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Der 2. Teil der Reihe! Das London von heute – in einer parallelen Welt Eine Hitzewelle im Vorfrühling. Statuen, die blutige Tränen weinen. Zerstörte Machtrunen. Ascheregen und Erdbeben. Lauter Omen, die nichts Gutes ahnen lassen. Ian und Marcus versuchen noch immer, sich zusammenzuraufen, doch ihnen bleibt keine Zeit – sie müssen das Schlimmste verhindern, sonst wird London untergehen. Ca. 58.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 300 Seiten.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Dies ist der 2. Teil der fortlaufenden Serie „Code 0-37“.
Teil 1 trägt den Titel „Auf Eis gelegt“.
Auch wenn jeder Teil in sich geschlossen sein wird, ist es zum besseren Verständnis sinnvoll, die Bücher der Reihe nach zu lesen.
Der 2. Teil der Reihe!
Das London von heute – in einer parallelen Welt
Eine Hitzewelle im Vorfrühling. Statuen, die blutige Tränen weinen. Zerstörte Machtrunen. Ascheregen und Erdbeben. Lauter Omen, die nichts Gutes ahnen lassen. Ian und Marcus versuchen noch immer, sich zusammenzuraufen, doch ihnen bleibt keine Zeit – sie müssen das Schlimmste verhindern, sonst wird London untergehen.
Ca. 58.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 300 Seiten.
von
Sonja Amatis
„Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Der Priester schwenkte das Weihrauchgefäß. Marcus hasste Weihrauch. Leider gehörte es zu den wirksamsten Gerüchen, um übereifrigen Dämonen und ihren Anverwandten den Appetit zu verderben, deshalb wurde es bei Beerdigungen mit viel Enthusiasmus genutzt. Einen echten Schutz bot es leider nicht. Wenn ein Vampir wirklich, wirklich hungrig war, hielt er sich eben die Nase zu, bevor er zubiss, selbst wenn sein anvisiertes Opfer zuvor in Weihrauch oder anderen üblen Gerüchen gebadet hatte. Genau wie das Warlington-Abkommen, das eine solche Tat als Verbrechen behandelte, waren solche Duftbomben wenigstens ein illusionärer Schutz, darum tolerierte man diese Unannehmlichkeiten. Für Marcus kam erschwerend hinzu, dass er tagsüber an der erweiterten Sinnesleistung seines Gargoyles Anteil hatte, der Weihrauch als körperlich schmerzhaft empfand. Von anderen Problemen ganz zu schweigen, unter denen sie gerade gemeinsam zu leiden hatten.
„Was der Herr uns in seiner unermesslichen Güte gegeben, hat er von unserem Bruder wieder zurückgenommen. Das Geschenk des Lebens …“
Marcus seufzte innerlich. Er hasste Beerdigungen. Sogar noch mehr als den dabei herumgeschwenkten Weihrauch. Das endlose Schwadronieren der Priester über Gottes Gnade … Dabei war hinlänglich bekannt, dass der Schöpfer dieser Welt nach getaner Arbeit in eine andere Ecke des Universums weitergezogen war, um sich dort mit weiteren Schöpfungsakten zu amüsieren. Das mühselige Verwalten und Pflegen der Seelen blieb an den Engeln hängen. Die ließen sich allerdings nie hier unten auf Erden blicken, im Gegensatz zu den Dämonen. Deren ursprünglicher Daseinszweck hatte ausschließlich darin bestanden, dummen Menschen ihre Seelen abzuschwatzen. Das taten sie immer noch, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, doch nur noch selten auf dieser Welt.
Ananvi hatte versucht, Marcus das Prinzip der unzähligen Paralleluniversen zu erklären. Einigermaßen verstanden hatte er es seiner eigenen Meinung nach schon, auch wenn sein Gargoyle sich kompliziert auszudrücken pflegte und behauptete, Marcus wäre einfach zu dumm für dieses Konzept. Da Ananvi ihn gern mit solchen Sprüchen neckte und ihn das Thema auch nicht brennend interessierte, ignorierte er das freundlich.
„Und ob ich auch wanderte in finsterem Tal …“
Na endlich. Wenn dieser trübsinnige Ich-bin-ein-doofes-Schaf-Mäh!-Psalm kam, sollte es nicht mehr lange dauern, bis das Ganze überstanden war.
„Geht das nicht ein bisschen zu weit?“, dachte Ananvi und kicherte gehässig. Kicherte! Wie konnte man bei diesen Schmerzen noch gute Laune haben? Zumal sie für den Gargoyle mindestens doppelt so schlimm waren wie für ihn?
Die Gedanken sind frei, knurrte Marcus innerlich zurück. Du weißt, ich habe nichts gegen den Glauben als solches. Oder gegen Menschen, die in diesen kirchlichen Zeremonien ihr Glück finden. Sie sind bloß nicht für mich gemacht. Und ich habe gerade echt schlechte Laune.
Marcus sah, wie Ian neben ihm ebenfalls mit allen Anzeichen leichter Ungeduld auf den Zehen wippte. Es wunderte ihn nicht. Obwohl Iren traditionell als sehr gläubig galten, hätte er sich eher gewundert, wenn dies auch auf seinen Partner zugetroffen hätte. Ian war immerhin in der Hölle gewesen. Nicht im wortwörtlichen Sinne – die Civitas Diaboli, wie die Dämonen ihr Reich gern vornehm betitelten, hatte er nicht betreten müssen. Doch wer ein halbes Jahr als Arbeitssklave in einem Koboldstraflager ausharren und tausend Meter unter der Erde neben einem brennenden Flöz irgendwelche Erze aus dem Gestein schlagen musste, ja, der hatte zumindest im übertragenen Sinn die Hölle durchlitten.
„Lasst uns den Verstorbenen gedenken, wie sie zu Lebzeiten waren.“ Der Priester faltete die Hände, wobei er das Weihrauchgefäß fleißig hin- und herschwingen ließ.
