Code 0-37: Mit allen Wassern gewaschen - Sonja Amatis - E-Book

Code 0-37: Mit allen Wassern gewaschen E-Book

Sonja Amatis

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Beschreibung

Nach der drastischen Vergrößerung ihres Clans müssen sich Marcus und Ian eigentlich erst einmal neu orientieren. Doch die Prophezeiung gewährt keine Ruhepausen und ihr neuer Feind ist in jeder denkbaren Hinsicht mit allen Wassern gewaschen. Ca. 53.000 Wörter Das Glossar umfasst etwa 8000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 270 Seiten.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Dies ist der 6. Teil der fortlaufenden Serie „Code 0-37“.

Teil 1 trägt den Titel „Auf Eis gelegt“, Teil 2 „Aus Feuer geboren“, Teil 3 „Fest verwurzelt in der Erde“, Teil 4 „In Stein gemeißelt“, Teil 5 „An heiße Eisen gerührt“.

Auch wenn jeder Teil in sich geschlossen sein wird, ist es zum besseren Verständnis sinnvoll, die Bücher der Reihe nach zu lesen.

Der 6. Teil der Reihe!

Das London von heute – in einer parallelen Welt

Nach der drastischen Vergrößerung ihres Clans müssen sich Marcus und Ian eigentlich erst einmal neu orientieren. Doch die Prophezeiung gewährt keine Ruhepausen und ihr neuer Feind ist in jeder denkbaren Hinsicht mit allen Wassern gewaschen.

 

Ca. 53.000 Wörter

Das Glossar umfasst etwa 8000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 270 Seiten.

 

 

 

 

 

 

Mit allen Wassern gewaschen

von

Sonja Amatis

 

 

Summend beugte Peter sich über das Regal mit der Butter. Es verblüffte ihn jedes Mal aufs Neue, wie viele verschiedenen Sorten es gab. Gesalzen und ungesalzen, aus Dänemark, Österreich und Irland, in großen und kleinen Mengen, mit und ohne Kräuter. Monja hätte ihm detaillierte Wünsche auf den Einkaufszettel geschrieben, was genau sie brauchte. Damit das dumme Männchen auch ja nicht das falsche Produkt heimschleppte. Seit er seine Langzeitfreundin abgeschossen hatte, schrieb ihm niemand mehr Einkaufszettel. Ein Grund, diese unleidige Aufgabe mit einem Lied auf den Lippen zu begehen. Freiheit! Er schnappte sich das billigste Päckchen, das in dem Regal zu finden war und eilte zur Abteilung mit den Tiefkühlwaren weiter. Fertigpizzen für die ganze Woche. Dazu reichlich Bier. Vermutlich würde er sich nach drei Tagen nach Monjas ausgefeilten Essenskompositionen sehnen. Im Moment wollte er sein Singledasein genießen. Auf keinen Fall würde er sich vor nächstes Wochenende eine neue Beziehungskiste ans Bein binden. Allzu lange alleinbleiben wollte er nicht, genießen durfte aber ja wohl erlaubt sein. Mit vierundzwanzig machte er sich keine Sorgen, dass er nicht mühelos ein nettes Mädel im nächstbesten Club aufreißen und zum Bleiben überreden konnte. Schließlich hatte er geilen Sex, ein regelmäßiges Einkommen und eine große Wohnung zu bieten und bis jetzt hatte es noch jedes Mal geklappt.

„Entschuldigung?“ Eine Stimme in seinem Rücken ließ ihn aufblicken. Peter blinzelte – die Frau, die ihn gerade betörend anlächelte, sah exakt so aus wie Monja. Von den langen Beinen zu den dicken Brüsten bis hin den schwarzen Wuschellocken, das war sie! Die Stimme hingegen … Monja hatte keine solche sexy-rauchige Stimme gehabt. Eher ein nasales Piepsen. Zum Glück hatte sie selten gesprochen und sich eher auf Sex verlegt. Und Kochen. Kochen konnte sie!

„Monja?“, fragte Peter verunsichert, als sein Gegenüber stumm blieb. Sie lächelte, schüttelte den Kopf.

„Ich bin nicht Monja“, hauchte sie und trat dicht genug an ihn heran, dass es Peter schlagartig heiß wurde. Geil. Er war … geil. In seiner Hose pochte es wie wild, die Wahrnehmung der Welt begrenzte sich schlagartig auf Sex. Die sündhaft heiße Fremde schlang ihre Arme um Peters Brust.

„Wenn du willst, darfst du mich gerne Monja nennen.“ Gurrend drückte sie ihn rückwärts. Peter folgte der Aufforderung nur zu gerne. Sex. Ja! Sex! Jetzt sofort! Es störte ihn ein wenig, dass er plötzlich im Einkaufswagen lag und die Butter plattdrückte. Bequem war das auch nicht. Doch Monja küsste ihn und alle Gedanken … lösten sich auf. Zusammen mit seinem Körper. Peter starb im Augenblick eines welterschütternden Orgasmus’.

„Wow!“, sagte er. Es waren keine echten Laute dabei involviert, trotzdem wusste er, dass er gehört worden war. Neben ihm befand sich ein leuchtendes Geschöpf, das sich nicht vorstellen musste. So etwas konnte ausschließlich ein Engel sein.

„Es freut mich, dass du nicht das geringste Leid empfinden musstest“, sagte der Engel freundlich. Peter beobachtete, was die Dämonin – jetzt, wo er tot war, erkannte er sie mühelos als das, was sie war – mit seinem Körper anstellte. Durchaus faszinierend! Sie durchdrang mit ihrem eigenen Leib Peters Körper, der als glitzernde Wassergestalt im Einkaufswagen lag. Einen Atemzug später richtete sie sich wieder auf. Das Wasser war verschwunden. Die Dämonin ebenfalls. Sie hatte Peters Körper geraubt und ließ den Einkaufswagen nun einfach stehen, während sie sich einen letzten Tropfen vom Kinn wischte. Vor der Videokamera, die im Laden aufgehangen war, verharrte sie kurz. Sie hob die Hand, es knallte leise. Dann verschwand sie. Kein Mensch hatte beobachtet, wie Peters Leben beendet wurde.

„Sei nicht traurig“, sagte der Engel und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich nehme dich jetzt mit in den Himmel, wo du hingehörst.“ Peters gesamtes Denken und Fühlen verdichtete sich zu einer wunderschönen leuchtenden Seelenkugel. Er war tot. Interessant, so alles in allem.

 

 

„Alles bereit?“, fragte Marcus.

