Das letzte Signal - Hans Heidsieck - E-Book

Das letzte Signal E-Book

Hans Heidsieck

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Beschreibung

"Der Luxuszug besaß eine Fernsprechkabine. Hier kam ein Ruf an. Irgendwoher. Eine Stimme, trocken, heiser, sehr aufgeregt. ›Hallo! Spreche ich mit dem D-Zug 219 Lyon–Marseille? ... Gott sei Dank – Fräulein – oder wer Sie auch seien – ziehen Sie auf der Stelle die Notbremse, hören Sie? Menschenleben sind in Gefahr – folgen Sie meinem Rat, bevor es zu spät ist – –!‹" Ein beherzter junger Mann greift nach dem Signalgriff und zieht die Bremse; wenige Augenblicke später tut es einen gewaltigen Schlag ... Als draußen das letzte Signal vorbeischwirrte, hatte Lokführer Besier bereits ein ungutes Gefühl übermannt – jetzt liegt er mit zerschmettertem Schädel auf einem Felsvorsprung unter der zerstörten Eisenbahnbrücke. Was ist geschehen? Welches Verbrechen verbirgt sich hinter den rätselhaften Vorfällen um das Unglück? Komissar Lebrun von der Pariser Kriminalpolizei, der sich zufällig im Zug befindet, übernimmt die Ermittlungen. Harry Hoffs vielleicht ungewöhnlichster Kriminalroman beginnt so rasant wie ein Schnellzug, geht rasant weiter und hält dieses Tempo bis zur letzten Seite!-

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Hans Heidsieck

Das letzte Signal

Roman

Saga Egmont

Das letzte Signal

Copyright © 2017 Hans Heidsieck und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711508626

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk  – a part of Egmont www.egmont.com

Personenverzeichnis:

Besier senior, Farmbesitzer in Belgisch Kongo

Viktor Besier, sein Sohn, Lokomotivführer

Walter Kießling, Verwalter auf der Farm und Freund des Sohnes

Rolf Stehli, Kießlings Schwager

Olivier, Besitzer einer Ölfabrik

Léon, Prokurist bei Olivier

Ernestine Chabeuf, Zimmervermieterin in Valence

Gaston Moulin alias Bécourt, ein schwerer Junge

Lebrun, berühmter französischer Kriminalkommissar

Willi Seidler, ein junger deutscher Kriminalassistent

Elliot, ein Landjäger

Erstes Kapitel

Der Zug rast. Die Räder glühen. Funken stieben aus dem gedrungenen Schornstein der schweren Lokomotive.

Ein eisernes Brausen tönt durch die Nacht. Vor zehn Minuten wurde der Bahnhof Valence verlassen. Weiter geht die jagende Fahrt auf Marseille zu. Der Expreßzug Lyon—Marseille, einer der schnellsten Frankreichs, schwebt mit seinen erleuchteten Fenstern wie ein phantastischer Pfeil durch die Ebene hin.

„Was haben wir drauf?“ fragt der Heizer. Unermüdlich schaufelt er in das gähnende Feuerloch. Der Lokomotivführer, magisch beleuchtet vom Widerschein züngelnder Flammen, am Regulator hantierend, steht wie eine Statue da. Sein Blick ist starr durch die Windschutzscheibe nach vorne gerichtet.

„Neunzig erst! Leg noch zu!“ ruft er gegen die Scheibe so laut, daß der Heizer es hören muß.

Der Zug hat Verspätung. Zwar nur Minuten —, aber die müssen eingeholt werden. Normalerweise legt er schon einhundertundzwanzig Kilometer in der Stunde zurück. Jetzt muß man noch zehn höher klettern.

Das Tachometer vibriert nervös hin und her. Viktor Besier, der Lokomotivführer, streift es immer von neuem mit einem flüchtigen Blick. Fünfundneunzig — achtundneunzig — hundert —.

Der Heizer schaufelt. Schweiß rinnt ihm die Stirn herunter; vermischt sich mit Kohlenstaub. Er ist schwarz im Gesicht, über das kleine Bäche laufen. Nur seine Zähne stechen blendend daraus hervor. Er grinst.

„Immer noch?“ fragt er.

„Ja, feste, feste!“ kommt es von der Windschutzscheibe zurück.

105 — — 110 — 118 — — 123

Im Widerschein des offenen Feuers zucken die Telegraphenstangen vorüber. Das sieht gespenstig aus. In Wellenbewegungen glitzern die Drähte, hoch und nieder, hoch und nieder, es ist eine unruhige Gleichförmigkeit.

„Genug!“ ruft Besier und streicht sich über die Stirn. 130!

Ein leises Zittern geht durch den stählernen Körper der Lokomotive. Sie stürmt dahin wie ein edles Pferd. Besier liebt sie. Er fühlt sich verwachsen mit diesem Wesen, das für ihn keine tote Maschine ist.

Gewissenhaft prüft er den Druck der Ventile. Er reißt den Regulator zurück; läßt Dampf ab. Zischend strömt der in einer weißen, milchigen Wolke aus.

Der Führerstand liegt jetzt im Dunkel. Michon, der Heizer, hat die eiserne Tür der Feuerung zugeworfen. Aber nach kurzer Zeit schon beginnt sie zu glühen. Wieder erhellt ein magischer Schimmer den kleinen Raum.

Draußen flattert die Nacht vorüber.