Marcus dachte an Professor Yuri Kamulenkov. Dies war seine Bestattung. Ein Yeti hatte diesen überaus feinen älteren Gelehrten aus dem Leben gerissen. Dessen treuer Diener, der Kobold Taubrin, schnaubte sich gerade lautstark die riesige Gurkennase. Vierundzwanzig Sonderanträge waren notwendig gewesen, damit ein Kobold Zutritt zu einer Kirche und anschließend zu einem geweihten Friedhof erhielt. Er trug ein Schutzamulett um den Hals, das ihn vor den Auswirkungen der zahlreichen Machtrunen bewahrte. Vier schwerbewaffnete, in mittelalterliche Rüstungen gekleidete Wächter der örtlichen Vatikanniederlassung standen bereit, um Taubrin niederzustrecken, sollte er versuchen, mit dem Amulett zu fliehen. In den Händen eines Erzdämons, der mithilfe dieser von Engeln geschmiedeten Wunderwaffe keine Bannrunen mehr zu fürchten bräuchte, wäre das Amulett der Untergang der Menschheit. Nicht mehr und nicht weniger als das.
Taubrin ignorierte die finster dreinblickenden Männer mit ihren geweihten Schwertern und zupfte Marcus am Hosenbein.
„Ich bin so dankbar, dass Ihr dabei seid, Master Berkley“, fiepte er mit seiner hohen, quäkenden Koboldstimme. „Mein Herr hat Euch sehr geschätzt.“
„Ich habe ihn auch sehr geschätzt“, flüsterte Marcus, gegen seinen Willen gerührt von Taubrins unschuldiger Art. „Er war ein solch kluger und gelehrter Mann und er hat mir in zahlreichen Fällen mit seiner Dolmetscherkunst weitergeholfen. Er fehlt mir und er hat es nicht verdient, auf diese Weise gehen zu müssen.“
„Das bedeutet mir sehr viel, dass Ihr das sagt, Master Berkley.“ Taubrin schnäuzte in sein schottenkariertes, blau-rotes Taschentuch und senkte seine Stimme. „Master, Ihr … Eure Ausstrahlung ist stark und äußerst negativ, gebt Acht …“
Marcus konzentrierte sich hastig, um seine Ungeduld über die Messe zu unterdrücken. Seine Gefühle wurden von Ananvi verstärkt, wenn dieser mit ihm verschmolzen war, im Guten wie im Schlechten. Er konnte dies gelegentlich nutzen, um Verdächtige beim Verhör einzuschüchtern oder unliebige Mitmenschen zu verscheuchen, oder im Gegenteil, um Leute für sich zu gewinnen. Dennoch war es oft lästig, weil er seine Gefühlsregungen jederzeit kontrollieren musste. Neben seinem Unwillen über diese Pflichtveranstaltung waren es die extremen Schmerzen, die ihm zusetzten. Er trug ein Bleihemd, das Ananvi ein wenig vor den Auswirkungen der Runen abschirmte. Andernfalls würden sie beide gemeinsam in dieser Kirche zugrunde gehen. Das Hemd war schwer, die Qualen kaum dennoch erträglich.
Taubrin nickte ihm mit einem Lächeln zu, seine Augen schimmerten schon wieder feucht.
„Solch eine schöne Zeremonie war das …“ Der Kobold blickte vollkommen ergriffen auf den Priester, der inzwischen bei den letzten Segenssprüchen angelangt war. Die Kirche war voll. Yuri hatte einen großen Bekannten- und Freundeskreis gepflegt, zudem neben seinen Dolmetscherdiensten bei der Polizei in Oxford Koboldjia in Wort und Schrift gelehrt. Viele seiner Kollegen und Studenten waren gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Taubrin war aus praktischen Gründen der einzige Kobold, was Yuri sehr bedauert hätte. Sein Leben lang hatte er sich diesem Volk verbunden gefühlt und seine gesamte Kraft der Erforschung ihrer Sprache und Kultur gewidmet. Hunderte Kobolde verdankten ihm ihre Freiheit oder die Wiederherstellung ihrer Ehre, da er sich beim LPSC, der London Police for Supernatural Crime Investigation, unermüdlich für sie eingesetzt hatte.
Mit leicht verkniffenem Gesichtsausdruck winkte der Priester Taubrin zu sich. Der war der einzige Erbe und Nachlassverwalter und hatte somit auch das Recht, die Urne zu tragen. Seine vier Bewacher standen sofort wie eine Mauer um ihn, bereit, beim geringsten magischen Zucken zuzuschlagen. Seltsamerweise wirkte Taubrin nicht wie ein schwerbewachter Gefangener, der er im Moment de facto war, sondern eher wie eine wichtige Persönlichkeit, umgeben und beschützt von archaischen Kriegern. Das lag sicherlich auch an Taubrins stolz gereckter Haltung. Er trug seinen Herrn zur letzten Ruhe, eine ernste und ehrenhafte Aufgabe. Würde und Erhabenheit strahlten von diesem hässlichen kleinen Kerl aus und die gesamte Trauergemeinde begann entsprechend zu murmeln.
Der Priester schritt langsam und majestätisch voran, Taubrin folgte ihm mit seiner Wächterriege. Ian und Marcus waren Taubrins Wunsch entsprechend die nächsten, der Rest der Gesellschaft ordnete sich hinter ihnen ein. Unter schweren Orgelklängen ging es zur Kirche hinaus auf den angrenzenden Friedhof.
Der war ebenfalls von Macht- und Bannrunen beschützt; außerdem war es strikt verboten, einen Menschen zu beerdigen, der nicht zuvor eingeäschert worden war. Zu viele Dämonen und deren Anverwandten gierten nach frisch verstorbenen Körpern, denen zwar keine Seele mehr, dafür aber Blut und andere Körperflüssigkeiten entzogen werden konnten. Seit es diese gesetzlichen Bestimmungen gab, kam es kaum noch zu Ghoulvorfällen, die jedes Mal mit vielen Toten einhergegangen waren.
