Der Gegenspieler - Hans Heidsieck - E-Book

Der Gegenspieler E-Book

Hans Heidsieck

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Beschreibung

Bei der Speditionsfirma Rosas & Co in Pernambuco wird eingebrochen. Bevor der Einbruch jedoch überhaupt registriert wird, findet man zunächst einen Toten. Der Prokurist Machado. Die Schlüssel zum Tresorraum hat er in der Tasche, doch dieser ist leer. Der Kassierer Silva erscheint nicht zum Dienst und Rosas Tochter, Nina, ist verschwunden. Einen Zusammenhang zwischen all diesen Absonderlichkeiten scheint es nicht zu geben, denn das Naheliegende erweist sich für den Kommissar Vallos als rätselhaft. Der Prokurist ist an einem Herzinfarkt gestorben. Vallos sucht nach einem Gegenspieler. Einem, der alle Fäden in Händen hält. Da gibt es den Chinesen Pei Long – doch dieser schweigt wie ein Grab ...

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Hans Heidsieck

Der Gegenspieler

Kriminalroman

Saga

Der Gegenspieler

© 1940 Hans Heidsieck

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508565

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Personen des romans

Julio Rosas, Spediteur in Pernambuco.

Dona Joana, seine Frau.

Nina, seine ‚Tochter’.

Silva, Kassierer bei Rosas & Co.

Kommissar Vallo.

Franco, Kriminalsergeant.

Tora Bosano, Schauspielerin.

José de Magas, Maler.

Alberto Cabral, Architekt.

Ta Pei Long, ein chinesischer Kaufmann.

Floriano Barbosa, Cabrals Chauffeur, u. a.

Die Handlung spielt teils in Pernambuco, teils im Gebiet des Amazonenstroms.

Zeit: Gegenwart.

Jorge Lorrendo betrat wie gewöhnlich als erster das hohe Verwaltungsgebäude der Expeditionsfirma Rosas & Co.

Als er, überall Umschau haltend, ins Zimmer des Prokuristen kam, fuhr er mit einem leisen Aufschrei zurück.

Zögernd nur trat er näher. „Senhor Machado!“ rief er, zunächst verhalten, dann dringlicher: „Senhor Machado!“

Der Angerufene hörte ihn nicht — konnte ihn nicht mehr hören. Denn Senhor Machado war tot. In sich zusammengesunken saß er im Sessel vor seinem Arbeitsplatz. Sein rechter Arm lag auf dem Schreibtisch, der linke Arm hing schlaff herunter, sein Kopf war auf das aufgeschlagene dicke Hauptbuch gesunken. Beim ersten Anblick konnte man glauben, er schlafe nur.

Jorge, der zweite Buchhalter, trat an den Prokuristen heran. Vorsichtig, ja, fast ängstlich, faßte er ihn bei der Schulter.

„Senhor Machado! Aber so hören Sie doch!“

Machado rührte sich nicht. Stocksteif hockte er da, wie angefroren.

Jorge berührte die Hand des Mannes. Die Hand war kalt.

Schritte nahten.

Dona Jaquina kam, das ältliche Mädchen mit dem sauersüßen Gesicht, das die Kartothek führte und in Jorge Lorrendo verliebt war. Auch andere kamen, die ganze Bürobelegschaft erschien nach und nach.

Es entstand ein Tumult. Alle drängten sich in das Zimmer des Prokuristen, der einsam und kalt und durch den Tod von der Welt abgesondert vor seinem Schreibtisch kauerte.

Ein erschütterndes Bild.

„Ich kam eben herein“, sagte Jorge, „jawohl. So hockte er da. Er ist tot.“

„Tot!“ wiederholte eine zaghafte Stimme.

Ein Murmeln ging um. Dona Jaquina bekreuzigte sich.

Der erste Buchhalter keuchte heran. Er schob Jorge beiseite. „Was ist hier los?“

Seine laute, polternde Stimme kam allen wie eine Entweihung des Raumes vor, in den der Tod seinen Einzug gehalten hatte.

Er faßte den Prokuristen am Arm, schüttelte ihn, suchte den Kopf des Mannes zu heben. „Man muß einen Arzt rufen“, sagte er, „rasch, einen Arzt!“

„Ein Arzt kann ihm auch nicht mehr helfen“, behauptete Jorge achselzuckend, „aber natürlich —“

„Was?“

„Die Todesursache muß festgestellt werden.“

Der erste Buchhalter verteilte die Rollen. „Sie“, sagte er zu der kleinen schmächtigen Stenotypistin, die eben ins Zimmer trat, „holen den nächsten Arzt herbei. Sie, Dona Jaquina, telephonieren den Chef an, und Sie, Lorrendo — hm — meinen Sie, daß wir auch die Polizei benachrichtigen sollen?“

Bei dieser Frage drängte er alle übrigen aus dem Zimmer hinaus. „Los! An die Arbeit! Was gafft ihr noch?“

Jorge zupfte an seiner Krawatte. „Ich weiß nicht“, erwiderte er, „eigentlich glaube ich kaum, daß die Polizei hier etwas zu suchen hat.“

Der Herr vom Abfertigungsschalter trat auf den ersten Buchhalter zu. „Eine Zahlungsanweisung, Cavalheiro“, sagte er, „wollen Sie das bitte erledigen?“

Der Buchhalter nahm ihm die Anweisung ab, warf einen Blick darauf und fragte erstaunt: „Ist der Kassierer noch nicht da?“

„Nein.“

„Wo bleibt er denn? Ich kann doch nicht an die Kasse heran.“

„Aber der Herr Prokurist hatte doch auch die Schlüssel. Sehen Sie in seiner Tasche mal nach!“

„Ich soll in den Taschen des Toten herumkramen? Hm — na ja.“

Die Schlüssel fanden sich in der Rocktasche. Der erste Buchhalter ging in den Kassenraum. Man durfte die Kundschaft nicht unnötig warten lassen.

