3 Herren von Scotland Yard - Hans Heidsieck - E-Book

3 Herren von Scotland Yard E-Book

Hans Heidsieck

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Beschreibung

Der Staatsanwalt Tully wird ermordet. Drei Beamte von Scottland Yard, die stets zusammenarbeiten, sollen den Fall lösen. Kommissar Housmann, Inspektor Walling und Seargant Lional. Doch der Fall erweist sich als komplexer, als es zunächst den Anschein hatte. Tully war es gewöhnt, durch seine kurzfristigen Ausflüge in die Unterwelt Schuldige zu überführen. Er kaufte gebrauchte Autos, versah den Kotflügel mit einer Kamera, drehte Schwarz-Weiß-Filme mit potenziellen Verbrechern und entpuppte sich als eine Art altmodischer James Bond. Die drei Scotland-Yard.Beamte versuchen mithilfe des Filmmaterials herauszufinden, nach wem Tully gesucht hat, doch man kann sich nicht einigen. Zur Auswahl stehen der "Regenpfeiffer", der Chinese und ein Unbekannter aus einem der Filme. Kann die schöne Jenny oder die Tänzerin Stella Auskunft geben?-

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Hans Heidsieck

3 Herren von Scotland Yard

Kriminal-Roman

Saga

3 Herren von Scotland Yard

© 1950 Hans Heidsieck

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508527

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Personen des Romans

Kommissar Housman, Inspektor Walling, Sergeant Lionel, die drei Herren von Scotland Yard.

Staatsanwalt Tully der Ermordete.

Jun Fu, ein Chinese.

Ti Ti, sein Söhnchen.

Der ‚Regenpfeifer‘,

Der Unbekannte.

Die schöne Jenny.

Der ‚Detektiv‘

‚Kuchenzahn‘

Maurice Tenier, Makler.

Stella Anderson, Tänzerin.

William, Wirt im Brandy-Keller.

und andere.

Die Handlung spielt in London, Sidney, Melbourne, Batavia und Singapur.

Zeit: Gegenwart

Das abendliche Gewitter ist ebenso rasch, wie es kam, vorübergezogen. Die Wolkendecke riß auf, der Mond kam zum Vorschein und beleuchtete ein gespenstiges Bild.

Irgendwo grollte es noch. Ein Köter kläffte. An den geborstenen Mauern der niedergebrannten Lampenfabrik brach sich der Widerhall entfernten Straßenverkehrs. Ratten huschten vorüber, haschten einander und verschwanden in Kellerlöchern. Es roch brenzlig. Ueberall ragten verkohlte Balken hervor und reckten sich wie flehende Arme gen Himmel.

Der weite Hof stand voller Wasserlachen, in denen sich das Mondlicht spiegelte. Aus der verzackten, halb niedergebrochenen Front des langen Fabrikgebäudes gähnten leere Fensterhöhlen. Ueberall gab es zersplittertes Glas und verbogene Eisenteile, einige schwere Träger waren wie Streichhölzer eingeknickt.

Hinter den Mauern sah es noch wüster aus. Da war alles in sich zusammengefallen. Unter Mauerresten und Schutt lagen Maschinenteile, Kolben, Schwungräder, zerfetzte Treibriemenstücke. Ein Gewirr von Stangen und Drähten schien durch dieses Chaos geflochten zu sein.

Das große Hoftor stand offen; es war aus den Angeln gehoben. Jeder, den es danach gelüstete, konnte in diese Stätte der Vernichtung Einblick nehmen.

Im Schatten der Abgrenzungsmauer, vor einem Schutthaufen, lag eine dunkle Masse. Wasser floß glucksend und gurgelnd um sie herum. Durch das Tor huschte eine Gestalt, etwas vorgeneigt hielt sie vorsichtig Umschau. Vor dem Schutthaufen blieb sie stehen und stutzte. Ein verhaltener, unartikulierter Laut war zu vernehmen. Der Chinese Jun Fu beugte sich nieder, betastete scheu den vor ihm liegenden leblosen Körper, schüttelte ihn, sagte etwas, was in seiner Sprache ‚tot‘ heißen mußte, und untersuchte die Taschen des Toten nach Geld.

Er fand nur einige Silberstücke.

Als er sich, den Rückzug antretend, abwendete und auf das Tor zuschritt, stieß er mit einem Wächter zusammen. Der Wächter war über die plötzlich vor ihm auftauchende Gestalt so erschrocken, daß er eine Sekunde zu spät nach dem Chinesen griff, der sich ihm rasch entwandt und gleich darauf wie ein Schatten um die Ecke verschwunden war.

