Code 0-37 - Sonja Amatis - E-Book

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Sonja Amatis

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Beschreibung

Das London von heute – in einer parallelen Welt Marcus und Ian hatten noch keine Gelegenheit, sich von den Attacken der Feuerdryade zu erholen, als es schon wieder ungemütlich wird. Seltsame Morde geschehen. Der Hauptverdächtige ist Taubrin. Und das ist noch lange nicht die schockierendste Nachricht … Ca. 54.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 280 Seiten.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Dies ist der 3. Teil der fortlaufenden Serie „Code 0-37“.

Teil 1 trägt den Titel „Auf Eis gelegt“, Teil 2 „Aus Feuer geboren“.

Auch wenn jeder Teil in sich geschlossen sein wird, ist es zum besseren Verständnis sinnvoll, die Bücher der Reihe nach zu lesen.

 

 

Der 3. Teil der Reihe!

Das London von heute – in einer parallelen Welt

Marcus und Ian hatten noch keine Gelegenheit, sich von den Attacken der Feuerdryade zu erholen, als es schon wieder ungemütlich wird. Seltsame Morde geschehen. Der Hauptverdächtige ist Taubrin. Und das ist noch lange nicht die schockierendste Nachricht …

Ca. 54.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 280 Seiten.

 

 

 

 

 

 

Pfeifend sortierte Marcus die Tagespost. Es war ruhig im Büro. Zu ruhig. Er war allein, abgesehen von Willowby im Nebenraum, den man sowieso nie zu Gesicht bekam. Aus irgendeinem Grund waren alle gleichzeitig irgendwohin unterwegs – Archiv, Tatort, Pathologie, Übersetzungsbüro. Der Alltag war ins LPSC zurückgekehrt, nachdem die gesamte übernatürliche Bevölkerung Londons für einige Wochen absoluten Frieden gehalten hatte. Das hatte an den finsteren Omen gelegen, die mit dem Erwachen der Feuerdryade einhergegangen waren. Jetzt tobten sich die Höllengeschöpfe wieder aus und mussten einiges an aufgestauten Energien loswerden. Das hatte auch Ian schmerzhaft zu spüren bekommen …

Gleich würde Marcus ins Krankenhaus fahren. Das lohnte sich im Moment, denn nicht nur Ian lag stationär. Zuvor wollte er mit der Post fertig werden. Die Berichte und Einsatzprotokolle würde er heute Nacht schreiben. Selbstverständlich mit seinem schönen goldbesetzten Füller. Dann hatte Hector, sein Teamchef, wenigstens einen echten Grund, sich über ihn zu ärgern. Im Moment war der Gute kaum ansprechbar. Das lag ein bisschen daran, dass seine Frau ihn mal wieder auf Diät gesetzt hatte – gefühlt die tausendfünfundneunzigste – vor allem aber war es der Verlust von Hannah, der kaum zu ertragen war. Es wäre dumm, sich etwas vorzumachen und zu behaupten, dass es keinen Unterschied machte, ob ein männlicher oder weiblicher Kollege im Einsatz starb. Absolut entsetzlich war beides, keine Frage. Doch tief im genetischen Unterbewusstsein war einprogrammiert, dass Männer Frauen beschützen mussten. Dass die Weibchen in der sicheren Höhle blieben und die Jungbrut beschützte, damit die Menschheit nicht ausstarb, während die Männchen Mammuts jagen gingen und mit Stöcken und Steinen gegen Säbelzahnkatzen kämpften.

Zehntausende Jahre Evolution, einige Jahrzehnte Emanzipation, Gleichberechtigungsbeauftragte, starke Vorbilder von Seiten der Übernatürlichen, die häufig matriarchalisch ausgerichtet waren – nichts davon genügte, um diese Programmierung auszulöschen. Zudem war Hannah die zweite Frau im Team, die sie innerhalb kurzer Zeit verloren hatten. Ian war zu ihnen gekommen, um Gloria zu ersetzen, die einem Ghoulbiss erlegen war. Dass Hannah der absolute Sonnenschein in ihrem Team gewesen war, praktisch die Glücksbotschafterin, die selbst in finstersten Zeiten noch positive Aspekte finden konnte, half da kein bisschen weiter …

Sie hatten Hannah gerade erst beerdigt. Die Ausschreibung lief, bislang hatte sich seines Wissens nach noch niemand gemeldet, der versuchen wollte, die Lücke zu füllen, die sie hinterlassen hatte. Wobei Hector und Willowby sich dabei nie in die Karten schauen ließen.

Marcus hörte zu pfeifen auf, als er einen großen, schweren Umschlag in die Hände nahm. Er war auf Gälisch an ihn adressiert worden, allerdings falsch, sodass er beim Scotland Yard statt beim LPSC gelandet sein musste. Absender war ein Gary O’Rooney aus Irland. Stirnrunzelnd öffnete er den Umschlag. Als erstes fiel ihm eine computergeschriebene Notiz von Nicholson in die Hände, sein Vertrauter beim Scotland Yard. Mit dem feindete er sich zwar gern an, dennoch arbeiteten sie Hand in Hand und sorgten dafür, dass falsch bewertete Fälle der richtigen Zuständigkeit übergeben wurden. Es geschah ständig, dass ein Mord aussah, als wäre er von Übernatürlichen begangen worden, wenn in Wahrheit ein menschlicher Täter dahintersteckte. Umgekehrt kam dies seltener vor, doch gerade diese Fälle benötigten sehr viel Aufmerksamkeit.