„Kommen Sie mit!“ winkte er Jorge zu.

Etwas umständlich, da er damit noch nicht recht Bescheid wußte, schloß er den Schrank auf.

Beide Männer prallten zurück.

Der Kassenschrank war vollständig leer.

*

Senhor Rosas wollte soeben das Haus verlassen und sich zu seiner Firma begeben, als ihm seine Frau zitternd und bebend entgegentrat.

„Julio“, stammelte sie, „weißt du, wo Nina stecken könnte? Sie ist heute nacht nicht nach Hause gekommen.“

Rosas, schon an der Tür stehend, fuhr herum. „Wie? Was? Unsere Tochter — nicht nach Hause gekommen?“

„Ich wollte sie eben zum Frühstück rufen, ging auf ihr Zimmer und — ihr Bett war noch unberührt. Ich verstehe das nicht. Ich bin außer mir.“

Ohne ein Wort zu erwidern, schritt Rosas zu Ninas Zimmer hinauf. Dona Joana folgte ihm. Er durchmaß den Raum, blickte sich überall kopfschüttelnd um.

„Schöne Bescherung!“ murmelte er, „also wird sie bei Rablos geblieben sein. Eine andere Lösung gibt es wohl nicht.“

Nina war am vergangenen Abend mit Mirja Rablo und deren Bruder, die das Mädchen abgeholt hatten, zum Theater gefahren.

„Ich werde bei Rablos gleich einmal anfragen“, sagte Senhora Rosas und eilte zum Telephon.

Mirja meldete sich. „Wie? Nicht nach Hause gekommen? Aber das ist ja — das verstehe ich nicht! Wir, mein Bruder und ich, haben sie doch noch gemeinsam nach Hause gebracht.“

„Hierher zu uns?“

„Ja — natürlich!“

„Sie ist also nicht noch mit zu Ihnen gekommen und dort geblieben?“

„Nein. Und jetzt sagen Sie —?“

„Ich bitte Sie, Mirja — kommen Sie doch sofort einmal her!“

„Gerne, Dona Joana. Ich komme sofort!“ —

„Was ist los?“ fragte Rosas betreten. „Sie ist nicht dort?“

Dona Joana wiederholte ihm das Gespräch.

Das Telephon klingelte. Mit zitternder Hand nahm Rosas den Hörer auf. Vielleicht war es Nina!

Nein. Dona Jaquina sprach mit erregter Stimme. „Kommen Sie bitte sofort, Cavalheiro — Senhor Machado — oh, es ist furchtbar! Kommen Sie gleich!“

„Was ist mit Machado?“

„Er ist tot, Senhor! Als Senhor Lorrendo kam —“

„Tot?“

„Ja.“

„Ich komme!“

*

„Herzschlag!“ sagte der Arzt, als er die Untersuchung beendet hatte.

Der erste Buchhalter stand neben ihm. „Könnte nicht auch — hm!“ Er räusperte sich.

„Was?“

„Eine gewaltsame Todesursache — halten Sie das für ausgeschlossen, Herr Doktor?“

Der Arzt blickte den Buchhalter verwundert an. „Ich verstehe nicht recht — wie kommen Sie darauf?“

„Weil — hm — der Kassenschrank ist nämlich ausgeraubt worden und — der Tote hat die Schlüssel in seiner Tasche gehabt.“

„Donnerwetter ja — aber — irgendeine Verletzung ist an ihm nicht zu entdecken.“

Jorge, neben seinem Kollegen, deutete auf ein Glas, das auf dem Tisch stand. „Vielleicht —?“

Der Arzt nahm das Glas hoch und betrachtete die darin befindliche Flüssigkeit. Es schien Wasser zu sein. „Wir werden das untersuchen lassen“, bemerkte er. „Ist die Polizei schon verständigt worden?“

„Jawohl“, erwiderte der erste Buchhalter, „ich habe eben telephoniert. — Hallo, Dona Jaquina — ist der Kassierer immer noch nicht gekommen?“

„Nein. Aber der Chef muß gleich da sein.“

„Ich bleibe noch“, sagte der Arzt.

An den Tischen im Hauptbüro saßen die Angestellten vor ihren Pulten und flüsterten miteinander.

Der Kunde, der die Zahlungsanweisung vorgelegt hatte, wurde mit einer Entschuldigung fortgeschickt. Aber er drückte sich noch im Vorraum herum. Was? Im Augenblick sei der Betrag nicht flüssig? Lumpige dreitausend Milreis? Da stimmte doch etwas nicht!

