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Jean Didier ist Taxifahrer, der häufig Nachtdienst hat. Madame Didier ist beunruhigt: Nach einer langen Nacht ist ihr Mann noch nicht zurückgekehrt. Leider besteht ihre Besorgnis zu Recht: Wenig später wird Didier auf der Straße von Corbeil nach Malun mit einer Schusswunde in der Stirn erschossen in seinem Taxi sitzend aufgefunden. Was ist passiert? Wen hat er gefahren? Galt der Mord wirklich dem Taxifahrer oder ging es bei alledem nicht eigentlich um etwas anderes und Didier war nur das unglückliche Opfer? Der Mord an Taxichauffeur Didier ist nur der Auftakt zu einer atemlosen Handlung von Mord, Verbrechen, Action und Skrupellosigkeit. Kommissar Berreux hat alle Hände zu tun, um das Verbrechen aufzuklären.-
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Seitenzahl: 228
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Hans Heidsieck
Kriminalroman
Saga
Taxi 303
German
© 1937 Hans Heidsieck
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711508596
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Madame Didier räkelte sich, sah blinzelnd auf die Weckuhr und sprang aus dem Bett. Dreiviertel sieben.
„Erneste! He! Erneste! Aufstehen!“
Der kleine Erneste gab keine Antwort. Er schlief noch den glücklich-friedlichen Schlaf des Kindes. Das eine seiner Händchen hing über den Bettrand.
Neben Erneste lagen die beiden kleineren Kinder in einem Sonderbettchen. Sie brauchten noch nicht in die Schule zu gehen.
Madame Didier huschte nervös hin und her, lief zur Küche, setzte die Milch auf, wusch sich in der Küche flüchtig Gesicht und Hände und lief dann wieder ins Zimmer zurück.
„He! Erneste, kleines Kerlchen, nun wird es aber Zeit! — Wo der Vater nur heute bleibt?“
Wenn ihr Mann, der Taxichauffeur Jean Didier, Nachtdienst hatte, war sie stets etwas aufgeregt. Wie oft hatte man schon gehört, dass so ein Fahrer nachts überfallen, ja niedergeschossen wurde. Dagegen gab es bis heute noch keinen vollkommenen Schutz. Was nützte es schon, dass Didier eine Waffe bei sich trug, wenn der andere flinker war oder ihn gar von hinten heimtückisch überfiel?
Die kleine Frau nahm den Jungen hoch, stellte ihn auf einen Stuhl. Der Knabe rieb sich die Augen. Dann reckte er sich. Schliesslich schlang er die Arme um den Hals seiner Mutter und sagte:
„Ich habe so viel geträumt.“
„Was hast du geträumt, mein Kind?“ fragte Madame Didier. „Hast du etwas Schönes geträumt?“
Der Junge schlüpfte in seine Hosen.
„Von Papa, Mutti!“ berichtete er. „Ja, da kam ein Mann — und der hat Papa mit einem Knüppel gehaut!“
„Gehauen heisst das, mein Jungchen — gehauen. Aber ist das wahr? Der Mann hat den Papa gehauen? Na — und was hat der Papa gemacht?“
„Der Papa ist hingefallen ... und dann — ja, dann ist er ganz ruhig liegengeblieben.“
„Mein Gott!“ stöhnte die Frau. „Mein Gott! Ob ihm wirklich etwas zugestossen ist?“
Sie strich sich mit zitternden Fingern über das noch unordentliche Haar. Hastig eilte sie zur Küche zurück, sah aus dem Fenster. Kam er denn immer noch nicht? Er müsste längst hinter dem Neubau aufgetaucht sein. Wo er nur heute blieb?
Mit ihren Gedanken bei Jean, machte sie ihren Knaben fertig, wusch ihn, kämmte ihn, gab ihm die Milch zu trinken und ein Stückchen Schmalzbrot dazu. Dann musste er sich schon fertig machen, den Ranzen über die Schulter nehmen. Ein Kuss noch. — „Leb wohl, mein Junge!“
Schon stapfte er mit seinen kleinen Füssen die Treppe hinunter. Madame Didier blickte ihm nach.
„Wenn du den Vater siehst“, rief sie, „so sag ihm, er soll sich beeilen, hörst du?“
Ein schwaches „Ja, ja!“ kam zurück. Der Junge steuerte schon auf den Neubau zu.
Es war trübe draussen, regnerisch, dunkel, sehr kühl. Die jungen Blätter der Bäume waren von Tau benetzt. Ein Milchwagen fuhr klingelnd vorbei. Zwei Strassenkehrer schwatzten laut miteinander. Nebenan zog jemand mit grossem Getöse die Jalousien hoch.