Sie passierten zahlreiche Grabsteine. Manche waren alt, andere gerade erst aufgestellt worden. Adam Ashton wurde bereits gestern beigesetzt. Er war ein Freund des Professors gewesen, der nichts Schlimmeres getan hatte, als ein Artefakt für seine Sammlung zu erwerben. Ein Koboldbuch mit genauer Anleitung, wie das Gen eines Yetiwandlers getriggert werden konnte. Dafür hatte er sterben müssen, genau wie Yuri Kamulenkov und einige weitere Menschen. Das Buch war mittlerweile beim Vatikan unter Verschluss, zusammen mit Myriaden anderer Artefakte, die zu gefährlich waren, um sie auf die Menschheit loszulassen.
Tobias Clerk und seine jüngere Schwester lagen ebenfalls hier, da Marcus für ihre Bestattung aufgekommen war, und ihre schwerkranke Mutter würde sehr bald folgen. Armer Tobias. Es war nicht seine Schuld, dass er die Anlage zur Yetiwandlung besessen hatte. Der gesamte Fall war höchst tragisch gewesen und Marcus war froh, ihn heute endgültig abschließen zu dürfen.
Da vorne befand sich bereits die frisch ausgehobene Grabstelle. Der Priester übernahm die Urne, überreichte sie mit einigen feierlichen lateinischen Sprüchen an den Totengräber, der sie in die Tiefe hinablassen sollte, da …
„STOPP!“, brüllte Taubrin und tauchte mühelos unter den Schwertern seiner Bewacher hindurch. Marcus blieb vor Schreck fast das Herz stehen, er taumelte unter Ananvis Gebrüll, der den Wicht gut leiden mochte und verlangte, dass Marcus ihn retten sollte: „HALT IHN AUF, HALT IHN AUF!“
Ian reagierte zuerst. Er eilte vorwärts und prallte gegen einen der grimmigen Wächter, was ihm einen harten Fausthieb in den Unterleib einbrachte, verstärkt von einem Panzerhandschuh, unter dem Ian stöhnend in die Knie ging. Taubrin war derweil in das Grab gesprungen und zerrte an irgendetwas – oder vielmehr -jemand, denn lautes Gezeter brach los.
„Raus da, du Unhold! Was hast du hier überhaupt zu suchen?“, schrie Taubrin. „Das ist das Grab meines lieben, guten Herrn, da ist kein Platz für einen Wurzelgnom!“
Alle Anwesenden erstarrten. Ein Wurzelgnom war so ziemlich das harmloseste und zugleich lästigste übernatürliche Geschöpf, das man sich einfangen konnte. In etwa vergleichbar mit Kopfläusen. Sie richteten mit ihrer Fluchmagie kaum nennenswerten Schaden an, doch es war die Hölle, sie wieder loszuwerden, wenn sie sich einmal in Haus oder Garten eingenistet hatten.
Wirklich bedeutsam war allerdings, dass dieser Friedhof von hunderten mächtigen Runen beschützt sein sollte, um jede übernatürliche Kreatur fernzuhalten. Vom Vampir bis zum Erzdämon, niemand kam herein – ein Wurzelgnom müsste demnach bereits kreischend vor Schmerzen verenden, wenn er nur darüber nachdachte, seine spitze Nase über die Mauer zu strecken.
Doch da war er, zappelnd und schimpfend in Taubrins Griff. Ein braunes, nacktes Männchen, das wie die hässlichste vorstellbare Knollenwurzel mit Augen aussah. Das winzige Geschöpf beschimpfte Taubrin auf Gälisch, was Marcus gut verstand. Im Moment versprach es dem Kobold einen hundertjährigen Fäulnisfluch, erweitert auf sämtliche Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn und überhaupt jedem, der Taubrin jemals ins Gesicht geschaut hatte. Zum Glück war der Gnom zu schwach, um einen Kobold verfluchen zu können.
„Ein Vorfall auf dem Friedhofsgelände“, knurrte derweil einer der Wächter in sein Funkgerät, das wie ein anachronistischer Störfaktor an der spiegelnden Rüstung klemmte. „Auftreten eines Wurzelgnoms. Überprüft sofort die Runen! Zielgeschöpf ist weiterhin gesichert und kooperativ. Wiederhole, dem Amulett droht keine unmittelbare Gefahr.“
Ein anderer Wächter übernahm den Gnom von Taubrin mit festem Griff. Der Winzling verstummte augenblicklich, vollständig eingeschüchtert von der Präsenz eines Engelschwerts.
Die vier Erzengel hatten jeweils drei Schwerter geweiht und weltweit verschiedenen Würdenträgern übergeben, damit die Sterblichen im äußersten Notfall Waffen gegen die Dämonenschar besaßen. Das gleich vier Engelschwerter eingesetzt wurden, um Taubrin zu bewachen, zeigte zwei Dinge: Erstens, dass dieses Amulett wirklich extrem wertvoll war und niemals in die falschen Hände geraten durfte, und zweitens, dass die zuständigen Würdenträger dazu neigten, gewaltig zu übertreiben. Ein bis zwei Mann hätten auch genügt, um einen Kobold an der Flucht zu hindern.
Mittlerweile hatte sich der zur Salzsäule erstarrte Priester wieder gefangen. Unter vielfachem Bekreuzigen wandte er sich an die verstörte Trauergemeinde:
„Es tut mir sehr leid. Wir müssen sicherstellen lassen, dass keine Gefahr droht, danach wird die Beerdigung weitergehen.“
„Yuri hätte das gemocht“, murmelte Marcus und warf seinem Partner einen Seitenblick zu. „Geht es?“, fragte er. Ian nickte, auch wenn er noch bleich war und einen Arm gegen den Bauch gepresst hielt. Wer ein halbes Jahr lang tägliches Auspeitschen und Gargoylebisse überstanden hatte, brauchte nach einem einzelnen Fausthieb niemanden, der ihn hätschelte.