Auch Michon hat sich jetzt, auf der anderen Seite, an die Windschutzscheibe begeben. Auch er starrt dem Zug voraus. Ein Signal taucht auf. Es ist das Vorsignal eines Bahnübergangs. Das grüne Licht huscht vorüber. Schon kommt das Hauptsignal. Auch vorüberI Vorbei —: vorbei!

Der Bahnübergang — die Schranke — — alles nur eine Vision!

Fast hätte der Luftzug des durch die Nacht stürmenden Eisens den Bahnwärter umgerissen …

Besiers Kiefer mahlen. Alles ist Spannung an ihm. Stählern hart ist sein Blick. In solchen Stunden fühlt er seine ganze Verantwortung. Nur ein falscher Griff, e ine Schwäche, ein Übersehen, und der Zug versinkt in ein Chaos splitternder Eisenteile!

Gerade in der vergangenen Nacht hatte er einen furchtbaren Traum gehabt. Daran krankt er noch. Visionär sieht er die Katastrophe, die jeden Augenblick kommen kann. Für ihn und die anderen, die sich ihm ahnungslos anvertrauten.

Sekundenlang fühlte er Michons Blick auf sich ruhen. Ob dem auch schon Bedenken kamen?

Ach was — Bedenken! So etwas gab es nicht! Er ist ein normaler, gesunder Mensch! Drei Jahre lang fährt er die Strecke schon. Wieso sollte heute ausgerechnet etwas passieren!

Der Heizer wendet sich wieder seiner Feuerung zu. Mit einer Riesenstange stochert er in der Glut herum. Die Stange entgleitet der sehnigen, rauhen Hand; Stahl klirrt auf Eisen, — es tönt wie ein warnendes Glockenzeichen.

Besier fährt zusammen. Was war das? Ihn schüttelt etwas. Es verkrampft sich in ihm. Ohne daß er dem wehren kann. Draußen schwirrt ein Signal vorüber — Signal — Signal — — das letzte Signal, geht es ihm durch den Kopf. Weiß der Teufel, wie er auf solche irrsinnigen Gedanken kam!

Der Luxuszug besaß eine Fernsprechkabine. Hier kam ein Ruf an. Irgendwoher. Eine Stimme, trocken, heiser, sehr aufgeregt.

„Hallo! Spreche ich mit dem D-Zug 219 Lyon—Marseille?“

„Ja, bitte, hier ist die Sprechzelle D-Zug 219.

Wen wünschen Sie?“

„Gott sei Dank — Fräulein — oder wer Sie auch seien — ziehen Sie auf der Stelle die Notbremse, hören Sie? Menschenleben sind in Gefahr — folgen Sie meinem Rat, bevor es zu spät ist — —!“

„Wer spricht denn dort?“

„Das kann Ihnen gleichgültig bleiben. Handeln Sie, wie ich sage! Oder Sie sind verloren! Wenn Ihnen Ihr eigenes Leben noch lieb ist“

Die Telephonistin schwankt blaß zur Tür. Sie stürmt in den Gang hinaus. „Schaffner!“ ruft sie mit bebender Stimme, „Schaffner!“

Einige Fahrgäste stürzen aus ihren Abteilen heraus, umringen das Fräulein. Tausend Fragen umschwirren es.

„Ich soll die Notbremse ziehen!“ ruft das Mädchen in seiner Verzweiflung, „es kam ein Anruf — eben — ich weiß nicht — —“

Wachsbleich im Gesicht, starrt sie die drängenden Leute an. Eine Frau stößt einen hysterischen Schrei aus. Dann sinkt sie dem neben ihr stehenden Herrn in die Arme.

Die allgemeine Verwirrung nimmt panikartige Formen an. Da tritt ein junger, sorgfältig gekleideter Mann aus der Menge hervor, schreitet gemessen auf den nächsten Signalgriff zu und zieht die Bremse.

Ein Zittern und Beben geht durch den Zug. Alles purzelt wirr durcheinander. Die Leute werden nach vorne und aufeinander gepreßt. Knirschende Räder hört man — Flüche — Seufzer — — verworrene Schreie.

Und dann kommt ein Stoß, ein furchtbarer, alles durchrüttelnder Stoß, den draußen irgendwo ein splitterndes Krachen begleitet hat …

Im ganzen Zug ist das Licht erloschen. Gepäckstücke sind auf die Menschen heruntergefallen. Größer und größer wird der Tumult. Man hört Hilferufe.

Die Wagen stehen wie angeschraubt.

„Silence! Silence! — Ruhe, Ruhe!“ ertönt eine volle, sympathische Männerstimme, die wirklich etwas Beruhigendes hat, „ich bitte Sie, meine Herrschaften — — es ist doch gar nichts passiert! Man hat nur die Bremse gezogen!“

Draußen laufen zwei Schaffner und der Zugführer mit Laternen am Zuge entlang nach vorne. Überall springen die Fenster auf, erscheinen verzerrte Gesichter.

Ein pfeifendes Zischen kommt von da vorne her. Dazwischen erschallt es wie eine brüllende Menschenstimme. Sollte doch etwas passiert sein?

Die Männer hasten die Böschung entlang. Mehrere Reisende schließen sich ihnen an.

Dann starren sie entsetzt auf den vordersten Wagen, der, in Rauchwolken eingehüllt, halb über einem Abgrund hängt.

Aus der Tiefe kommt ein klägliches Wimmern.

Der Zugführer tritt an den Rand der Brücke, die, ein zerborstenes Eisengewirr, gesprengt und zerstückt in der Tiefe liegt.

Beherzte Männer steigen den Hang hinab.

