Dynamit - Hans Heidsieck - E-Book

Dynamit E-Book

Hans Heidsieck

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Beschreibung

Barlet und Companie, die größte Bank des Städtchens, wird von einer Explosion erschüttert, bei der lediglich die Fensterscheiben platzen - doch auf der Gegenseite wurde eine Filmgesellschaft bis auf die Grundmauern zerstört. Nach einigen Tagen stellt sich heraus, dass das gesamte Bankvermögen durch das Gebäude der Filmgesellschaft gestohlen wurde. Direktor Barlet ist völlig ruiniert und seine Tochter Betty muss erleben, dass der Freiherr von Edenhausen noch am selben Tage die Verlobung mit ihr löst. Kriminalhauptwachtmeister Otto tappt völlig im Dunkeln. Er nimmt sich den Schriftsteller Bettner zu Hilfe, einen Mann, den Betty liebt, einen Mann, der viel theoretische Fantasie hat und gleichzeitig einen Mann, der vor einer Operation steht - ein Bombensplitter muss entfernt werden. Nach der Operation gibt es Fortschritte. Man erfährt, dass alles Geld in einem riesigen Koffer im D-Zug nach München transportiert wurde und dass der Hilfsfahrer Dick und der Diener Thomas verschwunden sind ...-

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Hanns Heidsieck

Dynamit

Roman

Saga

Dynamit

© 1934 Hans Heidsieck

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508428

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

10 Uhr 23 Minuten vormittags wurde plötzlich die ganze Stadt durch eine gewaltige Detonation in Atem gehalten. Es war, als wanke den Leuten der Boden unter den Füssen; Scheiben zersprangen; Menschen und Tiere wurden an die Wände der Häuser geschleudert. Am Ostbahnhof stürzte eine Baracke ein.

Mit verstörten Mienen liefen die Leute herum. Jeder fragte, was denn geschehen sei. Niemand wusste zu antworten.

Ein kleiner, untersetzter Mann hastete durch die Stadtanlagen, wo er mit einem Aufseher zusammenstiess.

„Was ist geschehen?“ fragte der Aufseher. Der Kleine meinte, in der Mittelstadt habe eine Explosion stattgefunden. Er hastete weiter. Überall hatten sich Gruppen aufgeregter Menschen gebildet. Je näher er an die Mittelstadt kam, um so heftiger und eindrucksvoller waren die Anzeichen eines katastrophalen Ereignisses.

In rasendem Tempo kam die Feuerwehr angefahren. Die Leute stoben wirr auseinander. An verschiedenen Stellen hatten sich grosse Menschenaufläufe gebildet.

Endlich hatte der Kleine das Zentrum der Stadt erreicht. Hier schien man etwas zu wissen. Viele steckten die Köpfe zusammen. Man vernahm die Worte:

„Berlet und Kompagnie“.

Berlet und Kompagnie war die grösste Bank, die man in der Stadt aufweisen konnte. Der Kleine schob sich durch die Massen gewaltsam vor, um dorthin zu gelangen.

Das Bankgebäude stand unversehrt, abgesehen von den zersprungenen Fensterscheiben. Aber schräg gegenüber bot sich ein Bild der Verwüstung. Das grosse, monumentale Gebäude einer Filmgesellschaft war total auseinandergeborsten, in sich zusammengefallen und zu einem feuerspeienden Trümmerhaufen verwandelt worden.

Die Polizei hatte schon abgesperrt. Fieberhaft arbeiteten die Leute der Feuerwehr; sie suchten zu retten — wo wenig zu retten war.

Der kleine, untersetzte Mann mischte sich unter die Neugierigen, die in Scharen herbeigestürzt kamen.

Eben nahte Verstärkung der Polizei. Sechs Mann begaben sich in das Bankgebäude. Ein blatternarbiger Wachtmeister mit verfeinerten Zügen schien ihnen, heftig gestikulierend, besondere Anweisungen zu geben.

Über die Miene des Kleinen huschte ein befriedigtes Lächeln. Niemand bemerkte es; kein Mensch beobachtete ihn. Äusserlich gab er eine völlig unscheinbare Figur ab. Sein Gesicht war stereotyp und schablonenhaft. Man hätte nichts Besonderes an ihm finden können.

Um ihn her begannen die seltsamsten Vermutungen laut zu werden.