Der erste Buchhalter saß über dem Kassenbuch. „Jorge!“ rief er, „sehen Sie doch mal hier — kann das stimmen? Wir haben achtundachtzig Contos (achtundachtzigtausend Milreis) von Rüstrow & Sohn in der Kasse gehabt, die morgen nach Bahia abgeschickt werden sollten?“

Jorge nickte. „Jawohl — Senhor Silva hat mir die Buchung gestern gezeigt.“

„Teufel ja! Wo mag Silva nur bleiben? Ich begreife das nicht!“

Man vernahm Rosas’ erregte Stimme. Zwei Angestellte erstatteten ihm hastig Bericht. Er trat auf die beiden Buchhalter zu. „Wo ist er? Wo ist er?“

„In seinem Zimmer, Senhor. Der Arzt ist noch da. Wir haben auch die Polizei angerufen.“

„Polizei? Polizei? Was soll die Polizei hier? Sind Sie verrückt geworden?“

„Nein, Senhor — aber —“

„Was aber? Warum sehen Sie mich so verdattert an? Ist Machado etwa ermordet worden?“

„Das weiß man noch nicht. Die Kasse —“

„Reden Sie, Mensch! Was ist mit der Kasse?“

„Die Kasse ist vollständig leer.“

Rosas mußte sich an einen Türpfosten lehnen. Sein Blick war wirr. „Wie — die Kasse? Leer? Aber das ist ja unmöglich!“

„Es verhält sich so, wie ich sagte, Senhor.“

Rosas schritt wankend in das Zimmer des Prokuristen, trat an den Toten heran. Der Arzt begrüßte ihn ehrerbietig. Rosas nickte ihm flüchtig zu. Lange blieb er wie gebannt vor Machado stehen. Dann wandte er sich an den Arzt. „Und was meinen Sie, Doktor?“

„Ich habe nur einen Herzschlag feststellen können. Irgendwelche äußeren Verletzungen sind an dem Toten nicht zu entdecken.“

„So! Na, wir werden ja sehen. — Wo steckt der Kassierer?“

Jorge trat zum Chef. „Senhor Silva ist noch nicht gekommen“, bemerkte er, während der erste Buchhalter das Glas prüfend gegen das Licht hielt.

Rosas wußte nicht, wie ihm geschah. Es war ihm, als erhalte er einen Keulenschlag nach dem anderen. Er trat von dem Toten zurück. „Wie? Noch nicht gekommen? Er ist doch sonst immer die Pünktlichkeit selbst!“

Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war acht. Um sieben begann der Betrieb. Während der größten Mittagshitze war die Firma geschlossen.

Kopfschüttelnd begab er sich in den Kassenraum. Starrte den leeren Safe an. Verkrampfte die Finger. Er zitterte.

Eine dumpfe Ahnung beschlich ihn. — Aber konnte das möglich sein?

Er wandte sich dem ersten Buchhalter zu, der betreten neben ihm stand. „Wieviel Geld hat sich in der Kasse befunden?“

„Das habe ich noch nicht genau feststellen können“, antwortete der Befragte.

Man hörte Schritte und laute Stimmen. Die Polizei kam.

*

Rosas taumelte in sein Privatbüro und rief seine Frau an. „Ist Nina gekommen?“

„Nein, Julio. Ich bin verzweifelt. Überall habe ich herumtelephoniert. Ob man sich an die Polizei wenden soll?“

„Polizei?“ Rosas lachte dumpf auf, „das hätte ich einfach. Sie befindet sich gerade hier.“

„Wer? Die Polizei?“

„Ja. — Auch hier geht alles drunter und drüber. Machado ist tot, die Kasse beraubt — Silva ist nicht gekommen. Das ist etwas viel auf einmal, nicht wahr?“

„Julio! Um Gottes willen — die Kasse —?“

„Jawohl. Das war die dritte Überraschung, als ich hierherkam. Vielleicht ist Machado ermordet worden.“

„Erschossen?“

„Nein. Eine Verwundung weist er nicht auf. Es ist alles so seltsam, so sinnlos, so — unverständlich. Der Inhalt des Glases, aus dem er getrunken hat, soll untersucht werden. — Aber entschuldige bitte. Der Polizeikommissar tritt eben ein und möchte mich sprechen. Ich rufe nachher wieder an.“

Kommissar Vallo trat an den Tisch. Rosas forderte ihn mit einer höflichen Geste auf, Platz zu nehmen. Doch Vallo blieb stehen.

„Wir haben alles genau untersucht“, begann er, „bis auf den Inhalt des Glases. Das konnte hier natürlich nicht gleich geschehen und wird im Laboratorium nachgeholt werden.“

„Na — und?“ fragte Rosas und drehte nervös eine Zigarre zwischen den Fingern.

Vallo zupfte an seinem Bart. „Hm — da ist schwer etwas zu sagen. Jedenfalls ist der Schrank nicht erbrochen, sondern mit den passenden Schlüsseln geöffnet worden. Der Tote weist keine Verletzung auf. — Wie ich hörte, ist der Kassierer noch nicht gekommen?“

„Nein. Ich verstehe nicht —“

„Kann man den Herrn telephonisch erreichen?“

„Ich glaube kaum.“

„Dann möchte ich Ihnen empfehlen, jemanden hinzuschicken. Vielleicht ist er mit dem Geld durchgegangen.“

„Was? Silva —? Aber das ist doch unmöglich! Ich habe nie einen treueren, zuverlässigeren Menschen gekannt.“

Der Kommissar unterdrückte ein Lächeln. „Man täuscht sich oft in den Leuten“, bemerkte er.