Madame Didier setzte das Kaffeewasser auf. Wenn ihr Mann kam, wollte er immer erst einen starken Kaffee trinken. Er hatte gewiss gefroren in dieser kalten Nacht. Aber warum kam er noch nicht?
Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. Mittlerweile war es dreiviertel acht geworden. Jean musste längst hier sein.
Ihre Unruhe wuchs mit jeder Minute. Der Traum des Jungen ängstigte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Unfähig, jetzt ihre gewohnte Arbeit zu erledigen, trat sie wieder ans Fenster und schaute auf die Strasse hinaus. Arbeitertrupps kamen vorüber. Wagen um Wagen rollte vorbei. Der Geschäftsverkehr setzte ein. An der Ecke sauste klingelnd und rasselnd die Strassenbahn über die Schienen. Ein Hund schlich mit eingezogenem Schwanz über den Damm. Der Müllabfuhrwagen hielt vor dem Nachbarhaus. Zwei gelblich bestaubte Männer schleppten die schweren Kästen aus dem Hause heraus.
Madame Didier sah das alles — und sah es doch nicht. Immer wieder glitt ihr Blick zu dem Neubau hinüber. Dort musste er um die Ecke kommen, jeden Augenblick. Der grosse, breitschultrige Mann stand ihr deutlich vor Augen, mit seinem etwas schwerfälligen, wiegenden Gang. Die Chauffeurmütze zog er meistens über das linke Ohr.
Da! War er das nicht ..?
Nein. Ein anderer. Ihre Erregung narrte sie schon.
Die Minuten verrannen. Es schlug bereits acht. Aus der Stube drang Kindergeschrei. Eglantine, das Mädchen, war wach geworden. Was hat sie nur? Warum schreit sie?
Madame Didier eilte zu dem Kind, nahm es auf und beruhigte es. Aber es liess sich lange nicht beruhigen. Es schrie nur noch mehr. Die Frau war ganz ausser sich. Sie konnte jetzt nicht einmal hören, wenn draussen die Wohnungstür knarrte. Jeden Augenblick musste sie doch knarren — meinte sie.
Aufgeregt legte sie die Kleine ins Bett zurück. Mag sie brüllen — mein Gott, sie wird Hunger haben. Madame Didier ging in die Küche zurück, um ein Süppchen zu kochen. Jetzt konnte sie auch von Zeit zu Zeit wieder einen Blick aus dem Fenster werfen.
Als die Kleine besorgt war, liess es ihr keine Ruhe mehr. Sie eilte zum Kaufmann hinunter. Ob sie mal telefonieren dürfe.
„Aber gewiss doch, Madame — was gibt’s denn? Sie sind ja so aufgeregt?“
„Mein Mann —!“ sagte sie nur und hob schon den Hörer auf; rief die Garage an.
„Wer ist dort? Madame Didier? Ihr Mann? Warten Sie einen Augenblick, ich will einmal nachschauen.“
Der Augenblick wurde zu einer Ewigkeit. Endlich — endlich kam der Mann wieder zurück an den Apparat. „Ja, bitte?“
„Ihr Mann ist noch nicht wieder da, Madame Didier. Vielleicht hat er noch eine weite Fahrt nach auswärts bekommen. Das wäre ja nichts Beunruhigendes.“
Madame Didier hängte ein. Sie war ausser sich.
Nichts Beunruhigendes!
„Hier Aufnahme!“
„Hier Polizeipressedienst. Wir geben Ihnen eine wichtige Nachricht durch. Heute nacht wurde auf der Landstrasse zwischen Corbeil und Melun der Taxichauffeur Jean Didier an seinem Steuer sitzend tot aufgefunden — haben Sie das?“
„Ja — tot aufgefunden.“
„Man stellte an seiner Stirn eine Schusswunde fest. Seine Geldbörse war entwendet. Offensichtlich liegt Raubmord vor. Haben Sie?“
„Raubmord vor — ja, bitte, weiter!“
„Vom Täter fehlt vorläufig jede Spur. Die Ermittlungen sind im Gange.“
„Im Gange.“
„Das Publikum wird gebeten, zur Aufklärung beizutragen. Didiers Standplatz befand sich am Pont Royal. Hier nahm er, wie zwei seiner Kollegen bekunden, nachts gegen drei Uhr noch eine Fahrt an. Der Fahrgast wird als ein kleiner, schmächtiger Mensch in einem hellen Uebermantel geschildert. Wer irgendwie diesen Vorfall beobachtet oder nach der angegebenen Zeit den Wagen Nummer dreihundertdrei mit der Polizeinummer 852 754 gesehen hat, wolle sich sofort im Polizeipräsidium, Zimmer hundertvierzehn, bei Kommissar Berreux melden. Fernsprechnummer des Polizeipräsidiums, Apparat 577. Sämtliche Angaben werden auf Wunsch vertraulich behandelt — haben Sie alles verstanden?“
„Jawohl.“
„Bringen Sie diese Notiz in das Mittagsblatt, wenn ich bitten darf. Irgendein Kommentar dazu ist vorläufig nicht erwünscht.“
Am Tatort wurden verschiedene Lichtbildaufnahmen gemacht. Kommissar Berreux untersuchte die Wagenspur. Offensichtlich war der Wagen ganz normal abgebremst worden. Der Fahrgast musste den Chauffeur also zum Halten veranlasst haben.
