blick glitt über die Rücken der Männer. Fünfundzwanzig schwer mit Beute beladene Krieger stampften wortlos dahin.

Der Weg war weit und sie würden ein paar Tage bis zu ihrer Heimat brauchen. Vielleicht fiel ihnen unterwegs noch solch ein Dorf in die Hände. Der Hunger und die Not trieben viele Sachsen und Angeln über das Meer und wer nicht darin ertrank, der versuchte hier Fuß zu fassen.

Erst lange nach dem Verlassen des Dorfes setzten die Männer ihre Helme ab und auch Thoralf band seinen Helm an den Gürtel.

Die Frau über seiner Schulter bewegte sich nicht mehr. Offensichtlich hatte sie es aufgegeben, sich zu wehren und sich in ihr Schicksal gefügt.

Mit der Hand über ihren Hintern blickte er auf die Frau. Noch wusste er nicht, was er mit ihr überhaupt anstellen sollte. Dafür hatte er nun einen Teil der Beute eingetauscht! Er musste verrückt gewesen sein. Der schwere Schild, den er am Arm trug, schlug immer wieder hart gegen ihr Bein, aber Ælsbeth gab keinen Ton von sich.

Thoralfs Blick fiel auf den Dolch am Gürtel des Vaters und er zog den der Frau aus seinem. Die Waffe war sehr kostbar gearbeitet und der Griff sah wertvoll aus. Er war aus dunklem Holz mit ein paar silbernen Beschlägen. Die Klinge war lang und spitz.

In seinen Gedanken sah er sie wieder vor sich, wie sich Ælsbeth damit auf ihn gestürzt hatte. Mutig war sie gewesen. Ein Dolch gegen Kettenhemden. Es wäre schwer gewesen, auch nur einen von ihnen damit zu verletzten. Schwer, aber nicht unmöglich.

Sorgsam schob Thoralf die Waffe zurück in die lederne Scheide. Mit einem Griff richtete er seinen Waffengurt.

Thoralf war der letzte der Gruppe, die nun langsam nach Westen abzog, fort vom Ufer des Meeres, hin zur heimatlichen Siedlung. Unterwegs würde er sich noch überlegen, was er mit der Frau machen würde, aber als Sklavin konnte er sie immer noch auf dem Markt verkaufen.

3. Kapitel Nachtgedanken

D er Mann schleppte Ælsbeth nun schon seit mehr als einem Tag mit sich. In der Nacht hatte die Gruppe irgendwo gelagert, aber sie hatte nicht gewusst, wo sie sich befanden.

Auch den Knebel hatte der Mann ihr nicht entfernt und das Stück Stoff, das ursprünglich mal ein Teil ihres Kleides gewesen war, war nun völlig durchnässt.

Ælsbeth ekelte es vor diesem Lappen, aber sie konnte ihn nicht ausspucken. Zudem hatte er ihr weder zu essen noch zu trinken gegeben. Bis zum Abend waren sie der Sonne entgegen gezogen und seit dem Morgen liefen sie nun in südliche Richtung.

Ihre Hände und Füße waren immer noch gefesselt. Der Mann hatte einfach ihren Gürtel dazu benutzt, den er in zwei Hälften zerschnitten hatte.

Ælsbeth hatte die ganze Nacht nicht schlafen können, immer wieder hatten sich die grauenhaften Szenen des Überfalles vor ihren Augen abgespielt und die schrecklichen Schreie dröhnten selbst jetzt noch in ihren Ohren.

Der Mann trug sie in schaukelndem Gang auf der Schulter, krampfhaft versuchte Ælsbeth dabei, ihre Augen offenzuhalten, denn jedes Mal, wenn sie ihr zufielen, waren die Bilder wieder da. Dann sah Ælsbeth, wie die Männer Mutter vor ihren Füßen getötet hatten und sie sah die brennenden Häuser, als die Räuber sich wieder von dem Dorf entfernt hatten. Da der Krieger, der sie trug, der letzte in der Gruppe gewesen war, hatte sie noch ewig das Feuer sehen müssen.

Warum hatte der Mann sie nicht einfach getötet? Ælsbeth hatte so etwas wie „Beute“ gehört, als der Mann mit dem Anführer der Gruppe gesprochen hatte. Wehrlos musste sie sich in ihr Schicksal ergeben. Was hatte sie für eine andere Wahl?

Seit der Morgendämmerung waren sie jedenfalls erneut unterwegs und die Metallstücke, die auf die Schulterpolster des Kriegers genietet waren, rieben bei jeder Bewegung an Ælsbeths Bauch. Da er ihr die Hände hinter dem Körper gefesselt hatte, konnte sie sich auch nicht abstützen. Stumm ertrug sie das Scheuern, das der dünne Stoff ihres Kleides kaum dämpfte.

Aus nächster Nähe betrachtete sie die Kleidung des Mannes. Sie ähnelte der, die ihr Vater immer trug. Allerdings war das Hemd aus metallenen Ringen, das der Krieger unter seinem mit Metall beschlagenen Wams trug, wohl seiner kriegerischen Tätigkeit geschuldet. Der lange Sax an seiner Seite hing direkt vor Ælsbeths Nase. Hätte sie eine Hand freigehabt, hätte sie die Waffe ziehen können.