„Hallo! Mörder, Räuber! Ueberfall!“ schrie der Wächter und setzte dem Flüchtenden nach. Hoch spritzte das Wasser aus den Pfützen auf, in die er trat.

In dem verschwommenen Schein einer Laterne erkannte er einen Policeman, der ihm bereits entgegenkam. Der Wächter schrie noch immer; „Räuber! Ueberfall!“

Von dem Chinesen war nichts mehr zu sehen. Der Bobby ließ sich den Vorfall erklären, wobei er eine hoheitsvoll-gönnerhafte Miene aufsetzte, „Wo war das? Am Eingang der abgebrannten Lampenfabrik?“

„Jawohl! Kommen Sie mit!“

*

Eine halbe Stunde später war die Mordkommission da. Man untersuchte den Toten, photographierte ihn. Keine Ausweise, kein Geld. Nichts. Wer war der Mann? Wer war der Mörder? Was ist hier überhaupt geschehen?

Der Arzt hatte einen Einschuß an der Schläfe entdeckt. Eine Schleifspur, die sich mit Regenwasser gefüllt hat, ist unverkennbar.

Kommissar Housman strahlt das verzerrte, blasse Gesicht des Toten mit seiner Lampe an. Housman starrt lange in dieses Gesicht, und es ist ihm, als müsse er es irgendwo schon einmal gesehen haben.

Sergeant Lionel, Housmans unentbehrlicher Helfer und seine ‚rechte Hand‘, ein hagerer, schlanker Mensch, dessen scharfes Gesicht nur aus Muskeln und Sehnen gebildet war, wandte sich an den Wächter.

„Sie haben also einen Chinesen erkannt?“

Der Wächter wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Jawohl, Sir. Mit Bestimmtheit. Eine grinsende Fratze. Schlitzaugen.“

„Wie war das?“ griff Housman ein, „Sie wollten hier auf den Platz?“

„Ja. Als ich das Tor durchschritten hatte, prallte ich mit dem Kerl zusammen.“

„Können Sie sagen, aus welcher Richtung er kam?“

„Natürlich. Von hier. Er muß der Mörder gewesen sein. Die Leiche ist ja auch, wie Sie eben selbst sagten, ausgeraubt worden.“

„Hm. — Sie kennen den Toten nicht?“

„Nein.“

Housman zog den rechten Mundwinkel etwas nach unten, eine Gewohnheit, die man bei ihm stets beobachten konnte, wenn er nachdenklich wurde.

Lionel untersuchte noch einmal sämtliche Taschen des Toten. Er fand ein zusammengeknülltes Kinobillet, das sich in einen Zipfel der Westentasche verkrümelt hatte. ‚Belgravia- Lichtspiele‘ — las der Kommissar und kniff die Augen zusammen. Merkwürdig — Belgravia-Licht-spiele! Seiner Kleidung nach sah der Tote gar nicht so aus, als ob es zu seinen Gepflogenheiten gehörte, in diesem vornehmen Wohnviertel Lichtspielhäuser aufzusuchen.

Man hörte eine Kirchenuhr schlagen. Mitternacht. Dumpf und schwer hallten die Schläge, aufdringlich laut. Der Himmel hatte sich wieder völlig bezogen, ein neues Gewitter rückte heran. Es wetterleuchtete schon. Der blasse Schein spiegelte sich in den verglasten Augen des Ermordeten. Abermals setzte Regen ein.

Im Torweg erschien eine Frauengestalt, hastete näher, schob die Herren der Kommission zur Seite und warf sich mit einem Aufschrei über den Toten.

Lionel riß die Frau zurück und starrte in ein schreckensbleiches Gesicht. Auch Housmann erkannte das Mädchen sofort.

Es war Jenny. ‚Die schöne Jennny‘ — wie sie in Unterweltskreisen genannt wurde.

*

Der Chinese ist einige Straßen weitergelaufen und dann in einer Passage verschwunden. Auf einer anderen Straße kam er zum Vorschein und bestieg einen Autobus, mit dem er nach Whitechapel fuhr. Sein breites, knochiges Gesicht war rot angelaufen. Er rückte unruhig auf seinem Sitz hin und her und blickte sich immer wieder aus seinen zusammengekniffenen Schlitzaugen ängstlich um, ob nicht doch noch irgendein Verfolger hinter ihm wäre.

Als er am Ziel angelangt war, stieg er aus und schlich eine lange, erbärmliche, vor Schmutz starrende Gasse hinunter, die in ein schwarzes Nichts zu verlaufen schien. Die Häuser, rechts und links schattenhaft aufragend, waren hier nur Baracken.