„Donnerwetter, war das ein Schlag!“ sagte ein Dienstmann, der in der Nähe stand, „da muss ein ganzes Filmlager explodiert sein!“

„Unsinn,“ meinte ein anderer, „ein Film kann nicht explodieren. Aber in einem Keller nebenan war ein Benzinlager. Vielleicht dass da —“

Man verstummte. Einige grässlich verstümmelte Leichen wurden davongetragen. Städtische Ambulanzautos führten Verwundete ab. Mauerreste fielen klatschend und einen gewaltigen Rauch erzeugend, in sich zusammen.

Auch jetzt wusste noch niemand was eigentlich vor sich ging. Die unsinnigsten Behauptungen wurden aufgestellt.

Der Kleine arbeitete sich bis zum Eingang der Bank vor, den er schon immer beobachtet hatte. Das grosse Tor konnte er ungehindert passieren. In der Halle trat ihm ein Schutzmann entgegen.

„Bitte zurücktreten!“ gebot der Beamte,

„die Bank ist geschlossen,“

ohne eine Miene zu verziehen, kehrte das Männchen um.

Als es dem Schutzmann den Rücken wandte, glitt wieder ein befriedigtes Lächeln über sein Gesicht.

Ohne sich um die weiteren Vorgänge zu kümmern, bahnte es sich wieder einen Weg durch die Menge und ging mit festen Schritten der Vorstadt zu.

*

An der Peripherie des Häusermeeres in der Vorstadt lagen die Schrebergärten. Einige Mietskasernen hatten sich hier zu einem grossen Block zusammengefunden. Mit mürrischen Mienen hielten sie menschliches Elend umklammert.

In einem der Häuser befand sich ein zahntechnisches Laboratorium. Die Kellerräume des Hinterhauses dienten als Lager für eine Ölfabrik. Eine Möbelfabrik hatte hier ebenfalls eine Flucht von Lagerräumen gemietet.

In dem Hof, auf den die Fenster des technischen Laboratoriums mündeten, war es meist leer und still. Nur in dem obersten Stockwerk eines der angrenzenden hohen Gebäude wohnte eine Artistenfamilie, die meistens auf Reisen war. In den anderen Stockwerken befanden sich gleichfalls nur Lagerräume.

Das Laboratorium bestand aus drei ineinander laufenden Zimmern. Etwas besonderes verriet es in seiner Ausstattung nicht. In grossen Glaskästen fand man allerlei Instrumente, Gipsabgüsse, Gebisse und Zahnutensilien jeglicher Art. Das einzig Auffallende konnte höchstens eine grosse altertümliche Standuhr sein, die neben einem Versuchstisch in dem grössten der Räume errichtet war.

Eine hohe breitschultrige Gestalt machte sich an einem der Tische zu schaffen. Der Mann mochte sich in der Mitte der Dreissig befinden. Er hatte ein ovales Gesicht mit nicht unsympathischen Zügen. Der Mund schien etwas klein im Verhältnis zu den anderen Teilen. Sonderbar nahmen sich die grossen, buschigen Brauen aus, die sich über ein Paar stechend grauen Augen geschwungen hatten. Ausser diesem Manne befand sich noch ein anderer in diesem Raume. Der war kleiner, aber auch von kräftigem Wuchs, trug die Haare nach hinten zugestrichen und besass eine überaus vorwitzige Vogelnase.

Plötzlich horchte der stämmige Grosse auf. Mit grossen Schritten tappte er auf die Wand und hier auf einen der Glasschränke zu, aus dem sich augenblicklich ein abgerissenes Summen vernehmen liess.

„Hören Sie, Gebhard?“ fragte er mit näselnder Stimme, „das verabredete Zeichen. Es scheint alles in Ordnung zu sein!“

„Dick muss ja auch bald erscheinen,“ bemerkte der Angeredete, „die Explosion war Punkt 10 Uhr 23 Minuten vernehmbar!“

„Ja, genau, wie ich befohlen hatte. Haben Sie für alle Fälle das Auto bereit gemacht?“

„Jawohl, es steht fahrbereit im Schuppen bei 22.“

Das Telephon rappelte plötzlich. Der Grosse meldet sich.

„Hier Versuchsstation!“ sagte er.