„Klar doch, Chef!“, entgegneten Ananvi und Savennah im Chor. Taubrin und Ian kontrollierten die Päckchen, die sie für den Höflichkeitsbesuch sorgfältig geschnürt hatten. Yari hingegen lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend und schien kaum in der Lage, sich für einen Atemzug ruhig an einem Fleck aufzuhalten.

Verdenken konnte man ihr es nicht. Die kleine Kobolddame hatte zwei Jahre des Grauens hinter sich gebracht, in denen sie als Schuldsklavin beim Vatikan arbeiten musste. Taubrin hatte ihre Schulden übernommen, womit er automatisch zu ihrem neuen Besitzer geworden war. Nach den komplizierten Koboldgesetzen gab es drei Möglichkeiten, Yaris Status als Sklavin zu beenden: Sie musste ihre Schulden abarbeiten – selbst bei einem sehr großzügigen Gehalt würde das an die fünfzig Jahre dauern. Ihre Familie musste sie freikaufen, woran nicht zu denken war. Oder aber ihr Clan gab sie offiziell frei und ließ zu, dass Taubrin als Führer ihres verrückten eigenen Clans sie adoptierte. Das hatte er bereits mit Savennah getan, die allerdings offiziell von ihren Leuten verstoßen wurde und mittels Gargoylefluch mit Ian verbunden war.

Yaris Clan gehörte zu den Verbündeten von Taubrins ehemaliger Familie, darum durfte er ein Verhandlungsgespräch mit ihrer Führerschaft erbitten. Und ja, das alles war schrecklich kompliziert und mit aufwändigen Gesetzen, Traditionen und Tabus belegt. Marcus war froh, dass er abseits herumsitzen und dümmlich lächeln durfte, weil er bloß wenig Koboldjia verstand. Warum sie zusammen anrücken mussten, um die Freigabe einer einzelnen Kobolddame zu verhandeln, wollte er eigentlich gar nicht wissen. Er freute sich bloß für Yari. Sie war ein tapferes Ding und hatte es nicht verdient, sich als unfreie Sklavin fühlen zu müssen. Beim Gedanken daran, wie oft sie beim Vatikan missbraucht und vergewaltigt worden sein musste, weil niemand sie beschützt hatte … Grauenhaft!

„Wir sollten los“, sagte Taubrin und strich sich nervös durch den schwarzen Zottelbart. „In genau zwei Minuten ist das Treffen und ich wäre gerne kurz vorher dort.“

Yari murmelte auf Koboldjia vor sich hin, fummelte an ihrem schönen hellblauen Kleid herum, das sie sich selbst genäht hatte. Savennah fing sie ein und drückte sie an sich.

„Süße, durchatmen! Du darfst deine Eltern sehen und ihnen erhobenen Hauptes begegnen! Du bist jetzt Teil der Prophezeiung und wenn es nach Plan läuft, in wenigen Stunden bis Tagen frei von jeglicher Schuld. Danach darfst du so oft du willst deinen Eltern Geschenke bringen und niemand hat mehr das Recht, dir die Haare zu scheren oder dich in schwarze Kleider zu stecken. In Ordnung?“

Yari nickte, während sie vor Aufregung zitterte. Sie lächelte unter Tränen, unfähig, ein einziges Wort zu erwidern.

„Wenn es nur wahr wird“, brachte sie nach etlichen Sekunden hervor, so leise und heiser, dass es Marcus vor Mitleid beinahe das Herz abdrückte.

„Es wird wahr“, sagte Taubrin und ergriff ihre Hände. Ein Nicken in die Runde, ein Schnipsen. Magie erfasste sie, trug sie fort von ihrem gemütlichen Heim, hinaus in nachtdunkle Wildnis. Yaris Clan lebte in Wales, im nicht besiedelten Bereich der Steilküste. Wie es Sitte war, traf man sich erst einmal an der Oberfläche, bevor der Clanführer sie in die unterirdischen Wohnhöhlen einladen würde.

Marcus blickte zu Ian hinüber. Sein Gefährte hielt sich gut, er wirkte ruhig. Trotz der Aussicht, gleich in die Tiefen gehen zu müssen. Ein Trauma, das er wohl niemals völlig hinter sich lassen würde … Zum Glück kannte ihn jeder Kobold. Ihn und seine Geschichte als den einzigen Menschen, der jemals ohne Hilfe aus der Schuldsklaverei entfliehen konnte. Sollte er nachher eine Panikattacke bekommen, würde Marcus sich um ihn kümmern. Taubrin hatte versichert, dass keiner ihrer Gastgeber daran Anstoß nehmen würde. Teilnehmen mussten sie, man hatte sie ausdrücklich alle eingeladen.

Die Luft flimmerte, mit einem Schlag erschienen an die hundert Kobolde aus dem Nichts, dazu ein halbes Dutzend Gargoyles. Das Empfangskomitee, jeder Einzelne davon trug eine Laterne in der Hand.

„Ich grüße dich, Taubrin“, sagte ein besonders hässlicher, klapperdürrer Kobold mit einem schiefen Gesicht, das ausschließlich aus Narben und gelben Riesenzähnen zu bestehen schien. Er sprach Gälisch mit starkem walisischem Akzent. „Mein Name lautet Aubruknork.“ Sie verneigten sich gemeinschaftlich voreinander. Marcus wusste bereits, dass dieser Name so viel wie „Plattgedrückte Matschbirne“ bedeutete. Es wurden Höflichkeiten und Geschenke ausgetauscht, bis Aubruknork schließlich verkündete, dass sie nun in die Tiefen der Wohnhöhlen einkehren wollten. Es war sicherlich kein Versehen, dass sämtliche Blicke zu Ian wanderten.

„Ich freue mich darauf“, murmelte er halblaut, was deutlich erkennbar eine Lüge war. Marcus ergriff seine rechte Hand. Savennah schnappte sich seine Linke.

Einen Schnipser später fanden sie sich in einer großen Halle wieder. Fackeln erleuchteten den schier endlosen Raum taghell und es gab Tische und Bänke, die mit Sicherheit tausend Kobolden und mehr Platz bieten würden. Das war offenkundig ein Festsaal. Es war nicht eingedeckt, man würde ihnen kein Essen anbieten – das gehörte zu den hochkomplizierten Sozialregeln dieses Volkes. Eine kleine Gruppe wartete auf sie – diverse männliche und weibliche Kobolde, durchweg bereits älter. Yaris Familie. Man erkannte an ihrer Kleidung und Haltung, dass sie sehr arm sein mussten und anscheinend von der Fürsorge des Clans abhängig waren. Ananvi hatte aufgeschnappt, dass Yaris Vater ein unglückliches Händchen bei Geschäften bewiesen und dementsprechend Schulden angehäuft hatte.