Immer wieder fielen ihr die Haare ins Gesicht und wenn sie den Kopf ein wenig drehte, sah sie den Anführer der Gruppe neben sich gehen. Er war schon ein älterer Mann und seine ergrauten, langen Haare waren zu einem sauberen Zopf geflochten.

Wache blaue Augen hielten alles fest im Blick. Das war der Blick eines Luchses, der Ausschau nach Beute und Feinden hielt.

Die kleine Gruppe von Männern bewegte sich extrem leise. Trotz der Waffen war kaum ein Geräusch zu hören und diese Stille machte das Schreien in ihrem Kopf nur noch viel lauter. Die Männer bewegten sich gewandt durch das Land. Offensichtlich waren sie sich dessen bewusst, dass sie sich in Feindesland befanden und jederzeit mit einem Überfall rechnen mussten, denn sie hielten ihre Speere und Schwerter ständig griffbereit.

Irgendwo rechts von ihr musste sich die sagenhafte Ortschaft Camulodunum befinden, von der ihr ein reisender Händler vor ein paar Wochen erzählt hatte. Ælsbeth war noch nie dort gewesen und auch Vater hatte niemanden gekannt, der schon einmal diesen Ort gesehen hatte. Aber sie hatten erst vor drei Sommer ihren Fuß auf dieses Land gesetzt und noch nie hatten sie ihre Wege weiter in das Landesinnere geführt, denn fischen konnte man nur auf der See und die Fischgründe waren gut. Sehr gut sogar. Jeden Tag kam Vater mit einem vollen Boot zurück an das Ufer. So etwas hatte Ælsbeth auf der anderen Seite des Meeres nicht erlebt.

Bei der Erinnerung an Vater und Mutter stiegen ihr Tränen in die Augen und verschleierten ihren Blick.

Unvermittelt stoppte der Mann, und als er niederkniete, landete Ælsbeth mit dem Gesicht im Schlamm. Er hatte sie achtlos von der Schulter geworfen und wenn sie nicht diesen dreckigen Lappen immer noch im Mund gehabt hätte, hätte sie spätestens jetzt die Männer durch ihren schmerzhaften Schrei verraten.

Schlamm in der Nase drehte Ælsbeth den Kopf zur Seite. Würgend und um Luft kämpfend sah sie zu dem Mann auf, der einen Schritt neben ihr kniete. Ein Ton und sie würde den erhofften Tod finden, doch sein Blick ließ sie erstarren. Ganz langsam zog er seinen Sax aus der Scheide und schien für den tödlichen Hieb Maß zu nehmen. Obwohl sie keine Luft bekam, wagte Ælsbeth nicht, den Schlamm aus der Nase heraus zu niesen.

Erstarrt hielt sie die Luft an. Waren Krieger ihres Stammes in der Nähe? Dann wäre doch ihre Rettung in Sicht. Anderenfalls würde sie vielleicht einer der Männer töten. Und warum klammerte sie sich jetzt so an ihr Leben? Hatte sie am Tage zuvor nicht beschlossen, einfach ehrenvoll zu sterben?

Vielleicht!

Allerdings nicht mit dem Gesicht voller Schlamm! Nicht einmal abwischen konnte sie den Schnodder, der ihr von der Nase tropfte. Ælsbeth schüttelte den Kopf, doch davon fielen ihr die Haare zur Seite und landeten ebenfalls im Dreck. Die einzige Schlammpfütze auf dem ganzen Weg und sie lag zur Hälfte darin!

Die Augen des Anführers lösten sich von ihr und folgten dem Weg entlang nach vorn. Mit gezogenem Sax hockte er sprungbereit nur einen Schritt neben Ælsbeth.

Jetzt würgte es in ihrem Hals und länger konnte sie die Luft auch nicht mehr anhalten. Mit einem unheimlich lauten Niesen flog der Schlamm aus ihrer Nase. Ælsbeth konnte wieder frei atmen, aber nur für den Bruchteil eines Wimpernschlages, denn der Mann, der sie die ganze Zeit getragen hatte, drückte ihr mit der Hand den Hals zu. In ihrer Todesangst versuchte sie sich ihm zu entwinden, doch seine Finger schlossen sich nur noch stärker um ihre Kehle.

Bevor sie die Sinne verlassen konnten, gab er sie wieder frei und steckte den Sax zurück. Die anderen Männer erhoben sich ebenfalls. „Mache so etwas nie wieder!“, zischte der Mann sie an und warf sie sich wieder auf die Schulter.

Der Anführer trat zu ihm. „Sie bringt uns in Gefahr! Wollen wir sie nicht doch lieber an einem Baum aufhängen?“

„Nein! Sie ist meine Beute und gehört mir“, entgegnete der Mann und lief los.

So durfte eigentlich niemand mit seinem Anführer reden. Sicherlich musste er mit dem Anführer verwandt sein, überlegte Ælsbeth. Schaukelnd ging es weiter und langsam trocknete der Schlamm auf ihrem Gesicht.

Nun war der Wunsch nach etwas Wasser zum Waschen stärker, als das Verlangen nach dem Tod. Irgendwie schämte sich Ælsbeth dafür.