„Hier Dynamit!“

rief eine Stimme, „alles in Ordnung. Ankunft in 20 Minuten!“

„Gut!“

„Haben Sie die Angeln der Tapetentür frisch geölt?“ fragte der Grosse, nachdem er mit Befriedigung das Gespräch entgegengenommen.

Gebhard blickte ihm vorwurfsvoll ins Gesicht.

„Habe ich jemals eine Anweisung von Ihnen nicht ausgeführt?“ fragte er mit beleidigter Stimme.

Der Grosse schwieg.

Er schien etwas nachzurechnen. Endlich bemerkte er: „Ich bin gespannt, was sie mitbringen werden. Aber Dick müsste schon hier sein. Seine Zeit ist überschritten!“

Plötzlich hörte man Spatzengezwitscher. Der Grosse drückte auf einen Nagel, der neben der Tür in der Wand stak. Mit einem rollenden Summen öffnete sich eine Tapetentür. Der kleine Mann mit den stereotypen Zügen trat grinsend in das Laboratorium.

„Nun, Dick?“ fragte der Grosse, „hast Du alles beobachtet —? Taten die Polizisten, wie ihnen geheissen war —?“

„Ja.“

„Ist nichts aufgefallen —?“

„Nein nichts!“

„Gut, Dick. In wenigen Minuten müssen sie da sein!! Marsch! In den Kachelofen!“

Dick verschwand hinter einer gewaltigen Ofenklappe, die mit eisernen Rosen verziert war.

„Gebhard?“

„Ja, Herr —!“

„Ich glaube, es dürfte sich auch für Sie empfehlen, Ihr Quartier aufzusuchen!“

Gebhard verschwand im Nebenzimmer im Gehäuse der Standuhr.

Der mit Herr Angeredete steckte sich eine Pfeife an. Irgendwoher scholl eine Stimme: „Hallo!“

„Losungswort?“

„Dynamit!“

„Gut. Eintreten! Knopf ist gedrückt!“

Wieder öffnete sich die Tapetentür. Drei Männer in Arbeiterkleidung betraten das Laboratorium.

Der Herr hatte einen Revolver zur Hand genommen, mit dem er scheinbar gleichgültig spielte.

„Nun, Philipp Mertens?“

Der so Angeredete, ein blatternarbiger Mensch, mit verfeinerten Zügen und nervösen zitternden Händen, trat vor.

„Herr, es ist alles nach Wunsch gegangen,“ teilte er mit, „man hat sich durch die Polizisten düpieren lassen!“

„Ja, ja,“ lachte der Grosse, „war das nicht ein vorzüglicher Fang?“

„Es ist eine Menge, Herr! Kaum zum Schleppen. Die beiden da haben alles in das Auto geladen, Fred Jack und Anderson packen eben noch aus. Sie werden gleich hier sein. Was wir schleppen konnten, haben wir mitgebracht.“

Jetzt erst bemerkte der Grosse, dass die beiden andern Säcke auf den Schultern hatten.

„Stellt ab!“ befahl er, „wir wollen ans Zählen gehen.“

Man packte die Säcke aus. Eine Unmenge Geldnoten kamen zum Vorschein. Das Zählen musste Stunden in Anspruch nehmen.

*

In der Kriminalabteilung des Polizeigebäudes herrschte eine fieberhafte Geschäftstätigkeit. Die Telephonapparate kamen überhaupt nicht zur Ruhe. Radfahrer und berittene Boten hasteten und jagten wirr durcheinander.

Im Privatbureau des Polizeipräsidenten spielte sich eine aufregende Szene ab. Der Direktor Berlet von Berlet und Companie war in einem völlig aufgelösten Zustande hereingestürzt und packte, sich völlig vergessend, den Präsidenten am Kragen an.

„Herr — Sie — Herr — — ich bin ausser mir!“ brüllte er.

„Sie haben sich wie ein Simpel an der Nase herumführen lassen — — mein Gebäude ist ausgeplündert, sämtliche Safes geräumt — — — Herr — — Ich ziehe Sie zur Verantwortung! 6 Schutzleute haben am Eingang gestanden — — wie konnte das dann geschehen — —?!“

Der Präsident forderte den Tobenden auf, sich zu beruhigen.