 

Hey Berkley,

tut mir leid, diese Unterlagen sind bereits vor längerer Zeit auf meinem Schreibtisch gelandet und dort untergegangen. Ich hoffe, es ist nichts, worauf du dringend gewartet hast.

Nicholson

 

Noch immer stirnrunzelnd öffnete Marcus den Brief, der zusammen mit mehreren maschinenbedruckten Seiten in dem Umschlag gesteckt hatte. Alles war auf Gälisch geschrieben. Er beherrschte diese Sprache gut. Seine erste große Liebe war ein Ire gewesen. Ein wunderbarer junger Mann mit kupferroten Locken, Sommersprossen und blaugrünen Augen. Damals waren sie noch im Internat gewesen, gemeinsam durch sämtliche Prüfungen gegangen. Sie hatten sich geliebt und gestritten und wilden Sex genossen und Gras geraucht und gesoffen und noch mehr Sex gehabt. Marcus hatte für ihn Gälisch gelernt und er hätte auch seine unsterbliche Seele für ihn verkauft, wenn es nötig gewesen wäre. Leider war Ryan der Meinung gewesen, dass ein Liebhaber nicht genug war … Das Ende ihrer Liebe war schmerzhaft und hässlich gewesen. Seitdem schauderte es Marcus beim Anblick von sommersprossigen Rotschöpfen und er dankte den Engeln dafür, dass Ian zwar eher blasshäutig, dafür aber dunkelhaarig war und wunderschöne blaue statt grünliche Augen besaß. Seine Gälischkenntnisse hatte Marcus dennoch weitergepflegt. Auch dafür war er dankbar, da viele Übernatürliche diese Sprache beherrschten und absolut alles lieber nutzten als Englisch. Uralte Animositäten, weil England und Amerika dagegen gestimmt hatten, dass Übernatürliche einen normalen Bürgerstatus erhalten durften.

Er entfaltete den Brief und begann zu lesen. Mittlerweile schmerzte seine Stirn, so heftig wie er sie in Falten legte.

 

Sehr geehrter Mr. Berkley,

Sie sind ein Ermittler von hervorragendem Ruf, der auch bis zu uns nach Irland gedrungen ist. Als ich hörte, dass Sie, ausgerechnet Sie! der Partner von Ian Grant geworden sind, wusste ich, dass ich handeln muss. Meine Vorgesetzten waren bereit gewesen, den Vorfall zu verschleiern beziehungsweise den Grund, warum Ian bei uns gekündigt und das Land verlassen hat. Ich wette, Sie wissen nichts darüber und auch wenn ich meinem ehemaligen Kollegen nicht schaden will, kann ich nicht mit ansehen, wie er mit seinen Heimlichtuereien durchkommt. Jeder von uns weiß, dass er eine schwere Macke hat, wenn Sie diesen Ausdruck verzeihen mögen. Trotzdem wurde er stets bevorzugt und gefördert und beschützt. Damit sollte langsam Schluss sein, bevor seinetwegen noch Menschen sterben. Lesen Sie, welches Geschehen zu seiner Kündigung geführt hat und machen Sie sich ein eigenes Bild, ob Sie diesen Mann weiterhin Ihren Partner nennen wollen.

Hochachtungsvoll,

Gary O’Rooney

 

„Ekelhaft!“, stieß Ananvi in Marcus‘ Kopf aus.Wäre er augenblicklich in der Lage zu spucken, hätte er das mit Sicherheit auch getan. „Eifersüchtige, kleingeistige Ratten, die andere Leute verpetzen müssen, nur weil sie selbst nichts auf die Reihe bringen. Wie ich das hasse!“

Marcus brummte gedanklich seine Zustimmung. Ja, er hasste solche Kollegenschweine ebenfalls. Solche Typen, die krampfhaft versuchten, sich gewählt auszudrücken und zwischen den Zeilen spürte man, dass dies nicht ihrer wahren Natur entsprach. Er hasste es! Dennoch zitterten ihm die Hände vor Gier, in den Unterlagen zu wühlen und jedes noch so kleine Detail zu lesen. Viel zu lange schon wollte er Ians Geheimnis erfahren!

Was er allerdings auf keinen Fall wollte war, ihn anschließend als Partner zu verlieren. Lieber starb er dumm und unwissend, als das zu riskieren. Trotzdem. Die Versuchung war schlimmer als Sirenengesang. Er wollte es wissen, verdammt! Dafür musste er nichts weiter tun, als die Blätter umzudrehen. Er musste nichts weiter …

„Lass es sein, Chef“, sagte Ananvi leise. „Du würdest es für den Rest deines Lebens bereuen. Verbrenn die Scheißdinger und warte, bis Ian soweit ist. Er hat dir versprochen, dass er dir alles erzählen will. Und das seinetwegen niemand gestorben ist.“

Genau das hatte dieser O’Rooney bestätigt. Keine Toten. Was konnte also Schlimmes geschehen sein? Vermutlich war es eine Lappalie zu viel gewesen, die man Ian hatte durchgehen lassen müssen. Dass der Mann schwer traumatisiert und eigentlich nur bedingt arbeitsfähig war, war laut dem Brief in seiner irischen Heimat kein Geheimnis gewesen.