Die Strasse stieg an der Stelle erheblich an. Einige Schritte weiter auf Melun zu führte ein Weg links nach der Försterei. Die Waldung machte hier überall einen dichten und düsteren Eindruck.
Zur Rechten fiel das Gelände nach der Seine zu ab. Die Tat war zweihundert Meter vor dem Kilometerstein 37 geschehen.
An Fussspuren konnte nichts Besonderes mehr festgestellt werden. Sie waren durch zahlreiche andere Leute, die den Tatort besuchten, bereits verwischt. Auch das Ansetzen eines Hundes blieb ohne Erfolg.
Berreux wandte sich an seinen Assistenten, den Kriminalsekretär Bout. „Der Täter“, behauptete er, „hat sich diese Stelle wohlweislich ausgesucht. Erstens einmal gab er dem Fahrer gegenüber wohl die Försterei als Ziel an, zu der dort der Weg links abbiegt. Er konnte behaupten, dass er das Stück nun laufen werde. Und ausserdem steigt hier die Strasse erheblich an, so dass er die Möglichkeit hatte, mit einem Lastzug, der da auch nur langsam hinauffahren kann, nach Melun weiterzukommen. Lastzüge kommen hier ja nachts öfter vorbei.“
Ein anderer Herr von der Mordkommission trat auf den Kommissar zu. Er hielt mehrere Zigarettenstummel in seiner Hand, die er zum Teil im Aschenbecher, zum Teil auf dem Boden des Wagens gefunden hatte. Einige Zigaretten waren nur bis zum letzten Drittel aufgeraucht, ein deutliches Zeichen dafür, dass der Täter äusserst nervös war. Die Marke konnte leicht festgestellt werden. „Orient drei“ stand auf dem dünnen Papier. Das war bereits ein wenn auch nur kleiner Anhaltspunkt.
Berreux untersuchte nun seinerseits den Wagen auch noch einmal genau. Schliesslich fand er in der linken vorderen Tür eine Einschussöffnung, in der auch noch das Geschoss stak. „Sechs Komma fünf Millimeter!“ stellte er fest.
Nun musste noch die Umgebung des Tatorts abgesucht werden, ob man irgendwo vielleicht auch die Waffe fand.
Fussspuren führten zu einem Tümpel, der etwa fünfzig Schritte von der Stelle entfernt lag. In diesem Tümpel konnte die Waffe sein. Es machte viel Mühe, ihn abzutasten. Aber man zog nur einige alte Blechbüchsen aus ihm hervor.
Berreux überliess das Weitere seinem Assistenten und begab sich mit dem Dienstwagen nach der Tankstelle, die drei Kilometer vor Melun an der Strasse lag. Der Tankwärter wusste schon, was sich ereignet hatte, und gab ihm erregt Auskunft. Ja — fünf oder sechs Lastzüge waren während der Nacht in Richtung Melun hier vorbeigekommen. Von dreien konnte der Mann auch die Firmen nennen, denen sie zugehörten. Auch mehrere Privatwagen hatten die Strecke befahren.