4. Kapitel Ostsächsische Nacht

D er Abend senkte sich über das Land. Nicht weit entfernt sah Thoralf schon den Fluss, der sie von ihrem Stammesgebiet trennte. Thoralf wusste allerdings, dass Vater in der Finsternis keinen Übergang wagen würde und sie demzufolge bis zum nächsten Morgen auf dieser Seite im Gebiet ihrer Feinde bleiben mussten.

Hier befanden sie sich noch in Ostsachsen, jenseits des Flusses lag Kent und nicht weit entfernt war Westsachsen. Das hier war das Grenzland zwischen drei großen sächsischen Stammesgebieten, eigentlich viel zu gefährlich, um hier zu bleiben.

Trotzdem ließen sich die Männer, in einem kleinen Waldstück versteckt, nieder. In dieser Nacht würden sie erneut kein Feuer machen können und sich daher mit Trockenfleisch und Brot stärken müssen.

Thoralf legte seine lebende Last ab und lehnte die Frau mit dem Oberkörper gegen einen dicken Baum. Sein Blick glitt über ihre Züge.

Ihr Gesicht war schwarz vom eingetrockneten Schlamm und noch immer kochte die Wut in ihm, dass sie nicht hatte still sein können, als es nötig gewesen war.

Doch was konnte man schon von einer Frau erwarten? Zum Glück war es nur ein Schwein gewesen, das ihren Weg gekreuzt hatte.

In der Nähe plätscherte ein kleiner Bach über Steine hinweg dem Fluss entgegen. Einer der Männer holte gerade Wasser und Thoralf sah, wie die Frau zu dem Eimer hinüberschaute. Sicherlich wollte sie etwas trinken, denn sie waren nun schon mehr als einen Tag unterwegs. Bei ziemlich warmem Wetter, obwohl es schon Mitte Oktober war.

Trotz seiner Wut beugte sich Thoralf zu ihr hinab und flüsterte ihr ins Ohr: „Wenn du mir versprichst, leise zu sein, dann nehme ich dir den Knebel kurz ab.“

Da sie nickte, löste er ihr den Strick an ihrem Hinterkopf. „Danke“, flüsterte sie, nachdem sie geräuschvoll Luft geholt hatte. „Kann ich mich waschen und etwas trinken?“, fragte sie genauso leise.

Thoralf bemerkte, dass Vater zu ihm herübersah, das leise geführte Gespräch war ihm nicht entgangen. Er beugte sich noch näher herab und wisperte der Frau ins Ohr: „Sei still und ich werde sehen, was ich für dich tun kann.“

Ælsbeth antwortete nicht, sondern nickte nur stumm.

Auf sein Handzeichen kam sein Freund Alduini herüber und gab ihm den halb gefüllten Eimer. Thoralf stellte ihn vor Ælsbeth und beugte sich wieder zu ihr herab. „Wenn du mir versprichst, nicht zu fliehen, dann löse ich dir kurz die Hände“, flüsterte er und abermals nickte die Frau stumm.

Mit einem Griff zog er sie auf die Knie, löste den Strick von ihren Händen und schob den Eimer vor sie hin.

Dankbar sah sie ihn an und rieb sich die Handgelenke, die von dem Strick aufgescheuert waren.

Thoralf spürte den Blick des Vaters deutlich in seinem Rücken, während sie ihre Hände in den Eimer tauchte und zuerst zu trinken begann, bevor sie sich das Gesicht abwusch. Schweigend stand er neben ihr und sah ihr zu.

Nur das Plätschern des Wassers war zu hören. Offenbar hatte Ælsbeth jetzt verstanden, dass sie still sein sollte. Kein Wort kam mehr über ihre Lippen. Stumm wusch sie sich noch die Haare, bevor sie ihm zunickte und ihm die Hände hinhielt.

Den Strick immer noch in der Hand, überlegte Thoralf, ob er sie wieder fesseln sollte. Sein Zorn auf sie war nun völlig verschwunden.

Während des Waschens hatte Thoralf das erste Mal wirklich Zeit gehabt, sie genauer anzusehen. Sie war recht hübsch. Mit ausgestreckten Händen kniete sie vor ihm, sah zu ihm auf und wartete auf den Strick.

Vaters Blick immer noch im Genick, konnte Thoralf sie nicht einfach so ohne Fessel lassen, noch waren sie in Feindesland. Daher zog er ihr die Hände hinter den Rücken und band die Schnur wieder um die Handgelenke, aber nicht ganz so fest wie zuvor.

Offensichtlich merkte sie dies, denn sie nickte ihm dankbar zu.

Schnell lehnte er sie an den Baum und brachte den Eimer zum Bach. Mit neuem Wasser war er schon wenig später wieder zurück.

Die Finsternis der Nacht hüllte sie ein, bevor sich der Mond über den Horizont schob. In seinem Silberlicht sah Thoralf, wie Vater die Wachen einteilte, allerdings würde wohl jeder Mann in dieser Nacht wach bleiben.