Eben schiebt sich der Mond zwischen Wolken vor. Sein blasses Licht umgeistert die Schreckenszene.

Dort unten liegt die schwere Schnellzuglokomotive, halb in den steinigen Boden des fast ausgetrockneten Flußbetts gewühlt. Immer noch strömt zischend Dampf von ihr aus, der in weißen, wallenden Schwaden emporsteigt. Das Wimmern ist stärker geworden. Es löst sich bisweilen in heiseren Schreien aus.

Erblassend treten die Schaffner näher. Sie finden den Schreienden, — Michon, der Heizer ist es, der mit zerschmetterten Gliedern neben der Lokomotive liegt. „Schlagt mich tot!“ bittet er, „schlagt mich doch tot, ihr Leute! Das halte ich nicht mehr aus!“

Aber ein Arzt ist zur Stelle. Michon erhält eine Morphiumspritze. Da hört sein furchtbares Wimmern und Schreien auf …

Zehn Meter weiter, auf einem Felsenvorsprung, findet man Besier, den Lokomotivführer, mit zerschmettertem Schädel. Hier ist nichts mehr zu retten. Vorsichtig trägt man die Leiche zum Zuge hinauf.

Inzwischen haben sich alle Reisenden auf die Böschung begeben. Hastig rennen sie hin und her. Namen werden gerufen, geschrien. Antworten kommen. Herzzerreißende Szenen spielen sich ab. Jeder denkt sich das Unglück größer, als es gewesen ist. Endlich haben sich alle wieder zusammengefunden. Erleichtertes Aufatmen. Langsam beruhigt man sich. Nur wenige Reisende haben Hautabschürfungen und kleinere Verletzungen davongetragen. Der Zugschaffner gibt die Parole aus, daß nur der Lokomotivführer und der Heizer ernstlich zu Schaden gekommen sind.

Ein Hilfszug wird telephonisch herbeigerufen.

Während der Schaffner sachlich und ruhig seine Anordnungen traf, um wieder Ordnung herbeizuführen, trat ein Herr auf ihn zu und sagte:

„Ich bin Lebrun von der Pariser Kriminalpolizei. Sie kennen vielleicht meinen Namen!“

Der Zugschaffner leuchtete ihm ins Gesicht. „Haben Sie einen Ausweis?“ fragte er sachlich, während er nebenbei einem Angestellten noch rasch eine Weisung gab.

Lebrun hielt seine Legitimationskarte in den Schein der Laterne. Der andere prüfte sie. Dann reichte er dem Beamten die Hand hin.

„Das ist ja ein glücklicher Zufall, daß Sie gleich da sind, Herr Kommissar!“ sagte er froh bewegt, „Sie waren im Zuge?“

„Jawohl. Mit einem deutschen Kollegen, der zu Studienzwecken im Austausch zu uns gekommen ist. Man erwartet uns in Marseille. Aber nun gibt es wohl hier zu tun. Wollen Sie sich mir freiwillig unterstellen?“

Der Zugschaffner überlegt nicht lange. Unter Lebrun, dem berühmtesten Kriminalisten Frankreichs, zu arbeiten, sei keine Schande, erwidert er mit verhaltenem Lächeln.

„Na schön. Wie heißen Sie eigentlich?“

„Gaston Bois, Herr Kommissar!“

„Wir wollen sofort die Gegend hier absuchen lassen. Es liegt ein Attentat vor. Wieviel Leute haben Sie zur Verfügung?“

„Einen Packwagenschaffner, zwei Postbeamte, zwei weitere Schaffner und die beiden Schlafwagenkontrolleure. Das weibliche Personal zählt wohl nicht mit.“

Lebrun strich sich über das scharfe Kinn. „Hm. Vielleicht beteiligen sich auch einige Passagiere an der Aktion. Kennen Sie diese Gegend?“

„Wenig, Herr Kommissar. Aber man wird schließlich ortskundige Leute finden!“

„Schön. Die Sache nehmen Sie in die Hand!“

„Verzeihen Sie bitte, Herr Kommissar — aber ich darf den Zug nicht verlassen!“

„Richtig! Dann werden wir also — —“

Ein Postschaffner trat herbei. „Verzeihen Sie, Kommissar — ich bin aus der Gegend!“

„Schön, sehr schön. Also organisieren Sie eine Suchaktion! Aber sofort, wenn ich bitten darf!“

Geschäftig hastet der Mann davon. Lebrun wendet sich wieder Bois zu. „Haben Sie übrigens nach der Gegenstation Nachricht gegeben?“

„Jawohl. Ist sofort geschehen. Alle Vorkehrungen sind getroffen, um ein weiteres Unglück unmöglich zu machen.“

Jetzt steht ein jüngerer Herr ehrfurchtsvoll neben dem Kommissar. Es ist sein Begleiter, der mit Spannung in seinen Mienen forscht.

„Nun, Herr Seidler“, fragt er, „haben Sie sich an die Arbeit gemacht? Was meinen Sie, was hier vorliegt?“

Der Deutsche trat einen halben Schritt näher. „Natürlich ein Attentat!“ erwiderte er, „nach dem Anruf zu urteilen — —“

„Was für ein Anruf?“ fragte der Kommissar erstaunt.