„Ich hoffe, die Wahl des Versammlungsortes trifft allgemeine Zustimmung?“, fragte Aubruknork. Ian nickte. Er war verkrampft und angespannt, seine schwitzige Hand umklammerte Marcus’. Insgesamt könnte es deutlich schlimmer sein. Die warme Helligkeit, hohe Decken, keine drängende Enge durch zu viele Koboldleiber auf einmal – das Gefolge war draußen geblieben, es gab lediglich zwei Dutzend Gargoyles in der Halle, die sich rundum an Decke und Wänden verteilt hatten und Wache hielten – es half, um das Gefühl von erdrückender Beengtheit zu lindern.

„Dann lasst uns Platz nehmen. Yarishalla, du setzt dich dorthin.“ Aubruknork wies auf den Boden vor dem Tisch. Ein weiblicher Gargoyle sprang von der Decke hinab und postierte sich hinter Yari. Ihre Haltung war nicht aggressiv, verhehlte allerdings auch nicht, dass sie eine Wächterin war. Marcus und seine Gefährten nahmen auf der einen Seite eines runden Tisches platz, Yaris Familie setzte sich ihnen gegenüber.

„Mein Name ist Huffalau, ich bin Yarishallas Vater“, sagte einer der ältlichen Kobolde auf Gälisch. „Wir danken euch, dass ihr vollständig erschienen seid … Es ist uns wichtig zu verstehen, welcher Clan das ist, der unser Kind adoptieren will, und was eure Beweggründe sind.“

Taubrin hatte ihnen im Vorfeld erklärt, was hinter diesem Treffen steckte. Ein junger weiblicher Kobold war ein wertvoller Schatz, mit dem teuer gehandelt wurde – es waren allein die Frauen, die dafür sorgen konnten, dass ein Clan wuchs und gedieh, während es Aufgabe der Männer war, sie zu beschützen und zu ernähren. Auch wenn Yari eine Schuldsklavin war und Taubrin ein Vermögen für sie gegeben hatte, er würde einen weiteren Preis zahlen müssen, wollte er sie adoptieren. So sahen es die Gesetze vor. Diese Verhandlung würde darüber entscheiden, ob Yaris Familie bereit war, sie frei zu geben und was kosten würde. Der Clanführer diente dabei lediglich als Vermittler, er konnte sich nicht einmischen. Schlimmstenfalls würde der Preis zu hoch sein und die Verhandlung scheitern – dann würde Yari eine Sklavin bleiben. Damit war nicht zu rechnen, immerhin war ihre Familie derartig arm, dass sie sich so viel Stolz nicht leisten konnte.

„Mein Clan ist winzig, wie du sehen kannst, Huffalau“, erwiderte Taubrin. „Zudem bin ich im Moment noch der einzige Kobold. Es ist nicht mein Bestreben, ihn zu vergrößern. Das bedeutet, ich will Yarishalla nicht aufnehmen, damit sie möglichst viele Kinder gebiert.“

Ungläubige, äußerst verwirrte Blicke sämtlicher Kobolde war die Antwort. Lediglich Yari hielt den Kopf gesenkt und zeigte nicht, ob sie überhaupt zuhörte.

„Was ist dann dein Bestreben?“, fragte Yaris Vater.

„Wir sind eine Notgemeinschaft aus Verstoßenen. Ich bin ein Exilant. Ananvi und Savennah, die Gargoyles, wurden jeweils von ihrem Clan fortgejagt. Master Grant und Master Berkeley tragen diese Gargoyles als Fluchopfer.“

Das war inzwischen kein Geheimnis mehr und weder die Kobolde noch die anwesenden Gargoyles reagierten darauf. Marcus war dankbar dafür. Beinahe elf Jahre hatte er es als Geheimnis verbergen müssen, was ihm mehr als hart zugesetzt hatte.

„Diese Tatsache allein bedeutet für sie, eine einsame Sonderstellung in der Menschengesellschaft einnehmen zu müssen. Zudem sind sie die Auserwählten der Prophezeiung.“ Taubrin pausierte, bis ihre Gastgeber erneut vieldeutige Blicke getauscht hatten. Die Prophezeiung, ja … Der große Joker ihrer Verhandlungstaktik.

„Ich habe Yari aus Mitleid gekauft, das will ich nicht leugnen“, fuhr Taubrin nun fort. „Sie begegnete Master Grant und Master Berkeley gleich zweimal in ihrem Dienst für den Vatikan. Wir alle waren entsetzt darüber, dass man ihr die Haare geschoren und sie in schwarze – dunkelschwarze! – Kleidung gesteckt hat.“ Die Koboldin rechts neben Huffalau begann laut zu schluchzen – offenkundig Yaris Mutter. Auch der Rest der Familie wirkte recht mitgenommen. Kobolde waren emotionale Geschöpfe, sie lebten ihre Gefühle ähnlich rückhaltlos wie Kinder aus. Was nicht bedeutete, dass ihnen Berechnung und logisches Kalkül fremd war.

„Mitleid war ausreichend, um sie als Schuldsklavin zu behalten. Ich wollte sie anständig füttern und kleiden, habe ihr Haar wachsen lassen und ihr Aufgaben in unserem gemeinschaftlichen Haushalt zugewiesen. Das Gehalt, das ich als angemessen für ihre Dienste empfand, sollte garantieren, dass sie innerhalb von neunundsiebzig Jahren frei kommen kann.“

„Ein großzügiges Gehalt“, erwiderte Huffalau. „Der Vatikan hätte sie erst nach hundertzwanzig Jahren frei gegeben.“

„Ich weiß. Dann hätte Yari allerdings das hundertfünfzigste Lebensjahr überschritten und wäre zu alt, um sich noch an ihrer Freiheit erfreuen zu können.“

„Fahre fort“, mischte Aubruknork sich ein. „Du sagtest, es wäre eine Tat aus Mitleid gewesen, sie zu kaufen. Was bewegt dich, sie nun adoptieren zu wollen, wenn es nicht darum geht, mit ihr Nachwuchs zu zeugen?“

„Mein Clan trägt die Last der Prophezeiung“, erwiderte Taubrin. „In meinem Fall war es eine Entscheidung, die ich traf, als ich noch nichts von dieser Tatsache wusste. Bereut habe ich es nicht … Die anderen wurden gegen ihren Willen mit hineingezogen und können sich der Pflicht nicht entziehen. Zunächst hatte ich geplant, eine testamentarische Vereinbarung zu treffen, damit Yari für den Fall, dass die Prophezeiung mein Leben fordert und auch die anderen mit ihr als einzige Ausnahme nicht verschont, gut versorgt ist und nicht an den Vatikan zurückfällt. Dann aber bewies sie, was in ihr steckt. Sie ist einem Feuerdrachen freiwillig und aufrecht entgegengetreten, um ihn von seinen Fluchungeziefer zu befreien.“

Allgemeines Raunen und Tuscheln – Kobolde waren für ihre ausgeprägte Feigheit berühmt. Normalerweise fielen sie beim Anblick eines Drachen oder ähnlichen Monstern in Ohnmacht und nannten das Gnade. Wenigstens spürte man in diesem Zustand nicht, wenn man gefressen wurde.