Berreux schrieb sich die Namen der Lastwagenfirmen auf, bedankte sich und fuhr nach Corbeil zurück. Hierher nahm er den Landgendarm mit, dem der Vorfall zuerst gemeldet wurde, und der sich dann sofort an den Tatort begab. Der Landgendarm musste dem Kommissar noch einmal genau berichten, wie es zu der Entdeckung des grausigen Geschehnisses kam. Der Milchwagenkutscher einer Molkerei in Melun hatte ihn von der Försterei aus angerufen. Er fuhr in den frühen Morgenstunden an der einsam auf der Landstrasse stehenden Taxi vorbei, ohne dass ihm zunächst etwas auffiel. Aber dann kam ihm die Sache doch wohl etwas merkwürdig vor. Er hielt seinen Wagen an, trat auf die Taxi zu und entdeckte nun, dass der Fahrer tot war. Er sah auch die kleine Wunde an seiner Stirn. Grausen packte ihn. Hastig leuchtete er mit einer Taschenlampe alles ab. Kein weiterer Mensch war in der Nähe. Unheimlich drohte der Wald. Ob in ihm noch der Mörder steckte?
Wie ein Verfolgter stürzte der Kutscher zur Försterei, um zunächst dort seine furchtbare Entdeckung bekanntzugeben. Nachdem man die Polizei fernmündlich benachrichtigt hatte, begab sich der Förster mit ihm zum Tatort zurück. Aber hier konnte nun vorläufig nichts weiter geschehen. Der Förster sorgte dafür, dass nichts verändert wurde.
Der Landgendarm hatte die Meldung sofort nach Paris weitergegeben. Ganz kurze Zeit, nachdem er am Tatort eingetroffen war, erschien auch schon Kommissar Berreux aus Paris.
Der Kommissar besprach nun mit ihm, was er alles veranlassen und dass er unbedingt feststellen sollte, ob jemand während der Nacht die Durchfahrt der Taxi dreihundertdrei beobachtet hatte.
Danach begab er sich nach Paris zum Pont Royal, um an dem Standplatz, von dem aus Didier die verhängnisvolle Fahrt antrat, seine Nachforschungen anzustellen.
Berreux nahm sich zunächst einen älteren Fahrer vor, der während der Nacht hinter Didiers Taxi gestanden hatte. Um ihn und den Mann herum standen im Handumdrehen eine Menge Leute, vor allem auch die anderen Chauffeure, und der Kreis der Neugierigen wuchs rasch.
„Sie beobachteten also den Vorgang, wie der Fremde an Ihren Kollegen herantrat? Hörten Sie auch, was er sprach?“
„Nein, verstehen konnte ich nichts.“
„Wann war das denn überhaupt?“
„Zwanzig Minuten vor drei, Herr Kommissar!“ liess sich ein anderer, jüngerer Fahrer vernehmen.
„Wissen Sie das genau?“ wandte sich Berreux diesem zu.
Der Mann rückte an seiner Mütze. „Ja — nämlich, Herr Kommissar — das war so: der Fremde hatte erst mich gefragt, ob ich ihn nach dem Forsthaus zwischen Corbeil und Melun fahren wollte. Ich rechnete mir erst die Zeit aus, und dazu blickte ich auf die Uhr. Der Fremde schien es sehr eilig zu haben — er trat immerzu von einem Fuss auf den anderen.“
„Sie haben ihn also genau gesehen?“
„Genau? Hm, das will ich nicht gerade sagen. Er stand im Schatten, ja — jetzt hinterher kommt es mir in den Sinn, dass er sich absichtlich so in den Schatten stellte. Jedenfalls war er recht klein und hatte ein schmales, spitzes Gesicht. Er trug einen hellen Mantel.“
„Können Sie ihn mir sonst noch etwas näher beschreiben?“
„Nein.“
„Sprach er ein reines Französisch — oder vielleicht einen Dialekt?“
„Nein — er sprach so, wie man hier in Paris spricht.“
„Was für einen Hut hatte er auf?“
„Er trug einen weichen, runden Hut. Auch schien er ganz gut gekleidet zu sein. Aber das kann man im Dunkeln ja nicht so sehen.“
„Also erzählen Sie weiter, er fragte Sie ...“
„Er fragte mich, ob ich ihn nach dem Forsthaus fahren wollte, und was das wohl kosten würde. Ich lehnte es aber ab, als ich sah, wie spät es schon war, jedenfalls nannte ich ihm einen Preis, auf den er unmöglich eingehen konnte.“
„Und warum taten Sie das? Sie hätten doch noch einen schönen Verdienst gehabt.“
„Ich weiss nicht, Herr Kommissar — aber die ganze Geschichte kam mir nicht recht geheuer vor. Als dann der Fremde zu Didier herantrat, gab ich dem einen Wink. Aber er sah es wohl nicht — jedenfalls nahm er den Fremden als Fahrgast an.“
„Sie kannten den Mann also nicht? Hatten ihn noch niemals hier in der Nähe gesehen?“
„Nein.“
„Hatten Sie oder Didier schon vorher Fahrten gehabt?“
„Ja — ich war gerade zurückgekommen. Didier stand länger da. Daher gönnte ich ihm auch die Fahrt. Er war immer ein guter Kerl.“
Der ältere Fahrer bestätigte diese Behauptung und strich sich über den rauhen Bart. „Und nun ist er tot. Das hätte genau so gut auch einen von uns treffen können. Hättest du die Fahrt angenommen, Guillaume, so hätte er dich hingemacht!“ wandte er sich seinem jüngeren Kollegen zu.