„Es ist festgestellt worden,“ bemerkte er sachlich, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, „dass die angeblichen Schutzleute gar keine Beamten waren!“

„So — — o — —?“ Der Direktor verzog sein Gesicht zu einer nicht sehr geistreichen Miene. „Sie glauben also —“

„Man ist auf die raffinierteste Weise zu Werke gegangen,“ fuhr der Polizeipräsident ruhig fort, „und alles lässt darauf schliessen, dass die ganze Explosion ein vorbereiteter Trick war!“

„Ja, und ich — — meine Verluste, Herr? Glauben Sie, dass ich das überleben kann? Ich bin ruiniert! Ruiniert bin ich, Herr Präsident!“

Direktor Berlet wischte sich den Schweiss von der Stirn. Er war nahe daran, vor Verzweiflung um sich zu schlagen. Der Präsident legte ihm den Arm auf die Schulter.

„Warten Sie doch erst einmal ab, ob wir der Verbrecher nicht habhaft werden!“ bemerkte er, „wahrscheinlich wird sich dann das Geld auch finden lassen!“

„Das ist ein schwacher Trost. Ich bin ruiniert, sage ich Ihnen! Und meine Tochter — — was soll denn aus Betty werden? Sie wissen doch?“ —

„Ich habe mir allerdings sagen lassen, dass sie dem Freiherrn von Ebenhausen versprochen ist!“

„Ganz recht. Freiherr von Ebenhausen! Denken Sie — — einem so exquisiten Mann, dem ich meine Tochter für ein kleines Vermögen verkaufen musste! Und nun? Wo ist mein Vermögen? Ich bin ruiniert, sage ich Ihnen; das Glück meiner Tochter ist hin!“

„Lassen Sie mich jetzt mit Ihrer Tochter in Frieden,“ sagte der Präsident ärgerlich, „zuerst müssen wir handeln. Sie sehen, ich werde verlangt!“

In der Tür war ein Beamter erschienen und wartete ehrerbietig, bis er gerufen würde. Direktor Berlet griff mechanisch nach seinem Hut.

„Wir werden uns noch sprechen, Herr Präsident,“ sagte er mit erhobener Stimme, „nachgeben tue ich nicht. Ich erwarte, dass Sie mir zu meinem Rechte verhelfen!“

„Ich tue selbstverständlich, was meine Pflicht ist. Leben Sie wohl, Herr Direktor — — Nun Otto?“

Kriminaloberwachtmeister Otto trat an den Tisch heran.

„Die ersten grössten Recherchen sind abgeschlossen,“ bemerkte er, „der Sachverständige meint, dass es sich um eine Dynamitexplosion handelt. Der Bankraub muss damit in Verbindung stehen!“

„Hat man Spuren gefunden?“

„Nein, ich konnte nur einige Leute vernehmen lassen, die alle das Gleiche berichten. Sie befanden sich teils in, teils vor der Bank, als das Filmgebäude zusammenbrach. Bei der allgemeinen Panik bemerkten sie flüchtig bloss, wie sich ein kleiner Trupp Schutzleute nahte, um die Bank abzusperren; sämtliche Beamte, mit Ausnahme eines älteren Prokuristen, waren kopflos davongestürzt. Der Prokurist wurde später bewusstlos vor einem Safe aufgefunden. Die Schutzleute waren verschwunden!“

Der Präsident schritt nervös auf und ab.

„Es wäre also nicht schwer, folgenden Schluss zu ziehen: Das Dynamitattentat auf das Gebäude der Filmgesellschaft wurde nur unternommen, um das Publikum und die Angestellten aus der Bank zu entfernen. Die Schutzleute waren gedungene Räuber und haben das Weitere selbst besorgt.“

„Ja,“ sagte Otto, „das dürfte eine einfache Lösung sein.“

„Sind Menschen zu Schaden gekommen?“

„Soviel ich erfahren konnte, hat man schon vier Tote geborgen. Weitere sechs sollen noch unter den Trümmern liegen. Neun verwundete Personen wurden in das städtische Krankenhaus überführt.“

Der Präsident war nachdenklich stehen geblieben.

„Das ist das unerhörteste Verbrechen von dieser Art, das mir jemals zu Ohren kam,“ sagte er, „es scheint sich um eine ganze Bande zu handeln. Recherchieren Sie weiter und berichten Sie jede Kleinigkeit. Spannen Sie alle Kräfte an. Jede andere Sache soll vorläufig eingestellt werden. Ich stelle Ihnen den gesamten Beamtenapparat zur Verfügung.“

Otto verneigte sich.