„Hören Sie, Kommissar“, sagte Rosas, sich von seinem Stuhl erhebend. „Ich muß Ihnen noch etwas mitteilen. Es läßt mir doch keine Ruhe mehr. Meine Tochter ist gestern abend mit einer Freundin und deren Bruder ins Theater gegangen. Sie wurde von den beiden nach Hause gebracht, — und seitdem ist sie verschwunden.“

Der Kommissar horchte auf. „Wie? Sie wurde nach Hause gebracht — und trotzdem —?“

„Als meine Frau heute morgen ins Zimmer kam, war es leer und das Bett unberührt.“

„Gestatten Sie mir eine Frage, Senhor. Sie dürfen mir diese Frage nicht übel nehmen. Sie ist mehr privater Natur, aber sie könnte uns vielleicht Aufschluß geben.“

„Fragen Sie nur!“

„Hat Ihre Tochter mit dem Kassierer irgendwelche Beziehungen unterhalten?“

Rosas fuhr entrüstet zusammen. „Nein — wieso? Wie kommen Sie darauf?“

„Es wäre doch immerhin möglich — gerade, wenn Sie erzählen —“

„Sie glauben —? Nein, nein. Das ist einfach undenkbar!“

„Es wäre also ein Zufall, daß Ihre Tochter auch gerade verschwunden ist. Mag sein. Wir Kriminalisten sind allerdings immer geneigt, weniger an Zufälligkeiten, als an gewisse Zusammenhänge zu glauben.“

„Dann müßte der Tod meines Prokuristen also auch damit irgendwie im Zusammenhang stehen!“

„Nicht ausgeschlossen. Überlegen Sie doch: Die Kasse ist ausgeplündert — der Kassierer erscheint nicht — Machado ist tot, — und Ihre Tochter ist plötzlich verschwunden. Sollten das wirklich alles nur nebeneinander bestehende Zufälligkeiten sein? So viele Zufälle auf einmal gibt es doch überhaupt nicht. Natürlich muß man zunächst das Nichterscheinen des Kassierers mit der Beraubung der Kasse in Zusammenhang bringen.“

Rosas sträubte sich wieder. „Ich sagte Ihnen doch schon, daß der Kassierer Silva ein grundehrlicher Mensch ist.“

Vallo machte eine ärgerliche Bewegung. „So kommen wir nicht weiter“, brummte er und wandte sich der Tür zu. „Geben Sie mir die Adresse des Mannes an. Ich werde sofort nach ihm suchen lassen.“

„Die Adresse kann Ihnen mein Buchhalter sagen. Wenden Sie sich bitte an den!“

„Gut. Und ich bitte Sie, mich sofort zu benachrichtigen, falls sich irgend etwas Neues ereignen sollte.“

„Natürlich. — Werden Sie auch nach meiner Tochter forschen?“

„Ja. Auch das werde ich tun.“

*

Mirja Rablos trat erregt auf Dona Joana zu. „Ist es tatsächlich wahr? Nina ist nicht ins Haus gekommen? Aber wir brachten sie doch bis zum Tor!“

Dona Joana lief hin und her. Blieb am Fenster stehen. Blickte hinaus, kehrte zurück, schritt um den Tisch herum und sah Mirja verständnislos an. Endlich erwiderte sie: „Ihr Zimmer war leer, als ich sie heute morgen zum Frühstück holen wollte.“

„Sie hat auch nicht angerufen? Hat nichts von sich hören lassen?“

„Nichts.“ Dona Joana wischte sich eine Träne ab.

„Aber das ist ja — das verstehe ich einfach nicht! Demnach wäre sie gar nicht ins Haus gekommen.“

„Wahrscheinlich nicht. Jedenfalls hat sie niemand gehört. Ich befragte soeben das Personal.“

„Sie hatten nicht mehr auf sie gewartet?“

„Nein. Da wir das Kind ja bei Ihnen und Ihrem Bruder in guter Obhut wußten, sind wir, mein Mann und ich, um elf schlafen gegangen, zumal wir vom Abend vorher noch recht müde waren.“

„Ja — richtig — Sie hatten einen Ball mitgemacht. — Aber uns trifft wirklich nicht die geringste Schuld, Dona Joana. Wie ich schon mehrmals erklärte, brachten wir Nina noch bis ans Tor. Wie konnten wir annehmen, daß sie dann auf dem kurzen Weg durch den Garten zum Hause verschwinden könnte.“

Dona Joana hatte sich endlich niedergesetzt. Sie rückte nervös eine Kristallschale hin und her. „Nehmen Sie Platz, Mirja! Ich glaube es Ihnen ja. Natürlich trifft Sie keinerlei Schuld. Aber hören Sie, was noch alles geschehen ist — die Kasse der Firma ist ausgeraubt, der Kassierer verschwunden, der Prokurist tot.“

„Wie, bitte?“ Mirja sperrte in maßlosem Staunen den Mund auf. Entgeistert starrte sie Dona Joana an.

„Ja, ja“, fuhr Dona Joana fort, „das hat mein Mann mir am Telephon gesagt. Ein Unglück kommt eben selten allein.“

„Die Kasse beraubt — der Kassierer — um Gottes willen!“

„Warum starren Sie mich so an, Kind?“

Um Mirjas Mund ging ein krampfhaftes Zucken. „Ich weiß nicht“, stammelte sie, „Nina hatte mir mehrmals gesagt —“ sie stockte.

„Was hatte Ihnen Nina gesagt?“ drängte Dona Joana.