Kurz entschlossen stopfte Marcus alles zurück in den Umschlag und atmete tief durch. Er würde jetzt sofort zum Krankenhaus fahren. Er wollte Ian die Möglichkeit geben, ihm selbst zu erzählen, was geschehen war. Wenn er das nicht konnte oder wollte, würde er diese Unterlagen vernichten. Ohne zu zögern und direkt vor Ians Augen. Er musste sowieso noch eine Menge Vertrauenspunkte bei seinem Partner gut machen. Rasch warf er die sirenensingende Versuchung in Papierform in seine Arbeitstasche und schnappte sich seine Jacke. Mit dem Verschwinden der Dryade waren die Temperaturen wieder zur typisch englischen Schmuddelfrühlingskälte zurückgekehrt. Regen, Wind, noch mehr Regen.

„Ich fahr ins Krankenhaus“, rief er Corwyn zu, der gerade das Büro betrat. Hannahs Partner. Ihn hatte es ebenfalls sehr hart getroffen.

„Schguad“, erwiderte Corwyn ernst. Seine Version von „Ist gut“, die man nur nach jahrelangem Training auf Anhieb verstand. Normalerweise hätte Corwyn ihn dabei angestrahlt …

 

 

Sein erster Weg führte Marcus nicht zu Ian, sondern zu Rebecca. Die Halbwerwölfin mit der absolut unglaublichen Nase war schwer verwundet worden, als sie die Dryade im Entscheidungskampf geortet hatte. Dünne, wurzelartige Tentakel waren ihr aus geringer Distanz ins Gesicht gepeitscht. Zurückgeblieben waren tiefe, wulstige Narben – unter anderem dort, wo zuvor ein Auge gewesen war. Mit mehreren Operationen hatte man sich bemüht, Rebeccas einst sehr schönes Gesicht zu richten. Die gebrochenen und verschobenen Knochen waren zusammengefügt und alles dafür vorbereitet worden, dass sie nach dem Abheilen der Wunden ein künstliches Auge würde tragen können. Mehrfach hatte Marcus ihr angeboten, dass Ananvi sich um sie kümmerte. Er hätte ihr das Auge nicht zurückgeben, aber zumindest die Wunden und Narben spurlos verschwinden lassen können. Jedes Mal hatte sie das Angebot stolz abgelehnt.

„Das Miststück hat mir meine Nase gelassen. Das Einzige, das wirklich zählt“, war Rebeccas Antwort gewesen. „Die Schmerzen kümmern mich nicht und die Narben bringen mir endlich Respekt in der Werwolfsgemeinde.“

Dort war sie bislang nie ernst genommen worden, da sie zur Hälfte menschlich war. Rebecca schlief, als Marcus den Raum betrat, doch sie lächelte bereits, bevor er neben ihr Platz nahm.

„Schön, dich zu riechen“, murmelte sie und blinzelte mit dem gesunden Auge.

„Hey, Piratenbraut, habe ich dich geweckt?“, erwiderte Marcus. Mit ihrer Augenklappe sah sie tatsächlich ein bisschen verwegen aus.

„Es ist mitten am Tag, da darfst du mich immer wecken. Ich bin nur aus Langeweile eingeschlafen.“

Er erzählte, was seit seinem letzten Besuch vor zwei Tagen auf der Arbeit geschehen war – insgesamt recht viel, wenn auch nichts davon wirklich bedeutsam war. Sie hörte aufmerksam zu, und als er ins Schweigen verfiel, musterte sie ihn amüsiert.

„Du machst dir über irgendetwas große Sorgen und vertrödelst Zeit bei mir, um dich ihnen nicht stellen zu müssen, hm?“, fragte sie. „Da sich Ian ebenfalls auf dieser Station befindet und du dir um niemanden lieber Sorgen machst als ihn, geht es wohl um deinen Partner?“

Sie wusste genau, welche Gefühle er für Ian hegte. In gewisser Weise war es dadurch leichter für ihn. Vor Rebecca brauchte man nichts zu verstecken und jeder Versuch einer Lüge war vollkommen lächerlich. Da er durch Ananvi bestens an solche Dinge gewöhnt war, schreckte es ihn nicht ab, im Gegensatz zu fast allen anderen Menschen. Rebecca war sehr einsam …

Marcus erzählte ihr brav, was ihm zugeschickt worden war.

„Wow. Ich hätte der Versuchung definitiv nicht widerstehen können, jede einzelne Zeile zu lesen“, gab sie ehrlich zu.

„Es war nicht einfach“, brummte er.

„Geh zu ihm. Jetzt. Bring es hinter dich. Es war sicherlich nichts wirklich Schlimmes, was er angestellt hat, sonst hätte er es dir längst erzählt. Ich habe euch zusammen erlebt, er verheimlicht nichts Großes vor dir, das hätte ich sonst gewittert. Vermutlich war es peinlich für ihn, was in Irland geschehen ist und er schämt sich, mehr nicht.“

Marcus hoffte sehr, dass Ian ihm mittlerweile tatsächlich so sehr vertraute, dass er ihm die echten Katastrophen erzählen würde. So etwas wäre nicht vertuscht worden, sondern in seiner Personalakte gelandet.