Er schritt durch eine windschiefe Tür, überquerte einen morastischen Hof und gelangte in eine Wohnung, die ein zivilisierter Mensch nur als dumpfe Höhle bezeichnen konnte.

Eine kleine, gedrungene Frau mit unendlich vielen Falten in dem porösen Gesicht, trat ihm entgegen. „Jun Fu“, fragte sie, „hast du gute Beute gemacht?“

Der Chinese warf das Geld auf den Tisch „Da — nimm!“

Die Frau starrte das Silber an. „Oh — so viel Geld!“

„Ja.“

„Woher?“

„Geht dich nichts an!“ murrte Jun Fu und trat vor den Eisenherd, um in die Töpfe zu schauen. „Hast du noch Reis für mich?“

Sie nahm einen Teller und stellte ihn auf den Boden in einer Ecke, in der nur ein zerfetzter Teppich lag. Jun Fu hockte sich mit übereinandergekreuzten Beinen hin, nahm zwei Stäbchen und begann zu essen. Dabei schmatzte er laut.

Sein Lieblingskind, die siebenjährige Tochter Li Hai, hockte sich neben ihn, um ihm Gesellschaft zu leisten.

Die anderen vier Kinder schliefen bereits. Sie waren alle kleiner als ihre Schwester Li Hai, das jüngste hatte vor einem halben Jahr das Licht der Welt erblickt. Es lag friedlich schlummernd in einem alten Wäschekorb, der neben dem Herd stand. Die drei anderen ruhten zusammen auf einer Matratze in der anderen Ecke des breiten Raumes, die durch einen durchlöcherten Vorhang abgetrennt worden war.

Eine an der Decke hängende, trübe Petroleumlampe beleuchtete das klägliche Bild.

„Hast du mir etwas mitgebracht, Papa?“ fragte Li Hai ihren Vater. Er war mit Essen fertig, rülpste laut und stand auf. „Nein, laß mich!“ Er trat ans Fenster und beobachtete, wie es erneut zu regnen begann.

Seine Frau stieß ihn in die Seite. „Wo hast du den Karren, Jun Fu?“

Jun Fu trat vom Fenster zurück. Er gab keine Antwort.

Seine Finger verkrampften sich um einen goldenen Ring, den er in der Tasche trug.

*

Der Wecker klingelte. Mrs. Manson erhob sich und klopfte bei ihrem Bruder an. Das übliche, meist noch sehr verschlafen klingende: “Ja — ich komme gleich!“ blieb aus. Mrs. Manson klopfte noch einmal. Als wieder nichts zu vernehmen war, trat sie ein. Das Schlafzimmer war leer. Das Bett unberührt.

Wo ist Tully geblieben? Gestern Abend wollte er in den Klub gehen. Er war auch gegangen. Er ist nicht zurückgekehrt. Das Telephon blieb stumm.

Mrs. Manson ging in die Küche, wo das Mädchen das Frühstück bereitete.

„Anna — wissen Sie, wo der Herr steckt?“

Es war eine dumme Frage. Anna machte ein blödes Gesicht. „Nein, Madam.“

Mrs. Manson eilte zum Fernsprecher. Sie rief den Klub an. Ja, der Herr Staatsanwalt Tully war gestern Abend um neun gekommen, er ist um zehn weggegangen.

Um zehn weggegangen? Wohin?

Vielleicht hatte er mit Freunden die Nacht durchbummelt. Warum aber hatte er dann nicht noch angerufen?

Irgend etwas stimmte da nicht. Gerade Tully war sehr gewissenhaft. Er tat selten etwas, was aus dem Rahmen fiel. Er fand sich auf seinem Amt immer pünktlich morgens um neun zum Dienst ein.

Bis neun wartete Mrs. Manson noch, ohne gefrühstückt zu haben. Sie rief beim Gericht an. Ließ sich mit Tullys Zimmer verbinden. Es war zehn Minuten nach neun.

Ein Sekretär meldete sich. „Staatsanwalt Tully? Nein. Bedaure, er ist noch nicht da.“

Nach zwei weiteren vergeblichen Anrufen benachrichtigte Mrs. Manson die Polizei.

*

Die schöne Jenny wurde nach Scotland Yard gebracht.

Kommissar Housman trat durch das Fabriktor und fragte: „Was ist das hier für ein Karren?“

Lionel sah sich den Handkarren näher an. Es lagen drei leere Säcke darauf. „Merkwürdig!“ meinte er näselnd, „vielleicht — —“

„Was vielleicht?“ fragte Housman und strich sich über den kurzen Bart.

„Vielleicht hat der Chinese damit die Leiche fortschaffen wollen!“ fuhr Lionel fort und setzte eine wichtige Miene auf, während er sein Regenkape enger um die Schultern zusammenzog.