„Oh — ich weiß nicht — ich möchte Ihnen doch lieber nicht —“

„Doch, doch, reden Sie, Kind! Ich kann alles ertragen. Ich bin auf alles gefaßt.“

„Nina hat öfter von dem Kassierer geschwärmt. Aber sie sagte auch gleich, daß Ihr Gatte niemals zugeben werde —“

„Das hat sie wahrhaftig gesagt?“

„Ja. Nun ist es heraus. Bitte verzeihen Sie —“

„Da ist nichts zu verzeihen. Im Gegenteil. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie so offen sind. Nun sehe ich schon etwas klarer. Oh — es ist furchtbar. Immer hatte ich schon meinen stillen Kummer mit ihr. Aber ich durfte meinem Mann nichts davon sagen. Er hält große Stücke auf sie. Er ist wie vernarrt in das Mädel. Aber ich kenne sie besser. Ich habe mir nie etwas vorgemacht. Hätten wir damals doch nur nicht — aber lassen wir das! Nun ist ja doch nichts mehr zu ändern. Und auch der Charakter eines Menschen ist nicht zu ändern.“

„Mir fällt noch etwas ein, Dona Joana. Gestern abend, im Foyer des Theaters —“

„Was war da?“

„Da drängte ein Herr sich an sie heran. Es war mir, als habe er ihr etwas zugesteckt. Aber ich kann es nicht mit Bestimmtheit behaupten. Als ich sie fragte, stritt sie es natürlich entschieden ab.“

Dona Joana weinte. Sie führte ein Seidentuch an die Augen. „Wie sah der Herr aus?“ fragte sie.

„Er war ziemlich groß und sehr schlank“, erwiderte Mirja. „hatte ein schmales Gesicht und pechschwarzes, gekräuseltes Haar.“

„Das könnte tatsächlich Silva gewesen sein.“

„Silva? Wer ist das?“

„Unser Kassierer. Er ist mit ihr durchgebrannt!“

„Glauben Sie wirklich?“

„Das ist doch nicht ausgeschlossen! Das Mädel hat ihn verrückt gemacht! Oh, ich weiß, welche Anziehungskraft sie auf Männer ausüben konnte. Ich habe schon einmal solch einen Fall erlebt. Mein Mann hat glücklicherweise davon nichts erfahren. Vielleicht auch unglücklicherweise. Er hat ihr viel zu viel Freiheit gelassen. Ich war immer dagegen. Nun ist es zu spät.“

„Darf ich erfahren, worauf Sie eben anspielten, Dona Joana? Eigentlich hatte mir Nina doch stets alles anvertraut.“

„Das wird sie Ihnen nicht anvertraut haben. Auch ich war nur durch einen Zufall dahintergekommen. Wir hatten damals einen Neffen im Hause, der in der Firma meines Mannes lernen sollte. Dem hatte sie auch den Kopf verdreht. Aber sie spielte nur mit ihm, wie die Katze mit einer Maus. Als er dahinterkam, machte er einen Selbstmordversuch. Dadurch erfuhr ich alles. Er beichtete mir. Ich sorgte dafür, daß er sofort aus dem Hause kam. Meinem Mann durfte ich allerdings nicht die Wahrheit sagen. Wir sprachen von einem Unglücksfall. Der Junge habe nur mit der Waffe gespielt, und dabei sei ein Schuß losgegangen. Ja ja, Sie sehen, Kindchen, ich habe schon allerlei durchgemacht.“

„Jetzt begreife ich auch —“

„Was begreifen Sie?“

„Daß Sie die Dinge so klar sehen, und daß es Sie nicht so erschüttert, wie ich befürchtet hatte.“

„Oh doch — es erschüttert mich tief. Aber es kann mich nicht mehr aus der Fassung bringen. Ich würde das alles ja nicht verstehen, wenn eben nicht —“

„Sie verbergen mir etwas, Dona Joana!“

„Ja. Und darüber möchte ich auch vorläufig nicht sprechen. Schließlich habe ich Ihnen schon genügend Vertrauen geschenkt. Alles zu seiner Zeit. — Ah! Telephon! Jetzt wird mein Mann wieder anrufen. Ich bin ja gespannt, was sich inzwischen herausgestellt hat! Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick!“

*

Ein Polizeiwagen raste durch die von Menschen wimmelnden Straßen Pernambucos. Heiß brannte die Tropensonne vom Himmel herunter. Überall glitzerte Wasser, das in unzähligen Grachten und Meeresarmen die Stadt durchzog, Pernambuco, von den Eingeborenen Recife genannt, das schöne Venedig Brasiliens, das aus vier, durch Brücken miteinander verbundenen Stadtteilen besteht.

Freundlich leuchteten die hohen, schmalen holländischen Giebelhäuser auf, die noch vielfach die Straßen säumten. Straßenbahnen und Autobusse wühlten sich durch den Verkehr, der sich an manchen Ecken zu einem Knäuel von Menschen und Wagen verdichtete.

Kommissar Vallo wischte sich über die heiße Stirn. In seinem weißen Leinenanzug sah er sehr forsch aus. Er war ein stattlicher, hübscher Mann. Sein klarer Blick drang unter dichten, hochgewölbten schwarzen Brauen hervor. Aber er sah jetzt nichts von den Dingen, die um ihn waren. Sein Blick war nach innen gerichtet. Er überlegte, in welchem Zusammenhang wohl die verschiedenen Ereignisse stehen mochten, die sich zum Teil in Rosas‘ Firma, zum Teil in dessen Villa abgespielt hatten.