Der Kommissar wollte noch verschiedenes wissen: aus welcher Richtung der Fremde gekommen sei? Ob er geraucht habe? Ob er erregt oder ruhig sprach? Ob man vielleicht einen Ring an seinem Finger beobachtet habe? Ob sich noch andere Leute in der Nähe befanden?
Auf alles gaben die Fahrer Antwort, so gut es ging. Sie überboten sich geradezu, dem Kommissar Auskunft zu geben, und führten auch manche nebensächlichen Dinge an. Doch Berreux liess sie ruhig erzählen. Auch Nebensächliches konnte für ihn manchmal wichtig sein.
Endlich begab er sich auf sein Amtszimmer im Präsidium.
Auf dem Präsidium meldeten sich bereits verschiedene Leute bei Berreux. Der Führer eines Fernlastzuges stellte sich vor. Er habe während der Nacht an der bezeichneten Stelle die Taxi gesehen, bekundete er, er sei von Melun kommend daran vorbeigefahren. Aber er hätte sich schliesslich nichts weiter dabei gedacht, da er annahm, dass der andere eine Panne gehabt hätte.
Der Kommissar klopfte mit einem Bleistift mehrere Male auf den Tisch.
„Sie kamen doch aus der Gegenrichtung“, bemerkte er, „haben Sie denn da die zusammengesunkene Gestalt am Steuer nicht gesehen?“
„Ich musste zu sehr auf die Strasse achten“, gab der Fahrer zur Antwort, „zumal sie an jener Stelle gerade recht abschüssig ist. Dazu musste ich noch, wie es bei Begegnungen Vorschrift ist, mit abgeblendeten Scheinwerfern fahren.“
„Sie hatten doch aber einen Beifahrer mit?“
„Der lag hinter mir in der Schlafkabine.“
„Sie bemerkten jedoch, dass die Taxi stillstand?“
„Selbst dass es sich um eine Taxi handelte, konnte ich nicht erkennen. Aber ich sah, dass sie stand.“
„Und wann war das?“
„Es muss gegen vier Uhr gewesen sein.“
„Ist Ihnen vor oder nach der Begegnung mit dieser Taxi irgendwas aufgefallen?“
„Ja — deshalb komme ich gerade, Herr Kommissar. Etwa zwei, drei Minuten, bevor ich diese Begegnung hatte, sah ich einen einzelnen Mann, der langsam die Strasse hinaufschritt.“
„Er kam Ihnen also entgegen?“
„Ja.“
„Sahen Sie ihn genau?“
„Nein. Ich hatte schon abgeblendet, er huschte daher nur wie ein Schatten an mir vorbei. Auch blickte er gerade nach rechts in den Wald hinein — von mir aus gesehen nach links natürlich.“
„Fuhren Sie schnell oder langsam?“
„Eigentlich ziemlich schnell.“
„Ein Aufspringen auf Ihren Wagen wäre also unmöglich gewesen?“
„Das hätte wohl nur ein Akrobat oder Schnelläufer fertiggebracht.“
„Hm — eine andere wichtige Frage: sind Ihnen auf der Fahrt nach Paris noch andere Wagen begegnet?“
„Jawohl.“
„Wieviele? Und was für welche? Waren auch noch Lastzüge dabei?“
„Lastzüge? Nein — die verlassen ja alle bereits am frühen Abend die Stadt.“
„Ja, richtig. Daran habe ich gar nicht gedacht. Na, was für Wagen begegneten Ihnen denn noch?“
„Drei, vier Privatautos — und zwei gewöhnliche Lastwagen.“
„Wo? Noch vor Corbeil?“
„Ja, ich mochte wohl so zehn Minuten weitergefahren sein, da kam schon der eine. Der andere fuhr gleich hinterher.“
„Was? Lastwagen?“
„Nein, der erste war eine Limousine. Dann kam der Lastwagen hinterher.“
„Welcher Art dieser Wagen war, wissen Sie nicht?“
„Wenn ich nicht irre, hatte er Holz geladen. Er fuhr recht langsam, soweit ich das beobachten konnte.“
„Die Höhe hinauf musste er später also noch langsamer fahren?“
„Wahrscheinlich.“
„Dann kam noch ein Lastwagen, sagten Sie?“
„Ja, gerade, als ich in Corbeil einfuhr. Er war mit einer grossen Plane verdeckt.“
„Sie fahren doch gewiss öfter die Strecke. Sind Sie diesem Wagen schon mehrfach begegnet?“
„Mag sein, aber ich weiss es nicht so genau. Man achtet ja schliesslich nicht so darauf.“
Berreux stellte noch einige weitere Fragen. Dann entliess er den Mann.
