Der Mann im Schatten - Hans Heidsieck - E-Book

Der Mann im Schatten E-Book

Hans Heidsieck

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Beschreibung

Gunnar Tönnesen ist zwar Medizinstudent, seine Leidenschaft gilt aber der Kriminalistik. Sein gutmütiger Onkel, der Osloer Kriminalkommissar Dix, unterstützt ihn bei seinen Ambitionen. Bei kniffligen Fragen fragt er den jungen Mann auch um Rat. In dem neuesten Kriminalfall sind sich die beiden aber in der Ermittlung nicht einig. Zum Ärger von Dix geht Gunnar hinter dem Rücken seines Onkels seinen eigenen Vermutungen nach. Ein doppelter Mord hält beide auf Trab. Der Mörder des netten Herrn Selmer ist zwar schnell gefunden, aber tot. Auch er wurde umgebracht. Zur Verwirrung Gunnars behauptet seine Freundin Solveig allerdings, sie habe Selmer nach seinem Tod auf der Straße gesehen. Und dann gilt es auch noch, den Fall mit dem Gewinnerlos zu klären. Solveigs Freundin Ingrid hat ein gefundenes Lotterielos dem Besitzer zurückgebracht. Der im Sterben liegende Artist bedankt sich, in dem er ihr das Los schenkt. Aber als das Los gewinnt, erheben die Erben Anspruch auf den Gewinn. Doch Ingrid ist sich sicher, dass es einen Zeugen für das Geschenk im Nebenzimmer gab. Niemand ahnt, dass beide Fälle zusammenhängen.-

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Hans Heidsieck

Der Mann im Schatten

Kriminalroman

Saga

Der Mann im Schatten

German

© 1951 Hans Heidsieck

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508695

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Solveig zuckte schaudernd zusammen, als sie durch das Fenster geblickt hatte: neben dem leblosen Mann auf dem Boden lag ein kleiner Revolver; unter dem Körper sickerte Blut hervor.

Völlig verwirrt trat sie zurück und suchte einen Gedanken zu fassen.

Da kam Gunnar Tönnessen, den sie vom Ansehen kannte. Schon immer hatte er sie mit seinen Blicken verzehrt — er wollte sie kennenlernen, das wußte sie. Nun zwang sich ihr die Gelegenheit auf, die sie ihm immer schon geben wollte. Der junge Mensch interessierte sie.

Instinktiv trat sie auf den Verblüfften zu: „Verzeihen Sie, daß ich Sie anspreche — aber — ich glaube, da drinnen ist ein Unglück geschehen!“

Gunnar warf seinen Kopf zurück, um die blonden Haare aus dem Gesicht zu schütteln. Er starrte das Mädchen an; sein Blick glitt verwirrt über ihre anmutigen Züge. „Bitte — ein Unglück? Wo?“ — stammelte er.

Sie deutete auf das Häuschen, das mitten in einem blühenden Steingarten lag. Es war das Wochenendhäuschen des Maklers Selmer, der sich auch alltags hier öfter blicken ließ, um den gepflegten Garten instandzuhalten.

Gunnar trat an der Seite des Mädchens auf das Haus zu. Er drückte die Klinke herunter. Die Tür war offen; sie traten ein.

„Dort in der Stube“, deutete Solveig auf eine andere Tür, „ich habe nur von außen hineingeblickt — aber hier muß es sein.“

Der junge Mann zeigte keine sonderliche Erregung, als er an den leblosen Körper herantrat. Mit kritischen Blicken suchte er die Situation zu erfassen.

„Ist das nicht schauderhaft?“ hörte er hinter sich eine bebende Stimme. Er fuhr herum und blickte in Solveigs blasses Gesicht. Impulsiv faßte er sie bei der Hand und meinte: „Das ist nichts für zarte Mädchen. Gehen Sie bitte wieder hinaus. Ich werde gleich nachkommen.“

Die Bestimmtheit in seinem Ton — die Ruhe und Sicherheit, die er zeigte, blieben nicht ohne Eindruck auf sie. Mit einem stummen Kopfnicken verließ sie den Raum ...

*

Gunnar rührte weder den Toten noch die neben diesem liegende Waffe an. Er wußte, daß alles so bleiben mußte, bis die Polizei kam, die er gleich alarmieren würde. Aber er wollte sich zuerst selbst überzeugen, was hier eigentlich vorlag — und er hatte bald seine eigenen Gedanken dabei. In ihm steckte ein Detektiv — wenigstens seiner eigenen Meinung nach. Dieser Fall kam wie gerufen. War er nicht der Neffe des weit über die Grenzen Norwegens hinaus bekannten Kriminalkommissars Dix, den er auf das Höchste bewunderte und dem nachzueifern er schon seit Jahren im stillen bemüht war?

Er hatte sich über das Wesen der Kriminalistik und ihrer Bekämpfung ein besonderes Urteil gebildet — er würde auch neue, eigene Methoden anwenden, wenn es ihm wirklich gelingen sollte, diesen Beruf zu ergreifen. Auf Wunsch seines Vaters hatte er vorläufig Medizin zu studieren.

Lange dachte er über die Lage des Mannes und auch der Waffe nach. Er suchte sich vorzustellen, was hier geschehen war. Irgend etwas, empfand er, paßte zu einem Selbstmord nicht.

Endlich griff er nach seinem Notizbuch und zeichnete alles auf. Dann verließ er den Raum, um draußen Solveig, die ihn erwartete, mit ernster Miene entgegenzutreten.