Und ja: Yuri hätte über die Störung seiner Beerdigung herzhaft gelacht.
Es knackte im Funkgerät des Wächters, eine Ansage erfolgte in einer Sprache, die Marcus nicht verstand – Italienisch vermutlich. Der Mann wandte sich zu ihm um.
„Mr. Berkley, wenn ich mich nicht irre?“, fragte er höflich. Marcus nickte, ohne überrascht zu sein. Er besaß einen weitreichenden Ruf in seinem Job.
„Bitte verständigen Sie ein Notfallteam, Sir. Die Machtrune am Südtor wurde zerstört und muss schnellstmöglich erneuert werden. Zum Glück ist bei diesem sonnigen Wetter und so früh am Tag nicht damit zu rechnen, dass die mächtigeren Entitäten bereits Nutzen daraus ziehen konnten.“ An den Priester gewandt fügte der Wächter hinzu: „Fahren Sie bitte fort. Es besteht keine unmittelbare Gefahr und es ist besser, wenn die Zeremonie schnellstmöglich durchgeführt wird. Nicht auszuschließen, dass dies ein gezielter Anschlag auf das Amulett werden sollte.“
Obwohl das eine logische Schlussfolgerung wäre, bezweifelte Marcus das aus irgendeinem Grund. In diesem Fall hätte man doch dafür gesorgt, dass kein Aufsehen erregt wurde und den Wurzelgnom ferngehalten. Bei den vielen Wechselwirkungen der Runen, deren Wirkungskreise sich überlappten, entwickelte ein einzelner Ausfall nicht genügend Reichweite, um irgendetwas zu bewirken. Vermutlich konnte man auf einem sehr schmalen Korridor ein Stück bäuchlings über den Friedhof kriechen, was für jede andere Kreatur als einen Wurzelgnom keine Option wäre.
Dennoch hatte der Mann recht. Es war beunruhigend und musste rasch behoben werden. Marcus telefonierte mit der dafür zuständigen mobilen Eingreiftruppe. Die verfügte über Spezialisten, die Machtrunen und Bannkreise ziehen konnten.
In Windeseile sprach der Priester die letzten Segnungen und ließ die Urne in die Tiefe versenken.
„Glaubt Ihr, die haben dem armen Gnom etwas angetan, Herr?“, hörte er Taubrin wispern, als es vorbei war.
„Nein“, erwiderte Ian ebenso leise. „Sie werden den Kleinen verhören, um zu erfahren, wann genau er hier eindringen konnte, und welchen Weg er dabei genommen hat. Ansonsten hat er ja nichts weiter getan. Er wird weder gefoltert noch hingerichtet und auch nicht ins Gefängnis gesteckt werden.“
Marcus hoffte, dass die Wächter auch wussten, dass dies die angemessene Reaktion wäre. Diesen Kerlen traute er jederzeit zu, auch harmlose Wurzelgnome zu massakrieren, bloß um wirklich sicherzugehen. Ganz im Sinne von „nur ein toter Übersinnlicher ist ein guter Übersinnlicher“.
Sie wurden zügig zum Haupteingang geschleust. Dabei passierten sie auch das Südtor, wo sich zwei der Wächter mit gezogenen Schwestern postiert hatten. Ihre silberfarbenen Rüstungen glänzten und gleisten in der Sonne, die heute erstaunlich viel Kraft für einen siebzehnten Januar entfaltete. Beinahe neben dem Tor befand sich ein uralter Baumstumpf, der größtenteils versteinert zu sein schien. Marcus und Ian blieben gleichzeitig davor stehen und knieten nieder, um den Feuerschaden im unteren Wurzelbereich untersuchen zu können.
„Könnte jugendlicher Vandalismus gewesen sein, sowohl die Rune als auch das Feuer, das an dieser Stelle völlig sinnlos war“, murmelte Ian. Sein zweifelnder Ton verriet, dass er nicht recht daran glaubte, und auch Marcus war nicht überzeugt. Londons Teenager waren keineswegs vernünftiger oder sittsamer als irgendwo anders auf der Welt. Doch bevor sich ein Halbstarker an Friedhofsrunen zu schaffen machte, würde er eher mit Trollen boxen oder zum Vollmond nackt einen Werwolfsclub aufsuchen. Es gab einfach Tabus, die niemand brach, selbst wenn er nicht einmal mehr über das kleinste Fünkchen gesunden Menschenverstandes verfügte.
Da es keine weiteren Anzeichen für Gefahr, Magie oder Vandalismus gab, erhoben sie sich wieder und folgten der restlichen Trauergemeinde. Sobald sie das Haupttor geschafft hatten, gab Taubrin das Amulett zurück. Es wurde in ein Stahlkästchen gelegt, das zusätzlich mit Blei ausgeschlagen worden war, um es unempfindlicher gegen Magieattacken werden zu lassen. In nahezu jeden Fingerbreit Metall hatte man Runen und Bannsprüche eingraviert. Die Wächter wirkten sichtlich erleichtert, dieses Artefakt in Sicherheit zu wissen. Erstaunlich, dass sie es überhaupt herausgerückt hatten, gleichgültig, welche Anträge genehmigt worden waren. Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, marschierten die grimmigen Gestalten davon. Man konnte ihre schweren Schritte noch lange nachhallen hören.