Auch Bout, Berreux’ rechte Hand, arbeitete fieberhaft. Er hatte sich nach Melun begeben. Dort eilte er zur Station und nahm sich zunächst den Schalterbeamten der Fahrkartenausgabe vor, nachdem er sich den Abgang der Züge in beiden Richtungen genau eingeprägt hatte.
Der Beamte glaubte sich eines Fremden entsinnen zu können, der ziemlich erregt eine Fahrkarte nach Paris verlangt hatte. Doch einen hellen Mantel habe er nicht getragen, vielmehr einen dunklen. Ausserdem habe er einen steifen Hut aufgehabt.
Bout war überzeugt, dass der Verbrecher sich wieder nach Paris gewandt hatte, da dort ein Untertauchen für ihn am leichtesten war. Dass er aber zunächst die Richtung nach Melun einschlug, schien auch für ihn gegeben zu sein. Darauf wies auch die Auswahl des Tatortes hin, da dort der Täter leicht auf ein vorüberfahrendes Auto aufspringen konnte, sofern es in der Richtung auf Melun zu fuhr. Hier hatte Berreux gleich den rechten Gedanken gehabt.
Bout suchte indessen vergeblich, etwas herauszubekommen. Es fuhren des Morgens zu viele Menschen von hier aus zur Hauptstadt hinein.
Er kehrte zum Tatort zurück, wo immer noch zwei Beamte mit Feststellungen beschäftigt waren. Nach den Aufzeichnungen der Taxiuhr musste der Ueberfallene während der Nacht genau vierunddreissig Franken und sechzig Centimes vereinnahmt haben. Erst nahm man an, dass diese ganze Summe geraubt sei, doch fand man in einem Brustbeutel des Erschossenen später zwanzig Franken vor. Dem Räuber konnten also nur etwa vierzehn Franken in die Hände gefallen sein, sofern Didier nicht noch etwas mehr bei sich hatte. Wie man später erfuhr, nahm er gewöhnlich etwa zehn Franken Wechselgeld mit.
Ein zu lächerlicher Betrag, um deswegen einen Menschen zu töten! Wahrscheinlich hatte der Täter doch mehr erwartet. Jedenfalls konnte er mit dem geringen Betrag nicht viel unternehmen. Schon diese Tatsache, so schloss Bout, musste ihn dazu veranlassen, bald nach Paris zurückzukehren.
Es ging bereits auf den Mittag zu, als endlich der Tote von einem Polizeikrankenwagen abgeholt und auch die Taxi fortgeschafft wurde. Man beschlagnahmte sie und fuhr sie in den Hof des Präsidiums, wo einige Fachleute die Untersuchung fortsetzen sollten. Ja, man versuchte sogar, von dem vernickelten Deckel des Aschenbechers und auch von den Türklinken Fingerabdrücke abzunehmen. Die Sitzpolster wurden heraus- und unter die Lupe genommen, wobei man einige winzige helle Stoffasern fand. Ihr Gewebe wurde genau untersucht.
Der Garagenmeister des Unternehmens, für das Didier fuhr, wurde zu Rate gezogen. Dabei stellte sich etwas Seltsames heraus. Der Garagenmeister behauptete steif und fest, dass sich im Wagen ausser dem üblichen Fussbelag auch noch eine weitere dünnere Fussdecke befunden habe. Er wies dies sogar an Hand eines genauen Verzeichnisses nach. Diese Decke war jedoch nicht vorhanden. Wo befand sie sich? Was war damit geschehen?
Man ordnete eine erneute genaueste Untersuchung des Tatortes an.
Kommissar Berreux hatte inzwischen die Witwe des Ermordeten aufgesucht. Die Frau war von dem furchtbaren Vorkommnis bereits unterrichtet. Sie sass völlig gebrochen da. Der kleine siebenjährige Erneste war eben aus der Schule gekommen, und als sie ihm sagte, dass sein Vater tot sei, begriff er es überhaupt nicht. Ihm schien der furchtbare Schmerz seiner Mutter zunächst näherzugehen. Immer wieder strich er ihr linkisch und selber heulend über das schwarze Haar.