„Wir müssen die Polizei rufen“, sagte er, „aber vorher erzählen Sie bitte noch, wie Sie zu dieser Entdeckung gekommen sind!“

„Eigentlich muß ich mich schämen“, erwiderte sie, während ein zartes Rot ihre Wangen färbte, „es war die Neugierde, die mich trieb. Das Gartentor hat weit aufgestanden, als ich vor zwei Stunden vorbeikam; — als ich vor kurzer Zeit wiederkehrte, hatte sich nichts geändert. Ich wußte aber, daß Selmer das Tor sonst immer peinlich verschlossen hielt. Nun wollte ich eben nachschauen, was hier los war. Ich ging um das Haus herum; dabei warf ich einen Blick durch die Fenster —“

„Sie kannten den Mann?“

„Ja, natürlich. Er war unser Nachbar — das heißt, sozusagen unser Wochenendnachbar. Das Häuschen hier nebenan gehört meinem Vater.“

„Ja so. Dann wissen Sie wohl auch über die Lebensverhältnisse Ihres Nachbarn einigermaßen Bescheid?“

Solveig schüttelte den Kopf. „Näheres weiß ich nicht. — — Wollten Sie nicht die Polizei anrufen?“

„Richtig! — Wo ist hier ein Telefon?“

„Drüben beim Kaufmann werden Sie sprechen können.“

„Warten Sie bitte. Ich komme sofort zurück.“

Ihr freundlich zunickend, schritt er hastig davon. Solveig blieb unschlüssig stehen; dann wandte sie sich einer Steinbank zu, um sich für einen Augenblick niederzusetzen — als plötzlich von einer energischen Männerstimme ihr Name gerufen wurde.

„Vater!?“ erwiderte sie erbebend.

„Wo steckst du? — Was machst du da drüben? Du kommst sofort her!“

„Ich komme!“

Solveig kannte ihrem gestrengen Vater gegenüber nur unbedingten Gehorsam — aber es fiel ihr diesmal nicht leicht, folgsam zu sein.

*

Kommissar Dix hob den Hörer: „Du, Gunnar? Also, was gibt es?“

„Ein Mord, Onkel. Du mußt sofort kommen!“

Dix horchte auf. „Ein Mord? Wirklich? Wo?“

Gunnar gab die Lage des Häuschens in der Wochenendsiedlung bekannt. Dix räusperte sich. „Hoffentlich“, meinte er, „hast du mir nicht ins Handwerk gepfuscht?“

„Nein, Onkel. Ich habe alles so stehen und liegen lassen, wie ich es vorfand. Aber es würde mich freuen und würde mir eine Ehre sein, wenn du mich später bei einer Untersuchung mit hinzuziehen wolltest!“

„Du bist also immer noch von deiner Berufung zum Detektiv überzeugt?“

„Ja, Onkel, das bin ich.“

Gunnar glaubte den Onkel am anderen Ende der Leitung lächeln zu sehen.

„Na schön“, sagte Dix, „ich will die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. In einer Viertelstunde werde ich dort sein.“

*

Das Polizeiauto raste, sich mit einem fortwährend auf und ab schwankenden Heulton freie Bahn schaffend, durch die Straßen der Stadt. Einige Leute hoben die Köpfe und blickten — eine Sensation witternd — dem dahinschwindenden Fahrzeug nach. Es fegte an riesigen Bauten vorüber, die wie aus tausend Augen mit ihren zahllosen Fensterreihen gläsern hinab in die Tiefe starrten — dann wieder ging es surrend durch eine ruhige Villenstraße, die rechts und links von freundlichen Birken eingesäumt war. Die Fahrt führte auf und ab und schließlich eine Höhe empor, von der aus man Oslo sowie den Fjord weithin überblicken konnte. Die Abendsonne tauchte das herrliche Bild in ein goldenes Licht.

Wenige Minuten darauf war das Ziel erreicht. Dix sprang aus dem Wagen. Arzt, Fotograf sowie Kriminalassistent Olsen, sein treuer Gehilfe, folgten ihm.

Gunnar trat den Herren mit wichtiger Miene entgegen. Er hatte, als er vom Telefonieren zurückkam, vergebens nach Solveig Umschau gehalten. Warum war sie fortgegangen? Warum hatte sie nicht gewartet, wie er ihr doch geraten hatte?

Er mußte sich zugestehen, daß er darüber bitter enttäuscht war. Aber zu solchen Betrachtungen gab es jetzt keine Zeit. Mit festen Schritten ging er dem Onkel voraus.

*

Solveig trat ihrem Vater erregt entgegen. Hastig sprudelte sie hervor, daß sich Selmer erschossen habe — aber Herrn Einar Larsen rührte das nicht. Er blickte ihr mit seinen glasklaren Augen starr ins Gesicht. „Na und? Ist das nicht seine Sache? Was geht es uns an? Der Mann ist mir niemals sympathisch gewesen. Es ist nicht schade um ihn.“

„Papa!“

„Was willst du?“

„Du bist gefühllos! Selmer war immer nett zu dir.“

Larsens Stirn zog sich in Falten. „Ja ja, so nett“, brummte er, „daß er mir damals für diese Mistbude zweitausend Kronen zuviel abnahm.“

„Das bildest du dir nur ein, Papa. Und — eine Mistbude darfst du nicht sagen. Es ist doch ein nettes Wochenendhäuschen. Mama und mir gefällt es jedenfalls gut.“

Larsen blickte an ihr vorbei. Offenbar hatte er gar nicht auf das gehört, was sie sagte. „Wer war der junge Mann“, fuhr er fort, „mit dem du da drüben sprachst? Habe ich dir nicht verboten, dich von fremden Männern anreden zu lassen?“

„Gewiß, Papa — aber du verbotest mir nicht das Gegenteil.“

„Wie? Das Gegenteil? Was meinst du damit?“

„Ich habe ihn angesprochen, — aber auch nur, um ihm zu sagen, daß da drüben ein Unglück geschehen sei.“

Larsen musterte seine Tochter mit einem forschenden Seitenblick. „War es nicht Gunnar Tönnessen?“ fragte er.