„Ist das die Wahrheit?“, hakte Aubruknork nach. Taubrin erhob sich, legte feierlich beide Hände auf das Herz und stieß einen Schwall Wörter auf Koboldjia hervor, der selbst den Gargoyles Tränen in die Augen trieb.

„Außerdem hat Yari im Kampf gegen den Gra’umphilim Tarakh höchsten Mut bewiesen und verhindert, dass Savennah schwer verletzt oder vielleicht sogar verstümmelt wurde. Da war Drachenspeichel im Spiel …“

Weiteres Raunen und Tuscheln.

„Danach war ich mir sicher, dass diese Kobolddame eine mehr als wertvolle Bereicherung für den Clan ist. Ihr Status als Sklavin wäre dabei eher hinderlich, da unsere kleine Gemeinschaft solche Hierarchiegefälle nicht gut verkraftet. Yaris Fähigkeiten werden sich erst dann voll entfalten, wenn sie ein eigenständiges und freies Mitglied des Clans sein kann. Darum sind wir hier.“

„Ich denke, wir haben verstanden.“ Huffalau verneigte sich in Taubrins Richtung. „Ich möchte mich nun mit meiner Familie beraten.“

Aubruknork bat sie mit einer Geste aufzustehen und führte sie ans andere Ende Saals, damit nicht einmal Ananvi und Savennah erlauschen konnten, was die Kobolde zu besprechen hatten. Es lief alles sehr viel zivilisierter ab, als Marcus befürchtet hatte. Menschen gegenüber gaben sich die Kurzen gerne wie hyperaktive Äffchen auf Speed. Da Ian und er diesmal nur zur Dekoration dabei waren, war eine solche Show offenkundig nicht notwendig.

„Wie läuft es inzwischen?“, fragte der Clanführer an niemanden bestimmten gewandt. Es stand außer Frage, dass er die Prophezeiung meinte.

„Vor zwei Wochen haben wir Tarakh besiegt. Seitdem hat sich noch kein neues Erzdämonenkind offenbart“, erwiderte Ian. „Es war kein leichter Kampf“, fügte er leiser hinzu.

„Ihr seid weiter gekommen, als euch irgendjemand zugetraut hätte. Eis, Feuer, Stein und Erz sind erledigt. Es bleiben Erde, Wasser, Luft und Kristall. Wobei sich Karm als Kind der Erde bereits enttarnt hatte.“ Aubruknork nickte gewichtig. Er war als Clanführer tatsächlich eine Überraschung. Bislang war Marcus davon ausgegangen, dass sich die stärksten, dümmsten und widerlichsten Vertreter ihrer Art durchsetzten und mittels Terror regierten. Das traf für jene Clans, die sich in und um London angesiedelt hatten, jedenfalls durchgängig zu. Yaris Clan siedelte im Nirgendwo, hier brauchte ein Anführer mehr und bessere Qualitäten, wie es schien, um Vermögen anzuhäufen und seine Leute zu ernähren.

„Wir haben uns entschieden!“, rief Huffalau in diesem Moment. Sie kehrten zum Tisch zurück und nahmen wieder Platz.

„Mein Name ist Ibalilis“, sagte Yaris Mutter und erhob sich. „Ich werde sprechen.“ Sie nickte in die Runde. „Es war schmerzlich, meine Tochter in die Schuldsklaverei zu schicken. Was sie in den letzten zwei Jahren ertragen musste …“ Sie begann zu weinen. Marcus schielte über die Schulter, als auch hinter ihm Schluchzen laut wurde – Yari hatte sich den bunten Schal über das Gesicht gezogen, den Taubrin ihr geschenkt hatte, und weinte jämmerlich. „Sie hätte kaum eine Chance gehabt, wieder frei zu kommen. Hundertzwanzig Jahre als Sklavin des Vatikans hätte sie nicht überlebt. Ich danke darum dir, Taubrin, für dein Mitleid. Deinem Anliegen, sie zu adoptieren, werden wir stattgeben. Yari hätte in deinen Diensten ehrenhaft arbeiten und leben können. Sie als Kämpferin für die Prophezeiung frei zu geben … Ich hätte nicht gedacht, dass sie so viel Kraft in sich hat. Als Mutter fürchte ich um ihr Leben. Als Koboldin bin ich stolz, sie deinem Clan zu überlassen. Frei und stark.“

„Wir sind arm“, sagte Huffalau, sobald sich seine Gefährtin wieder gesetzt hatte. „Wir könnten astronomische Forderungen stellen, um uns zu bereichern. Doch wir haben auch unseren Stolz – was letztendlich die Schuld war, warum wir uns verschuldet haben. Yarishallas Clan soll nicht finanziell daran zugrunde gehen, für ihre Freiheit gezahlt zu haben. Es würde euch zudem im Kampf gegen die Prophezeiung schwächen. Statt einer einzelnen hohen Summe fordern wir eine monatliche Zahlung, solange Yarishalla und mindestens ein Mitglied ihrer Geburtsfamilie lebt.“

Taubrin wirkte bei diesen Worten fassungslos. Anscheinend war das, was hier gerade geschah, vollkommen unüblich für Kobolde. Auch Aubruknork schien sehr überrascht.

„Wir fordern pro Monat eine Lieferung an Lebensmitteln, die ausreicht, um alle Mitglieder dieser Familie zu ernähren“, fuhr Huffalau fort. „Die Art und Qualität der Lebensmittel sei euch überlassen. Sofern es möglich ist, wäre es zu bevorzugen, dass Yari die Lieferung überbringt. Die erste Ladung erwarten wir morgen, sollten wir uns einigen, danach zu jedem Vollmond.“ Womit sie auf dreizehn statt zwölf Lieferungen pro Jahr kämen. Gänzlich hatten sie also nicht vergessen, was einen tugendhaften Kobold ausmachte. „Wir erwarten nun euren Widerspruch.“

Taubrin hatte erklärt, dass Koboldverhandlungen oft genug über Tage und Wochen geführt wurden, mit endlosem Feilschen und Kampf um das letzte Pfefferkorn, bis man eher aus Erschöpfung als Einsicht aufgab und sich auf das einigte, was noch übrig geblieben war. Seine Hoffnung war gewesen, dass Huffalau schneller als üblich einknickte, weil seine Position schwach war.