„Er hat dir gesagt, was in den Koboldhöhlen geschehen ist. In sämtlichen blutigen Details“, sagte Ananvi. „Und das seine Eltern ihn verstoßen haben. Kann es noch schlimmer kommen? Rebecca hat garantiert recht. Der Knabe hat Mist gebaut und es ist ihm peinlich.“

Ihn gleich darauf ansprechen zu müssen könnte sehr unangenehm werden …

 

 

„Schläft er?“

Ian bemühte sich, nicht zu blinzeln, als er Marcus‘ Stimme hörte. So sehr er sich freute, dass sein Partner zu Besuch kam, so erschlagen fühlte er sich gerade. Er wollte wirklich schlafen, nichts weiter als das. Wenn er zeigte, dass er wach war, würde er reden müssen und dürfte die wenigen kostbaren Minuten Ruhe nicht nutzen.

„Sieht danach aus. Warte trotzdem ruhig“, brummte Maze. Ihr gemeinsamer Kollege und Ians Zimmergenosse in diesem grässlichen Krankenhaus. Sie hatten beide Pech gehabt, als sie ein randalierendes Einhorn festsetzen wollten. Das Biest hatte sein Einverständnis signalisiert, kooperieren zu wollen – diese wunderschönen Geschöpfe konnten nicht sprechen, dafür Gedanken magisch übertragen – und hatte sie dennoch attackiert. Ian hatte trotz des Schutzhelms, der bei Auseinandersetzungen mit Einhörnern obligatorisch war, eine Platzwunde seitlich am Kopf, eine schwere Gehirnerschütterung und etliche Prellungen davongetragen. Maze war an Brust und Schultern von dem überaus gefährlichen Horn getroffen worden, die Wunden reichten teils mehrere Zentimeter tief. Zur Strafe musste das Einhorn für drei Wochen in der Hölle schmoren, was absolut gerechtfertigt war. Die Strafe war vom Zentralrat der übernatürlichen Kreaturen ausgesprochen worden, der aus Vertretern sämtlicher Spezies bestand und eng mit dem LPSC zusammenarbeitete.

Ian war die ganze Nacht über im Viertelstundentakt von Krankenschwestern gefoltert worden, die ihm ständig in die Augen leuchteten und seine Vitalzeichen kontrollierten. Sicherheitsmaßnahmen, um eine Gehirnblutung auszuschließen, die sich oft erst nach mehreren Stunden zeigte. Schlafen konnte und durfte er dementsprechend nicht und seine hämmernden Kopfschmerzen waren von den lächerlichen Tropfen nicht gelindert worden, die man ihm gegeben hatte. Inzwischen prüfte man lediglich stündlich, ob er noch lebte und ließ ihn erschöpft dösen. Grausige Kopfschmerzen hatte er weiterhin, die tiefen Schlaf verhinderten, aber er würde es überleben.

„Setz dich, Kumpel. In zwei, drei Minuten kommt Schwester Marisa und ärgert ihn wieder“, flüsterte Maze im überlauten Plauderton. „Eine süße kleine Portugiesin. Die hat Feuer im Blut und ich glaube, sie mag mich.“

„Dir geht es auf jeden Fall viel zu gut, wie es aussieht“, erwiderte Marcus leise.

„Ich könnte sogar bereits nach Hause, hat der Arzt gesagt, aber irgendjemand muss unseren Junior beschützen, solange er ausgeknockt ist. Nicht, dass er noch schlimmer beschädigt wird.“ Das klang nur halb nach einem Scherz. Hannahs Tod steckte ihnen allen in den Knochen und vermutlich keinem mehr als ihm. Ian war derjenige gewesen, der sie erschießen musste, um diese verdammte Dryade zu erledigen. Niemand trug es ihm nach, im Gegenteil. Ian konnte spüren, dass er extrem in der Achtung der Kollegen gestiegen war. Es linderte die Schuldgefühle leider nicht.

Es klopfte, Schwester Marisa fegte herein. Wie ein Wirbelwind rauschte sie an sein Bett, schüttelte ihn durch, um ihn zu wecken, führte ihre Kontrollen aus, schäkerte mit Maze und verschwand praktisch im gleichen Atemzug.

Tja. So viel zum Thema schlafen …

„Hi“, sagte Marcus und setzte sich neben Ians Bett auf einem Stuhl nieder. Er machte einen merkwürdigen Eindruck. Beinahe als hätte er schlechte Nachrichten mitgebracht, die er partout nicht überbringen wollte. Ian war sich sehr sicher, dass er sie nicht hören wollte. Wie es schien, würden sie gleich gemeinsam leiden.

„Maze, könntest du uns für einen Moment allein lassen?“, fragte Marcus. Okay, er verlor keine Zeit mit Smalltalk über das werte Befinden. Es war also richtig ernst.

„Welche Art von Moment stellst du dir vor?“, fragte Maze zurück und erhob sich ächzend. „Einmal den Flur rauf- und runterlaufen oder mehr?“

„Einen Besorg-dir-einen-Kaffee-und-lass-dir-Zeit-beim-Trinken-Moment, das hatte ich mir vorgestellt.“ Während er sprach, musterte Marcus Ian derartig intensiv, als wären sie sich gerade zum ersten Mal begegnet. Ihm wurde es abwechselnd heiß und kalt und das dumpfe Pochen in seinem Schädel verdreifachte sich. Das war definitiv nicht gut, oh nein!

„Fein. Macht nicht zu viel Lärm, Jungs, okay? Nebenan hausen ein paar entzückende alte Ladys, die wollt ihr nicht mit Stöhnen und Bettenquietschen verstören, hm?“ Maze zwinkerte mit einem fiesen Grinsen, als er an Ians Bett vorbeitaumelte. Bemerkte der die Anspannung denn nicht, die gerade zwischen ihm und Marcus herrschte, oder interpretierte Maze sie absichtlich falsch?