Seinen Vertrauten, den Kriminalsergeanten Franco, hatte Vallo bereits mit dem Inhalt des Glases zum Laboratorium des Polizeipräsidiums geschickt. Man durfte auf das Ergebnis der Untersuchung gespannt sein.

Die Leiche des Prokuristen war zum Gerichtsmedizinischen Institut gebracht worden, um dort genauer untersucht zu werden. Vielleicht befand sich irgendwo ein kleiner Einstich im Körper des Toten. Es konnte ihm Schlangengift injiziert worden sein. Dem Kommissar waren solche Fälle nicht unbekannt.

Augenblicklich befand er sich auf dem Wege zu Silva. Der Kassierer wohnte im Stadtteil Santo Antonio, den man soeben über eine der vielen Brücken erreichte. Silva war Untermieter bei einer Schauspielerin.

Vallo betrat das Haus. Gleich darauf klingelte er an der Wohnungstür. Er mußte noch mehrmals klingeln, bevor eine weibliche, recht melodische Stimme von innen rief: „Einen Augenblick, bitte! Ich öffne gleich.“

Vallo wartete. Endlich wurde die Tür aufgemacht. Eine sehr hübsche Frau, Tora Bosano, die Schauspielerin, trat ihm entgegen. Sie trug einen seidenen Morgenrock, der mit bunten Vögeln bestickt war. Neugierig äugte sie den Kommissar an. „Wer sind Sie? Was wünschen Sie?“

„Verzeihen Sie, Dona Tora — wenn ich richtig vermute? — ich wollte gern Senhor Silva sprechen.“

„Oh! Senhor Silva? Der ist nicht da. Jedenfalls ist er heute nacht nicht nach Hause gekommen.“

„Darf ich mal nähertreten?“

„Ich bin noch nicht angekleidet. Ich habe mir nur einen Morgenrock übergeworfen — und überhaupt —“

Vallo zeigte ihr rasch seinen Ausweis. „Trotzdem muß ich mit Ihnen sprechen, Senhora. Ich komme von der Kriminalpolizei.“

Die Schauspielerin schrak zusammen. „Mein Gott! Also bitte, treten Sie ein, Kommissar! Hat Senhor Silva wirklich etwas verbrochen? Das glaube ich nicht!“

„Nein, nein, — ich wollte Sie nur verschiedenes fragen.“

Er wurde in ein mittelgroßes Zimmer geführt, dessen Wände mit Photographien und Kränzen behangen waren. In einem Erker stand ein kostbarer Flügel, auf dem auch zwei Kränze mit mächtigen Schleifen lagen.

„Das ist meine Ruhmeshalle“, lachte die Schauspielerin, „Sie können mich hier an den Wänden in allen meinen Rollen bewundern. — Aber nehmen Sie Platz, Kommissar, und sagen Sie, was Sie mich fragen wollten.“

„Sie erklärten vorhin, Senhor Silva sei nicht nach Hause gekommen. Wo befindet er sich?“

Dona Tora fuhr sich verlegen über das schwarze, üppig wuchernde, noch ungeordnete Haar. „Oh — wie ich aussehe! Sie dürfen mich nicht betrachten. — Wie? Wo sich Senhor Silva befindet? Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Er wird wohl wieder mal bei dem Maler geblieben sein.“

„Bei welchem Maler?“

„Er ist mit dem Maler de Magas befreundet. Zu dem geht er oft abends noch hin, und wenn es mal all zu spät wird, dann schläft er gleich dort auf der Couch.“

Der Kommissar horchte auf. Hatte im Nebenzimmer nicht eben jemand gesprochen? Es war eine komische, etwas krächzende Stimme. Jetzt erscholl sie schon wieder, diesmal ganz klar.

„Nina! Nina! Ich liebe dich!“ verstand Vallo. Er fuhr empor. „Wer spricht denn da nebenan?“

Dona Tora lächelte. Ein bezauberndes Lächeln. Ihr ganzes hübsches Gesicht lächelte mit. „Das ist sein Papagei!“ erklärte sie.

„Und was sagte er eben?“

„Nina, ich liebe dich!“

„Was soll das bedeuten?“

„Oh — das bedeutet, daß sich Silva zur Zeit in eine gewisse Nina verliebt hat. Er ist nämlich immer verliebt. Aber trotzdem liebt er nur eine.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sich verlieben kann man sehr oft. Aber richtig lieben kann man bloß einmal.“ Sie blickte verträumt vor sich hin.

„Und wen liebt er richtig?“

„Mich!“

„Sie?“

„Ja.“

„Und dann können Sie dulden —?“

Dona Tora ließ ein zwitscherndes Lachen vernehmen. „Herr Kommissar“, sagte sie, „was verstehen Sie schon von der Liebe! Ja! Ich dulde es, daß er sich hin und wieder einmal in eine andere Frau vergafft. Nur mit Großzügigkeit kann man die Männer halten. Den Mann, meine ich, den man liebt. Mit ihnen ist es wie mit den Schiffen. Sie fahren wohl tausend Häfen an — aber sie kehren immer wieder in ihren Heimathafen zurück.“

„Und Sie sind sein Heimathafen?“ lachte der Kommissar.

Sie nickte.