„Was sagt ihr?“ Taubrin blickte jedem von ihnen ins Gesicht. Sie nickten ihm der Reihe nach zu. Es war sein Geld und ja, es waren absurde Gesetze, dass Yaris Schuld dadurch in Luft aufgelöst wurde, dass man sie ihrer Familie abkaufte. Die Forderung war sehr niedrig angesetzt. Sieben Kobolde galt es zu ernähren, das war ohne zu großen Aufwand zu schaffen.

„Mein Gegenvorschlag“, sagte Taubrin. „Ihr erhaltet dreizehn Monatslieferungen an Lebensmitteln. Außerdem biete ich dir, Huffalau, einen Posten im Verwaltungsbüro einer meiner Konzerne.“ Ehrliche Arbeit war etwas, mit dem sich Kobolde sehr schwer taten. Mindestens fünfundneunzig Prozent aller Mitglieder dieses Volkes wären nun entsetzlich empört. Huffalau hatte allerdings durchblicken lassen, dass er sich aufgrund von Ehrlichkeit überschuldet hatte. Es besaß nun einmal nicht jeder die notwendigen Qualitäten, um ein angesehener Kobold zu sein … Taubrins Angebot würde ihm erlauben, sich ein bescheidenes Einkommen zu sichern, mit dem er seine Familie selbst ernähren könnte.

Eine ermüdende Feilscherei um Details begann. Huffalau wollte genau festlegen, was er verdienen würde, was geschah, sollte Taubrin sterben oder der Konzern in Konkurs gehen und vieles mehr. Marcus klinkte sich geistig aus und döste vor sich hin. Auf der Arbeit war im Moment wieder sehr wenig los. Sämtliche Übernatürliche lauerten auf das Erscheinen des nächsten Erzdämonenkindes, statt irgendwelche Verbrechen zu begehen. Ian und er hatten die Ruhe genutzt zu heilen, mit ihren Spezialwaffen zu üben, sich zu lieben … Sogar einen Nachmittagsspaziergang durch den Hyde Park hatten sie sich gegönnt. Mit Eiscreme. Ian hatte ihm tags zuvor gebeichtet, dass er seit Jahren kein Eis mehr gegessen hatte und es gar keinen Grund dafür gab. Es hatte über das schlechte Gewissen hinweggeholfen, dass sie tatsächlich ihre Zeit mit Nichtstun verplempert hatten. Das Gefühl von Bedrohung überspielt, weil schließlich jederzeit ein Erzdämonenkind hinter dem nächstbesten Strauch hätte hervorspringen können. Sie hatten das wiederholen wollen, doch leider regnete es seitdem. Seit drei Tagen, mit wenigen Pausen.

Ihre Verbündeten, die nach Anzeichen von Schwankungen im magischen Feld suchten, hielten sich noch bedeckt, aber Marcus und Ian waren sich einig: Ihr nächster Gegner dürfte mit größter Wahrscheinlichkeit dem Element Wasser angehören. Die Liste an dämonisch-legendären Monstern und Mythen in diesem Bereich war endlos. Was sie letztendlich erwarten würde, sollte sich wohl bald zeigen.

„Damit sind wir uns einig.“ Taubrins Worte brachten Marcus zurück in die Gegenwart. Er und Huffalau schüttelten einander die Hände, während Aubruknork gerade ein ellenlanges Dokument zusammenrollte. Vermutlich die Adoptionsurkunde für Yari. Die durfte nun aufstehen und fiel unter glückseligem Geheul jedem Mitglied ihrer beiden Familien um den Hals. Hände wurden geschüttelt, einige feierliche Abschiedsworte gesprochen. Dann endlich brachte Taubrin sie zurück nach Hause. Geschafft! In lediglich vier Stunden hatten sie die Verhandlungen durchgeboxt.

„Normalerweise würde ich bis morgen Nacht mit dem Aufnahmeritual warten“, sagte Taubrin. „In Anbetracht der Tatsache, dass sich der neue Feind bis dahin bereits enttarnt haben könnte, und Master Grant nicht mehr viel Schlaf benötigt, würde ich es lieber sofort vollziehen.“ Er blickte Yari fragend an, die vorsichtig nickte. Wahrscheinlich würde es noch eine ganze Weile dauern, bis sie tatsächlich verinnerlicht hatte, nicht mehr länger eine recht- und meinungslose Sklavin zu sein, die das tat, was man ihr befahl.

„Durch die Eile werden wir auch diesmal das Ritual abkürzen müssen, was unendlich traurig ist“, murmelte Taubrin. „Andernfalls schaffen wir es leider nicht vor Sonnenaufgang.“

„Egal, Kumpel. Hau rein! Lass uns die Süße endlich zu einer von uns machen“, rief Ananvi munter. „Savennah und ich hatten schon was vorbereitet. Während du den Ritualtamtam machst, können wir anderen Torte essen, hm?“ Savennah verschwand durch die Mauer, um wenige Augenblicke später mit einer siebenstöckigen Sahnetorte zurückzukehren. Taubrin wirkte etwas eingeschnappt. Eigentlich war er der Chefkoch des Hauses und er schätzte es gar nicht, wenn sich andere in seiner Küche austobten. Doch als Savennah zu gurren begann, dass sie eines seiner Rezepte genommen hatte und wie sehr sie ihn für seine diversen Talente bewunderte, entspannte er sich wieder.

„Torte ist sicherlich eine gute Idee“, murmelte er gnädig.

Ein Punkt, dem sie alle vorbehaltlos zustimmen konnten.

 

 

 

„… schmeckt wirklich lecker.“

Ian schmunzelte in sich hinein. Auch mit Gargoyleunterstützung war es ihnen nicht gelungen, die Riesentorte zu bewältigen – Yari war zu aufgeregt, um mehr als einen winzigen Krümel essen zu können, Taubrin war noch viel aufgeregter, weil die Adoption tatsächlich problemlos verlaufen war. Marcus aß sowieso nur zwei Mal die Woche wirklich etwas und er selbst verlor auch immer mehr an Appetit. Sein Körper stellte sich mit jeden Tag besser darauf ein, dass er nun einen Gargoyle in sich trug. Diese Nacht hatte er gar nicht geschlafen und dennoch fühlte er sich fit und ausgeruht. In der Nacht davor waren es keine zwei Stunden gewesen.