„Der Wagen ist sicherzustellen!“ bestimmte Housman und winkte einem anderen Beamten zu.

Vor dem Fabriktor hatten sich, durch das Erscheinen der beiden Wagen der Mordkommission angelockt, mehrere Leute versammelt und harrten hier trotz des wieder einsetzenden Regens aus, um näheres zu erfahren. Doch sie sahen bloß, wie eine Frau abgeführt wurde und wie man später eine Leiche abtransportierte. Die Beamten schwiegen sich aus.

Housman fuhr mit Lionel in seinem Wagen zuerst davon. Während der Fahrt rekapitulierte er, was Jenny bei der ersten kurzen Vernehmung angesichts des Toten ausgesagt hatte.

„Wer ist dieser Mann?“

Jenny schluchzte verzweifelt. Sie konnte vor Schlucken zuerst kein Wort über die Lippen bringen. Man ließ ihr ein paar Sekunden Zeit, sich zu sammeln. Dann stammelte sie einen Namen. „Anthony“ — verstand Housman.

„Wer ist Anthony?“ fragte der Kommissar weiter.

„Mehr weiß ich auch nicht von ihm.“

Housman blickte das Mädchen mißtrauisch an. „Mehr weißt du nicht?“

„Nein. Wahrhaftig nicht.“

„Aber du kannst mir wohl sagen, wer ihn erschossen hat?“

„Er suchte jemand.“

„Was heißt das?“

„Oh — Herr Kommissar — — ich habe gefühlt, daß es so kommen mußte. Alles war so verworren, so unheimlich — — oh — —“

Wieder schluchzte sie herzerweichend.

Es begann stärker zu regnen. Housman wollte die Vernehmung an Ort und Stelle nicht weiter durchführen. Deshalb bestimmte er, daß das Mädchen nach Scotland Yard gebracht wurde. Bis dahin würde es sich wohl etwas beruhigt haben.

*

Nun stand Jenny im Amtszimmer vor dem Kommissar. Mittlerweile ist es ein Uhr geworden.

Housman will noch Gewißheit über den Toten haben, soweit diese jetzt zu erlangen ist.

Jenny blickte ihn aus ihren großen, schönen Augen verzweifelt an. Sie kannte den Kommissar schon seit langem, hatte öfter mit ihm zu tun gehabt. Ihr Strafregister ist nicht sehr belastet. Sie gehörte zu jenen Geschöpfen der Unterwelt, die sich darauf beschränken. Mitwisser und Hehler zu sein und hie und da kleine Dienste zu leisten. Sie hatte auch für die Polizei schon gearbeitet, wenn sie eine entsprechende Belohnung dafür erhielt.

Housman bot ihr eine Zigarette an und reichte ihr eigenhändig Feuer. „So, Jenny“, sagte er, einen gemütlichen Ton anschlagend, „nun erzähle mir mal, was du alles über Anthony weißt. Du behauptetest vorhin, ihn nicht näher zu kennen. Deinem ganzen Gebahren nach muß er dir aber recht nahe gestanden haben.“

„Wir waren befreundet, Sir.“

„Wann und wo hast du ihn kennen gelernt?“

„Es mag jetzt ein halbes Jahr her sein. „Im Brandy-Keller.“

Der Brandy-Keller war ein verrufenes Verbrecherlokal. Housman machte sich eine Notiz. „Was tat er da?“ fragte der Kommissar weiter.

„Er suchte sich mit verschiedenen Leuten anzufreunden. Alle tranken auf seine Kosten. Auch ich mußte an seinen Tisch kommen. Schon gleich an diesem Abend hatten wir uns ineinander verliebt.“

Der Kommissar strich seine Zigarre ab. „Hm. — wohnst du denn nicht mehr mit dem Regenpfeifer zusammen?“

‚Regenpfeifer‘ war der Spitzname eines Gannoven, der sich im Schmierestehen bei Villeneinbrüchen schon öfter erfolgreich betätigt hatte und Vogelstimmen — als Warnungsrufe — vorzüglich nachahmen konnte.