Nebenan kreischte es wieder: „Nina — ich liebe dich!“

„Werden Sie gar nicht eifersüchtig?“

„Eifersucht ist das Dümmste, was es geben kann. Wenn sie begründet ist, ist sie gegenstandslos.“

„Sie sind wirklich ein — hm — ein merkwürdiger Mensch!“

„Sprechen Sie ruhig aus, was Sie erst sagen wollten, Herr Kommissar: ein Original. Ich weiß es. Aber es liegt mir nun einmal nicht, das Leben und vor allem die Liebe tragisch zu nehmen. Auch auf der Bühne nicht. Ich spiele nur heitere Rollen.“

„Sie glauben, daß Silva Sie eines Tages heiraten wird?“

„Wenn er es nicht tut, dann läßt er es bleiben. Aber er wird es schon tun.“

„Ich bewundere Ihren Gleichmut. Jetzt könnte ich fragen — aber lassen wir das. Es gehört nicht hierher. Sagen Sie lieber, wer diese Nina ist.“

„Nina, ich liebe dich! Nina, ich liebe dich!“ wiederholte der Papagei. Dann sprach er noch andere Worte und Sätze. Vallo verstand: „Idiot!“ — „Mach die Tür zu!“ — „Guten Morgen, Senhora Bosano!“

„Er hat ein ganz schönes Repertoir!“ lachte die Schauspielerin. „Ja — also Nina? Das ist die Tochter seines Chefs. Er hat’s mir gebeichtet. Er beichtet mir alles.“

Vallo erhob sich. „Hm. Also doch! Na— dann will ich nicht länger stören, Senhora!“

„Was heißt das: ‚Also doch!‘? Was wollten Sie damit sagen?“

„Oh — nichts Besonderes. Ich dachte mir schon, daß es dies Mädchen sei. — Bitte entschuldigen Sie, aber ich bin schon länger geblieben, als ich erst vorhatte.“

„Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum Sie gekommen sind.“

„Das sage ich Ihnen ein andermal“, scherzte der Kommissar, „man muß nicht immer gleich alles wissen.“

„Sie sind aber wirklich nicht höflich, Herr Kommissar!“

„Mag schon sein. Wenn man vorwiegend mit Verbrechern zu tun hat, verliert man die Höflichkeit. Sie wäre bei diesen Menschen auch gar nicht angebracht.“

„Soll ich Senhor Silva etwas ausrichten, wenn er zurückkommt?“

„Ja — dann bestellen Sie ihm einen Gruß von mir, und er möchte mich gleich einmal anrufen.“ Vallo nahm einen Zettel aus seinem Notizbuch und schrieb die Nummer auf.

Dann verabschiedete er sich, ohne auf den Zweck seines Besuchs weiter einzugehen.

*

Die Brasilianer haben alle das Haus voller Kinder. Sechs bis zehn sind das übliche. Deshalb wachsen die Städte auch so rasch an.

Der Dienstmann Numero acht hatte nur sieben. Er wohnte in einer Baracke an der Peripherie der Stadt. Hinten am Hause lief eine Gracht vorbei, die sämtliche Abwässer aufnahm und in die aller Unrat geschüttet wurde.

Gegenüber befanden sich Lagerhäuser und ein Anlegeplatz.

Der Dienstmann kam spät nach Hause, nachdem er am vorigen Tage überhaupt nicht gekommen war. Er stank nach Fusel und war stark angetrunken. Polternd torkelte er durch die einfache Holztür, die in den Angeln quietschte.

Die kleineren Kinder schliefen schon längst. Sie lagen in Hängematten, die kreuz und quer in einem dumpfen Raum ausgespannt waren; einige Wäschestücke, zerlumpte Kleider und Höschen, hingen dazwischen.

Nur die Frau und der älteste Sohn waren noch wach. „Vater ist wieder besoffen!“ flüsterte der Junge seiner Mutter ins Ohr.

Die Frau schob die Zeitung beiseite, in der sie gelesen hatte. Ihr verhärmtes Gesicht war von unzähligen Falten durchfurcht. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Ihre Lippen zitterten. Jetzt kam er. Jetzt würde er toben, wie immer, wenn er zuviel getrunken hatte. Oft schlug er sie. Aber jetzt, da der Junge dabei war, würde er es wohl nicht wagen.

Vor der Kammertür schlug er lang hin und stieß einen gräßlichen Fluch aus.

„Zum Donnerwetter — hilft mir denn keiner? Warum brennt — hicks! — warum brennt hier kein Licht? He! Delfino!“

Der Junge kam, um ihn zu stützen und in die Küche zu führen, in der die Eltern schliefen. Der Vater rülpste laut. Dann schritt er schwankend zur Wasserleitung, drehte den Hahn auf und hielt den Mund an den Strahl, um laut schmatzend zu schlürfen.

„Elender Reisschnaps!“ murmelte er, „verdammtes Zeug!“

Er ließ sich auf einen dreibeinigen Schemel sinken und starrte die Frau an. „Du bist noch auf? Habt mal wieder auf den besoffenen Alten gewartet, was? Aber diesmal gab es doch einen Grund zum Feiern. Jawohl. Hicks! Einen Grund!“ Er erhob sich wieder, torkelte auf den Jungen zu und suchte ihn zu umarmen.

Delfino wich unwillkürlich zurück.