„Es soll geschehen, Herr Präsident,“ erwiderte er mit seiner polternden Stimme, „was an mir liegt, werden wir die Räuber bald haben ...“

Auf den Strassen wurden die ersten Extrablätter schon ausgerufen. Die Leute rissen sie den Trägern geradezu aus den Händen.

Der Bericht sagte recht wenig:

„Heute vormittag 10 Uhr 23 Minuten ereignete sich auf der Hallerstrasse eine erschütternde Explosion. Das Gebäude der Lux-Film-Kompagnie ist einer völligen Zerstörung anheimgefallen. Sämtliche Fensterscheiben in weitem Umkreise wurden zertrümmert; die Oberleitung der elektrischen Strassenbahn ist durch den gewaltigen Luftdruck zerrissen. Es wurden bereits vier Tote geborgen. Man vermutet noch weitere Opfer. Über die Ursache der Katastrophe ist nichts bekannt.“

Eine Stunde später wurde ein weiteres Blatt verteilt. In grossen Lettern las man die Worte: „Bankraub bei Berlet und Companie! Über 150 Tausend Dollar gestohlen!“

In diesem Blatt wurde bereits die Vermutung laut, dass dieser Raub mit der Explosion in einem gewissen Zusammenhang stehe.

Der Bevölkerung hatte sich eine wilde Erregung bemächtigt. Obwohl man die Hallerstrasse vollkommen abgesperrt hatte, strömten die Leute zu Tausenden hin.

Ein Polizeiauto und der grosse, schlanke Wagen von Berlet und Companie wurden durchgelassen. Bankier Berlet mit zwei anderen Leitern der Firma befanden sich in dem Wagen.

Berlet machte einen völlig gebrochenen Eindruck. Das Bankgebäude starrte ihn aus leeren Fensterhöhlen wie höhnend an.

Die Herren begaben sich in das Innere. Hier waren durch den gewaltigen Luftdruck der Explosion, genau wie in allen umliegenden Häusern, die verschiedensten Gegenstände durcheinander geschleudert worden.

Die Geldschränke gähnten den Eintretenden mit offenen Türen wie hungrige Tiere entgegen. Gewaltsam war keiner geöffnet worden. Und doch mussten etliche fest verschlossen gewesen sein.

Die Angestellten hatten sich in einem der Empfangsräume versammelt. Es war ihnen bei Strafe verboten worden, den Schalterraum zu betreten.

Die Leute standen kopflos und völlig verschüchtert da. Sie hatten alle ein schlechtes Gewissen, weil sie in der Erregung ihre erste Pflicht und ihren Posten vergessen hatten.

Ein Kriminalbeamter stellte ein genaues Verhör an. Es wurde festgestellt, ob alle vollzählig waren. Ein junger Kassiereer fehlte. Man telephonierte in seine Wohnung. Dort war er nicht eingetroffen.

Sofort wurde ein Beamter mit besonderen Recherchen beauftragt.

Die Leute sagten alle ziemlich das Gleiche aus. Sie hatten den furchtbaren Donnerschlag, das Klatschen stürzender Mauern und jammervolle Hilferufe vernommen, waren kopflos hinausgestürzt, zumal auch das Bankgebäude zu wanken schien, und wussten von den weiteren Vorgängen nichts mehr. Nur einige behaupteten den Anmarsch von mehreren Schutzleuten bemerkt zu haben.

Später wurde noch festgestellt, dass man auf der anderen Seite des Bankgebäudes in einer Torfahrt, ein grosses, graues Auto bemerkte, das plötzlich mit mehreren Säcken beladen davonfuhr. Kein Mensch hatte sich bei der allgemeinen Erregung dafür interessieren können, und es kamen ziemlich widersprechende Aussagen zu Tage.

Berlet setzte für die Ergreifung der Täter 1000 Dollar Belohnung aus, was gleich an allen Anschlagsäulen bekannt gemacht wurde. Daraufhin begann man auch in privaten Kreisen überall fieberhaft nachzuforschen.