„Ah — Sie wissen nicht? Irgendein Warner rief doch den Zug an!“

„Ein Warner? Na — und?“

„Die Telephonistin stürzte daraufhin auf den Gang hinaus, um den Schaffner zu suchen. Ihre augenblickliche Erregung steckte die anderen Reisenden an. Mir kam die Sache gleich höchst verdächtig vor. Da habe ich denn für alle Fälle die Bremse gezogen.“

„Sie haben — —?“

„Jawohl. Und hätte ich‘s nicht getan, dann lägen wir jetzt alle mit mehr oder weniger zerschmetterten Gliedern in dem Flußbett da unten! Hätte ich es zwei Sekunden früher getan, dann wären auch noch der Lokomotivführer und der Heizer verschont geblieben. Aber wie konnte ich ahnen — —“ In diesem Augenblick wurde dem Kommissar ein Mann vorgeführt, der als kleiner Hofbesitzer hier in der Nähe wohnte. Er glaubte eine wichtige Aussage machen zu können. Der Kommissar nahm ihn gleich vor.

„Wie heißen Sie?“

„Jérome Martin!“

„Sie haben das Unglück beobachtet?“

„Nein.“

„Ja, was wollen Sie denn?“

„Ich, Herr — Herr Kommissar — — ich habe aber kurz vorher so einen heftigen Knall gehört, daß ich im Bette auffuhr und gleich auf den Hof lief. Aber da war alles still. Nur der Hund knurrte. Ich beruhigte ihn. Gerade wollte ich wieder ins Haus gehen, als wieder ein Krachen zu mir herüberklang. Ich lief sofort in der Richtung los — — und da bin ich nun.“

„So so — Sie hörten zweimal ein Krachen!“ Lebrun wandte sich den Umstehenden zu. „Das erstemal“, sagte er, „war es die Brückensprengung. Beim zweitenmal handelte es sich dann um den Absturz der Lokomotive. Es war wahrhaftig ein Segen, Herr Seidler, daß Sie im letzten Augenblick noch die Notbremse zogen! Sie haben damit vielen Menschen das Leben gerettet!“

„Bei dieser Geschwindigkeit unbedingt!“ flocht der Zugschaffner ein, „das Tachometer ist auf 126 stehengeblieben!“

Alles starrte den Retter an, der bescheiden zur Seite blickte.

„Ein weiteres großes Glück war es noch“, fuhr Bois fort, „daß die Kuppelung zwischen der Lokomotive und dem Packwagen gerissen ist. Sonst waren die ganzen Wagen noch hinterhergestürzt.“

„Wo ist die Telephonistin?“ fragte Lebrun und löste sich von der Gruppe. Lediglich Seidler, der Deutsche, folgte ihm. Im Zuge brannte wieder das Licht.

Die Telephonzelle war umlagert. Jeder wollte telegraphieren oder telephonieren, daß ihm nichts weiter passiert sei. Aber der Raum war für jeden Privatverkehr abgesperrt. Er wurde für Dienstgespräche reichlich genug in Anspruch genommen.

Lebrun sprach zunächst mit der Präfektur in Paris. Man fragte sofort, ob er den Fall nicht gleich in die Hand nehmen wolle. Er lächelte:

„Ist schon geschehen!“ Im übrigen berichtete er über die Heldentat seines deutschen Kollegen. Man stelle ihm gern anheim, wurde ihm mitgeteilt, diesen mit zuzuziehen, — sein Einverständnis vorausgesetzt.

Dann nahm sich Lebrun die Telephonistin vor. „Erzählen Sie mir von dem Anruf, bitte!“

„Ja — also — — Herr Kommissar —“ begann die immer noch Aufgeregte, „es war eine Männerstimme — — ich sollte die Notbremse ziehen, wenn mir mein Leben lieb sei! Was sollte ich machen? Ich war ganz durcheinander und wollte den Schaffner rufen.“

„Der Fremde gab keinen Namen an?“

„Nein. Als ich fragte, meinte er, daß mir der gleichgültig bleiben könne.“

„Wissen Sie denn, woher dieser Anruf kam?“

„Ich habe es eben festgestellt. Weil ich schon dachte, daß Sie mich danach fragen würden.“

„Sehr brav von Ihnen, mein Kind! Na — und?“

„Der Anruf kam aus Valence. Auch die Nummer hat mir die Kollegin dort auf dem Amt verraten, als ich ihr andeutete, worum es sich handelt. Hier ist sie! Ich habe sie gleich notiert!“

Lebrun starrte den Zettel an. Dann sagte er hastig:

„Verbinden Sie mich mit der Kriminalpolizei in Valence!“ Nun sprach er längere Zeit mit dem Kollegen, der sich dort meldete. Man müsse sofort den Inhaber der fraglichen Nummer feststellen lassen. Außerdem möge man ihn auf dem laufenden halten. Wahrscheinlich komme er selber im Laufe des Tages noch nach Valence.

Dann wandte er sich wieder den näherliegenden Dingen zu.

Der Hilfszug war angekommen. Die Aufräumungsarbeiten wurden in Angriff genommen. Da auch ein Ärztewagen dabei war, konnte man den unglücklichen Heizer nun einer notwendigen Operation unterziehen. Man hoffte, ihn am Leben erhalten zu können.

Lebrun freute sich nicht nur vom rein menschlichen Standpunkt aus über die Tatsache, daß Michon am Leben blieb. Der Heizer würde ihm ganz gewiß auch wichtige Bekundungen über die letzten Augenblicke vor dem Absturz der Lokomotive machen können. — — —

Auf der anderen Seite des Flusses war inzwischen ein Gegenzug angelangt, der die Fahrgäste weiterzubringen hatte. Zwei Boote waren herangeschafft worden, mit denen man bei Fackelschein übersetzte. Das war aber so mit Schwierigkeitern verknüpft, daß es sich bis in den werdenden Morgen hinzog.