„Ja. Es war Gunnar Tönnessen.“

„Also der Sohn des Mannes, der mir schon zwei Prozesse auf den Hals gehängt hat — dem ich es zu verdanken habe, daß meine Nerven allmählich zerrüttet werden. Soll ihn der Teufel holen! Nein, nein, mein Mädel, so haben wir nicht gewettet! In eine solche Familie, in der der Leichtsinn zu Hause ist, heiratest du nicht hinein. Das kommt nicht in Frage.“

„Aber Papa! Wer spricht denn vom Heiraten?Lächerlich!“

„Übrigens hat Tante Maria aus Dresden geschrieben. Du bist ihr willkommen. — Wann fährst du ab?“

Solveig blickte den Vater beklommen an. Merkwürdig — bis vor kurzem hatte sie sich noch auf diese Reise nach Deutschland zum Besuch und zur Pflege der stets etwas kränklichen Tante in Dresden gefreut. Und nun auf einmal kam ihr das wie ein böser Traum vor. „Ja so — —“ war alles, was sie herausbrachte.

„Was heißt: ja so? Hattest du dich nicht darauf gefreut?“

„Ge—wiß, Papa.“

„Na also! Das will ich auch meinen. Es wird langsam Zeit, daß du die Nase mal in die Welt steckst. — Warum bist du so aufgeregt?“

„Hörst du, Papa? Das Auto der Polizei!“

„Na und? Willst du mit zu den Gaffern gehören, die überall zu finden sind, wo es eine Sensation gibt?“

„Nein — aber — —“

„Was?“

„Schließlich ist Selmer doch unser Nachbar gewesen. Was meinst du, warum er sich wohl erschossen hat?“

„Was weiß ich? Vielleicht hat ihm das Gewissen geschlagen. Vielleicht mußte er wegen einer betrügerischen Geschichte befürchten, entlarvt zu werden — —“

„Papa! Warum nimmst du immer gleich etwas Schlimmes an?“

„Weil man sich wegen einer angenehmen Sache nicht zu erschießen pflegt“, gab Larsen zynisch zur Antwort und zündete sich eine Zigarre an. Dann klopfte er Solveig die Schulter, nickte ihr einmal kurz zu und entfernte sich.

*

Dix hatte alles genau untersucht, zog seinen Neffen zur Seite und fragte ihn: „Wie bist du nur zu der Meinung gekommen, daß hier ein Mord vorliegt? Wo es sich doch ganz offensichtlich um einen Selbstmord handelt!“

„So? Glaubst du wirklich?“ Gunnar blickte den Onkel ein wenig spöttisch an. „Dann scheint der hohen Kommission manches entgangen zu sein.“

Dix kniff, über die vermeintliche Besserwisserei seines Neffen verärgert, die Augen zusammen. „So! Und was wäre das?“

Gunnar zuckte mit den Achseln und lächelte. „Ich werde nicht gleich mein Geschäftsgeheimnis verraten“, erklärte er, „schließlich bin ich in deinen Augen ein Laie und Stümper — und deshalb wirst du auf meine Meinung ohnedies wenig geben.“

„Sei nicht so störrisch, Gunnar!“ erwiderte Dix, jetzt wirklich ärgerlich. „Wenn du tatsächlich etwas entdeckt hast, was von entscheidender Bedeutung sein könnte, dann muß ich dich schon ersuchen, damit herauszurücken.“

„Ich behaupte sogar“, sagte Gunnar, „daß der Mann die Waffe, die neben ihm lag, überhaupt nicht in der Hand gehabt hat.“

„Wunderbar! Na — das wird sich ja nachweisen lassen!“

Gunnar nickte. „Gewiß wird sich das nachweisen lassen. Und dann wirst du mir recht geben müssen.“

Dix räusperte sich. Es war ihm unbehaglich zumute. Er wandte sich ab, um Olsen flüsternd eine Weisung zu geben. Die anderen Herren gingen daraufhin noch einmal ins Haus.

Zwei Stunden später wurde der Tote abgeholt.

*

Solveig war in die Stadt gefahren. Hier suchte sie ihre Freundin Ingrid auf. Wenn sie aber geglaubt hatte, Ingrid mit ihrer Neuigkeit etwas Besonderes bieten zu können, so irrte sie sich — ja, sie wurde noch übertrumpft. Die Freundin fiel ihr erregt um den Hals:

„Ach, es ist gut, daß du kommst, Solveig — laß dir erzählen, was mir Unerhörtes begegnet ist.“

Solveig ließ sich in einen Sessel fallen und zeigte sich recht enttäuscht. „Na — und?“ ahmte sie ihren Vater nach, „dir ist auch etwas Unerhörtes begegnet?“

„Ja. Mit dem Los. Du weißt ja, ich habe es einlösen wollen. Da sagte der Losverkäufer, das gehe nicht. Es sei Einspruch erhoben worden.“

Solveig suchte sich zu besinnen. Wie war das noch? — Richtig! Ingrid hatte vor einiger Zeit auf der Straße ein Lotterielos gefunden. Zu ehrlich, um es einfach an sich zu nehmen, hatte sie nach dem Verlierer geforscht, hatte ihn schließlich auch ausfindig machen können. Es handelte sich um einen alten Artisten in einer Pension. Aufgeregt klopfte sie an die Tür, an die sie verwiesen wurde. Als sie auf einen schwachen Ruf hin dann eintrat, stand sie zu ihrer Überraschung am Lager eines Sterbenden. Die Augen des Mannes ruhten gespannt auf ihr. „Was bringst du mir, kleine Pike?“ (Mädchen) fragte er mühsam mit schwankender Stimme. „Kommst du, um mir durch deinen Anblick das Sterben leichter zu machen? Du bist wirklich hübsch — das muß man schon sagen.“

Ingrid war so benommen, daß sie zunächst nichts erwidern konnte. Der alte Mann flößte ihr Mitleid ein. Sie faßte nach seiner blassen, zitternden Hand.