„Wir treffen uns nun zu einem Gedenkmahl im Haus meines Herrn“, rief Taubrin feierlich. „Jeder von Ihnen ist ausdrücklich willkommen. Vielen Dank, dass Sie so zahlreich erschienen sind.“
Der Kobold hatte sich garantiert wieder selbst übertroffen, um bergeweise Köstlichkeiten herzurichten. Marcus, der endlich von den Schmerzen erlöst war, die die Runen verursachten, atmete zutiefst erleichtert auf. Er würde Taubrin und Ian in seinem silberfarbenen Bentley zum Haus fahren und an der Feier teilnehmen. Ein Glück, dass es einigermaßen glatt gelaufen war! Die ganze Zeit über hatte er befürchtet, dass Taubrin erschlagen werden könnte.
„Was ist das denn?“, schrie plötzlich eine der anwesenden Frauen. Marcus wirbelte herum, auf absolut alles gefasst, und folgte den Blicken der Gäste. Sämtliche Finger wiesen auf einen weißen Marmorengel, der vor dem Friedhofstor stand. Blutige Tränen flossen über die weißen Wangen, zogen groteske Spuren über dem nackten Körper und tropften zu Boden. Ein kraftvolleres Omen für nahendes Unheil gab es kaum auf dieser Welt … Oder eines, das klischeebeladener wäre, was es noch ein wenig eindrucksvoller machte.
Marcus schluckte und Ananvi regte sich unruhig in seinem Geist, ohne etwas zu sagen. Seine Sorge war dennoch überdeutlich zu spüren.
Ein Regentropfen fiel auf Marcus‘ Kopf, und noch einer. Wo war denn plötzlich die Sonne hin?
„Oh shit!“, murmelte Ian. „Das ist kein Wasser!“ Er wischte sich über den Ärmel seines schwarzen Anzugs. Inzwischen hatte Marcus es ebenfalls begriffen, genau wie die übrigen Trauergäste. Es war in Regenwasser gelöste Asche, die auf sie herabfiel, im Moment noch in vereinzelten Tropfen. Ein weiteres Omen für Schicksalswendungen, die die gesamte Welt aus den Fugen heben könnten. Noch während sie losrannten, um sich vor den einsetzenden Aschefluten in Sicherheit zu bringen, ging Marcus bereits sämtliche denkbaren Möglichkeiten durch, welche übernatürliche Katastrophe da auf sie lauern mochte. Es gab leider viel zu viele …
Ian reckte sich und gähnte herzhaft. Es war gerade erst fünf Uhr morgens und noch dunkel draußen. Das interessierte leider die Katzen nicht, die aus irgendeinem Grund genau unter seinem Fenster einen Hierarchiekampf führen mussten. Oder waren es jugendliche Gargoyles, die miteinander rauften? Er hatte keine Lust, genauer nachzuforschen. Leider war er jetzt zu munter, um sich noch einmal umzudrehen und weiterzuschlafen, also konnte er auch aufstehen. Es war Montag, in einer Stunde müsste er sowieso raus aus den Federn, um sich für den Dienst fertig zu machen. So konnte er vorher eine Runde auf dem Laufband hinter sich bringen. Draußen an der frischen Luft zu joggen wäre zweifellos schöner, doch das konnten allerhöchstens Bluthuren wagen – Menschen, die freiwillig ihr Blut an Vampire gaben. Sie wurden von anderen übernatürlichen Kreaturen gemieden, weil niemand Lust hatte, sich mit einem Vampirclan zu überwerfen. Nicht einmal hochgestellte Dämonen, die sich vor Vampiren nicht zu fürchten brauchten. Es war ihnen schlichtweg zu mühsam, so viel Ärger zu riskieren. Darum besaßen diese Menschen – in der Regel junge, sehr schöne Frauen und gelegentlich auch Männer – mehr Freiheiten als jeder andere Sterbliche. Auch Polizeiermittler vom LPSC riskierten es nicht, rein zum Vergnügen durch die freie Natur zu laufen.
Ian schälte sich aus seinem Schlafanzug und schlüpfte in die Trainingsklamotten. Er trainierte gerne und viel, in erster Linie auf Ausdauer. Gewichte stemmen war ihm zu langweilig, vom körperlichen Typ her war er auch nicht geeignet, um übermäßig Kraft aufzubauen. Mittelgroß und schlank war er, was ihm sowieso besser gefiel als übertriebene Muskelpakete. Für seinen Beruf empfand er das auch als sinnlos – selbst Kobolde waren stärker als Menschen, von den mächtigeren Kreaturen ganz zu schweigen. Ausdauer bei der Verfolgung hingegen hatte sich schon häufiger für ihn bezahlt gemacht. Marcus war kräftiger als er, muskulöser. Nicht künstlich aufgepumpt, sondern äußerst ansehnlich. Sechs Wochen waren seit dem Yetivorfall vergangen und sie verbrachten nahezu jeden Tag miteinander. Nicht bloß ihre Arbeitszeit, sondern auch die Wochenenden. Freitagabends spielten sie Karten oder Billard, letztes Mal hatte Marcus ihn beim Schach gnadenlos abgezockt. Samstags trafen sie sich zum gemeinsamen Training: Waffen, Nahkampf, Reflexe, Ausdauer. Sein Partner besaß einen riesigen Keller, der mit den feinsten und besten Geräten ausgestattet war, die man sich wünschen konnte.
Ian hatte mehrere gute Geräte im ehemaligen Ankleidezimmer, das an seinen Schlafraum angrenzte, vergleichbar mit Marcus‘ Ausstattung war das natürlich nicht. Sonntags kam Marcus zu ihm und ließ sich von Taubrin verwöhnen. Sein Partner musste aufgrund seines Gargoylefluchs lediglich alle drei bis vier Tage essen und schlafen. Ananvi beeinflusste seinen Stoffwechsel im erheblichen Maße. Er legte es nun so, dass er beides am Sonntag erledigen konnte und übernachtete auch in Ians Haus. Bis vor kurzem war dies noch Professor Kamulenkovs Haus gewesen, doch Taubrin, der einen menschlichen Dienstherrn unabdingbar benötigte, hatte Ian kurzerhand zwangsadoptiert und ihm dafür lebenslanges Wohnrecht in diesem prächtigen, altvictorianischen Stadthaus gegeben.