Seidler trat an Lebrun heran: „Ein Abgesandter der Suchkolonne möchte Sie sprechen, Herr Kommissar!“

Jetzt erst sah Lebrun einen Mann in der Nähe stehen, der, wie es schien, sich dem berühmten Kriminalbeamten nur zaghaft zu nähern traute.

„Nun, was gibt es, mein Freund?“ fragte Lebrun in seiner leutseligen Art. Der andere trat jetzt vollends heran.

„Ich soll Ihnen melden, Herr Kommissar, daß man von Etoile und von Livron aus dabei ist, alles gewissenhaft einzukreisen, und daß der Landjäger Elliot, der sich an unsere Spitze gestellt hat, bereits zwei verdächtige Handwerksburschen verhaften konnte. Auch auf der Straße nach Livron zu wurde ein Radfahrer festgenommen, der seine nächtliche Tour nicht genügend begründen konnte.“

„Sehr schön. Sehr schön. Wer schickt Sie denn zu mir?“

„Landjäger Elliot. Er meinte, Sie müßten doch orientiert sein. Ob Sie besondere Befehle hätten für ihn?“

„Hm — bestellen Sie ihm einen Gruß von mir, und ich freute mich sehr darüber, daß er mich gleich so tatkräftig unterstütze. Im übrigen lasse ich ihm freie Hand. Wo ist er denn stationiert?“

„In Etoile, Herr Kommissar.“

„Wie weit ist das von hier?“

„Etwa fünfviertel Stunden.“

„Sagen Sie also dem Landjäger Elliot, er möchte so gegen 9 Uhr selbst einmal zu mir kommen.“

Der deutsche Kriminalassistent Willi Seidler befand sich im Gespräch mit der Eisenbahn-Untersuchungskommission, die eben im Auto gekommen war. Seine Angaben wurden eifrig protokolliert. Lebrun trat dazu. Man besprach den Fall hin und her, der eigentlich klar lag. Irgendein Verschulden eines Beamten kam offenbar nicht in Frage. Aber das mußte alles gewissenhaft festgestellt werden.

Es wurde hell. Aus den umliegenden Ortschaften, namentlich aus Etoile, wo sich das Unglück rasch herumsprach, kamen Neugierige in Scharen herbei. In weitem Bogen mußte die Stelle abgesperrt werden.

Lebrun und Seidler mischten sich unauffällig unter die Leute. Man konnte nicht wissen, ob sich nicht einer der Attentäter — sofern es mehrere waren — unter ihnen befand. Jeder mußte auf sein Gehaben hin genau beobachtet werden. Oft genug kam es vor, daß man auf diese Weise schon eine Spur, ja, den Täter fand!

Lebrun nahm auch einen Mann fest, der, in sich hineingrinsend, eifrig Notizen machte. Wie man bei genauem Hinblicken sah, hatte er angefangen, eine Skizze der Unfallstelle zu zeichnen. Gefragt, was das bedeuten solle, zuckte er nur, immer noch grinsend, die Achseln.

Ab mit ihm! Lebrun sorgte dafür, daß man ihn im Packwagen einschloß. Während Seidler weiter die Leute ins Auge faßte, hielt Lebrun erneut mit einem Herrn der Bahnpolizei eine Besprechung ab. „Daß ein Attentat vorliegt“, sagte er, „ist ja unzweifelhaft. Aber nun möchte ich wissen, was das Motiv dazu war! Befand sich im Zuge vielleicht ein größerer Geldtransport, so daß eine Beraubungsabsicht vorliegen könnte?“

Der Bahninspektor strich sich über den kurzen Bart. „Allerdings“, erwiderte er, „befand sich unter den Postsendungen eine von 30 000 Franken in Gold, die für eine Bank in Marseille bestimmt ist. Zu ihrer Obhut wurde sogar ein weiterer Beamter mitgegeben. Aber ich kann mir kaum denken — —“

„— daß davon jemand etwas gewußt haben sollte? Hm — sagen Sie das nur nicht! Gerade solche Rauhzüge werden stets erst nach gründlicher Vorarbeit ausgeführt. Also hier liegt eine Möglichkeit! Denken Sie sich nur aus, wenn der Zug mit voller Geschwindigkeit in den Abgrund hinabgestürzt wäre! Bei der dann entstandenen Not und Verwirrung wäre es wohl ein Leichtes gewesen, den Postwagen auszurauben!“

„Das stimmt schon. Aber —“

„Was, aber?“

„Es könnte auch noch andere Gründe geben.“

Lebrun lächelte. „Selbstverständlich. Ich lege mich auch nicht fest. Ich habe sogar inzwischen für alle Fälle die Namen sämtlicher Passagiere aufschreiben lassen. Allerdings finde ich keinen darunter, dessen Persönlichkeit mir als Objekt eines Attentates wichtig genug erscheint. Wenn Sie nicht etwa den portugiesischen Konsul als eine solche Persönlichkeit ansprechen wollen, der sich in diesem Zuge auf einer Urlaubsreise an die Riviera befand.“