Thoralf prüfte seine Waffen und ließ sich dann neben der Frau an den Baum gelehnt nieder. Aus der kurzen Entfernung erkannte er ihre Züge im blassen Licht deutlich. Nun vermochte er keinen Blick mehr von ihrem Gesicht zu lassen. Erst eine Bewegung im Augenwinkel zwang ihn, sich von ihr loszureißen und seinen Kopf zu heben.

Von der Seite näherte sich ihm Alduini und brachte etwas Brot sowie Trockenfleisch.

Thoralf richtete seinen Blick erneut zu der Frau, aber ihre Augen waren auf das Brot in seiner Hand gerichtet. Sicherlich war sie hungrig.

Wortlos hielt er ihr das Brot hin und sie nickte. Thoralf brach ein Stück ab und schob es ihr in den Mund. Gierig schlang sie es herunter und hätte ihm dabei fast in die Finger gebissen. Stück für Stück verschwand zuerst das Brot und danach das Fleisch in ihrem scheinbar unersättlichen inneren. Fast musste er dabei schmunzeln.

Endlich schien sie satt zu sein, denn sie schüttelte den Kopf und hatte offensichtlich sehr schnell begriffen, dass sie keinen Laut von sich geben durfte, denn sie rülpste mit geschlossenem Mund. Das Geräusch war nur dumpf zu hören und selbst Vater sah nicht zu ihnen herüber.

Nun aß Thoralf und dachte darüber nach, was er wohl mit dieser Ælsbeth machen sollte. Für sie hatte er auf einen Teil der Beute verzichtet. Nur sie und ihr silbern verzierter Dolch waren seine Beute aus der dritten Siedlung. Aus den beiden anderen Siedlungen hatte Thoralf einen Beutel Hacksilber erhalten. Nun grübelte er kauend und sah sie dabei von der Seite aus an. Schon zuvor hatte Thoralf festgestellt, dass sie recht hübsch war und eine Sächsin war sie auch. Zwar aus einem anderen Stamm, aber trotzdem eine von Seinesgleichen.

Ælsbeth hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Der Knebel lag noch vor ihm.

Sollte er ihr damit den Mund verschließen? Was war, wenn sie im Schlaf schreien würde? Als erfahrener Kämpfer wusste er, dass Geräusche in der Nacht sehr weit trugen, aber da er selbst vorhatte, wach zu bleiben, verwarf er den Gedanken, denn er konnte ihr immer noch schnell den Mund zu halten, falls sie erwachen würde.

Thoralf konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden.

Im Schlaf entspannten sich ihre Gesichtszüge. Dabei trat etwas Kindliches in ihr Gesicht. Das forderte so etwas wie einen Schutzinstinkt in ihm heraus.

Sollte er ihr eine Decke geben? Ihr Kleid war zerfetzt und eines ihrer Beine schaute auf der einen Seite unbedeckt heraus.

Für eine Nacht, fast am Jahresende war es ungewöhnlich mild, dennoch erhob sich Thoralf leise von seinem Platz und holte ihr eine Decke. Vorsichtig legte er diese über ihre Beine, wobei sie sich aber nicht regte. Zu fest schlief sie schon. Thoralf setzte sich zurück in das Gras. Mit angezogenen Knien, den Rücken am Baum angelehnt lauschte er in diese Nacht. Nur Ælsbeths regelmäßigen Schlafgeräusche waren zu hören und Thoralf sah, wie sich ihre Brust hob und senkte.

Immer noch wusste er nicht, was er mit ihr anstellen sollte, dennoch hing sein Herz schon an ihr, auch, wenn Thoralf das wohl kaum zugeben würde. Langsam hob er den Kopf und sein Blick wurde erneut von ihrem schlafenden Gesicht gefesselt.

Im Schlaf drehte Ælsbeth ihren Kopf zu ihm. Sie hatte die Lippen halb geöffnet und Thoralf spürte ihren Atem im Gesicht. Wie von Zauberhand fing ihn der Anblick dieser Lippen im silbernen Mondlicht ein und wenn er nicht zuvor schon von ihr gefesselt gewesen wäre, dann wäre es spätestens jetzt um ihn geschehen gewesen!

5. Kapitel Ein fremdes Land

D er Gesang eines Vogels weckte Ælsbeth auf, aber bevor sie die Augen aufschlagen konnte, lag schon eine Hand über ihrem Mund. Ælsbeth zuckte zusammen und blickte erschrocken in die blauen Augen des jungen Kriegers, der sie nun schon eine Weile trug. Mit der anderen Hand hielt er den Knebel hoch und sie schüttelte den Kopf. Stumm nickend ließ er das Stoffstück fallen.

Ælsbeth hatte sofort verstanden, dass er ihr den Knebel ersparen würde, wenn sie schwieg.

Langsam zog er die Hand fort und winkte einen der anderen Männer zu sich. Einen Augenblick später hielt er ein Stück Brot in der Hand, dass er, wie am Abend zuvor, aufteilte und ihr in den Mund schob.

Aber Ælsbeths großer Hunger war bereits gestillt. Bedächtig kaute sie auf dem Brot herum. Es schmeckte gut, würzig und nahrhaft zugleich.