„Den habe ich laufen lassen“, erklärte Jenny mit matter Stimme, „er wurde mir zu brutal. Nachdem er sich an dem Raubmord in Wandsworth beteiligt hatte — —“

Der Kommissar horchte auf. „Wie — bitte? An diesem schweren Verbrechen ist er beteiligt gewesen?“

Jenny nickte. „Ja. Damals ging ich kurzerhand von ihm weg.“

„Und wo ist er geblieben?“

„Das weiß ich nicht. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.“

„Er wohnt also nicht mehr am Viktoria-Dock?“

„Nein. Dort brauchen Sie gar nicht zu suchen, Herr Kommissar.“

Housman zog den rechten Mundwinkel nach unten. „Hm. Könnte er nicht auch — — ich meine: aus Eifersucht — —?“

Jenny schreckte auf. „Meinen Sie wirklich? Ich dachte eher — —“

„Was dachtest du?“

„Anthony hatte irgend einen geheimnisvollen Feind in der Unterwelt, den er suchte.“

„Richtig. Das deutetest du mir schon an. Wer war dieser Feind?“

„Ich weiß es nicht, Kommissar. Er hat mir nur einmal ein Bild gezeigt.“

„Wer? Anthony?“

„Jawohl. Eine Photographie. Wenn ich den Menschen entdeckte, sagte er zu mir, wollte er tausend Pfund zahlen.“

„Donnerwetter. Wo befindet sich denn das Bild?“

„Er hatte es in der Brieftasche.“

„Wie sah der Mann auf dem Bilde aus?“

„Sehr dunkel. Er muß schwarze, funkelnde Augen haben. So hat ihn Anthony mir auch beschrieben.“

„Ein Chinese war es jedenfalls nicht?“

„Was? Ein Chinese?“ fragte das Mädchen verblüfft, „wie kommen Sie darauf?“

„Weil ein Chinese im Verdacht steht, Anthony ermordet zu haben.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Auch mir ist alles vorläufig noch einigermaßen unverständlich“, gab Housman zu, „ich hoffte durch deine Aussagen wenigstens in Bezug auf den Toten Klarheit zu gewinnen. Angeblich kannst du mir aber auch nicht viel sagen.“

„Angeblich?“ begehrte Jenny auf, „Herr Kommissar — Sie beleidigen mich! Wenn ich mehr wüßte, würde ich es Ihnen bestimmt verraten. Ich habe das größte Interesse daran, daß man den Mörder Anthonys erwischt. So eine gemeine Tat! Er wollte mich in ein besseres Leben emporziehen, ja, er sprach schon davon, mir ein kleines Geschäft einrichten zu wollen.“

„Dabei wußtest du noch nicht einmal, wer er war?“

„Nein, Sir. Ein Verbrecher war er bestimmt nicht.“

„Wo wohnte er denn?“

„Auch das kann ich nicht sagen. Wir trafen uns immer im Brandy-Keller.“

Housman stellte noch viele Fragen. Der einzige Anhaltspunkt, den er gewinnen konnte, war ein goldener Ring, auf den ein Totenkopf eingraviert war, und den, wie Jenny behauptete, Anthony als Talisman immer am kleinen Finger der linken Hand trug.

*

Der Architekt Oliver Dell blickte bestürzt in die Zeitung. Was stand da? Ein Unbekannter von einem Unbekannten ermordet und ausgeraubt?

Dell überflog die Zeilen. Irgend etwas gab ihm dabei einen Ruck. Er strich verwirrt mit der flachen Hand über sein Borstenhaar, stand auf und begab sich in sein Büro, das zu ebener Erde an die Villa angebaut war. Vom Garten her gab es hier einen besonderen Zugang. Durch ein kleines Tor konnte man auch nach hinten auf eine andere Straße gelangen.

Der Architekt durchschritt sein Privatkontor und öffnete die Tür zu einem kleinen Ankleideraum, der neben einer Toilette lag. Hier hielt er Umschau und zog betreten die Stirn in Falten, als er einen eleganten Straßenanzug auf einem Bügel am Schrank hängen sah.

Dell überlegte. Was sollte er tun? Eine beängstigende Vermutung ließ ihm jetzt keine Ruhe mehr.

Hastig suchte er seine Frau auf. Mrs. Kitty kam eben vom Einkaufen zurück. Sie blickte starr in sein blasses Gesicht. „Was hast du?“

Er erklärte ihr seinen Argwohn. Zeigte das Zeitungsblatt. „Ich weiß nicht“, sagte er, „eigentlich habe ich keinen Anhaltspunkt — oder doch?“

„Du bist ja ganz verwirrt, Oliver. — Was für einen Anhaltspunkt hast du denn?“

„Sein guter Anzug hängt in der kleinen Garderobe.“

Mrs. Kitty erschrak. „Wahrhaftig? Mein Gott — — und nun meinst du, er ist der Ermordete?“

„Der Mörder bestimmt nicht!“ gab Dell zynisch zurück.