„Warum weichst du mir aus, du verdammte Kröte? He?“ tobte der Alte los, — aber gleich schlug er wieder einen milderen Ton an. „Ja — feiern. Gefeiert habe ich. Deine bestandene Gesellenprüfung, mein Sohn! Gratuliere noch mal. Gra — tu — liere!“

Delfmo ließ ihm die Hand, die der Vater ergriffen hatte. Er grinste verlegen. Die Mutter fuhr aus der Ecke hoch. „Ja — gefeiert hast du, das merkt man! Aber ohne den, den die Feier betraf. Du solltest dich schämen!“

„Schämen? Schämen? Wie macht man das? — Oh — mir ist schlecht! Delfino — mein lieber Junge! Ich habe dich absichtlich nicht mitgenommen. Dafür habe ich meinerseits doppelt auf deine Gesundheit getrunken. Du verträgst doch den Reisschnaps noch nicht. Ich wollte ja nur dein Bestes, mein Jungchen. — Er kam wie gerufen, der Kerl, der mir gestern nacht zwanzig Milreis gegeben hat. Zwanzig Milreis, jawohl. Dafür sollte ich nur einen Zettel irgendwohin bringen. Als ich mich auf den Weg machen wollte, hatte ich den Zettel verloren. Na — wird wohl nichts Wichtiges gewesen sein, was auf dem Zettel stand.“

„So! Nichts Wichtiges!“ rief die Frau, „dafür hat dir der Herr zwanzig Milreis gegeben!“

„Reg dich nicht auf, Alte. Das ist die Sache nicht wert. Ihr hättet überhaupt schon längst schlafen müssen. Was ist das für eine verdammte Zucht? Marsch, in die Kammer, Delfino! Zieh dich aus, Mutter, los, los! Die Lumpen vom Leibe! Es ist schon spät!“

Für diesen Abend ging es noch milde ab. Der Dienstmann Numero acht fiel wie ein Sack auf sein Lager — und eine Minute später schnarchte er schon.

*

José de Magas öffnete pfeifend die Tür.

„Hallo! Schon so früh Besuch? Wer sind Sie?“

„Mein Name ist Vallo. Kriminalkommissar Vallo. Befindet sich Senhor Silva bei Ihnen?“

Der Maler wich vor dem Eintretenden in seinen großen Atelierraum zurück. Sein verblüfftes Gesicht wäre selbst jetzt des Malens wert gewesen.

„Nein“, erwiderte er, „mein Freund ist nicht hier. Wollen Sie ihn etwa verhaften?“

„War er während der letzten Nacht bei Ihnen?“

„Nein, auch nicht. Was hat er verbrochen, Herr Kommissar?“

„Er ist mit der Kasse der Firma Rosas spurlos verschwunden.“

„Unsinn!“

„Wie, bitte?“

„Unsinn, sagte ich. Lieber hackt er sich selbst einen Finger ab, als daß er auch nur ein Milreis veruntreut.“

„Die Tatsachen reden eine andere Sprache. Die Kasse ist leer, und Ihr Freund ist spurlos verschwunden. Oder wissen Sie, wo er steckt?“

„Keine Ahnung!“

„Na also! Sie haben sich eben in ihm getäuscht. Er ist nicht allein geflohen. Er hat die Tochter des Chefs entführt.“

„Ah! Nina! Das wird ja immer interessanter. Vielleicht hat er auch noch jemanden umgebracht.“

„Das ist nicht ausgeschlossen.“

Der Maler warf sich auf eine Couch und strampelte mit den Beinen. „Nicht ausgeschlossen! Haha! Also Betrüger, Entführer, Defraudant, Mörder — alles in einer Person?“

„Ich bitte Sie, die Angelegenheit nicht ins Lächerliche ziehen zu wollen, Senhor!“

„Wenn sie mir aber lächerlich vorkommt? Wer ist denn ermordet worden?“

„Der Prokurist — das heißt —“

„Wie? Etwa Machado?“

„Ja. Er ist tot. Vorläufig untersucht man noch —“

De Magas war plötzlich ernst geworden. Er drehte eine Pfeife zwischen den Fingern. „Das verstehe ich nicht“, murmelte er.

„Es ist auch noch alles recht undurchsichtig. Jedenfalls kam Senhor Silva heute früh nicht zur Arbeit. Gleichzeitig ist Dona Nina verschwunden. — Sie kennen die junge Dame?“

„Ich habe sie porträtiert. Bitte!“

Der Maler wies auf ein Bild, das vor dem Kommissar an der Wand hing. Vallo betrachte es mit Interesse. Ein hübsches Mädchen mit großen, leuchtenden Augen und einer hohen und klaren Stirn. Mit einem spitzbübischen Lächeln um den schön geschwungenen, kirschroten Mund.

„Das ist sie?“

„Jawohl, das ist sie.“

„Wann hat sie Ihnen zu diesem Porträt gesessen?“

„Das Bild ist nach einer Photographie gemalt. Etwas geschmeichelt vielleicht — ganz natürlich wird ein solches Bild selbstverständlich nie.“

Vallo blickte sich weiter im Raume um.

Das Dach war aus Glas, so daß Licht und Sonne ungehindert eindringen konnten. Doch liefen oben überall Schnüre entlang, an denen sich Tücher hin und her ziehen ließen — wie es in photographischen Ateliers auch der Fall war. So hatte der Maler es in der Hand, Licht und Dunkel nach Geschmack zu verteilen.

Überall standen, lagen und hingen Bilder herum. Vorwiegend Porträts und Aktgemälde. Auf der großen Staffelei in der Mitte des Raumes befand sich das angefangene Brustbild einer Mulattin.