Endlich brachte sie ihr Anliegen vor. „Sie haben ein Los verloren, nicht wahr?“

Der Mann horchte auf, suchte sich hochzurichten — sank aber wieder erschöpft in die Kissen zurück.

„Haben Sie es gefunden?“

„Ja — auf der Straße. Es muß Ihnen fortgeweht worden sein.“

„Und ich hatte hier alles schon auf den Kopf gestellt. Oh — Sie liebes, ehrliches Mädchen. Behalten Sie nur das Los. Es gehört Ihnen. Mir nützt es nichts mehr. Im Himmel, denke ich, werde ich auch ohne Geld leben können — — und übrigens wird es gewiß eine Niete sein.“

„Wenn es aber doch ein Gewinn ist?“

„Dann würde ich mich für Sie freuen!“

Ingrid bedankte sich herzlich und ging, — aber nicht, ohne dem alten Mann noch Trost zugesprochen zu haben.

*

Die Szene, die Ingrid ihr anschaulich wiedergegeben hatte, stand Solveig wieder deutlich vor Augen. „Aber das Los“, sagte sie, „wurde dir doch geschenkt. Wer konnte Einspruch erheben? Daraus darf ich wohl schließen, daß es gewonnen hat?“

„Wie — das weißt du noch nicht? Aber Solveig! Ja richtig, wir hatten uns ja schon tagelang nicht gesehen. Denke dir — fünfzigtausend Kronen ist der Gewinn. Ich werde eine reiche Partie dadurch, das heißt — ich würde es werden, wenn eben nicht — —“

Solveig zog mit dem Stift ihre roten Lippen nach. Jede ihrer Bewegungen war voller Anmut. „Wahrhaftig?“ horchte sie auf, „und wer will dir das streitig machen?“

„Ein Erbe des alten Herrn Blakstadt. So hieß der Artist, der nun vor einigen Tagen gestorben ist.“

„Wer ist dieser Erbe?“

„Ein gewisser Herr Lindström. Wir waren schon bei dem Juristen, der Papa immer berät.“

„Und was sagte der?“

„Denke dir — der behauptet, es sei nichts zu machen. Ich müßte beweisen können, daß mir das Los geschenkt worden sei — entweder durch etwas Schriftliches oder durch einen Zeugen.“

„Das kannst du nicht?“

„Leider nein. Das heißt — — ich wandte mich an die Inhaberin der Pension. Die behauptete, daß in dem Nebenzimmer damals jemand gewesen sei, der möglicherweise etwas gehört hat. Jedenfalls hatte der Mann ziemlich laut gesprochen.“

„Wie? Im Nebenzimmer ist jemand gewesen?“

„Ja. Da wohnte auch ein Artist, der einen Bekannten zu sich gebeten hatte — selbst aber noch einmal fortgehen mußte. Der Bekannte wartete in dem Zimmer auf ihn.“

„Aber das ist ja ganz einfach — dann brauchst du doch nur den anderen Artisten zu fragen.“

„Richtig! Wenn der Mann zu erreichen wäre! Aber er ist auf Tournee gegangen, und niemand weiß, wo er steckt. Den Namen des Mannes, der auf ihn wartete, kann mir die Wirtin leider nicht nennen. Aber da bin ich auf einen Einfall gekommen. Ich werde der Sache durch Gunnar Tönnessen nachforschen lassen.“

Solveig fuhr jäh zusammen. „Was? Gunnar Tönnessen? Kennst du den auch?“

„Schon lange. Der studiert doch auch Medizin, wie ich — obwohl er lieber Detektiv werden möchte, wie er mir einmal erzählt hat. Wann hast du ihn denn kennengelernt?“

„Ich? Heute. Deshalb komme ich ja; ich wollte dir gerade berichten — — denke dir, Ingrid, unser Nachbar hat sich erschossen!“

Solveig erzählte ihr Erlebnis — und wie sie bei dieser Gelegenheit Gunnars Bekanntschaft gemacht hatte. Ingrid hörte aufmerksam zu und lächelte. „Dein Interesse für diesen jungen Mann scheint recht lebhaft zu sein!“

„Gefällt er dir nicht?“

„O ja, sehr gut sogar. Im Kolleg haben wir oft nebeneinander gesessen.“

Solveig warf einen Seitenblick auf die Freundin. Eine plötzliche Unruhe packte sie. „Interessierst du dich etwa für ihn?“

„Nein. Da brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich habe ja meinen Sven. — — Aber was hast du, Solveig? Du krümmst dich ja plötzlich so!“

Solveigs Miene zeigte einen leidenden Ausdruck. „Ja du — ich weiß nicht — es schmerzt mich hier in der Seite.“ Sie deutete der Freundin die Stelle an. Ingrid fühlte in sich die angehende Ärztin erwachen, untersuchte die Freundin und meinte mit ernster Miene: „Das scheint mir bedenklich zu sein. Seit wann spürst du das?“