Fünf Minuten später wusste er, was sich in dem Umschlag befand, den Marcus wie einen Schießbefehl präsentiert hatte, das belastende Beweismaterial in Form des originalen Einsatzberichtes eingeschlossen. Der war damals unter den Tisch gekehrt worden.

„Gary O’Rooney“, murmelte er bitter. Ausgerechnet Gary! „O’Rooney ist ein feiges Großmaul. Er erzählt jedem, wie toll er ist und wie vielen Werwölfen er bereits in den Arsch getreten hat, aber wenn es hart auf hart kommt, geht er kotzen oder muss dringend Verstärkung rufen, während du allein einer Übermacht geifernder Monster gegenüberstehst. Das ist definitiv kein Mann, den du hinter dir haben willst, es sei denn, du kämpfst gerne auf verlorenem Posten.“ Ian versuchte, sich höher zu setzen, um es bequemer zu haben. Als greller Schmerz in seinem malträtierten Schädel explodierte, sah er stöhnend davon ab. „Ich weiß, wie das jetzt klingen muss“, fuhr er fort, sobald er wieder atmen konnte. Marcus hatte noch keinen Ton gesagt, was kein gutes Zeichen war. „Der Kerl haut mich in die Pfanne, also mache ich ihn schnell nieder, um ihm seine Glaubwürdigkeit zu nehmen. Darum geht es mir nicht. Eigentlich wollte ich ausdrücken, dass du darauf vertrauen kannst, dass jedes Detail stimmt. Gary lügt nur, wenn es um seine eigenen Heldentaten geht. Wenn er andere anschwärzt, achtet er sehr darauf, nichts zu behaupten, was sich nicht beweisen lässt.“

„Ich habe keine Ahnung, was dieser Typ an Beweisen zusammengeschrieben hat“, entgegnete Marcus langsam. „Abgesehen vom Anschreiben habe ich nichts davon gelesen.“

Überrascht starrte Ian ihn an. Wollte Marcus ihn auf den Arm nehmen? In falsche Sicherheit lullen, damit er sich selbst noch tiefer ins Verderben hineinritt? Nein – er meinte es vollkommen ernst, das war überdeutlich in seinem Gesicht zu erkennen.

„Warum?“, fragte Ian. „Du wolltest das hier vom ersten Tag an wissen.“

„Ich möchte es ausschließlich von dir erfahren und erst, wenn du soweit bist. Irgendein Profilschwein, das mit seiner Pseudobesorgnis alles kaputt machen will, was wir an Vertrauen mühsam zwischen uns aufgebaut haben, braucht mir nichts zu sagen. Wir beide sind Partner. Dieser Gary kann sich meinetwegen von Ghouls fressen lassen.“

Irgendetwas steckte in Ians Hals und hinderte ihn plötzlich am Sprechen. Lag garantiert ebenfalls an dieser verflixten Kopfverletzung. Jetzt schnappte sich Marcus auch noch sämtliche Papiere und trug sie zu dem kleinen Handwaschbecken, das sich neben der Tür befand. Mit einigen energischen Bewegungen zerfetzte er die Blätter, warf die Schnipsel ins Becken und ließ Wasser darüber laufen, wodurch sie vollends unbrauchbar wurden. Die labbrigen Überreste warf er in den Mülleimer. Ian hatte die Prozedur stumm beobachtet, unfähig, etwas dazu zu sagen. Dabei spielten seine Hände mit den Überresten des Schutzhelms, die man ihm auf den Nachttisch gelegt hatte. Das Einhorn hatte das Ding sauber mit dem Huf gespalten. Ohne den Helm wäre es sein Schädel gewesen und er würde jetzt bei Harry in der Pathologie liegen. Taubrin müsste sich hastig einen neuen menschlichen Herrn suchen. Oder auch eine Herrin, so zur Abwechslung. Vermutlich wäre es jemand, der Ananvis Besuche nicht sonderlich gutheißen würde. Marcus stünde wieder ohne einen Partner da, der ihn in seinem traurigen Geheimnis unterstützte, er und Ananvi würden wieder viel Zeit mit Einsamkeit verbringen, obwohl sie einander jeden Tag im wahrsten Sinne des Wortes auf der Pelle hingen … Nein, es war gut, dass es ihn diesmal noch nicht erwischt hatte. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er es eher bedauert, denn wie müde war er sein Leben gewesen. Dieser unendliche Kampf gegen zu viele Ängste und nie verheilte Wunden, zu viel Finsternis in seinem Inneren, zu viel Einsamkeit. Die vergangenen Wochen waren unglaublich aufregend, verwirrend und überwältigend gewesen. Was er dabei gelernt und gewonnen hatte, wollte er nicht mehr missen. Gary hätte es zerstören können, dieser elende kleine …

„Ich hätte das Zeug lieber vor deinen Augen verbrannt“, sagte Marcus in diesem Moment und setzte sich wieder zu ihm. „Effektiver und deutlich dramatischer. Aber nachher hätte es noch Hausverbot gegeben, wenn ich in einem Krankenzimmer zündle und schlimmstenfalls die Sprinkleranlage auslöse.“

Ian schluckte schon wieder an diesem Etwas in seiner Kehle. Nie in seinem Leben war ihm so viel Vertrauen geschenkt worden.