„Hm — das glaube ich allerdings kaum, daß man seinetwegen — —“

„Na also. Es wäre immerhin nachzuprüfen, ob nicht vielleicht eine bedeutende Persönlichkeit die Absicht hatte, diesen Zug zu benutzen — aus irgendeinem Grunde aber im letzten Augenblick noch davon Abstand nahm. Immerhin interessiert uns das erst in zweiter Linie. Wir haben ja schon einen wichtigen Anhaltspunkt, nämlich das Telephongespräch, durch das der Zug gewarnt werden sollte.“

„Auch recht sonderbar!“

„Allerdings! Vielleicht hat einer der Täter, mindestens aber ein Mitwisser, noch im letzten Moment Gewissensbisse bekommen. Anders wäre das Gespräch kaum zu erklären.“

„Oder ein Unbeteiligter hat durch einen Zufall irgendwie Kenntnis davon erhalten. Jedenfalls erscheint mir dies Telephongespräch auch als der wichtigste Anhaltspunkt. Haben Sie schon etwas veranlaßt in dieser Sache?“

„Natürlich. Die Kriminalpolizei in Valence leitet die Forschungen ein. Sobald ich hier fertig, bin, werde ich mich persönlich dorthin begeben. — Was gibt es?“

Er wandte sich einem Schaffner zu, der eben hastig und mit wichtiger Miene herbeikam.

„Herr Kommissar werden am Telephon verlangt!“

Am Apparat war der leitende Kommissar von Valence. Man habe den Inhaber der Telephonnummer zwar feststellen können, doch sei damit nichts erreicht. Man stehe einfach vor einem Rätsel. Es wäre schon angebracht, wenn Lebrun selber kommen wollte.

„Aber, erlauben Sie, Herr Kollege!“ ruft der ärgerlich aus, „wenn Sie doch den Teilnehmer feststellen konnten — — ich verstehe das einfach nicht!“

„Der Teilnehmer ist eine Firma in einem nachts völlig verlassenen Bürohaus.“

„Das ist allerdings sonderbar. Gut. Ich komme. Werde aber erst gegen Mittag hier frei sein. Vielleicht können Sie mich gegen ein Uhr mit dem Kraftwagen abholen lassen. Wird das wohl gehen?“

„Wird gemacht!“

„Möglicherweise sende ich Ihnen jetzt gleich schon einen anderen Herrn dorthin. Es ist ein Kollege aus Deutschland. Er wird sich mit meiner Unterschrift ausweisen können.“

Da der Hilfszug gerade dabei war, den Unglückszug nach Valence zurückzuschleppen, konnte Seidler diese Gelegenheit zum Fahren benutzen. Lebrun beauftragte ihn, sich dort nach Möglichkeit mit dem vorliegenden Material zu beschäftigen.

Zweites Kapitel

Gegen neun kommt der Landjäger Elliot, eine Hopfenstange mit einem Tomatenkopf, diensteifrig auf seinem Motorrad herangebraust. Lebrun begrüßt ihn in seiner gewinnenden Weise und läßt sich Rapport erstatten. Jawohl — drei Verdächtige hat man schon festgenommen. Die Suchaktion geht noch weiter, inzwischen von mehreren Gendarmen auf das Peinlichste organisiert.

Lebrun ist zufrieden, was sich bei ihm in einem schmunzelnden Brummen äußert.

„Einen vierten Verdächtigen habe ich hier selbst festnehmen können!“ bemerkt er, „ich habe ihn nach dem Bahnwärterhäuschen, einen Kilometer von hier auf Valence zu, schaffen lassen. Wir wollen uns gleich mal dorthin begeben, um ihn unter die Lupe zu nehmen. — Wo haben Sie Ihre Verhafteten?“

„In der Haftzelle in Etoile.“

„Getrennt natürlich?“

„Jawohl, Herr Kommissar!“

„Schön. Also wandern wir! Oder kann ich mit auf Ihr Vehikel steigen?“

„Vehikel? Aber, Herr Kommissar! Eine der besten Maschinen, die es überhaupt gibt. Ich bin stolz darauf!“

„Nichts für ungut. War nicht böse gemeint, Elliot! Wo haben Sie denn diese schwere Maschine her?“

„Gelegenheitssache, Herr Kommissar! Natürlich nicht neu gekauft!“

„Hm. — Wird es denn gehen auf dem schmalen Feldweg neben der Böschung?“

„Na selbstverständlich! Es lohnt sich kaum, erst zur Straße hinüberzufahren!“

Unterwegs begegnet ihnen ein Materialzug der Eisenbahn, der auf dem anderen freien Geleise fährt. Die Reparatur der Brücke soll sofort in Angriff genommen werden, damit der Verkehr nicht unnötig lange umgeleitet zu werden braucht.

Der Häftling blickt Lebrun düster entgegen, als der auf ihn zufritt. Er ist ein untersetzter, etwas schwächlich erscheinender Mensch mit einem ausgesprochen spitzen Kinn und dunklen, unruhigen Augen. Lebrun hält ihm die Skizze vor.

„Warum haben Sie das gemacht?“

Der Kleine blickt den Kommissar düster an. Ein Zucken geht über das scharfe Kinn. In seinem Blick liegt etwas Stechendes.

„Das ist schließlich meine Sache!“ erwidert er widerspenstig. Lebrun zieht die Schultern hoch, was er immer tut, wenn er ärgerlich wird. Sonst aber zeigt er eine beherrschte Ruhe.