Von der schönen Torte hatte er gerade einmal ein Viertelstück geschafft. Im Augenblick beobachtete er Marcus dabei, wie er Hector zu verführen versuchte. Alle anderen Kollegen futterten bereits glücklich, während ihr Abteilungsleiter mal wieder erfolglos mit den Diätplänen seiner Frau kämpfte.

„Verdammich! Ich kann jetzt keine Sahnetorte essen. Danach habe ich für den Rest des Tages keine Kalorien mehr!“

„Ach was“, rief Marcus. „Iss deine Möhrchen zum Nachtisch, woher soll deine Frau wissen, ob du gesündigt hast? Deine Diäten schlagen sowieso nie an.“

Barney, ihr jüngster Kollege, nahm sich gerade das dritte Stück und wirkte dabei rundum glücklich. Der Junge war eine entsetzliche Nervensäge. Er quasselte, als gäbe es für ihn keine Möglichkeit, wortlos zu atmen, er kannte keine Distanz, war chronisch gut gelaunt und schien viel zu naiv, oberflächlich und niedlich für diesen Job. Aber dann überraschte er eben doch mit klugen Sätzen, vernünftigen Taten und Hilfsbereitschaft. Er hatte ihnen geholfen, Tarakh zu besiegen – seinen eigenen Vorfahren, dem er schwache Hexenkräfte verdankte. Dieses Geheimnis hatten sie nicht verraten. Es hatte die generelle Anhänglichkeit Barneys ihnen gegenüber leider eher erhöht.

Ian sah neidisch zu, wie der junge Mann sich ein viertes Stück holte. Unmittelbar nach dem Fluchritual, das ihn mit Savennah verbunden hatte, war sein Appetit derartig maßlos übersteigert gewesen, dass er innerhalb von fünf Minuten die gesamte Riesentorte allein hätte verputzen können. Und jetzt? Er sehnte sich danach, eine einzige Gabel voll mit Genuss essen zu dürfen, denn ja, das Ding war wirklich extrem lecker. Stattdessen fühlte er sich so satt, dass er nicht einmal eine Fingerkuppe voll Sahnecreme stibitzen könnte.

„Tut mir echt leid, Schnuffel“, sagte Savennah. „Ist total schade, ich weiß das. Aber hey, dafür halte ich dich jung, gesund und voller Manneskraft. Wenn dich die Prophezeiung nicht hinwegrafft, kannst du noch in hundert Jahren mit Marcus durch die Laken rollen.“

Es gäbe einiges, was man darauf erwidern könnte. In diesem Moment klingelte allerdings Marcus’ Telefon. Es war Nicholson, ihr Vertrauter beim Scotland Yard.

„Hey, Berkley, hättest du Zeit, mal kurz rüberzukommen?“

„Natürlich“, erwiderte Marcus. „Für dich habe ich immer Zeit. Habt ihr einen unklaren Mordfall?“

„Das jetzt nicht … Ich erkläre es dir und deinem Partner, wenn ihr hier seid, okay?“

 

 

Ian hasste es, das Scotland Yard zu betreten. Es war jedes Mal ein Spießrutenlauf mit skeptischen bis höhnischen Blicken und Kommentaren, die kumpelhaft klangen und tatsächlich beleidigend waren. Die Kollegen dort sahen sie nicht als gleichwertig an und behandelten sie entsprechend. Vor allem Marcus durfte einiges an sich abperlen lassen, da er häufiger mediale Aufmerksamkeit genoss.

Diesmal blieb es seltsam still. Sie wurden mit Kopfnicken oder kurzen Floskeln begrüßt. Keine seltsamen Kommentare, kein Schulterklopfen. Auch Nicholson reagierte knapp auf ihre Ankunft und bat sie sofort in ein leeres Besprechungszimmer.

„Ist jemand gestorben?“, fragte Marcus und wies hinter sich. „Das war Miranda, die mich da gerade schweigend angestarrt hat. Das Weib hat noch keine Gelegenheit ausgelassen, mir meine Minderwertigkeit zu verkünden.“

„Es sind zu viele gestorben, das ist das Problem“, erwiderte Nicholson grimmig. „Kaffee?“

„Nein danke“, sagten Ian und Marcus im Chor.

„Wir vom Yard machen gerne unsere Witze über das LPSC, keine Frage. Nicht, weil wir euch wirklich verachten würden, sondern weil wir uns bei dem Gedanken in die Hose scheißen, gegen wild gewordene Dämonen antreten zu müssen und heilfroh sind, dass es Spinner gibt, die diesen Job freiwillig übernehmen. Was in den letzten Monaten abgelaufen ist … Wir haben versucht, es zu ignorieren. Danach haben wir versucht, es zu begreifen. Und inzwischen versuchen die meisten von uns dahinter zu kommen, ob es nicht besser wäre, einen Versetzungsantrag nach Schottland zu stellen.“ Er setzte sich seufzend an den Tisch, auf dem eine Menge alter Zeitungen herumlagen. Riesige Fotos mit noch riesigeren Schlagzeilen schrien Mord und Brand:

Basilisk am Flughafen! Gargoylehorde verwüstet historisches Stadtviertel! Wetter spielt verrückt – Erdbeeren im Winter! Mord in Vatikan-Außenstelle: Monsignore tot! Erdbeben erschüttert London, Zahl der Toten und Verletzten steigt stündlich! Engel soll für Chaos verantwortlich sein!

„Was ist los?“, fragte Nicholson. „Was ist mit dem Warlington-Abkommen geschehen? Warum wüten so viele verschiedene Dämonen durch London? Warum immer nur in London? Wieso spielt das Wetter ständig verrückt? Es regnet jetzt seit drei Tagen ohne Unterbrechung. Ohne Gewitter wie vor zwei Wochen, das ist nett, aber das viele Wasser sorgt trotzdem für erste lokale Überschwemmungen. Womit müssen wir diesmal rechnen? Und sagt jetzt nicht, es wäre alles in Ordnung oder ihr hättet keine Ahnung! Bei all den Katastrophen, seit dieser Yeti Anfang des Jahres aufgetaucht ist, wart ihr zwei die einzige Konstante!“

Ian und Marcus starrten einander an. Sie hatten erst beim Kampf gegen Tarakh ihr eigenes Team eingeweiht, was es mit der Prophezeiung auf sich hatte. Groshphank hatte gesagt, dass sie nur überleben konnten, wenn sie so viele Verbündete wie möglich um sich scharten. Trotzdem war es fraglich, ob es sinnvoll war, auch Nicholson über sämtliche Details zu informieren.