Der Mann hatte in der Nacht eine Decke über sie ausgebreitet. Der dicke Wollstoff reichte bis zu ihrer Hüfte und einer der Männer, der anscheinend für das Zusammenpacken zuständig war, zog ihn gerade von ihr fort.

Ælsbeths Blick wanderte umher, es war irgendwie gespenstig.

Die fünfundzwanzig Männer bewegten sich durch den Wald und nicht ein Ton davon drang an ihr Ohr. Wenn hoch über ihr ein Vogel nicht sein leises Lied gesungen hätte und Ælsbeth nicht das Säuseln des Windes in den Blättern gehört hätte, dann hätte sie denken müssen, sie wäre über Nacht taub geworden.

Der Krieger kniete immer noch vor ihr. In der Nacht hatte er seine Haare zu einem langen Zopf zusammengebunden, wie ihn auch der Anführer trug. Die anderen Männer trugen nicht solch einen Zopf.

Das bestärkte Ælsbeth in ihrer Vermutung, dass der Krieger und der Anführer miteinander verwandt waren. Vater und Sohn?

Die Männer nahmen die Säcke auf und Ælsbeth fand wieder ihren jetzt schon vertrauten Platz auf der Schulter des jungen Kriegers. Schweigend brachen sie auf und durchquerten das Wäldchen, wobei Ælsbeth von Zeit zu Zeit ein Zweig traf.

Doch da sie nicht wieder den Knebel im Mund haben wollte, biss sie die Zähne zusammen und erduldete stumm die zum Teil schmerzhaften Schläge auf Beine und Hintern.

Eine ganze Weile später erreichten die Männer das Ufer einer großen Wasserfläche und zogen aus einem Versteck zwei Boote, die dem ähnelten, dass Vater zum Fischen benutzte. Die Beute, und damit natürlich auch sie, war schnell verladen und schon ging die schwankende Fahrt los.

Ælsbeth lag rücklings auf dem Boden des Bootes und sah nur Himmel, Wolken und die rudernden Männer über sich.

Mit kräftigen Armzügen trieben die Krieger das Boot voran, aber da Ælsbeth das Ziel der Fahrt nicht sehen konnte, schien diese Reise unendlich lange zu dauern. Immer wieder spritzte etwas Wasser von einem der Ruder in das Boot und traf sie dabei im Gesicht.

Es war nicht salzig! Also überquerten sie einen Fluss und nicht die offene See.

Endlich stieß das Boot am anderen Ufer an. Nun wurde alles entladen, aber im Gengensatz zur Verladung waren die Männer dabei nicht mehr leise. Gespräche wurden geführt und sie hörte einige der Männer lachen.

Der Krieger beugte sich über sie, griff zu und wuchtete sie aus dem Boot in das Gras.

„Willkommen in Kent!“, sagte er laut.

„Was ist Kent?“, fragte sie, da sie nun auch nicht mehr leise sein musste.

„Kent ist unsere Heimat!“, erklärte der Krieger und zog das Boot an ihr vorbei an Land, wo es unter ein paar Zweigen ein Versteck fand. „Ab jetzt werde ich dich nicht mehr tragen“, sagte er, zog ihren Dolch aus seinem Gürtel und durchtrennte den Strick, der ihr bisher die Füße gefesselt hatte.

Von hier aus konnte sie ja sowieso nicht zurück, daher setzte sich Ælsbeth auf und blickte zur anderen Seite des Flusses zurück.

„Da drüben ist Ostsachsen!“, erklärte der Mann, der sicher ihren Blick gesehen hatte.

„Ostsachsen?“, fragte sie.

Er nickte und zog sie auf die Füße hoch.

„Ist das nicht alles Sachsenland hier?“, fragte sie, während alle Männer Säcke schulterten.

Der Krieger schüttelte den Kopf.

„Wir sind erst seit drei Sommern hier und ich habe in dieser Zeit unsere Siedlung nicht verlassen!“, setzte Ælsbeth schnell hinterher.

Das veranlasste ihn wohl zu einer Erklärung. „Ich bin hier in Kent geboren. Mein Vater ist damals noch von der anderen Seite des Meeres gekommen“, begann er, während sich die Kolonne in Bewegung setzte.

Von vorn wehte ein Gesang zu ihnen nach hinten. Raue Männerkehlen sangen ein Ælsbeth unbekanntes Lied.

„Hier sind viele Stämme zusammengeschlossen. Wir alle bilden einen Stammesbund“, setzte der Krieger fort. „Wir helfen uns gegenseitig und unterstützen uns!“

„Und ihr überfallt eure Nachbarn!“, entgegnete Ælsbeth und biss sich auf die Lippe, denn ein drohender Blick des Mannes traf sie.

„Du bist ziemlich vorlaut für eine Gefangene!“, erwiderte er, doch sie sah einen spöttischen Zug um seinen Mund. Ohne weiter darauf einzugehen, setzte er fort: „Kent ist unsere Heimat und Æthelberth ist unser Bretwalda.“

„Was ist denn ein Bretwalda?“, fragte sie nach.

Der Mann sah vor sich auf den Weg und suchte wohl nach einer Erklärung. Schließlich erzählte er ihr: „Ich habe dir doch von unserem Stammesbund erzählt. Unser oberster Führer ist Æthelberth. Er lebt in Cantwaraburg, so wie euer Bretwalda in Camolodunum lebt.“

„Von Camolodunum habe ich schon gehört. Da soll es Häuser aus Steinen geben!“, sagte sie und der Mann nickte.