„Ruf doch mal an!“

„Wo?“

„Nun — bei ihm am Gericht natürlich. Dort müßte er doch jetzt sein.“

„Richtig. Das werde ich machen.“ Dell hatte den Hörer schon in der Hand. Die Nummer wußte er. Nach einigen Rückfragen wurde er mit dem richtigen Zimmer verbunden. Tullys Sekretär meldete sich. „Nein, der Herr Staatsanwalt ist heute noch nicht gekommen.“

Dell hängte verlegen ein. „Nicht da!“ sagte er tonlos.

„Dann ruf auch noch in der Wohnung an.“

Mrs. Manson meldete sich mit verweinter Stimme. „Wer ist dort? Architekt Dell?“

„Jawohl. Ich wollte nur hören, Madam — — Ihr Herr Bruder — —“

„Ja?“ rief Mrs. Manson atemlos, „wissen Sie etwas von ihm?“

„Leider nicht. Gerade wollte ich hören — — ich rief bereits beim Gericht an — —“

„Ach du lieber Gott! — Einen Augenblick bitte!“

*

Kommissar Housman hatte Mrs. Manson den Hörer sanft aus der Hand genommen. Er schaltete sich in das Gespräch ein. „Hallo! Herr Architekt!? Hier spricht Kommissar Housman. Sie fragen nach Staatsanwalt Tully. Wissen Sie etwas von ihm?“

Von der Gegenseite kam ein verlegenes Räuspern. „Ich — ich wollte ihn bloß etwas fragen, Herr Koramissar. Es ist nichts besonderes. Sie haben wohl dienstlich in seiner Wohnung zu tun?“

„Allerdings. Der Herr Staatsanwalt ist verschwunden. Ich nehme soeben hier die ersten Ermittlungen auf. — Bleiben Sie bitte am Apparat! Einen Augenblick!“

Housman hielt die Sprechmuschel zu und fragte leise, zu Mrs. Manson gewendet: „Wer ist dieser Dell?“

„Ein guter Bekannter von meinem Bruder, ich glaube sogar, ein früherer Schulfreund von ihm. Den Namen hat er jedenfalls öfter genannt.“

„Gut. Danke.“ Der Kommissar sprach wieder in den Apparat. „Wann haben Sie den Herrn Staatsanwalt zum letzten Mal gesehen, Mister Dell?“

„Vor zwei oder drei Tagen, Herr Kommissar. Im Klub.“

„Gestern Abend nicht?“

„Nein. Da war ich nicht dort.“

„Haben Sie eine Ahnung, wo er vielleicht zu suchen wäre? Können Sie mir irgend einen Anhaltspunkt geben?“

„Herr Kommissar“, — stotterte Dell, „ich — — ich habe eine Vermutung. Deshalb rief ich auch an. Aber — ich kann das am Telephon nicht so sagen.“

„Doch — bitte sagen Sie es!“

„Ich habe von der Ermordung eines Unbekannten in der Zeitung gelesen. Dabei ist mir der Gedanke gekommen.“

Housman stutzte. „Was? Welcher Gedanke? Glauben Sie etwa — —?“

„Ich halte es nicht für unmöglich, Herr Kommissar, daß der Ermordete Tully ist.“

„Wie kommen Sie zu dieser sonderbaren Vermutung?“

„Ich weiß nicht, wieso, aber beim Lesen der Zeitungsnotiz ist mir dieser Gedanke gleich durch den Kopf gegangen.“

„Wußten Sie da denn schon, daß Ihr Freund vermißt wird?“

„Nein. Ich rief aber gleich zunächst beim Gericht, und dann dort an.“

„Ich danke Ihnen für Ihren Hinweis, Herr Architekt. Natürlich werde ich sofort nachprüfen, ob Sie recht haben. Es wäre doch aber sehr sonderbar — — na, wir werden ja sehen!“ — —

„Was hat er gesagt?“ fragte Mrs. Manson, als sich Housman ihr wieder zuwandte.

„Ach — er denkt wohl an einen Unfall“, wich der Kommissar aus, „hat da irgend was in der Zeitung gelesen. Ich werde dem natürlich auch nachgehen. — Besaß Ihr Bruder einen Ring, auf dem ein Totenkopf eingraviert war?“

Mrs. Manson horchte erstaunt. „Ja — allerdings. Wie kommen Sie darauf, Herr Kommissar?“

„Wo trug er den Ring?“

„Am kleinen Finger der linken Hand.“

Housman war, als Dell anrief, gerade gekommen und hatte diese Frage noch nicht gestellt. Seine Verblüffung wuchs mit jeder Minute. „Kennen Sie die ‚Belgravia-Lichtspiele?‘ fuhr er fort.