„Du hättest es ruhig lesen können“, murmelte er gepresst. „Es stand nichts Schlimmes darin.“

„Soweit war ich mit Ananvis Hilfe auch schon, der diskutiert fleißig mit mir“, erwiderte Marcus ruhig. „Die schlimmen Dinge wären in deiner Akte gelandet und deine Karriere wäre beendet gewesen. War es also sehr peinlich?“

Ian nickte. „Ich habe einen Fall versaut. Richtig versaut. War eine große Sache – eine Koboldbande, die nicht zufällig und mit Bedacht gestohlen hat, was sie zum Leben braucht, sondern im großen Stil. Einbrüche und Überfälle, immer nur bei reichen Menschen. Sie waren unglaublich gut organisiert. Zu ihnen gehörten Kelpies, die den Schmuggel der Diebesware über den Wasserweg übernommen haben, ein clanloser Vampir, der für den Verkauf an skrupellose Kunden zuständig war und sogar ein Mensch, der in der Tarnung eines Elektrikers die Schutzrunen an den Häusern zerstört hat, damit die Kobolde Zutritt bekamen. Zwei Jahre harte Arbeit waren notwendig, um Beweise zu sichern, jedes einzelne Mitglied der Bande zu identifizieren, einen Kobold als Maulwurf einzuschmuggeln und endlich auf diesen einen Tag hinzuarbeiten, wo die gesamte Truppe versammelt war und hochgenommen werden sollte.“ Ian stockte und rieb sich über die Stirn. Es war hässlich und anstrengend, an diesen Tag zurückzudenken. Marcus wartete geduldig. Sein Partner würde es hinnehmen, sollte Ian an dieser Stelle abbrechen, das spürte er. Genauso, wie er das mehr wahrnahm, das in Marcus‘ Blick lag, seit sie sich geküsst hatten. Diese Mischung aus Sehnsucht, Verlangen und Resignation. Sie sprachen nicht über den Kuss. Dabei war er viel zu gut gewesen, um ihn zu verdrängen …

Marcus räusperte sich. Anscheinend hatte Ian ihn zu intensiv angestarrt, denn ja, auch er steckte bis zum Hals in Sehnsucht und Resignation fest.

„Ich hab’s versucht“, stieß er energisch hervor. Bloß nicht über das andere Thema reden! Er konnte sich nicht öffnen, nicht auf diese Weise. Zumindest jetzt noch nicht. „Noah, mein Vorgesetzter, wollte mich eigentlich nicht dabei haben. Er war der Einzige, der meine wahre Identität durchschaut hatte, da er auch ein wenig Koboldjia verstand. Er war im Prinzip auch mein einziger Freund, weil ich mich ihm anvertrauen konnte. Leider war ich als Mittelsmann zwischen unserem Maulwurf und dem Team unabdingbar, da der Kobold nicht vor der Verbrechertruppe in Gälisch oder Englisch reden konnte, ohne sich verdächtig zu machen. In ganz Limerick gab es keinen anständigen Koboldjia-Übersetzer … Ich sollte als Dolmetscher fungieren, Gary war ein vorgeblicher Kaufinteressent. Ein reicher Sammler, der ein bestimmtes Gemälde haben wollte, das die Bande für ihn organisieren konnte. Es war schwer genug gewesen, als Vorgesprächstermin jenen Tag festzulegen, an dem die gesamte Truppe zusammenkam. Ohne Ausnahme. Solche Treffen wurden lediglich einmal im Jahr abgehalten, dabei wurden magische Rituale durchgeführt, um jedes Mitglied an Verrat und Betrug zu hindern. Ein weiterer Grund, warum es so lange gedauert hatte, ihnen auf die Schliche zu kommen, denn selbstverständlich war auch unser Maulwurf magisch gebunden und konnte die Informationen nur unter starken Schmerzen und größter Gefahr für das eigene Leben in winzigen Häppchen übermitteln. Ich hatte bis dato natürlich mit diversen Kobolden gesprochen und mich auch mit ihnen in einem Raum aufgehalten. Das war kein echtes Problem gewesen. Sie haben gespürt, dass ich mich in ihrer Gegenwart nicht wirklich wohl fühle, haben das aber nicht weiter ernst genommen, weil es vielen Menschen so ergeht. Für diesen Einsatz ging es allerdings unter die Erde. Und das war ein großes, großes Problem. Selbst mit den starken Beruhigungsmitteln, die ich vorher genommen hatte.“

Ian atmete tief durch. Die Erinnerung an die dunklen, engen, viel zu niedrigen Gänge. Die hellen Koboldstimmen. Das Auftauchen von zwei Gargoyles …