Der Grund für diese Wochenendrituale war Ian selbst nicht vollständig klar. Sie sprachen nicht darüber. Auch sonst sprachen sie zwar über viele Dinge, aber selten über das, was wichtig wäre. Er wusste immer noch nicht, wie Marcus zum Opfer eines Gargoylefluchs werden konnte und warum er ihn überlebt hatte. Ob sein Partner tatsächlich seit zehn Jahren vollkommen allein war, abgesehen von Ananvi, der jeden Tag im wahrsten Sinne des Wortes an ihm klebte. Oder ob Marcus ihm mittlerweile vertraute oder nicht. Sprich, wollte dieser Kerl ihn auch an den freien Tagen möglichst nah bei sich haben, weil er ihn sympathisch fand und sich vor ihm nicht zu verstecken brauchte, weil Ian sein finsterstes Geheimnis bereits kannte? Oder wollte er ihn beobachten, weil Ian ihn jederzeit verraten und Marcus‘ Karriere vernichten könnte …
Vielleicht diente es auch der Zusammenführung von Ananvi und Taubrin. Die beiden verstanden sich sehr gut, auf reiner Freundschaftsebene. Der arme Gargoyle war noch einsamer als Marcus, es tat ihm gut, mit dem Kobold plaudern zu dürfen.
Ian hatte nichts dagegen, auf diese Weise fremdbestimmt zu werden, zumal Marcus ihn stets freundlich fragte und klar zeigte, dass er ein Nein jederzeit akzeptieren würde. Seine eigenen Motive waren ihm dabei viel zu sehr bewusst: Er vermied es, rausgehen und Kontakte knüpfen zu müssen. Sich hinter Marcus verstecken zu dürfen bedeutete, dass er Abstand von seinen neuen Kollegen halten durfte, von seinen Nachbarn, von jedem Menschen. Eben weil Marcus ein Jahrzehnt damit zugebracht hatte, mit jedermann und keinem befreundet zu sein und jede tiefergehende Beziehung zu vermeiden. Ian schätzte diese Distanz. Seit seiner Entführung kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag war er unfähig, sich auf andere Menschen einzulassen. Marcus kannte seine Geschichte. Er wusste mehr darüber als Ians eigene Familie – die ihn zurückgestoßen und verleugnet hatte. Bei seinem Partner musste er nicht ständig vorsichtig sein. Marcus störte sich nicht offen an seinen Angstreaktionen und der ständigen Gefahr von Panikattacken. Er verstand ihn, schwieg auf anteilnehmende Weise und drängte ihm keine klugen Ratschläge auf.
Ian wechselte vom Laufband zum Crosstrainer. Es war falsch, was er tat. Statt sich zu isolieren, sollte er wirklich versuchen, Beziehungen und Kontakte aufzubauen. Marcus‘ Netzwerk war hervorragend ausgefeilt, keine Frage. Aber wollte er ein Dasein als Inspector Berkleys Schatten? Was, wenn sein Partner mal ausfiel?
Seufzend erhöhte er die Trainingsfrequenz. Er war schwach und ging den Weg des geringsten Widerstands. Ja, das hatte ihm bei den Kobolden damals geholfen. Nicht rebellieren, die geforderte Leistung bringen und bestmöglich übertreffen. Kobolde und Gargoyles feierten ihn als Helden, weil ihm damals die Flucht gelungen war. Ian fühlte sich nicht als Held. Er hatte durch Zufall und Glück überlebt und war in erster Linie bei seiner Flucht beharrlich höher geklettert, weil er zu feige gewesen war, sich in die Tiefe zu stürzen und sein Leid endlich zu beenden. Aus Irland war er letztendlich auch nur aus Feigheit geflohen. Er war …
„Guten Morgen, Herr!“
Taubrin erschien neben ihm und strahlte ihn an. Ian blickte irritiert auf seine Uhr – es war bereits nach sechs. Zeit, mit dem Training aufzuhören, das genau genommen eine Flucht vor den eigenen Gedanken und Erinnerungen darstellte, wie ihm vollkommen bewusst war. Eine Flucht, bei der er nicht einen Schritt von der Stelle kam. Erbärmlich.
„Guten Morgen, Taubrin.“ Er drängte seine depressiven Missstimmungen beiseite und erwiderte das Lächeln des Kobolds. Der kleine Kerl hing rührend an ihm und freute sich tatsächlich jeden Tag aufs Neue, ihn sehen zu dürfen. Ein bisschen wie ein treues Haustier, bloß dass Taubrin sich um ihn kümmerte statt umgekehrt versorgt werden zu müssen. Es war unglaublich, doch nachdem Kobolde ihm so viel Leid zugefügt hatten, war es tatsächlich ein Vertreter dieses Volkes, der ihm selbstlos alles gab und gut tat. Womit genau er das verdient hatte, wusste er noch nicht und wagte auch in diesem Punkt nicht, es zu hinterfragen.