„Ja. Mein Bruder ging öfter dorthin. Ich selbst mache mir aus dem Kino nicht viel.“

„Wissen Sie zufällig, wann er zum letzten Mal da war?“

„Vorgestern, glaube ich.“

Housman schritt auf den Schreibtisch zu, auf dem eine Photographie stand. „Das ist er, nicht wahr?“

Mrs. Manson nickte. „Ja.“

Der Kommissar sah das Bild lange an. Er hatte vor etwa zwei Jahren einmal flüchtig mit Tully zu tun gehabt. Jetzt konnte er sich genau besinnen.

Tully amtierte in Kensington. Dort bearbeitete er vorwiegend Verwaltungsfragen und letzte Entscheidungen. In der Oeffentlichkeit trat er wenig hervor.

Der Kommissar rief sich die Züge des Ermordeten ins Gedächtnis zurück. Hatte der Tote nicht anders ausgesehen?

Housman erkannte, daß er einer Täuschung zum Opfer gefallen war. Inzwischen ist festgestellt worden, daß der Ermordete eine Perücke trug. Unter dieser Perücke kam Tullys Glatze zum Vorschein. Der Staatsanwalt hielt stets ein Monockel ins Auge geklemmt, das seine Züge, besonders die der rechten Gesichtshälfte, erheblich verzerrte. Der Ermordete hatte eine Doublébrille auf der Nase gehabt. Außerdem sind durch den Schreck seine Züge entstellt worden. Beide Bilder verschwammen vor Houmans geistigem Auge in eins, und er zweifelte nicht mehr, daß der von der schönen Jenny Anthony genannte der jetzt vermißte Staatsanwalt Tully war.

*

‚An- und Verkauf von Gold- und Silberwaren‘ las Jun Fu an der Scheibe des kleinen Ladens, vor dem er stand. Sich einen Ruck gebend, ging er hinein.

Die ganze Nacht über hatte er sich Gedanken gemacht, was er für den Ring wohl erlösen würde. Er hatte nicht sehr viel Ahnung von solchen Dingen. Was Wertsachen betraf, erging er sich oft in den phantastischsten Vorstellungen. Er zweifelte nicht daran, daß der Ring aus massivem Golde war. Aber ausschätzen konnte er ihn nicht. Er hatte sonst nur mit Eisen, Kupfer, Messing und anderen Metallen zu tun. Wenn es hoch kam, erwischte er auch einmal einen silbernen Gegenstand. Das traf aber schon selten zu.

Er dachte an zwanzig Pfund. Vielleicht bot man ihm aber auch nur zwei Pfund für den Ring. Wer konnte das wissen? Bestimmt würde man ihn übers Ohr hauen. Am besten fragte man erst einmal bei verschiedenen Stellen an, was man ihm geben wollte. Wer das höchste Gebot machte, sollte den Ring erhalten.

Er mußte darauf gefaßt sein, daß man ihn fragte, woher er dieses Wertstück denn habe. Für diesen Fall hatte er sich schon etwas ausgedacht, eine rührende Geschichte von einem Engländer, dem er das Leben gerettet hatte, und der ihm dafür den Ring gab.

Ein älteres, griesgrämiges, etwas verwachsenes Männchen blickte ihn mißtrauisch an, als er vor den Ladentisch trat. Jun Fu stotterte. „Ich — ich Ring zu verkaufen, Sir!“

„Na — dann zeig einmal her!“

Der Chinese zog den Ring aus der Tasche und nahm ihn umständlich aus dem Zeitungspapier, in das er eingewickelt war. Vorsichtig, wie etwas sehr Kostbares, legte er den Ring auf den Tisch.

In diesem Augenblick betrat ein anderer Kunde den Laden. Sofort wandte sich das griesgrämige Männchen diesem zu. Jun Fu griff nach dem Ring und steckte ihn in seine Tasche zurück.

„Was darf es sein?“ fragte der Ladeninhaber den neuen Kunden. Der verlangte Manschettenknöpfe. Das Männchen legte ihm welche vor. Plötzlich wandte es sich wieder dem Chinesen zu, der verlegen in einer Ecke stand. „Na — wo ist denn der Ring?“

Jun Fu reichte ihn abermals zögernd hin. Das Männchen warf einen kurzen Blick darauf. „Fünf Schilling!“ sagte es dann mit einem geringschätzigen Augenzwinkern.

Der Chinese zuckte zusammen, er glaubte nicht richtig verstanden zu haben. „Echt Gold, Sir!“ stammelte er, „echt Gold!“

Der Interessent für Manschettenknöpfe wandte sich nach ihm um und maß ihn mit einem stechenden Blick. „Was hat denn der Mann da?“ fragte er den Verkäufer.