Die Schwester der Frau war gekommen und gab sich im Zimmer mit den beiden anderen Kleinen ab, die erst recht nicht begreifen konnten, was sich ereignet hatte.
„Wann tommt denn der Papa endlich?“ fragte der vierjährige Jaques immerzu, „aber er tommt doch wieder, nich, Tante, nich?“ dabei fuchtelte er mit den winzigen Händchen immerfort in der Luft herum. Seine Tante schwieg, weinte in sich hinein und barg den Kopf in den Händen.
Madame Didier hockte noch in der Küche und hatte mehrere Nachbarn um sich herum, die sie vergeblich zu trösten versuchten. Berreux schickte alle diese Leute hinaus und nahm die Frau bei der Hand.
„Madame Didier!“ sagte er mit bewegter Stimme — denn auch ihm ging ihr Schmerz nahe — „alles ist Schicksal. Fassen Sie sich. Tun Sie es um der Kinder willen. Wir werden ja unser möglichstes tun, um des Mörders habhaft zu werden, damit er seiner gerechten Strafe zugeführt werden kann.“
Frau Didier blickte ihn aufschluchzend an wie ein gequältes Tier. „Mörder —? — Strafe —?“ wiederholte sie mit erstickter Stimme. „Gibt mir das meinen Mann zurück? Und wer ernährt uns jetzt, lieber Herr? Soll ich betteln gehen mit meinen Kindern?“
„Nein, Sie brauchen nicht betteln zu gehen!“ behauptete Berreux fest, „die Gesellschaft wird Ihnen eine Rente aussetzen, das glaube ich ganz bestimmt, und viele hilfreiche Hände werden sich regen, um Ihnen Ihr Los erleichtern zu helfen. Man wird Sie bevorzugen, wenn Sie sich eine Stellung suchen, ich werde mich selber darum bemühen.“
Sie machte eine hilflose Armbewegung. „Und doch ist es furchtbar, Herr! Warum musste das gerade mich treffen — gerade mich!“
Es dauerte noch eine Weile, bis er sie so weit beruhigt hatte, dass er sie einiges fragen konnte. Ob Didier einen persönlichen Feind gehabt habe? — Nein. — Wieviel Geld er wohl mit sich führte? — Das wusste sie nicht genau. Zehn Franken Wechselgeld habe er immer mitgenommen. Ja, und der Junge habe schon in der Nacht einen so seltsamen Traum gehabt, bog sie auf einmal wieder auf das Persönliche ab.
Wie die Geldtasche oder Brieftasche aussah, die ihr Mann zu benutzen pflegte? — Oh, er führte immer einen kleinen Stoffbeutel mit, der einen Reissverschluss hatte. Mit vieler Mühe habe sie ihm sogar einmal zu seinem Geburtstag die Anfangsbuchstaben seines Namens daraufgestickt: I. D. Er habe ihn immer in Ehren gehalten — immer — in Ehren gehalten — sie schluchzte wieder.
„Hatte er nicht auch eine Brieftasche?“ fragte Berreux.
„Ja, eine Brieftasche hatte er auch, darin verwahrte er seinen Führerschein und die anderen Wagenpapiere, die er benötigte. Auch ein Los war darin — von der Staatslotterie. Da war er rein abergläubisch, mit diesem Los — obwohl die Nummer noch niemals gewonnen hatte. Er musste es immer bei sich führen.“
„Wie war denn die Nummer des Loses?“ fragte Berreux interessiert.
„Wie? Die Nummer? Ja, sehen Sie — das war seine Wagennummer. Nicht die laufende Nummer der Taxigesellschaft, dreihundertdrei, sondern die Polizeinummer. 852754. Und denken Sie sich, Herr Kommissar, gerade auf die andere Nummer sind einmal tausend Franken herausgekommen.“
Berreux freute sich, dass sie nun ein wenig abgelenkt war. Aber er musste weiterfragen.
„Dann hat doch Ihr Mann auch noch einen Brustbeutel gehabt?“ Er nahm ihn aus seiner Tasche, „ist er das nicht?“
Die Frau griff danach. „Ja — das ist er!“ Sie drückte ihn wie ein Heiligtum.