„Das Frühstück ist bereit, Herr. Geht ruhig duschen, ich räume derweil schon mal auf.“
„Danke.“ Ian stieg vom Crosstrainer herab. Seine Muskeln brannten und er war in Schweiß gebadet. Er hatte es einmal mehr übertrieben. Nun, eine heiße Dusche würde helfen und er war gespannt, wie sich die Dinge auf der Arbeit entwickelt hatten. Seit der Beerdigung von Professor Kamulenkov, bei der sich gleich zwei machtvolle Omen von nahendem Unheil gezeigt hatten, war nichts geschehen. Absolut gar nichts. Die gesamten Heerscharen übernatürlicher Kreaturen verhielten sich still und jeder schien darauf zu lauern, dass endlich der Blitz einschlug. Es gab keine Überfälle, Attacken auf Sterbliche, Einbrüche, Flüche, Körperverletzung oder gar Mord. Nichts. Das Untersuchungsgefängnis stand leer, was laut Hector, ihrem Vorgesetzten, überhaupt noch nie vorgekommen war. Die alten Fälle waren gelöst oder als nicht lösbar abgeheftet worden. Es gab nichts zu tun. Aus diesem Grund hatten Marcus und er auch in den letzten Wochen Zeit gehabt, feste Rituale zu entwickeln, weil sie weder nachts noch am Wochenende arbeiten mussten. Beim LPSC gab es lediglich eine festgelegte Uhrzeit, wann man seinen Dienst beginnen sollte, nämlich morgens um halb sieben. Theoretisch endete der Arbeitstag um drei Uhr nachmittags, eine reguläre Spät- oder Nachtschicht existierte in ihrer Abteilung nicht. Stattdessen kümmerte sich jeder um seine Fälle, bis er beschloss, dass es Zeit war aufzuhören, schob einen Riesenhaufen Überstunden vor sich her, den man bei Gelegenheit mal abfeierte oder ausgezahlt bekam, und das war es von offizieller Seite. Die meisten übernatürlichen Kreaturen agierten nachts, schon allein deshalb war das System lächerlich. Dass es funktionierte, lag am Einsatzwillen der Ermittler. Die Bezahlung war recht mäßig, die Gesundheitsversorgung und das Ansehen in der Bevölkerung dafür bombastisch. Aussteigerquote und Sterberate leider auch … Es war ein Job für Sonderlinge, Abenteurer und Irre, die es liebten, mit ungeeigneten Waffen gegen Monster zu kämpfen. Ian wusste genau, in welche Kategorie er selbst fiel. Wer konnte mehr vom Leben verlangen?
Marcus‘ Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, als Ian in die Küche kam. Sein Partner war frisch geduscht und knöpfte sich gerade das Hemd zu – Marcus erhaschte einen Blick auf Ians nackte Brust. Das Bild würde er jetzt den ganzen Tag nicht mehr aus dem Sinn bekommen. O Freude, was er sich nachher von Ananvi alles anhören durfte, konnte er sich lebhaft vorstellen.
Taubrin hatte ihm bereits seinen Tee angereicht, was für Marcus genügte, um über den Tag zu kommen. Ian hingegen setzte sich an ein reichhaltiges Frühstück, bei dem Ananvi ihn nach Kräften unterstützte. Einen Gargoyle durchzufüttern konnte ins Geld gehen, Marcus musste stets Lebensmittel bereithalten, damit sein dämonischer Gefährte nachts nicht über die streunenden Katzen der Nachbarschaft herfiel.
„Hast du Neuigkeiten?“, fragte er Ananvi, als dieser beim Futtern innehalten musste, um ein weiteres Brötchen unter Rührei zu begraben. Sein Gefährte war gerade eben erst von seinem nächtlichen Ausflug zurückgekehrt.
„Nichts, Chef. Ich habe fleißig gelauscht, aber abgesehen von ein paar jugendlichen Gargoyles und Vampiren sind und bleiben die Straßen wie leergefegt. Keine Anzeichen von Katastrophen, tut mir leid.“
Marcus nickte grimmig. Das gefiel ihm nicht. Überhaupt gar nicht … Es waren nicht nur die Bluttränen weinende Statue und der Ascheregen, der am Tag von Yuris Beerdigung einmalig aufgetreten war. Seither wurde London – und zwar explizit und ausschließlich der Großraum von London – von einer Hitzewelle heimgesucht. Es war gerade einmal Anfang März, aber sämtliche Bäume besaßen bereits ihre volle Blätterpracht und die Obstblüte war beinahe vorbei. Mit bis zu dreißig Grad herrschten sommerliche Temperaturen, im Verbund mit täglichen schwersten Gewittern – im Rest von Großbritannien verabschiedete sich momentan erst der Winter, und das sehr, sehr zögerlich. Sämtliche Versuche, die Ursache dieser Phänomene herauszufinden, waren bislang gescheitert. Darum hatten sich auch alle Übernatürlichen zurückgezogen und hielten die Füße still. Man musste vom Schlimmsten ausgehen. Das Schlimmste war ein Dämonenkrieg unter den mächtigsten Herrschern der Hölle. Dicht gefolgt von einer Masseninvasion dämonischer Kreaturen aus der Civitas Diaboli. Keiner von Marcus‘ Informanten wusste irgendetwas, dementsprechend groß war die allgemeine Anspannung. Jeder wartete auf den Knall, der irgendwann erfolgen musste. Je länger es dauerte, bis es endlich soweit war, desto schlimmer würde es wohl werden.
Sie fuhren durch leere Straßen. Normalerweise war um diese Uhrzeit zumindest ein bisschen Verkehr, vor allem von heimkommenden Vampiren, die in Clubs gefeiert hatten. Seit Wochen begegneten ihnen höchstens noch Krankenwagen und andere offizielle Einsatzfahrzeuge. Und auch die Fußgänger- und Radfahrerströme wirkten stark reduziert. Wer die Stadt verlassen konnte, hatte es bereits getan, wer nicht dringend zur Arbeit musste, ließ es sein. Die Supermärkte waren weitestgehend leergeräumt, weil jeder Hamsterkäufe veranstaltete. Häuser wurden verbarrikadiert, als erwarte man einen Tornado. Das würde in einem magischen Krieg gar nichts nutzen, doch es half, die Menschen beschäftigt zu halten. Wer beschäftigt war, kam nicht auf die Idee, Amok zu laufen oder rasch Frau und Kinder zu töten, bevor man Selbstmord beging, damit man nicht so sehr leiden musste. Die Anzahl solcher Vorfälle war leider dramatisch gestiegen und es würde weitergehen. Noch einige Tage länger unter dieser massiven Anspannung, und es würde gewalttätige Ausbrüche geben. Straßenrevolten wollte Marcus beim besten Willen nicht erleben … Zumal es bitter enden würde, sollten durchdrehende Bürger mit Feuer und Schusswaffen auf übernatürliche Kreaturen losgehen, die sich dann zwangsläufig selbst verteidigen mussten.