„Ich … muss um den heißen Brei herumtanzen“, sagte Marcus schließlich. „Ian und ich sind der Mittelpunkt einer im wahrsten Sinne des Wortes höllischen Angelegenheit. Das ist nicht unser Verschulden, wir haben jetzt nicht mit den falschen Artefakten gespielt oder irgendein Monster aktiv beschworen, das besser für immer vergessen worden wäre. Was hier seit einiger Zeit abläuft, liegt außerhalb unserer Kontrolle. Wir geben unser Bestes, um die Opferzahlen unschuldiger Menschen wie auch Übernatürlicher möglichst gering zu halten. Fakt ist: Es ist noch nicht vorbei. Und ja, der Dauerregen ist der Vorbote dafür, dass da bald wieder etwas auf uns zukommt. Wir wissen noch nicht, welches dämonische Monster es diesmal sein wird.“

„Wird es schlimmer als der Basilisk?“, fragte Nicholson sachlich.

„Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Es tut mir wahnsinnig leid. Wir werden von vielen Übernatürlichen unterstützt, aber weder Kobolde noch Gargoyles oder Vampire konnten bislang herausfinden, was uns die Hölle diesmal vor die Füße spucken wird. Das mit den Gewittern neulich war übrigens ein Kriegszwerg. Klingt niedlich, war allerdings deutlich schlimmer als der Basilisk.“

„Okay.“ Nicholson wischte sich müde über das Gesicht. Er wirkte entsetzlich frustriert, was Ian absolut nachvollziehen konnte. Es war unter anderem seine Abteilung, die sich um die vielen normalsterblichen Toten kümmern musste. Die Feuerwehr von London kam mit dem Aufräumen nicht hinterher, obwohl die Übernatürlichen mittlerweile kräftig mit anpackten.

„Vielleicht hilft es euch, dass wir einen immensen Anstieg an Vermisstenanzeigen zu verzeichnen haben“, sagte Nicholson langsam. „Wie es scheint, ist es gerade eine schlechte Idee, männlich, weiß und Anfang dreißig zu sein. Fünfzehn Anzeigen allein in den letzten zwei Tagen. Es werden keine Leichen gefunden, es gibt keinerlei DNA-Spuren oder sonstige Hinweise. Mit einer Ausnahme: Die Männer verschwinden praktisch immer in der Öffentlichkeit und jedes Mal gibt es einen Ausfall sämtlicher Videokameras in der Umgebung. Das schreit noch nicht nach Dämon, Dämon! – Ist aber in meinen Augen trotzdem verdächtig. Außerdem wurden bizarr viele Diebstähle von Skulpturen gemeldet.“

„Statuen?“, hakte Marcus verblüfft nach.

„In sämtlichen Größen. Sie alle gehören im weitesten Sinne zum Thema Wasser – Meerjungfrauen, Tritonen, Riesenkraken, Hippocampi. Also vorne Pferd, hinten Fisch, die heißen Hippocampus, richtig?“

Ian und Marcus nickten. Das waren beunruhigende Neuigkeiten. Warum sollte ihr neuer Feind Statuen stehlen? Es war nicht davon auszugehen, dass er über die Fähigkeit verfügte, Stein zum Leben zu erwecken … Falls doch, was war noch von ihm zu erwarten?

„Okay, ich merke, ihr könnt oder dürft nicht mit der Sprache raus“, murmelte Nicholson, als sie sich einige Minuten lang angeschwiegen hatten. „Was können wir tun, um euch zu helfen? Und was könnt ihr mir mit auf den Weg geben?“

„Haltet weiter die Augen offen“, sagte Marcus langsam. „Diese jungen Männer, die massenhaft verschwinden, sind kein gutes Zeichen. Was eine Versetzung nach Schottland angeht – da wäre es vielleicht für den Augenblick ruhiger. Sollten Ian und ich allerdings draufgehen, ist man in Schottland auch nicht mehr sicherer als in London. Neuseeland wäre ebenfalls keine Alternative. Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ich versuche es zu vermeiden.“ Nicholson stand auf und streckte ihnen die Hand entgegen. „Passt auf euch auf, Jungs. Bleibt schön am Leben, in Ordnung?“

„Das ist der Plan.“

Sie verabschiedeten sich und kehrten zum LPSC zurück.

„Hector, hättest du etwas dagegen, wenn wir unsere Kobolde kommen lassen?“, fragte Ian leise.

„Grundsätzlich nicht“, erwiderte ihr Chef alarmiert. „Was ist der Plan?“

„Brainstorming. Mit Groshphank unten im Archiv, wo wir ungestört sind. Nicholson hatte nichts Konkretes in dem Sinne, dass es keine Leichen für uns gibt; aber wir warten alle, dass sich das nächste Monster enttarnt.“

„Was ist der schlimmste Fall, den ihr im Sinn habt?“

„Die Griechen haben eine unendliche Vielfalt an Göttern, Mischwesen und Sonstiges, die in Verbindung mit Meer und Wasser stehen. Der Wichtigste von ihnen ist der Meeresgott Poseidon, an Macht dem Zeus praktisch gleichwertig. Er hat die volle Gewalt über das Wasser, soll Erdbeben erzeugen und auch Blitze kontrollieren können, ist der Herr über alle Pferde und Pferdeartigen, der Vater des Pegasus und, und, und. Sollte der nun keine Sagengestalt gewesen sein …“ Ian grübelte kurz. War der Pegasus nicht angeblich aus dem Blut der erschlagenen Medusa entstanden? Griechische Mythologie war verwirrend und anstrengend.

„Verschwindet. Ich regle die Besuchserlaubnis für Taubrin und euren Neuerwerb“, knurrte Hektor.

„Ihr Name ist Yari“, sagten Marcus und Ian gleichzeitig.

„Fein. Macht euch vom Acker und kommt erst wieder, wenn ihr mir schwören könnt, dass kein zigtausende Jahre alter Meeresgott auf uns zukommt, verstanden?“

Hoffentlich würden sie ihn da nicht enttäuschen müssen …

 

 

„Kaaaaaalt!“, schrie Groshphank, kaum dass Marcus ihn beschworen hatte. „Kalt, kalt, eisig kalt. Euer neuer Feind ist definitiv nicht Poseidon. Nicht mal in irgendeinem verkappten, verquirlten, total verhunzten mythologischen Sinn.“

„Das – ähm – freut uns immens“, erwiderte Ian. „Wer ist es denn dann?“

„Nun mal nicht so flott. Ich muss doch erst einmal die neue Dame im Team begrüßen, bei meinem letzten Besuch war sie leider ohnmächtig. Meine Liebe, selten hab ich so viel natürlich gewachsene Hässlichkeit erblicken dürfen. Ich möchte mir die Augäpfel auskratzen, und ob mein kleines Herz das überhaupt erträgt …“ Der Winzling verneigte sich vor Yari, die geschmeichelt zu strahlen begann. Um die Wahrheit zu sagen, war Yari eher unscheinbar als hässlich, aber wie jede Frau für Komplimente sehr empfänglich – und was ein Kompliment war, darüber konnte man lange diskutieren. Die Wirkung blieb jedenfalls nicht aus, Yari entspannte sich deutlich. Zuvor hatte sie sich ängstlich an Taubrins Arm geklammert; offenbar hatte sie keine guten Erfahrungen mit düsteren Räumlichkeiten, in denen Dämonen beschworen wurden.