*

Fräulein Betty Berlet, wegen des väterlichen Reichtums eine der angesehensten jungen Damen der ganzen Stadt, bewohnte in der elterlichen Villa eine kleine Flucht geschmackvoll und künstlerisch ausgestatteter Räume. Sie befand sich, eben noch mit Ankleiden beschäftigt, in ihrem Boudoir, als die Detonation ertönte und selbst die recht entfernt liegende Villa erschüttert wurde. Sie horchte auf. Über ihre Stirn lief ein heftiges Zucken, ihre Finger verkrampften sich. Ein merkliches Beben der Nasenflügel liess besonders auf ihre Erregung schliessen. Die junge Zofe, die sie bediente, war ebenfalls zusammengefahren.

„Gnädiges Fräulein — — — was war das?“

Betty wand sich ein Tuch um die Schulter und eilte ans Telephon. Das Amt gab keine Antwort. Durch das Fenster bemerkte sie, wie die Leute auf der Strasse zusammenströmten. Sie schickte die Zofe hinunter.

Man wusste nichts.

Die Mutter, Frau Direktor Berlet, kam atemlos aus ihrem Zimmer herbeigeeilt.

Peinliche Minuten vergingen.

Endlich sickerte etwas durch. Nur Gerüchte. Die Zofe kam atemlos die Treppe herauf gelaufen und meldete, das Bankhaus Berlet sei in die Luft geflogen.

Frau Berlet sank mit einem erstickten Schrei hintenüber. Betty starrte mit einem unheimlichen Blick aus weit geöffneten Augen vor sich hin. Wieder bebten ihre Nasenflügel und krampften sich ihre Finger zusammen.

Das Telephon schrillte.

Berlet war selbst am Apparat. Er sprach nicht von der Bank aus; wollte nur mitteilen, dass, soviel er höre, der Filmpalast aus irgendeinem Grunde in die Luft geflogen sei. Das Bankgebäude stehe noch unversehrt — nur sämtliche Scheiben seien zertrümmert. Das zur Beruhigung. Er sprach sehr hastig und hängte auch gleich wieder ein.

Frau Berlet war wieder zu sich gekommen. Betty geleitete sie in ihr Zimmer.

Dann überliess sie die Mutter der Zofe und kehrte in ihr eigenes Boudoir zurück.

Die kleine, hübsche Zofe, die sie bediente, hatte sich in eine Ecke gekauert.

„Glaubst Du, Marie,“ fragte Betty, „dass es sich um ein Verbrechen handelt?“

„Ich weiss es nicht, gnädiges Fräulein, das wäre entsetzlich!“

Betty wandte sich mit einem spöttischen Lächeln ab.

„Nun — — man braucht hier und da Sensationen,“ bemerkte sie, mehr für sich als für andere, „das Leben des Reichtums ist monoton!“ Dann fügte sie laut hinzu: „Hat der Freiherr schon angerufen?“

„Nein!“

„Finden Sie nicht, dass er wie ein naturalisierter Viehhändler aussieht?“

„Aber ich bitte Sie, gnädiges Fräulein!“

„Mit einem solchen Menschen verlobt mich mein Vater. Einfach! Sehr einfach! Aber wir werden sehen!“

Das Telephon klingelte wieder. Betty eilte selber zum Apparat.

„Bist Du da, Betty“

„Ja, Vater!“

„Betty — Kind — ich bin ruiniert! Die Bank ist ausgeraubt worden!“

Sie horchte auf; er war schon wieder verschwunden.

Die Bank — — ist — — ausgeraubt worden? Sie klammerte sich an der Wand fest. In ihren Augen flackerte ein unheimliches, irres Licht. Als ob Funken tanzten.

Die Bank ist — — ausgeraubt — — worden! Ha!

Dieses Ha! stiess sie laut zwischen den Zähnen vor. Aber gar nicht entsetzt. Gar nicht bedauernd. Eher als einen Ausdruck tiefer Befriedigung. Sie befahl das Auto fertig zu machen.

„Ist Dick nicht da?“ fragte sie den herbeigerufenen Diener.

Dieser verneigte sich.

„Ich kann ihn telephonisch erreichen,“ bemerkte er.

„Bitte telephonieren Sie. Er soll nach dem Waldhäuschen kommen!“

„Sehr wohl, gnädiges Fräulein!“

Der Diener wollte hinausgehen.

„Warum telephonieren Sie hier nicht?“ fragte Betty auf den Apparat weisend.