„Bei uns gibt es auch Häuser aus Stein. Zwar nicht in unserem Stamm, wir wohnen in Holzhäusern, aber es gibt andere Stämme, die auch in Steinhäusern leben.“

Eine Brücke über einen Bach lag vor ihnen und diese war ebenfalls aus Steinen! Vorsichtig setzte Ælsbeth ihre Füße auf dieses Bauwerk, denn das war ihr nicht geheuer. „Wie halten die den aufeinander?“, fragte sie, als sie nach unten auf die kleinen Brocken sah, die offenbar nur locker nebeneinander lagen.

Der Mann zuckte mit den Schultern. „Diese Brücke steht schon ewig hier!“, sagte er und Ælsbeth beeilte sich, auf die andere Bachseite zu gelangen.

Dort angekommen wandte sie sich zurück und sagte: „Ich würde gern mal diese Häuser aus Stein sehen.“

„Diesmal nicht. Vielleicht ein andermal. Wir müssen nach Hause, in unser Dorf“, entgegnete der Mann.

„Kannst du mir nicht auch die Hände losmachen? Ich verspreche dir auch, nicht fortzulaufen.“

Sie drehte sich um und hielt ihm die Hände hin, die er hinter ihrem Rücken zusammengebunden hatte. Über die Schulter blickte sie ihn an.

Nach einer kurzen Bedenkzeit nickte er, zog erneut ihren Dolch und durchtrennte das Seil.

„Ich danke dir!“, sagte sie und deutete eine Verbeugung an.

Nebeneinander zogen sie die Straße entlang, durch ein ihr fremdes Land.

6. Kapitel Der Weg eines Kriegers

I nsgeheim bewunderte Thoralf diese Frau und ihre Ausstrahlung imponierte ihm. Natürlich würde er das niemals zeigen, oder gar zugeben, doch bei ihrer Entgegnung war abermals dieses Blitzen in ihren Augen gewesen. So wie vor ein paar Tagen auf den Klippen, als sie mit dem Dolch vor ihm gestanden hatte. Nur wegen dieses Mutes war sie noch am Leben, denn Vater hätte sie dort liebend gern getötet.

Abschätzend ging sein Blick zu Vater, doch jetzt waren sie wieder in Kent und damit seinem heimatlichen Dorf schon ziemlich nahe. Damit war es auch nicht mehr nötig, die Frau umzubringen. Von Vaters Gesicht ausgehend zog es seine Aufmerksamkeit nach Norden.

Dies war dieses Jahr der letzte Ausflug für sie auf die andere Seite des Flusses gewesen. Erst weit nach der Schneeschmelze im nächsten Frühjahr würden sie erneut auf Beutezug gehen.

Seine Gedanken flogen voraus. Was sollte er bis dahin tun? Und was wären die Aufgaben der jungen Frau an seiner Seite? Ihre Gestalt zog neuerdings seinen Blick auf sich.

In ein paar Tagen begann die Schlachtzeit und da waren zwei kräftig zupackende Hände nicht zu verachten. Und danach? Im Winter? Was würde die Hausherrin, seine Stiefmutter und Vaters Partnerin, zu ihr sagen? Schließlich unterstanden ihr die Frauen, aber Ælsbeth war nun mal seine Gefangene, seine Beute, sein Eigentum und damit eigentlich keine Frau!

Was er außerhalb des Hauses tat, das war seine Sache, da hatte ihm höchstens Vater etwas zu sagen, aber innerhalb hatte Claudia zu bestimmen. Sie war seine Stiefmutter, die Vater vor ein paar Jahren erwählt hatte, als seine Mutter gestorben war.

Thoralf war ein Einzelkind geblieben, ein Sonderfall in den sächsischen Familien. Und er hatte noch keine Partnerin. Die meisten seiner Freunde waren nur wenig älter als er und hatten schon einige Kinder.

Nun streiften seine Augen über die Gruppe der Männer dahin und landeten wieder bei Ælsbeth. Ohne Fesseln ging sie neben ihm her und sie unterhielten sich so, als sei dies das Normalste der Welt. Nicht so, als seien sie nicht vor ein paar Tagen noch mit Waffen aufeinander losgegangen.

Bei jedem zweiten Schritt blitzte ihr nacktes Bein durch das zerfetzte Kleid und vermutlich hinderte die Männer nur der Umstand, dass sie ja in den drei überfallenen Siedlungen genug Möglichkeiten gehabt hatten, sich an Frauen gütlich zu tun, daran, sich auf sie zu stürzen. Zumindest deutete Thoralf so einen Teil der Blicke seiner Freunde.

Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie seine Beute war, denn mit seinem Besitzanspruch hatte er ihr praktisch seinen Namen auf den Körper geschrieben. Nur Vater hätte das eventuell mit seinem Recht als Stammesführer außer Kraft setzen können.

Eigentum konnte mit der Spatha, dem langen Schwert, oder dem Sax, dem deutlich kürzeren Haumesser, verteidigt werden und an Stärke und Gewandtheit nahm es keiner der Männer mit ihm auf.