Der Anblick von Kollegen, die angestrengt versuchten, nicht gelangweilt auszusehen, kostete Nerven. Normalerweise herrschte hier zu jeder Tageszeit Hektik. Die Telefone klingelten ohne Pause, Tastaturen klapperten, Drucker ächzten und spuckten Papier aus, es wurde lautstark diskutiert, geflucht, geschimpft, nach Übersetzungen, Dolmetschern, Waffen und Hilfe gerufen, in uralten Dokumenten gewälzt, Anträge aller Art gestellt, Zeugen befragt, Angriffe geplant, mit Clanchefs verhandelt und nebenbei hektoliterweise Kaffee vernichtet. Und jetzt? Corwyn malte Kreise auf einem Notizblock. Es war angenehm, dass er dabei den Mund hielt, ihn verstand sowieso niemand, wenn er sprach. In den zwei Jahren, die er bereits bei ihnen arbeitete, hatte Marcus noch nicht herausgefunden, wie der Kerl seine Fälle lösen konnte. Er war Hannahs Partner, irgendwie funktionierten die beiden miteinander. Hannah, Marcus‘ Lieblingskollegin, sortierte ihre Schreibtischschubladen, entsorgte angesammelten Müll und Krimskrams und wischte die Fächer von innen sauber. Don und Sorcha hockten nebeneinander an einem Schreibtisch und sprachen leise miteinander – Marcus fing genug auf, um zu verstehen, dass Don am Wochenende eine Frau kennengelernt hatte und Sorcha ihm gut zuredete, sie noch einmal anzurufen. Nicht weiter ungewöhnlich, Don riss ständig Frauen auf. Normalerweise war er eher froh, wenn er sie nach einer heißen Nacht nicht noch einmal zu sehen brauchte. Anscheinend war diese Dame etwas Besonderes gewesen. Maze, das dürre Elend mit dem Hundeblick, von dem jeder glaubte, dass er irgendwo Wolfsgene versteckt haben musste, schlummerte auf einem Stapel alter Akten, die er offenbar sortieren wollte. Sein Partner Allan war noch nicht aufgetaucht, genauso wenig wie Linda. Die war nach einem schweren Zusammenstoß mit einer Gang randalierender Vampire nicht mehr voll einsatzfähig und arbeitete als Hilfskraft für alle. Sie erledigte Botendienste, wühlte sich durch Archive, recherchierte, telefonierte, spielte Sekretärin für Hector, gab Berichte an Mr. Willowby ab und sortierte zur Not auch Bleistifte, wenn es nichts Besseres zu tun gab. Sicherlich hatte Hector ihr gesagt, dass sie bis auf Weiteres zu Hause bleiben sollte. Ihr Teamleiter biss gerade herzhaft in einen Bagel. Offenkundig hatte er seine Diät geschmissen, die Hectors Frau Liza ihm so mühsam aufgeschwatzt hatte. Bei der momentanen Lage war das kein Wunder … Dass das Team derartig durchhing, war ein Zeichen von zutiefst frustrierter Resignation. Sie hatten wochenlang versucht, herauszufinden, was überhaupt los war. Was als Nächstes geschehen könnte. Überall rannten sie vor Mauern oder ins Leere. Wer konnte es ihnen verdenken, dass sie irgendwann aufgaben? Marcus ertappte sich dabei, dass er auf der Innenseite seiner Wange kaute und riss sich hastig zusammen. Statt den Schreibtisch abzustauben, zog er es vor, gemeinsam mit Ian durch die Straßen zu patrouillieren. Das hatten sie bereits vergangene Woche begonnen und auch am Wochenende waren sie jeweils mehrere Stunden lang durch die Stadt marschiert. Natürlich war es höchst unwahrscheinlich, dass sie ausgerechnet in der Sekunde an jenem Ort sein konnten, an dem die Katastrophe ihren Lauf nehmen würde. Dennoch war alles besser, als tatenlos da zu hocken und zu warten. Sie würden lediglich bis zum Sonnenaufgang warten und sich dann auf den Weg machen. In der Zwischenzeit …
Sein Handy klingelte.
Marcus zuckte zusammen, er hatte seit Wochen keinen Anruf mehr erhalten. Er erkannte die Nummer nicht, darum meldete er sich formell:
„Guten Tag, Inspector Berkley mein Name, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Morgen, Inspector. Ich freue mich, dass ich Sie nicht wecken musste“, erwiderte eine eisklirrende weibliche Stimme. Die Arroganz tropfte mit solcher Unmenschlichkeit durch den Lautsprecher, dass sofort klar war, welche Kreatur auf der anderen Seite sprach: ein Vampir.
„Seien Sie unbesorgt, Madame, ich befinde mich bereits im Dienst“, erwiderte er höflich. Da die meisten hochrangingen Vampire französischer Abstammung waren, empfahl sich diese Form der Höflichkeitsanrede.
„Darauf haben wir spekuliert. Ein Wagen wird Sie und Mr. Grant in zwei Minuten abholen. Bitte begeben Sie sich auf die Straße hinab.“
„Darf ich fragen, wohin die Reise gehen wird?“ Der Mangel an Smalltalk war beunruhigend. Offenbar rief ihn eine Vampirkönigin zu sich, das konnte nichts Gutes bedeuten …
„Die ehrenwerte Choi Sun-ja erwartet Sie und Ihren Partner. Beeilen Sie sich.“ Das Gespräch brach abrupt ab.
Marcus seufzte.
„Du erinnerst dich an die liebliche Nancy?“, fragte er Ian, der ihn aufmerksam beobachtete.
„Die Aufseherin im Untersuchungsgefängnis?