„Ich verstehe an diesem Apparat immer so schlecht!“

„So sagen Sie mir doch die Nummer!“

„Das kann ich nicht!“

„Warum?“

„Das Wetter ist schön, gnädiges Fräulein.“

Um Bettys schön geschwungenen Mund lief ein Zittern.

„Sie können gehen, Thomas!“ bemerkte sie, ohne den Diener anzuschauen.

Thomas eilte an einen anderen Apparat. Er rief die Nummer 377 an.

„Hier Vermittlung Verkaufsgemeinschaft!“

„Ich bitte um Dynamit!“

„Ich soll bestellen, dass Dick sofort zur Herrin befohlen ist,“ sagte der Diener.

„Dick kommt, Schluss,“ wurde erwidert. Damit war das Gespräch beendet.

Das Wetter ist schön — — das Wetter ist schön — — murmelte Betty, als sie wieder in ihr Ankleidegemach schritt, „in diesem Falle darf ich also nicht weiter fragen. Bis in unsere Dienerschaft hat er seine Fäden gesponnen — — Wenn der Vater nur nicht erfährt, dass Dick nicht in seinen, sondern in meinen Diensten steht! Dick ist ein zuverlässiger Bursche!“

Die Zofe meldete, dass das Auto bereit sei.

„Gut,“ sagte sie und schritt gelassen die Treppe hinunter.

Der Chauffeur grüsste. Er hatte aufgeworfene Lippen, so dass man immer die Zähne sah und glauben musste, er sei fortwährend am Grinsen.

„Zum Waldhäuschen!“ befahl Betty. Der Wagen sprang an und stürzte sich auf den städtischen Park zu.

Das Waldhäuschen war ein einsamer, 1½ Stunden von der Stadt gelegener Ausflugsort. Im Winter sah es nur selten Gäste. Sommers gab es dort bisweilen lebhaftes Treiben.

Dick war mit seinem Motorrad schon eingetroffen. Seine kleine gedrungene Gestalt nahm sich auf dem Vehikel recht putzig aus.

Der Chauffeur wurde angewiesen, zurückzufahren und in zwei Stunden wieder zur Stelle zu sein.

„Nun, Dick,“ fragte Betty, „wo befindet sich Herr Kaiser? Ich muss ihn sehen!“

„Er hat mir einen Brief an Sie mitgegeben!“

Betty riss hastig den Umschlag auf.

„Nicht fragen! Ganz stille sein. Morgen abend um 6 Uhr am Aussichtsturm.“

Die Worte waren mit der Schreibmaschine geschrieben und nicht unterzeichnet.

„Es ist gut,“ sagte Betty, „wollen Sie mit mir nach Hause fahren?“

„Das kann ich machen,“ erwiderte Dick, mit einem gefälligen Grinsen. „Ihr Herr Vater soll sich auf seinen Spitzel verlassen können!“

„Es ist eigentlich originell,“ erwiderte Betty, „mein Vater hat Sie geworben, um mich überwachen zu können, und gerade Sie ermöglichen mir die tollsten Erlebnisse!“

„Ich habe das Entwürdigende des Überwachtseins bei Ihnen mit empfunden,“ bemerkte Dick, „das hat mich auf Ihre Seite hinübergezogen.“

„Sie haben ein feines Leben,“ äusserte Betty mit einem kleinen Stich gegen ihn. „Sie erhalten dreifache Entlohnung: von mir, von meinem Vater und von Herrn Kaiser!“

„Ich brauche aber auch viel, gnädiges Fräulein. Ich habe für meinen Jungen zu sorgen. Die Mutter starb. Er soll eine gute Schule besuchen.“

„Ein Junge? Davon wusste ich gar nichts!“

„Ja. Er soll nicht werden, was ich bin. In den Kindern blicken wir über uns selbst hinaus.“

„Sagen Sie eines, Dick: Ist ein Verbrechen geschehen?“

Dick kratzte sich hinter den Ohren.

„Sie sollen nicht fragen, gnädiges Fräulein. Und wäre es schliesslich der Fall, was dann?“

Betty spielte mit ihrem Handschuh.