„Das ist richtig, Marcus. Die arme Yari musste im Vatikan neben den Katakomben nächtigen. Dort, wo ein paar niedere Dämonen zu Versuchszwecken eingesperrt sind. Alle paar Wochen entkommt einer davon und randaliert herum. Tatsächlich entfliehen können die nicht, weil das gesamte Gelände mit Runen vermint und gepflastert ist. Türen und Wände einschlagen und arme Kobolde in Fetzen reißen, die winselnd dahinter kauern, das geht hingegen immer. Yari musste mehr als einmal die traurigen Überreste zusammenfegen.Nun denn. Taubrin, mein Gutester! Was hast du da Schönes für mich?“

Groshphank sprang aus dem Stand drei Meter weit und landete auf Taubrins Schulter. Der hielt ein Tablett mit Leckereien in den Händen, das er nun vorsichtig auf dem Boden abstellte.

„Ihr schuldet mir sowieso noch ein Essen“, nuschelte der prächtigste aller Wissensdämonen undeutlich, während er sich glückselig durch eine Schokoladentorte mit viel Sahne futterte.

„Das haben wir nicht vergessen, keine Sorge“, erwiderte Ian. „Vielleicht verabreden wir gleich einen Termin?“

„Heute Abend wäre gut. Da habt ihr aller Wahrscheinlichkeit nach noch keinen Stress mit eurer nächsten Feindin. Denn ja, es ist eine holde Dame. Und was für eine.“

Marcus schluckte heftig und auch Ian wurde schlagartig sehr still. Bei sozial organisierten Dämonenarten wie Kobolden oder Gargoyles waren die weiblichen Mitglieder meistens gleichberechtigt oder sogar höherwertig, wie bei den Vampiren. Bei den Einzelkämpfern hingegen … Was die Damen an körperlicher Kraft vermissten, glichen sie mit Intelligenz, Heimtücke und Skrupellosigkeit aus. Die Gorgone war schlimmer als Rovhar gewesen und letztendlich wesentlich schrecklicher als Tarakh. Ein weiterer weiblicher Feind stand nicht allzu hoch auf Marcus’ Favoritenliste …

Leider hatten sie keine Wahl.

„Stimmt es denn, dass sie zum Element Wasser gehört?“, fragte Ian.

„Yep. Plitschplatschpladdernass. Das bisschen Regen ist erst der Anfang.“ Groshphank klatschte in die winzigen Pranken, sodass Schokolade und Sahne in alle Richtungen spritzte.

Marcus wischte einen der Spritzer von Ians Wange und leckte sich gedankenverloren den Finger ab.

„Was haben die Griechen denn an Mythologie zu liefern?“, fragte er. „Mir fallen spontan jede Menge Wassernymphen ein, sowie Charybdis und Skylla, die Meeresungeheuer aus der Odyssee, die so gerne Schiffe verschlingen.“

„Kalt, kalt, kalt.“ Groshphank plumpste auf seinen Hintern, umfasste mit den Klauen seine Fußsohlen und hüpfte mit durchgedrückten Knien auf dem Po im Kreis herum. Dabei grinste er, das man jedes einzelne seiner nadelspitzen Zähnchen blitzen sehen konnte.

„Die Nereiden wären da noch, die weitestgehend Meerjungfrauen darstellen“, murmelte Taubrin, der für einen Kobold extrem belesen und gelehrt war – Professor Kamulenkow hatte in dieser Hinsicht gut abgefärbt.

„Keine Nereiden.“ Groshphank schnappte sich eine Handvoll winziger Muffins.

„Aber keine Sirene, oder?“, rief Ian alarmiert. Eine Dämonin mit Verführerstimme wäre tatsächlich nicht angenehm …

„Nein, nein, nein.“ Groshphank hatte entschieden zu viel Spaß. Der Mini machte sich inzwischen über eine Schüssel mit Obstquark her – mit einem klitzekleinen Löffel, der genau in seine Klaue passte.

„Aphrodite würde mir noch einfallen. Die Göttin der Schönheit ist dem Meer entstiegen“, sagte Taubrin.

„Was ist den Personifikationen? Zum Beispiel die Flüsse in der Unterwelt“, fiel Marcus ein. „Styx zum Beispiel, die war doch auf jeden Fall personifiziert.“

„Yupp. Die einen sagen, ihre Eltern waren Okeanos und Thetys – der Vater aller Meere und Flüsse und die titanische Meeresgöttin. Die anderen meinen, sie wurde von Nyx und Erebos gezeugt. Also die personifizierte Nacht und die personifizierte Finsternis.“ Groshphank rülpste laut. „Alles Mumpitz, genau wie das Ding mit der Aphrodite. Was schade ist. Ich fände es toll, wenn die Nacht und die Finsternis eine so richtig abgefahrene Flussfrau … Lassen wir das. Seid froh, dass euch nicht das wandelnde Wasser des Grauens begegnet. Oder ihre Schwester Lethe, die Vergessen verursacht.“

„Lässt du uns jetzt noch bis in alle Ewigkeit weiterraten?“, fragte Marcus ungnädig.

„Ich kann es euch mal wieder nicht sagen. Es würde euch schaden, glaub mir. So viel darf ich allerdings verraten: Eure Feindin ist superheftig gefährlich. Und ja, sie ist für die verschwundenen Männer verantwortlich. Und nein, sie ist kein Monster der griechischen Mythologie. Tatsächlich stammt sie aus noch viel, viel älteren Überlieferungen.“

„Wenn du heute Abend ein fettes Menü abstauben willst, solltest du dich noch ein bisschen mehr anstrengen“, sagte Ian. Sein Grinsen verriet, dass er das nicht wirklich ehrlich meinte.

Groshphank griff sich in einer höchst dramatischen Geste ans Herz.

„O weh mir, weh! Ich werde nicht um meiner selbst willen geliebt! Alles was ihr von mir wollt, ist mein Wissen!

---ENDE DER LESEPROBE---