„So — Ihre Sache! Na schön! Wie heißen Sie überhaupt?“

„Jean Latour.“

„Herr Elliot — bitte, notieren Sie! — — Ihr Beruf, Monsieur Latour?“

„Schriftsetzer. Das heißt, augenblicklich ohne Beschäftigung.“

„Geboren?“

„28. XI. 04 in Montélimar.“

„Adresse?“

„Etoile, Rue de la paix 26.“

„Warum sind Sie nach der Unglücksstelle gekommen?“

„Weil ich mir das auch einmal ansehen wollte.“ „Na ja. Aber Sie brauchten das doch nicht aufzuzeichnen!“

Latour zupfte an seinem Fliegenbart und blickte den Kommissar wieder herausfordernd an.

„Ich kann zeichnen soviel und was ich will!“

„Sie mußten doch aber einen Grund dazu haben!“

„Der geht niemanden etwas an!“

„Hören Sie — wenn Sie aufsässig werden, verschlimmern Sie nur Ihre Lage. Ich muß Sie in Haft behalten!“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können!“

Lebrun ist wütend. Aber er beherrscht sich auch jetzt noch. Ohne weiter ein Wort an den Mann zu richten, wendet er sich Elliot zu.

„Wir werden den Häftling nach Valence schaffen lassen. Auch die anderen möchte ich dorthin haben. Können Sie das veranlassen, Elliot?“

„Bedaure, dazu reichen meine Befugnisse nicht, Herr Kommissar!“

Richtig! Na schön — — dann fahren wir jetzt gemeinsam nach Etoile. Und Sie —“ er wandte sich dem Bahnwärter und einem weiteren Beamten zu, in deren Obhut Latour Zurückbleiben mußte, „Sie bürgen mir für den Mann! Halten Sie ihn hier so lange fest, bis wir wiederkommen!“

In Etoile, das man bald erreichte, wurden Lebrun die anderen Verhafteten vorgeführt. Er hielt sich aber zunächst nicht mit langen Verhören auf. Es genügte ihm, daß die drei von einem Kollegen als hinreichend verdächtig bezeichnet würden. Man schaffte sie in ein Auto, fuhr zunächst nach dem Bahnwärterhäuschen zurück, nahm dort Latour dazu und fuhr sogleich nach Valence weiter. Feldjäger Elliot blieb zurück, um sich weiterhin an der Suchaktion zu beteiligen. Außerdem sollte er Lebrun auf dem laufenden halten.

Inzwischen hatte Kriminalassistent Seidler bereits vorgearbeitet. Das Ergebnis wurde sofort mit dem französischen Kommissar durchgesprochen.

„Also, wie verhält sich das mit der Stelle, von der aus man den Zug anrief?“ fragte er interessiert.

„Es handelt sich um eine Ölgroßhandlung“, erwiderte Seidler, „die abends bereits um fünf ihre Räume schließt. Während der Anrufzeit, elf Uhr fünfzehn nachts, ist kein Mensch in den Räumen gewesen.“

„Trotzdem soll der Anruf von dort gekommen sein?“

„Jawohl. Das ist auf dem Fernsprechamt einwandfrei festgestellt worden.“

„Na — und was haben Sie für eine Erklärung dafür, Herr Seidler?“

„Es gibt natürlich verschiedene Möglichkeiten. Entweder — was mir am naheliegendsten zu sein scheint, ist doch jemand da gewesen, oder es hat sich jemand irgendwie in die Leitung geschaltet.“

„Was ich kaum ahnehmen möchte, da es der Warner doch unbedingt eilig hatte.. Solch ein Vorgang braucht aber Zeit.“

„Allerdings. Dann gibt es noch zwei weitere Möglichkeiten.“

„Noch zwei? Ich könnte mir nur noch eine denken, nämlich, daß sich trotz allem das Fräulein auf dem Telephonamt geirrt hat.“

„Daran habe ich auch gedacht. Schließlich könnte man auch noch eine Störung im Fernsprechnetz denken, durch die ein Irrtum entstanden wäre.“

Lebrun schien noch ein neuer Gedanke zu kommen. „Wie aber“, meinte er, „wenn der Rufer eine ganz andere Nummer genannt hat?“

„Gerade das scheidet aus, Herr Kommissar. Denn das Amt hat ja unter der Nummer zurückgerufen, als die Verbindung hergestellt war.“

„Richtig! Dann scheidet aber wohl auch die Möglichkeit eines Irrtums seitens des Amtes über die Nummer aus.“

„Ich bin auch der Meinung, daß der Anruf unbedingt aus den Raumen der Firma gekommen ist.“

„Hat man schon mit der Firma gesprochen?“

„Ja. Aber dort steht man offensichtlich vor einem Rätsel.“

Lebrun lief nervös in dem kleinen Raum, in dem man verhandelte, hin und her. „Wirklich, eine sonderbare Geschichte!“ murmelte er, „wie denken Sie nun weiter darüber?“

„Man wird zunächst einmal den Wächter vernehmen müssen, der nachts das Bürohaus zu beobachten hatte. Es ist doch anzunehmen, daß es bewacht war.“

„Da haben Sie recht, Herr Seidler! Haben Sie auch in dieser Richtung schon etwas veranlaßt?“

„Leider hatte ich noch keine Zeit dazu. Rufen wir bei der Firma an!“

Die Bewachungsfirma wird sofort namhaft gemacht. Auch der betreffende Wächter ist ohne weiteres festzustellen. Man läßt ihn bitten, sobald wie möglich auf der Präfektur vorzusprechen.

Aber auch seine Vernehmung ergibt nichts besonderes. Angeblich hatte er nichts bemerkt. Oder ob er bestochen war? Schwerlich anzunehmen! Das sieht Lebrun auf den ersten Blick.