„Jetzt — eben zum erstenmal. Ich bin selbst überrascht“, sagte Solveig und preßte die Lippen zusammen. „Laß nur — es wird schon wieder vergehen.“

„Nein, du — mit dem Blinddarm ist nicht zu spaßen. Wenn es schlimmer wird, mußt du sofort zum Arzt.“ „Es ist schon besser. — Ich wollte dir noch erzählen, daß ich wegfahren soll. Zu meiner Tante nach Dresden.“ „Darauf hast du dich ja schon lange gefreut.“

„Hm. Ja — aber ich weiß nicht — —“

„Was weißt du nicht?“ Ingrid drohte schelmisch mit dem Finger. „Du magst nicht mehr fort? Ich ahne schon, was dahintersteckt!“

„Gar nichts. Ich habe nur keine Lust mehr. Habe mir überlegt, daß ich zu einer Krankenpflegerin doch nicht recht passen mag.“

„Oh — gewiß! Mit einem gesunden, jungen Mann flirten, muß ja auch tausendmal schöner und bekömmlicher sein!“ lachte Ingrid. „Ich habe auch gar nichts dagegen — aber du mußt schon gestatten, daß ich den Betreffenden auch ein wenig für meine Nachforschungsarbeit in Anspruch nehme.“

Solveig streckte der Freundin die schlanke Hand entgegen. „Schön, Ingrid — du stehst also auf meiner Seite! Papa hat mir schon eine Szene gemacht. — Hoffentlich hat es mir Gunnar nicht allzu übel genommen, daß ich nicht auf ihn wartete!“

„Oh, das wird sich schon einrenken lassen“, tröstete Ingrid, „ich werde ihm alles erklären. Da kannst du beruhigt sein.“

Ein Herr von der daktyloskopischen Abteilung rief Dix an. „Ich habe die fragliche Waffe genau auf Abdrücke hin untersucht, Herr Kommissar.“

„Und was haben Sie festgestellt?“

„Fingerabdrücke des Toten sind nicht an der Waffe zu finden.“

Dix horchte auf. „So? Wirklich nicht? Und die Abdrücke, die Sie fanden?“

„Stammen von einem Unbekannten, Herr Kommissar. In unserer Sammlung sind diese Abdrücke jedenfalls nicht vorhanden.“

„Sie haben alles verglichen?“

„Ja.“

„Hm. Ich danke Ihnen.“ Dix hängte ein; trommelte auf den Tisch. „Sonderbar“ — murmelte er vor sich hin — „hat der verdammte Bengel doch recht gehabt! Wenn ich nur wüßte, wie er darauf gekommen ist!“

Dix rief nach Olsen. Der Assistent trat zu ihm an den Tisch. „Herr Kommissar?“

„Hören Sie, Olsen — im Falle Selmer scheint es sich doch um keinen Selbstmord zu handeln. Mein Neffe hat recht behalten. Ich sagte Ihnen ja schon, was er behauptete.“

„Ihr Neffe? — Ach so — richtig — —, der war ja gleich überzeugt, daß es sich um einen Mord handeln müsse.“

„Wir werden der Presse gegenüber noch schweigen, hören Sie? Ich habe meine Gründe dazu.“

„Jawohl, Herr Kommissar.“

„Morgen früh beginnen wir gleich mit den Vernehmungen der Nachbarn. Da wäre ein gewisser Herr Larsen — wie ich im Vorbeigehen sah. Möglich, daß es sich um den Reeder Larsen handelt, der, wie ich zufällig hörte, vor kurzem da draußen ein Wochenendhäuschen erworben hat. Stellen Sie das mal fest. Wir fahren gleich morgen früh hinaus. — Hat man die Frau des Toten benachrichtigt?“

„Er war unverheiratet, Herr Kommissar. Seine Haushälterin ist zur Zeit verreist. Ich konnte nur die Nachbarn seiner städtischen Wohnung von dem Fall unterrichten.“

„Stellen Sie fest, ob er hier noch Verwandte hat. Bereiten Sie alles vor. Sie wissen — bei mir muß stets rasch gehandelt werden.“

*

Am folgenden Tage machte Solveig Besorgungen, um sich auf die Reise vorzubereiten.

Auf der Karl-Johans-Gate wurde sie wieder von ihren Schmerzen befallen, so daß sie sich auf eine Bank setzen mußte. Ein unaufhaltsamer Menschenstrom flutete an ihr vorbei.

Plötzlich war ihr, als müsse ihr Herz stehen bleiben. Sie sprang trotz ihrer Schmerzen empor, starrte einen eben vorübereilenden Herren an, lief ihm nach, überholte ihn, blieb vor ihm stehen. Sie packte ihn unwillkürlich am Arm.