„Es würde mich fabelhaft interessieren,“ sagte sie langsam, „aber natürlich nur ein geniales, gross angelegtes Verbrechen, das alle Rahmen des Alltäglichen sprengt. Sozusagen ein Verbrechen bei vollem Bewusstsein — — bis in die Spitzen raffiniert ausgeklügelt. — — Verstehen Sie mich — —?“

„Nicht ganz, aber ich ahne wohl, was Sie meinen. Ihr Herr Vater kennt diese Ihre Ideen besser; deshalb wollte er Sie ja auch durch mich überwachen lassen!“

„Dick — — Sie sind der einzige Mensch — ausser Herrn Kaiser — mit dem ich über alles das reden kann. Spielen nicht die meisten Menschen eine Doppelrolle im Leben? Nur der eine mehr, der andere weniger mit Geschick. Ein Urgrossvater von mir soll ein berüchtigter Seeräuber gewesen sein. Von ihm habe ich einen Schuss Blut mitbekommen. Das schrankenlose Leben des Reichtums gefällt mir nicht. Es ist nichtssagend — — elend — — tot. Ich brauche Widerstände, verstehen Sie mich?“

In ihren Augen glühte wieder ein unheimliches Feuer auf. Dick steckte sich eine Zigarre an. Betty nahm eine Zigarette aus ihrem Etui.

„Es dürfte trotzdem wohl besser sein,“ bemerkte Dick sehr gedehnt, „wenn Sie Ihre Sensationslust ein bisschen mehr zügeln wollten. Wenigstens was Ihre eigene Beteiligung an der Sache betrifft!“

„Und Sie — und Sie? Genügt es Ihnen, mit der Pfeife im Munde und der Zipfelmütze auf dem Kopfe durch das Leben zu schlendern? Ich sehe Ihnen an, Sie denken ganz anders!“

„Von mir kann gar nicht die Rede sein,“ erwiderte Dick mit einem gutmütigen Lächeln, „ich bin eine verunglückte Kreatur. Wenn man einmal auf die schiefe Ebene gekommen ist — —“

„Sie sehen das selber ein?“

„Glauben Sie denn, dass ich blind bin? Mein Temperament hat mich immer wieder zugrunde gerichtet, wenn ich ein anständiger Mensch werden wollte!“

„Aber ein ehrlicher Mensch sind Sie gegen sich selber geblieben. Das suche ich ja eben — — Menschen, die auch sozusagen ein negatives Leben bejahen können!“

„Sie wollen die Fesseln Ihres eigenen Wesens sprengen, gnädiges Fräulein? Das ist ein gefährliches Experiment!“

„Nein, Dick, Sie verstehen mich gar nicht, ich möchte nur die Fesseln eines mir aufgedrungenen Wesens gesprengt sehen. Diese steifen Formen der sogenannten guten Gesellschaft belasten mich. Ich möchte sie von mir streifen — — ich möchte sein, was ich sein muss, was ich von Natur aus vielleicht bin: ein Piratenkind!“

„Gnädiges Fräulein!“

Sie hatte lächelnd ihre zierliche Hand auf seinen Arm gelegt.

„Dick, lassen wir solche Gespräche. — Wissen Sie, ich bin heute so froh gelaunt. Kommen Sie, ich will Ihnen ein gutes Tröpfchen kredenzen. Es dauert doch noch eine gute Zeit, bis mein Auto zurückkommt.“

Sie schritten der nahegelegenen Wirtschaft zu, hinter der ein Mietsauto öfter zu warten pflegte, wenn sie mit Kaiser Zusammenkünfte verabredet hatte.

Dick sprach wacker dem Weine zu. — —

Kaiser, der „Herr“ hatte für die Leute ein improvisiertes Festgelage bereiten lassen. In reichlichstem Masse stand Wein zur Verfügung. Man erblickte ausserdem noch ein kleines Fass in der Ecke, auf dem ein grell leuchtender Totenkopf und das Wort Dynamit aufgemalt war.

Kaiser deutete auf das Fässchen, erhob sein Glas und bemerkte lächelnd:

„Was sagt Ihr zu diesem Scherz? Das Symbol unserer Tätigkeit. In dem Fässchen ist der beste Tokayer, den ich jemals getrunken habe. Aber der kommt erst zuletzt an die Reihe.“

Der Blatternarbige brachte einen Toast auf den Herrn aus. Von allen Seiten trank man ihm selig zu.

Man war nicht bloss von dem guten Wein, sondern auch von dem vielen Gelde benebelt, das man erhalten sollte.