Erneut blickte Thoralf von der Seite in Ælsbeths Gesicht. Eigentlich von schräg oben, da sie fast einen Kopf kleiner war. Begutachtend folgte sein Blick ihrem Körper abwärts. Sie war sicher eine gute Arbeitskraft und sie hatte auch deutlich sichtbare Muskeln. Die Arbeit war an ihr nicht spurlos vorbei gegangen.

Immer noch stellte sich die Frage, was er mit ihr anfangen sollte. Thoralf war nun dreiundzwanzig Sommer alt und damit im besten Mannesalter, wie Vater es immer wieder betonte. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, eine Familie zu gründen. Ælsbeths breiten Hüften sprachen dafür, dass sie ihm sicher ein paar Söhne schenken konnte, auch die prallen Brüste ließen darauf schließen. Abschätzend betrachtete er sie weiter, während sie irgendetwas von Fischen erzählte.

Da er sie nicht mehr schleppen musste, hatte ihm sein Freund den Packsack mit der Beute aus den anderen beiden Dörfern übergeben. Er wog nicht sehr viel, Ælsbeth war schwerer gewesen.

Im Kopf überschlug er seine Beute. Er hatte etwas Silber, ein paar Kleider und vor allem sie. Sein Blick löste sich von ihr und wanderte nach vorn zu den Männern. Er kannte sie alle schon ewig. Freunde und Kampfgefährten waren sie. Einer stimmte ein Lied an und alle sangen mit.

Unbekümmert folgten sie ihren Weg, denn an den Symbolen auf ihren Schilden war für jeden hier zu erkennen, dass sie aus diesem Land stammten. Jeder würde das Zeichen auf den runden Holzschilden sofort erkennen. Sowohl Freund, als auch Feind.

Thoralf rückte seinen Schild zurecht und sein Blick ruhte nun auf dieser Abbildung. Der Kopf des Auerochsen zierte diesen Schild. Das Tier mit den gewaltigen Hörnern starrte ihn förmlich an, wutschnaubend bereit, sich auf den Feind zu stürzen.

Er kannte diese kraftvollen Stiere nur aus Vaters Erzählungen, denn auf dieser Seite des Meeres gab es keines der gewaltigen Tiere. Vor vielen Jahren hatte Vater eines mit der Lanze erlegt und jeden Winter erzählte er mit glänzenden Augen von diesem Erlebnis.

Und was hatte er, Thoralf, bisher vollbracht?

Für den letzten Kriegszug war er noch zu jung gewesen und diese Überfälle jetzt hatten so gar nichts Ehrenvolles.

Während Ælsbeth neben ihm etwas von großen Fischen erzählte, schweiften seine Gedanken ab. Zu Abenteuern, Helden und zum Thing, auf dem er mit Vater gewesen war. Bretwalda Æthelberth hatte dem Vater sogar die Hand auf die Schulter gelegt. Zusammen hatten die beiden ihre Männer im letzten Kriegszug gegen die westlichen Sachsen geführt. Dass sie dabei verloren hatten, spielte keine Rolle. Es war ein ehrenvoller Kampf gewesen und nur das zählte.

Vielleicht gab es bald wieder einen Kampf gegen die Nachbarn und da wollte Thoralf unbedingt mit. Er wollte sich beweisen, nur das war es, was einem jungen Krieger das Recht gab, den Sax zu führen. Im Gehen berührte seine Hand den Griff der Waffe an seiner Seite. Er erinnerte sich dabei wieder an diesen Moment, als Vater ihm die Waffe feierlich übergeben hatte.

Sein Blick ging nun voraus. Was war sein Weg? Diese Steine hier? Die schon Jahrhunderte hier so lagen? Die waren es sicher nicht, der Weg eines Kriegers war ein anderer! Einen Sohn zeugen und ehrenvoll im Kampf sein! Das wollte er.

Ersteres vielleicht mit der Frau an seiner Seite? Sie schien mutig zu sein und das war doch schon mal eine gute Voraussetzung, dass auch ihr Kind mutig sein würde.

Höchstwahrscheinlich hatte er sie deshalb instinktiv am Leben gelassen. Es würde sich zeigen. Im nun kommenden Winter hatte er genug Zeit, um sie zu beurteilen.

Vielleicht war ihr Zusammentreffen gerade deshalb jetzt geschehen. Kommt Zeit, kommt Rat.

Im Reden gestikulierte Ælsbeth wild mit den Armen und berührte ihn dabei. Damit hatte sie seine Aufmerksamkeit zurück. Gerade erzählte sie von einem gewaltigen Fisch, den ihr Vater gesehen haben wollte. Länger als dessen Boot sei er gewesen. Offensichtlich war ihr Vater der Stammesführer des anderen Stammes gewesen. Jemand, der gegen solch einen gewaltigen Fisch kämpfen konnte, der stand seinem Vater wohl ebenbürtig gegenüber, der ja den Kampf mit dem Auerochsen aufgenommen hatte.

Und was hatte er, Thoralf, später mal zu erzählen?