Aufgescheucht durch die verschiedenen Aufragen der Polizei, stellt sich der Inhaber der Ölgroßhandlung persönlich ein und bittet um Aufklärung. Von seiner Firma aus habe man nachts einen D-Zug antelephoniert? Ausgeschlossen!

Der kleine bewegliche Herr fuchtelt nervös mit den Armen. „Die Sache kommt mir geradezu lächerlich vor, meine Herren! Das Haus ist nachts abgeschlossen. Nur drei Leute haben den Schlüssel zu unseren Räumen: außer mir noch der Prokurist und der Wächter. Also, was wollen Sie?“

„Irgendein Zeichen gewaltsamen Eindringens wurde auch nicht bemerkt?“ fragte Lebrun.

„Ach, Unsinn. Ist alles in Ordnung. Was haben Sie überhaupt für Ideen! Von meinen Räumen aus soll ein D-Zug vor einem Attentat gewarnt worden sein! Wirklich komisch, sehr komisch!“ Er lachte meckernd, wobei ihm der Kneifer fast von der etwas höckrigen Nase rutschte, „na — und wenn schon, dann sollte man doch nur froh sein darüber! Ein größeres Unglück ist dadurch vermieden worden. Was wollen Sie mehr, meine Herren?“

„Wir wollen natürlich erfahren, wer angerufen hat. Denn der Betreffende mußte doch etwas wissen!“

Jetzt schien auch der Ölmagnat wieder stutzig zu werden. „Ja ja — — sonderbar bleibt es doch! Wie wollen Sie das nun herausbekommen?“

„Oh — wir bekommen es schon heraus!“ fiel Seidler ein. „Und wenn Sie uns gar noch dabei behilflich sein wollen, Herr — —“

„Olivier ist mein Name!“

Seidler mußte lächeln. Olivier — Ölbaum! Der richtige Name für den Inhaber dieser Firma!

„Ja, also, Herr Olivier — wie ich schon sagte: wenn Sie uns helfen wollen — — Sie würden uns jedenfalls zu großem Dank verpflichten!“

„An sich recht gerne! Warum auch nicht! Aber ich wüßte nicht, wie ich noch helfen soll!“

„Wir werden vielleicht in Ihrer Firmengeschichte ein wenig herumforschen müssen“, begann Seidler von neuem, „das ist es, was ich eben noch sagen wollte.“

Herr Olivier strich sich das spärliche Haar zurück. „Meinetwegen, ich lege Ihnen da keinen Stein in den Weg. Nur ist mir recht unklar, wie

Sie das machen wollen. Und was das überhaupt für einen Zweck haben soll!“

„Zweck? Hm — es handelt sich jedenfalls um den Versuch einer Lösung.“

„Sie trauen sich wirklich viel zu, mein Herr!“

„Gar nicht. Ich habe zuweilen einen guten Sinn für gewisse Dinge — wenn freilich auch lange noch nicht die Erfahrung, wie beispielsweise hier Herr Lebrun!“

Der Kommissar quittierte dies Kompliment mit einem süßsauren Lächeln. Seiner Meinung nach war das vollkommen überflüssig. Aber er würde nun auch dem jungen Deutschen Gelegenheit geben, an diesem Fall zu beweisen, was hinter den Worten steckte. Offenbar war ihm allerhand zuzutrauen. Seidler, zu dem Firmeninhaber gewendet, fuhr ruhig fort:

„Zunächst bitte ich Sie, mein Herr, Ihre Angestellten vernehmen zu dürfen. — Sie sind damit einverstanden, Herr Kommissar?“

Lebrun ließ sein schmunzelndes Brummen vernehmen. „Warum nicht? Natürlich! Das hängt nur noch von Herrn Olivier ab.“

Der gab sein Einverständnis. Doch hatte er noch einen Einwand.

„Schließlich“, meinte er, „werde ich Ihnen als Chef der Firma doch wohl die erschöpfendste Auskunft erteilen können!“

„Gewiß. Schon richtig“, erwiderte Seidler freundlich, „doch alles können auch Sie nicht wissen. Ihr Blick muß auf das große Ganze gerichtet bleiben. Aber hier kommt es auch manchmal auf kleine Nebensächlichkeiten an, die Sie leicht übersehen werden, während sie anderen wieder bedeutungsvoll scheinen können.“

Dieser Einsicht konnte sich auch Olivier nicht verschließen.

So vereinbarte man, daß am nächsten Tage schon die Vernehmung beginnen sollte.

*

Inzwischen nahm sich Lebrun die verhafteten Leute vor. Sie machten alle keinen günstigen Eindruck auf ihn. Die beiden Handwerksburschen sahen verwahrlost aus. Sie stritten entschieden ab, von dem Unglück auch nur das geringste geahnt zu haben. In einem Heuschober wurden sie aufgetrieben, als sie sich gerade hastig davonmachen wollten. Der Schober lag ganz in der Nähe der Unglücksstätte.

„Warum hatten Sie‘s denn so eilig, davonzukommen?“ fragte der Kommissar und sah sie durchdringend an.

Der eine, der den Wortführer spielte, erwiderte, sie hätten gleich Angst gehabt, in Verdacht zu kommen. Sie hätten nur Scherereien vermeiden wollen. Aber nun sei es ja doch so gekommen, wie sie gefürchtet hatten.

Warum sie denn keine Papiere hätten?

„Die sind uns in Montélimar in der Herberge gestohlen worden!“