„Ich hätte besser nichts eingenommen. Hätte ich mich einfach nur schreiend über den Boden gewälzt, wäre trotzdem noch alles gut verlaufen. Menschen drehen schon mal ohne erkennbaren Grund durch, damit kommen Kobolde klar. Stattdessen bin ich aufrecht geblieben, hab völlig falsch reagiert, hektische Fragen nach Dingen gestellt, die ich gar nicht wissen durfte. Keine zwei Minuten hat es gedauert, bis die Bande wusste, dass wir Ermittler sind. Und wer unser Maulwurf gewesen sein muss. Zu unserem Glück haben sie ihr Heil in der Flucht gesucht, statt uns umzubringen. Am Ende konnte auch ziemlich viel Diebesgut gesichert werden, das in diesen Höhlen gelagert war. Bis dahin haben Gary und ich allerdings dort sieben Stunden ohne Kontaktmöglichkeit zur Außenwelt festgesessen, weil der einzige mechanische Aufstieg magisch versiegelt war. Zwei voll entwickelte Panikattacken hatte mich das gekostet – Gary, dieser Arsch, hat mich einfach da liegen und hyperventilieren lassen, weil er wütend auf mich war. Bei der zweiten hat er mich sogar angeschrien und getreten, weil er da selbst mit den Nerven am Ende war und glaubte, wir würden dort unten verrecken. Gottseidank konnte der Maulwurf seine Verfolger abschütteln und ist zurückgekehrt, um uns raufzuholen. Gary hat mich in flammenden Worten für meine Unfähigkeit angeklagt. Und ja, ich kann ihn verstehen. Ich hab es verbockt.“ Mit dem verpatzten Fall war er klar gekommen. Das hatten seine Kollegen ihm zwar vorgehalten, doch er wusste, dass er es kaum hätte verhindern können. Woran er wirklich nicht denken wollte, waren die Stunden dort unten in den Höhlen. An die Verachtung, die Vorwürfe, mit denen Gary ihn überhäuft hatte. Wut, Angst, Frust, alles das hatte dieser Kerl an ihm ausgelassen – nicht ausschließlich verbal, auch wenn er keine echten Verletzungen davongetragen hatte. Ian war unfähig gewesen, sich gegen ihn zu wehren, weil er von schweren Flashbacks geschüttelt wurde … Ein weiteres Trauma mehr in einer endlosen Reihe. Vor dieser Hilflosigkeit war er ebenso geflohen wie vor Garys dämlicher Fratze, der sich nach ihrer Rettung aufgespielt hatte, als wäre er die gesamte Zeit über Mister Obercool gewesen, der seinen heulenden Kollegen getröstet hatte.

„Du hättest nicht dorthin gehen dürfen“, sagte Marcus leise. „Nach all der Vorbereitung wäre es besser gewesen, eine andere Lösung zu finden.“

„Ich hatte gehofft, dass ich es packe. Noah ebenfalls. Es war ein Fehler, ja. Einer, mit dem ich bis heute nicht völlig im Reinen bin. Es deckt sich mit dem, was du zu mir gesagt hattest: Eigentlich bin ich draußen nicht einsatzfähig.“

„Du hättest einen Partner gebraucht, der das rechtzeitig erkennt und dich schützen kann. Zur Not mit einem Ablenkungsmanöver in Form von klaustrophobischem Anfall. Dich mit diesem Gary da runter zu schicken, war genauso ein Fehler in der Grundplanung, den Noah hätte vermeiden können.“

„Sei es, wie es sei“, brummte Ian. Es tat ihm gut, dass Marcus nicht ihn allein als Schuldigen sah. Er konnte nicht in Worte fassen, was Gary ihm angetan hatte. Fast alles davon hatte sich auf psychischer Ebene abgespielt. Die Kollegen, selbst Noah hatten Verständnis für diesen Bastard gehabt. Schließlich hatte Ians Versagen sie in diese Situation gebracht und ja, nur Abrosh, ihr Maulwurf, hatte sie dort herausholen können. Das große Risiko, das man als Ermittler bei übersinnlichen Verbrechen eingehen musste. Es gab selten einen Sicherungsplan.

„Es wurde vertuscht und einige Bandenmitglieder konnten auch sehr zügig geschnappt werden, da die Beweise gegen sie nun auch für den Zentralrat der übernatürlichen Kreaturen ausreichten.“ Das Warlington-Abkommen gestattete es Kobolden, in kleinem Rahmen zu stehlen, da dies zu ihrer Kultur gehörte. Verboten waren schwere Einbrüche, bei denen es zu erheblichen Sachschäden oder Verletzungen von menschlichen Personen kamen. „Ich hätte einfach weitermachen können. Aber das Vertrauen der Kollegen in meine Person lag irgendwo bei Null und ich war so stark getriggert von meinem alten Leben … Ich wollte weg. Nur noch weg. Egal wohin, solange es weg von Irland, von Limerick, von meiner Vergangenheit war. Neu anfangen und das Beste hoffen. Ja. Das ist meine Geschichte. Bei Gary und seinem originalen Einsatzbericht hat es etwas drastischer geklungen, aber er hat sich tatsächlich an die Fakten gehalten.“ Abgesehen von den Attacken gegen ihn. Zumindest Noah hatte gewusst, dass sie dort unten nicht Händchen gehalten hatten.

„Danke, dass du sie mir erzählt hast.“ Marcus ergriff seine Hand und drückte sie sanft. Sein Blick wurde weich, was Ians Herzschlag zum Rasen brachte. Im Moment interessierte ihn nicht einmal sein Kopf. Dafür fühlte es sich viel zu intensiv an, Marcus‘ Finger an den seinen zu spüren. Diese Nähe und Verbundenheit, die in dieser kleinen Geste lag.

„Danke, dass du mir vertraust“, wisperte er hilflos. Er wollte ihn an sich reißen, ihn küssen, niemals wieder loslassen. Es ging nicht. Unmöglich! Oder? Wenn er nur …

Es klopfte. Hastig zog Marcus seine Hand zurück und grinste breit, als Maze den Kopf durch die Tür steckte.