7. Kapitel Verwirrende Gedanken

D ie Männer schienen wie ausgewechselt zu sein. In der Nacht hatten sie an einem großen Feuer gelagert. Mitten in einem Wäldchen und keiner hatte sich dabei leise verhalten. Die schleichende Art der Fortbewegung der vergangen Tage war nun nicht mehr bei ihnen zu sehen. Seit der Morgendämmerung waren sie erneut unterwegs und Ælsbeth ging mit ihnen der aufgehenden Sonne entgegen.

Waren sie am Tage zuvor noch durch hügeliges Land gezogen, so wurde die Gegend nun immer flacher und gelegentlich schimmerte links die blaue Fläche des Meeres durch die Bäume hindurch.

In ihren Gedanken versunken trottete Ælsbeth den Männern hinterher. Warum tat sie das noch? Niemand achtete mehr auf sie und schon die ganze Zeit war sie nicht mehr gefesselt. Sie hätte jederzeit verschwinden können, dennoch blieb sie bei ihnen.

Bisher hatte keiner der Männer sie auch nur angefasst.

Ælsbeth hob ihren Blick zu ihnen hinauf und rief sich in ihren Kopf zurück, dass einer dieser Krieger Mutter vor ihren Augen getötet hatte. Das Blut ihrer Angehörigen klebte an einem der langen Messer, welche die Männer an ihrem Gürtel trugen. Vielleicht sogar an dem von dem Krieger, der nun neben ihr einherschritt und gerade ein lustiges Lied anstimmte.

Es schien ein Spottlied auf jemanden zu sein, den sie nicht kannte. Alle Männer stimmten nacheinander, zum Teil lachend, in das Lied ein. Diese fröhliche und ausgelassene Stimmung passte so gar nicht zu dem, was Ælsbeth in sich fühlte.

Die Schreie der Frauen aus ihrem Dorf waren in ihrem Kopf nicht leiser geworden. Sie hörte sie immer noch. Das Lied der Männer übertönte sie nur etwas. Und immer, wenn sie die Augen kurz schloss, hatte Ælsbeth das Gemetzel wieder vor sich, das Blut, die nackten Frauen. Diese Männer hier hatten ihre Freundinnen geschändet, während sie gefesselt zusehen musste.

Das hatte sich wohl für immer in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Und es waren diese Krieger hier, die diese Grausamkeiten verübt hatten.

Durch eine Baumschneise sah Ælsbeth erneut das Meer neben sich und es zog ihren Blick dorthin. Irgendwo da im Norden war das Dorf ihrer Jugend, ihrer Angehörigen, gewesen. Ælsbeth sah Mutters Gesicht vor sich, den zum Schrei aufgerissenen Mund, das mit ihrem Blut bespritze Sax, das Mutter den Tod gebracht hatte.

Eine Träne stieg ihr ins Auge und rollte dann ihre Wange hinab. Niemand würde sie suchen kommen, denn keiner wusste, dass sie diesen Angriff überlebt hatte. Sicherlich waren die anderen Leichen mit den Häusern verbrannt und wer wusste schon, dass sie fehlte.

Eine neue Strophe des Liedes begann, die Männer sangen jetzt über eine Frau und Ælsbeth musste sich die Ohren zuhalten, denn vor ihren Augen erschienen erneut die Bilder, wie sie über die Frauen des Dorfes hergefallen waren. Sie selbst war gerade vom Feld gekommen und musste mitansehen, wie einer der Männer das Kleid ihrer Freundin Levana zerfetzt und sie geschändet hatte.

Die Schreie der Freundin hatten sie aus der Siedlung fortgetrieben, um Hilfe zu holen. Vermutlich war sie nur deshalb noch am Leben. Und diese Strophe des Liedes handelte gerade von einer Magd mit dem Namen Levana!

Jemand zog an ihrem Arm, Ælsbeth wandte ihren Kopf. „Was ist los?“, fragte der junge Krieger, als sie die Hände von ihren Ohren zog.

Das Lied verstummte und sie antwortete einfach nur: „Levana! So hieß meine Freundin, die ihr … dort … bei uns im Dorf!“ Dabei zeigte sie mit der Hand auf das Meer hinaus.

Eigentlich hatte Ælsbeth erwartet, dass der Mann einfach nur abwinken und danach weiter singen würde, doch er sagte: „Das tut mir leid!“

Überrascht und forschend blickte sie ihm in die Augen. Was genau tat ihm leid? War er es gewesen, der Levana den Tod gebracht hatte?

Mit den Helmen sahen die Krieger alle irgendwie gleich aus und zumindest war er ja auch dort gewesen.

„Danke, dass du mich nicht …“, begann sie und stockte. Was würde er wohl mit ihr machen, wenn er sie erst mal in seinem Hause hatte? Er hatte etwas von Beute und Gefangene gesagt und vielleicht war es noch zu früh, ihm zu danken.

Ælsbeth suchte erneut seinen Blick, diese stechenden Augen und die ebenmäßigen Züge seines Gesichtes. Wie oft hatte sie in den letzten Tagen in dieses Antlitz gesehen? Es schien ihr seit ewigen Zeiten vertraut zu sein und dabei waren es erst ein paar Tage, dass sie sich kannten.