„Es sind noch zwanzig Franken darin!“ fuhr der Kommissar fort, „und etwas Geld werden Sie ja wohl auch noch im Hause haben. An diesen Beutel dachte der Räuber wohl nicht.“
Madame Didier erfasste die beiden Hände des Kommissars. „Sagen Sie bitte, wie sieht er denn überhaupt aus? Mein Mann, meine ich? Wo befindet er sich? Kann ich ihn denn nicht sehen?“
„Wollen Sie ihn wirklich noch einmal sehen?“
„Ja, unbedingt, unbedingt, werter Herr Kommissar. Ich bitte Sie innig darum.“ Sie umklammerte seine Hände. Berreux erhob sich.
„Gut also, ich werde schon dafür Sorge tragen. Wir haben die Leiche beschlagnahmen müssen. Doch morgen geben wir sie wieder frei.“
Was Berreux der verzweifelten Frau in Aussicht gestellt hatte, traf bald in vollstem Ausmasse ein. Von allen Seiten streckten sich ihr hilfreiche Hände entgegen. Alle Chauffeure der Stadt hielten unter sich eine Sammlung ab, bei der jeder gab, was er nur irgend entbehren konnte. Allein Didiers „Stallkollegen“ — wie sie sich nannten — brachten es auf die Summe von fast tausend Franken.
Von der Gesellschaft wurde Madame Didier eine Urkunde überreicht, laut deren sie eine lebenslängliche, wenn auch kleine Rente erhielt. Sogar für die Kinder wurde in der rührendsten Weise gesorgt. Der kleine Jaques wurde von einer reichen Kaufmannsfamilie ins Haus genommen. Den anderen beiden fielen reichliche Stiftungen zu.
Das Begräbnis des Ermordeten wuchs sich zu einer Kundgebung aus. Tausende folgten dem schlichten Sarg. Die gesamte Kollegenschaft war vertreten, soweit sie der Dienst nicht verhinderte.
Tausende, aber Tausende fluchten dem feigen Mörder und sprachen gegen ihn die fürchterlichsten Verwünschungen aus.
Selbst die Stadt und der Verkehrsverein hatten eine Abordnung geschickt.
Unter den Leidtragenden steckten auch mehrere Kriminalbeamte. Berreux, der den Fall auch weiterhin zu bearbeiten hatte, verfügte dies. Ist es nicht schon oft vorgekommen, dass ein Mörder aus einem dunklen Drange heraus sich zu der Beisetzung seines Opfers begab?
Kein Mensch ahnte jedoch, dass hier alle im stillen beobachtet wurden. Ohne jeden Erfolg.
Kriminalsekretär Bout arbeitete im Polizeiarchiv alles durch, um dort vielleicht einen Anhalt zu finden. Es gab stets einen Kreis von Personen, die für ein bestimmtes Verbrechen in Frage kamen. Er suchte sich verschiedene Verbrecher heraus, die, erst kürzlich aus einer Strafanstalt wieder entlassen, die Tat vielleicht ausgeführt haben konnten.
Spät abends noch legte er seinem Chef eine Reihe von Bildern vor, die er mit sicherer Spürnase herausgesucht hatte. Es waren alles Leute von untersetzter Figur mit schmalem, blassem Gesicht, Typen, wie man sie gerade in der Verbrecherwelt häufig findet.
Berreux nahm sich jedes von den dreiunddreissig Bildern vor, las auch die kurzen Personalbeschreibungen, die in den meisten Fällen darunterstanden. Sieben wählte er aus. „So, die könnten in Frage kommen. Was meinen Sie überhaupt zu der Sache, Bout?“
Der Kriminalsekretär strich sich sein Menjoubärtchen. Er war ein schneidiger junger Mann. „Ich glaube, Herr Kommissar“, erwiderte er, „wir werden hier eine harte Nuss zu knacken bekommen. Was wir bisher herausfanden, ist so wenig, dass man so gut wie nichts damit anfangen kann.“
„Oh, sagen Sie das nicht, lieber Freund. Wir haben doch allerlei Anhaltspunkte, wissen sogar schon, welche Zigarettensorte der Täter zu rauchen pflegte. Doch die Geschichte mit der verschwundenen Matte kommt mir recht sonderbar vor. Hat die zweite Nachsuchung ein Ergebnis gehabt?“
„Es wurde lediglich noch eine Patronenhülse gefunden, von der Matte jedoch keine Spur.“
Kommissar Berreux fuhr mit der Hand über sein nach hinten zurückgestrichenes, etwas spärliches Haar und zog die Mundwinkel schief. „Wie ist nun eigentlich Ihre Theorie, Bout? Wo hält sich nach Ihrer Meinung der Täter auf?“