„Seid ihr sittsam? Kann ich wieder rein?“

„Klar doch. Das Bettensportprogramm ist längst abgeschlossen“, erwiderte Ian trocken. Maze lachte, obwohl man ihm ansah, dass er starke Schmerzen hatte.

„Okay, ich lass euch zwei Mal in Ruhe“, sagte Marcus, klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und verabschiedete sich per Handschlag von Maze.

„Macht mir keinen Kummer, lasst die Schwestern in Ruhe und werdet schnell wieder fit!“, rief er. Dann war er fort.

Niedergeschlagen schloss Ian die Augen. Dieses intensive Gefühl von Einsamkeit, das gerade in ihm hochschwappte, war kein gutes Zeichen. Es sprach von Gefühlen, mit denen er nicht umgehen konnte. Dafür war er entschieden zu kaputt. Welch ein Glück, dass er schwer genug verletzt war, um sich ein, zwei stille Tränen gönnen zu dürfen. Warum genau sie über seine Wangen rannen, das konnte er analysieren, wenn er die grässlichen Kopfschmerzen endlich los war. Vorausgesetzt, dass er es überhaupt wissen wollte.

 

 

 

Ian schaltete den Fernseher aus. Er war schlichtweg zu erschöpft, um sich auf irgendwelche Shows, Filme oder Serien zu konzentrieren. Zumal in erster Linie furchtbarer Unsinn lief. Herzschmerz in sämtlichen Varianten, natürlich mit Happy End und vorzugsweise ohne nennenswertes Drama auf dem Weg dahin. Verkitschte Traumwelten, die anscheinend davon ablenken sollten, dass die reale Welt überhaupt kein schöner Ort war. Härtere Sachen mit ein bisschen Spannung und Action liefen nur auf ausgewählten Sendern und zu merkwürdigen Uhrzeiten. Interessierte ihn gerade nicht, dafür schmerzte sein Kopf zu sehr. Er war zwei Stunden nach Marcus‘ Besuch entlassen worden, gemeinsam mit Maze. Sie waren beide noch krank geschrieben, Maze würde sicherlich erst in zwei, drei Wochen wieder einsatzfähig sein und dann vermutlich noch eine Weile an den Schreibtisch gefesselt werden. Egal wie munter er herumgelaufen war und mit den Schwestern geflirtet hatte, seine Verletzungen waren durchaus ernst. Er selbst sollte in einigen Tagen wieder auf dem Damm sein. Natürlich hatte Ananvi ihm angeboten, die Schmerzen wegzuzaubern, wirklich ernst gemeint war es nicht. Er wusste, wie sehr Ian es hasste, gebissen zu werden. Auch wenn er in den letzten Wochen sehr viele Gargoylebisse hatte ertragen müssen.

Ian starrte auf sein Wasserglas. Um es zu erreichen, müsste er den Kopf von der Sofalehne heben. Dabei hatte er es gerade gemütlich und war weitestgehend schmerzfrei. Taubrin hatte ihn liebevoll mit allem versorgt und sich tausend Mal entschuldigt, dass er ihn für einige Stunden allein im Haus lassen musste. Irgendwelche Familienangelegenheiten, die sich nicht aufschieben ließen. Sein putziger, gluckenhafter Kobold verheimlichte ihm einiges, das wusste Ian schon lange. Tagsüber war Taubrin häufig unterwegs und obwohl er unter Todesandrohung von seinem Clan verstoßen war, hatte er recht intensiven Kontakt zu vielen anderen Kobolden weltweit. Ian hielt sich da raus. Je weniger er wusste, desto weniger konnte er verraten, sollte es hart auf hart kommen.

Hm, war der Durst jetzt schlimm genug, um sich bewegen zu müssen? Er schloss die Augen, um kurz darüber nachzudenken. Ganz kurz …

Ein schabendes Geräusch ließ ihn hochschrecken. Schlaftrunken fasste er sich an den Kopf, der sogleich heftig protestierte – er war tatsächlich eingenickt.

„Taubrin?“, rief er. Wie spät war es?

Als plötzlich eine Gestalt vor ihm auftauchte, fuhr er vor Schreck so heftig zusammen, dass er beinahe vom Sofa gefallen wäre.

„Ananvi!“ Schwer atmend krallte er sich an der Armlehne fest. „Herrgott, was hast du mich erschreckt. Wir sollten dir ein Glöckchen umbinden.“ Der Gargoyle kam gerne nachts vorbei, um Taubrin zu besuchen. Dabei hielt er sich nicht lange mit Klingeln und Türen auf, sondern glitt durch die Wände.

„Marcus sagt so etwas auch häufiger“, murmelte Ananvi und trat noch näher an ihn heran.

„Taubrin ist nicht da.“ Ian musterte den Gargoyle irritiert. Irgendetwas war seltsam, er konnte nur nicht fassen, was genau.

„Ich weiß. Ich bin deinetwegen hier, weil ich mir Sorgen mache. Mit Kopfverletzungen dürfen Menschen nicht spaßen.“

„Das tue ich nicht“, erwiderte Ian. „Es ist alles gut, wirklich. Die Platzwunde ist bestens versorgt und die Gehirnerschütterung wird folgenlos abheilen.“

„Sag das nicht! All die armen Zellen, die abgestorben sind. Es kann schlimme Nachwirkungen haben, physisch und psychisch.

---ENDE DER LESEPROBE---