„Herr Selmer!“

„Ah! Fräulein Solveig! — Aber mein Gott — — wie sehen Sie aus?“

„Herr Selmer — das ist doch unmöglich! Sie können das doch gar nicht sein!“

Selmer lachte. „Wieso soll ich’s nicht sein? Ich bin es wirklich. Sie haben mich ja sogar angefaßt und sich davon überzeugen können. — Aber Sie sehen aus wie der Tod. Ist Ihnen nicht gut, Fräulein Solveig?“

„Doch — aber — —“, sie taumelte. „Halten Sie mich!“

Er fing sie auf. Führte sie zu einer Bank, setzte sich neben sie. „Also, was ist denn los? Warum sind Sie so aufgeregt?“

„Weil ich — — weil Sie — — — aber Sie haben sich doch gestern erschossen!“

Selmer starrte ihr ins Gesicht, als beginne er an ihrem Verstande zu zweifeln. „Ich — mich erschossen? Das haben Sie bestimmt nur geträumt. Jedenfalls sehen Sie ja, daß ich noch recht intensiv am Leben bin. — Leider bin ich sehr eilig. Sagen Sie rasch, was geschehen ist. Irgend etwas stimmt da wohl nicht.“

Solveig fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als suche sie aus einem bösen Traum zu erwachen. „Ich habe es selbst gesehen — ich war doch dabei — —, mein Gott! Sie lagen am Boden, neben Ihnen die Waffe. Die Polizei ist gerufen worden — —“

„Die Polizei? Ich habe am Boden gelegen? Verzeihen Sie, Fräulein Solveig — — Sie scheinen mir ernstlich krank zu sein, scheinen Fieber zu haben. Ich werde ein Taxi herbeirufen, das Sie nach Hause bringt. Leider habe ich keine Zeit selber mitzufahren.“

Er machte sofort seine Worte wahr und hielt eine Droschke an. Dann führte er Solveig zum Wagen, nannte dem Fahrer die städtische Wohnung des Reeders Larsen am Kirkeveien, murmelte noch einige unverständliche Worte, grüßte und setzte seinen Weg fort.

*

Dix hatte sich in Larsens Stadtwohnung eingefunden. Der Reeder schaute ihn unmutig an. Jede Belästigung seitens der Polizei war ihm zuwider.

„Sie wünschen, Herr Kommissar?“

„Es tut mir leid, Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehmen zu müssen, Herr Larsen“, versetzte Dix. „Es handelt sich um den mysteriösen Tod Ihres Wochenendnachbarn, des Maklers Selmer.“

Larsen drehte eine Zigarre zwischen den wulstigen Fingern. „Ach — wegen Selmer? Mysteriöser Tod — sagen Sie? Wieso mysteriös? Der Mann hat sich erschossen, wie mir meine Tochter berichtete.“

„Wie mir gesagt wurde, hat Ihre Tochter den Vorfall zuerst entdeckt?“

„Ja. Leider. Sie sollte sich lieber um andere Dinge bekümmern.“

„Kann ich sie sprechen?“

„Nein!“

„Und — warum nicht?“

„Sie ist nicht da. Sie ist in die Stadt gefahren, um Besorgungen zu machen. Es tut mir leid.“

„Hm. Schade. Ich hätte sie gern gesprochen. — Aber vielleicht können Sie mir auch schon einen Anhaltspunkt geben. Sie waren ja gestern draußen in Ihrem Wochenendhäuschen. Haben Sie da irgend jemanden auf dem Nachbargrundstück — also auf Selmers Grundstück — gesehen?“

„Ja. Meine Tochter. Sie sprach dort mit einem jungen Mann. Ich rief sie zu mir.“

„Der junge Mann war mein Neffe, dem sie ihre schaurige Entdeckung mitgeteilt hatte.“

„Ihr Neffe? Der junge Tönnessen ist Ihr Neffe?“

„Ganz recht. Ein tüchtiger Bursche übrigens. Er scheint in meine Fußtapfen treten zu wollen.“

„So, so. Das ist ja ganz interessant“, warf Larsen gleichgültig hin.

„Hatten Sie vorher jemanden auf dem Grundstück gesehen? Selmer selbst vielleicht?“

„Nein. Ich saß unten in meiner Laube und stellte eine Berechnung an. Auf das Nebengrundstück habe ich nicht geachtet.“

Larsens Blick war bei diesen Worten durch das Fenster auf die Straße gefallen, wo eben ein Taxi scharf bremsend hielt. Dann sah er, wie Solveig diesem Taxi entstieg und sich taumelnd auf das Haus zu bewegte.

Hastig erhob er sich. „Da kommt meine Tochter!“ sagte er, „jetzt können Sie doch mit ihr sprechen.“

Eine Minute später kam Solveig hereingeschwankt. Sie warf sich in einen Sessel und starrte die Männer an.

„Papa“, rief sie, sich mit beiden Händen den Kopf haltend, „weißt du, wen ich getroffen habe? Aber das ist doch Wahnsinn, nicht wahr? Auf der Karl-Johans-Gate. Es war Herr Selmer.“

Larsen trat auf sie zu, faßte sie bei der Schulter. „Was sagst du da? Selmer? Das wäre allerdings Wahnsinn. Der ist ja tot.“

„Nein. Er lebt, Papa. Ich habe ihn doch gesprochen, habe ihn mit diesen meinen Augen gesehen — und er sagte auch selbst, daß er es sei. Ich habe ihn sogar angefaßt.“

„Kind, mit dir muß irgend etwas nicht richtig sein. Bist du darum mit dem Taxi gekommen? Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte dir unseren Wagen geschickt.“

„Der ist ja in Reparatur, Papa.“

„Ach ja, richtig!“

„Herr Selmer hat mich in das Taxi gepackt. Er meinte auch, daß ich krank sei, als ich ihm sagte — — aber, mein Gott, das ist ja alles verrückt.“

Larsen strich ihr besänftigend über das Haar. „Du bist krank“, sagte er, „deine Stirn ist ganz heiß. Hast du Schmerzen?“

„Ja. Allerdings. Gestern zum ersten Mal. Und vorhin wieder. Ingrid meinte, daß es der Blinddarm sei. Oh!“ Sie krümmte sich.

Dix kam dazu. „Packen Sie Ihre Tochter ins Bett“, sagte er, „und rufen Sie einen Arzt.“

Jetzt erst schien Solveig den Kommissar zu bemerken. Verlegen, wie hilfesuchend, schaute sie ihm ins Gesicht. „Bitte, verzeihen Sie, daß ich Sie nicht begrüßt habe — aber — — ich war so aufgeregt —“

„Und ich muß mich Ihnen noch vorstellen“, erwiderte Dix. Aber jetzt kam ihm Larsen zuvor. „Das ist der bekannte Kommissar Dix!“ erklärte er seiner Tochter. „Er wollte dich wohl verschiedenes fragen; über deine Entdeckung gestern.“

„Herr Selmer lebt doch noch!“ stammelte Solveig.

Dix zog Larsen beiseite. „Sie fiebert“, flüsterte er, „am besten tun Sie, was ich eben gesagt habe. Ich komme später noch einmal her.“

Mit einigen Höflichkeitsphrasen verabschiedete er sich.

*

Selmer hatte nach dem Zusammentreffen mit Solveig kopfschüttelnd das Reisebüro der Lufthansa aufgesucht. Hier belegte er einen Platz für das Nachmittagsflugzeug nach Kopenhagen. Bis zum Abflug hatte er nur noch drei Stunden Zeit; er konnte von Glück sagen, daß er überhaupt einen Platz erhielt.

Als das erledigt war, suchte er seine städtische Wohnung auf, um noch einige Pläne zu holen, die er für seine Reise benötigte.

Seine Haushälterin war nach Bergen zu Verwandten beurlaubt worden, weil er sich selbst jetzt für einige Tage auf Reisen befand. Er war auch heute erst aus Drammen zurückgekommen, wo er wichtige Besprechungen hatte. Für Oslo blieben ihm nur wenige Stunden Aufenthalt.

Während er sich in sein Badezimmer begab, um sich durch eine Abwaschung zu erfrischen, dachte er über die seltsame Begegnung mit Solveig Larsen nach. Er mußte lächeln. Was hatte das Mädchen behauptet? Er habe Selbstmord begangen — sie habe ihn am Boden tot liegen gesehen? Sie mußte wirklich schwer krank sein, wenn sie schon auf der Straße von solch einem Fieber befallen wurde!

Er — Selbstmord? Das fehlte noch! Lächerlich!

Prustend wischte er sich mit dem Schwamm über die Stirn. Ein hübsches Mädel, die Solveig — gingen seine Gedanken weiter —, es wäre schade um sie.

Ob Post für ihn da war? Er war schon zwei Tage fort gewesen. Am besten wird man die Nachbarn fragen.

Er klingelte an der gegenüberliegenden Wohnungstür. Niemand öffnete ihm. Heute ist Sonnabend, dachte er die sind schon hinaus gefahren.

Nachdem er noch einige Dinge geordnet hatte, verließ er die Wohnung, suchte ein Restaurant auf, aß eine Kleinigkeit und begab sich zum Flugplatz, um seine Reise anzutreten.

*

Gunnar wunderte sich, als er über die Mordangelegenheit keine Notiz in der Zeitung fand. Er begab sich, wie immer, zur Hochschule, um gewissenhaft seinem Studium nachzukommen. Nur seine freie Zeit konnte er anwenden, um sich mit Nachforschungen zu beschäftigen. Was Selmers Tod betraf, so beschloß er, diesem seltsamen Fall auf den Grund zu gehen.

Heute konnte er allerdings im Kolleg seine Gedanken gar nicht richtig zusammenfassen. Er kam nicht darüber hinweg, daß Solveig nicht auf ihn gewartet hatte. Machte sie sich doch nichts aus ihm? Er glaubte das Gegenteil aus ihren Blicken gelesen zu haben, aber es mußte wohl eine Täuschung gewesen sein. Für ihn eine Enttäuschung; das gab er sich offen zu. Er hatte gehofft, durch den gestrigen Vorfall mit ihr in Verbindung zu bleiben. Offenbar war das jetzt wieder aus.

Mühsam suchte er den Worten des Professors zu folgen. Als er den Hörsaal verließ, traf er mit Ingrid zusammen, jener hübschen Kommilitonin, mit der er sich immer recht gut verstand, bei der jedoch sein Interesse nicht über gute Kameradschaft hinausging.

„Sie sehen so nachdenklich aus, Herr Tönnessen“, sagte Ingrid, „was ist Ihnen über die Leber gekrochen? Denken Sie über Selmer nach?“

Gunnar blickte erstaunt. „Woher wissen Sie das?“

„Raten Sie!“

„Keine Ahnung!“

„Aber das kann mir doch nur jemand erzählt haben, der davon weiß“, meinte sie lächelnd, „strengen Sie Ihr detektivisches Gehirn einmal an!“

„In der Zeitung steht jedenfalls keine Notiz. Wahrscheinlich haben Sie es von irgendeinem Bekannten des Maklers gehört.“

„Falsch geraten. Von einer Dame — die sich übrigens durch mich bei Ihnen entschuldigen läßt.“

In seinen Blick kam ein seltsamer Glanz. „Entschuldigen? Etwa — Fräulein Larsen?“

„Ja. Solveig Larsen.“

„Die kennen Sie?“

„Oh — schon lange. Wir sind zusammen auf die Schule gegangen. Sie ist meine Freundin. Natürlich hat sie mir den Fall schon erzählt.“

„Und was sagte sie?“

„Offenbar war sie untröstlich, daß sie nicht hatte bleiben und auf Sie warten können.“

„Warum nicht?“

„Weil sie von ihrem Vater gerufen wurde. Herr Larsen ist äußerst streng. Er kennt keinen Widerspruch.“

Gunnar atmete hörbar auf. „Also so liegt die Sache! Ich bin Ihnen äußerst dankbar dafür, daß Sie mir dies gesagt haben.“

„Wirklich? Das habe ich mir halb und halb schon gedacht.“

„Was dachten Sie?“

„Daß Sie sich freuen würden — und daß Sie sich vielleicht schon Gedanken machten.“

Sie blickte in ein strahlendes Antlitz. Ihm verständnisvoll zunickend fragte sie: „Nun werden Sie mir wohl auch eine kleine Bitte erfüllen?“

„Gewiß. Selbstverständlich — soweit es in meiner Macht steht!“

„Es handelt sich um die Losgeschichte, von der ich Ihnen schon einmal erzählt habe. Erinnern Sie sich?“

„Ja. Leider konnte ich Ihnen keine großen Hoffnungen machen. Was hat der Jurist gesagt?“

„Auch er meinte, daß hier ohne Beweise nichts zu erreichen sei. Aber nun glaube ich, daß sich möglicherweise doch noch ein Zeuge auftreiben läßt.“ In kurzen Zügen setzte sie ihm auseinander, was sie auch ihrer Freundin schon klargemacht hatte.

Er hörte aufmerksam zu. „Nun meinen Sie, daß ich jenen Besucher des anderen Artisten ausfindig machen soll?“

„Ich wollte Sie darum bitten, Herr Tönnessen. Für Sie dürfte das doch nicht schwer sein.“

„Der Artist, sagten Sie, ist auf Tournee gegangen?“

„Ganz recht.“

„Und die Inhaberin der Pension weiß den Namen des Mannes nicht, der auf jenen gewartet hatte?“

„Nein.“

„Natürlich ist das herauszubekommen. Aber es wird seine Zeit dauern.“

„Wollen Sie das übernehmen?“

„Gern. Geben Sie mir die Adresse von der Pension.“

Ingrid nannte die Anschrift. Er notierte sie sich. Dann sah er sie fragend an. „Gibt es wohl eine Möglichkeit, wieder mit Ihrer Freundin zusammenzutreffen?“

„Natürlich. Das werde ich schon arrangieren. Morgen sage ich Ihnen Bescheid.“

„Sie sind ein famoses Mädel, Ingrid!“

„Eine Hand wäscht die andere; aber ich muß jetzt ins Auditorium. Leben Sie wohl, Herr Tönnessen!“

*

Am Frühnachmittag suchte Gunnar Selmers Stadtwohnung auf und klingelte mehrere Male, ohne daß ihm geöffnet wurde.

Daraufhin wandte er sich an den Nachbarn, einen gewissen Herrn Kollerud, der ihn sofort in das elegant eingerichtete Wohnzimmer führte. Herr Kollerud war ein Mann in den Vierzigern, groß, schlank, dunkel. Eigentlich fiel er mit seinem dunklen Haar ein wenig aus dem Rahmen des norwegischen Typs. Er war Angestellter bei einer Versicherung und nahm gerade zu Hause das Essen ein.

„Nehmen Sie Platz, Herr — — wie war doch Ihr Name?“

„Tönnessen. Gunnar Tönnessen. — Es handelt sich um Herrn Selmer, der, wie Sie wohl schon durch einen Beamten der Polizei erfuhren, gestern Selbstmord begangen hat.“

„Ja — ich verstehe das gar nicht“, sprudelte Kollerud cholerisch hervor. „Ich kann mir jedenfalls keinen Grund dafür denken. Soweit ich Herrn Selmer kannte und beurteilen kann, ist er immer ein recht zufriedener Mensch gewesen und hatte augenblicklich nicht den geringsten Anlaß zu solch einer Tat.“

Gunnar hob ein wenig die Achseln. „Über die Hintergründe kann man in solchen Fällen wohl immer schlecht urteilen“, meinte er, „aber was würden Sie sagen, wenn es sich um einen Mord handelte?“

Kollerud fuhr zusammen. „Ein Mord? Wieso? Es wurde von einem Selbstmord gesprochen.“

„Der konnte nur vorgetäuscht worden sein.“

„Sie machen mir Spaß, Herr — Herr Tönnessen! Ein Mord! Das hätte doch lang und breit in der Zeitung gestanden. — Kommen Sie übrigens auch von der Polizei?“

„Nein. Ich suche gewissermaßen für mich privat dieser Angelegenheit auf den Grund zu kommen, die meinem Onkel offenbar weniger Kopfzerbrechen verursacht als mir.“

„Ich verstehe Sie nicht —“

„Mein Onkel ist der hier schon leidlich bekannte Kriminalkommissar Dix, der auch in dieser Angelegenheit forscht. Ich habe den Ehrgeiz, auch einmal Kommissar zu werden, obwohl ich auf Wunsch meines Vaters vorläufig noch Medizin studiere. Nun werden Sie mich verstehen.“

Herrn Kolleruds Züge hellten sich auf. Er hatte ein vergnügliches Aussehen, wenn er die Augen zusammenkniff, es lag etwas Schelmisches in seinem Blick. Es regte zum Lächeln an, aber Gunnar blieb ernst.

„Sie sind also angehender Detektiv“, meinte Kollernd, „und an diesem Fall Selmer wollen Sie sozusagen studieren?“

„Ich deutete Ihnen schon an, daß er mir einiges Kopfzerbrechen verursacht, weil ich nämlich tatsächlich davon überzeugt bin, daß es sich um einen Mord handelt.“

Der Versicherungsangestellte prallte unwillkürlich zurück. „Oh — wie kommen Sie darauf?“