„Einen silbervergoldeten Ring, den er mir als echtes Gold andrehen möchte. — Also fünf Schilling, mein Junge! Das ist mein erstes und letztes Gebot!“

Vor Jun Fu drehte sich alles. Mit einer wilden Gebärde riß er dem anderen den Ring aus der Hand. „Nein, nein!“ rief er, und nochmals: „nein, nein! Dafür gebe ich nicht —“

Er begann den Ring wieder umständlich in das Papier zu packen.

„Na — zeig noch mal her!“ interessierte sich der Ladeninhaber plötzlich wieder, „wo hast du den Ring denn überhaupt her?“

„Lebensretter — ich“, stotterte der Chinese, „Englisman Wasser gefallen. Ich herausholen. Dafür Ring.“

Dies war eine kurze, bündige Erklärung. Der Ladeninhaber und der andere Kunde blickten einander lächelnd an.

„Und dieses wertvolle Erinnerungsstück willst du verkaufen?“ fragte der Manschettenknopfinteressent. Jun Fu nickte traurig. „Ja — müssen. Brot. Fünf Kinderchen.“

Trotzdem jetzt noch lange Verhandlungen folgten, im Verlauf derer ihm schließlich zwölf Schilling geboten wurden, gab Jun Fu doch den Ring nicht her. Bedrückt und enttäuscht stolperte er aus dem Laden.

Die beiden Männer blickten ihm kopfschüttelnd nach. „Ich verstehe nicht“, sagte der Kunde, „daß Sie den Ring nicht genommen und höher geboten haben. Er war doch bestimmt aus massivem Gold.

„War er auch!“ sagte das Männchen mit einem Kichern, „unter Brüdern ist er seine zwölf Pfund wert. Wenn ich nicht sicher wäre, daß der Kerl wiederkommt, hätte ich ihn nicht laufen lassen.“

„Um ihm das Wertstück dann für ein Schandgeld abzukaufen? Ich danke für diesen Hinweis auf Ihre Methoden. Manschettenknöpfe brauche ich nicht mehr. Leben Sie wohl, Sir!“

*

Der Brandy-Keller bestand aus einem niedrigen, verzweigten Tonnengewölbe, das sich unter zwei Häusern hinzog. Während der späten Abendstunden war er stets gut besetzt. Hier ging es, wie gewöhnlich in solchen Lokalen, recht laut zu. Das Publikum war sehr gemischt, nicht nur den Geschlechtern und Ständen nach, sondern auch was die Nationalitäten und Farben der Besucher betraf. Menschen mit weißer, roter und gelber Hautfarbe sah man bunt durcheinandergewürfelt. Ungeniert wurde da, wo man es hören durfte, ganz laut gesprochen, gesungen, gelacht. Oft genug brach auch Streit aus, namentlich wenn es sich um ein Mädchen handelte, ja, es kam sogar vor, daß unvermittelt geschossen wurde. Im allgemeinen wußte jedoch der stämmige Wirt, der wie ein Preisboxer aussah, mit seinen beiden schwarzen Helfern die Gäste im Zaun zu halten.

Leute, die wichtiges zu verhandeln hatten, zogen sich in entlegenere Ecken zurück und steckten dort die Köpfe zusammen. Die Stammgäste hatten für diese Winkel den Namen ‚Flüsterecken‘ erfunden.

In einer solchen Ecke saß ein melancholisch vor sich hinbrütender Mann, den man den ‚Detektiv“ nannte. Er gehörte zur Unterwelt wie die meisten Leute, die hier verkehrten. Seine Haupttätigkeit war das Ausbaldovern von guten Gelegenheiten. Er war, aus der Verbrechermoralperspektive betrachtet, ein höchst anständiger Kerl, denn er verlangte stets nur dann einen Anteil der Beute, wenn seine Erkundungen auch Erfolg gebracht hatten. Dann allerdings ließ er sich auch sehr gut bezahlen.

Mordsachen lehnte er prinzipiell ab. Wenn trotzdem in der Notwehr einmal ein Wächter oder sonst jemand erschossen wurde, gebärdete er sich fuchsteufelswild, schalt die anderen Stümper und Lehrlinge und zog sich von den betreffenden für immer zurück.

In letzter Zeit hatte er freilich, wie man behauptete, sehr nachgelassen. Immer wieder vergeblich ging ihn seine Kundschaft um neue Pläne an. Offenbar wurde er von einer anderen Aufgabe ausgefüllt, und die mußte irgendwie mit diesem rätselhaften Anthony zusammenhängen. Wer war Anthony eigentlich? Niemand wußte es. Einige tippten auf einen Spitzel der Polizei. Andere hielten ihn für einen harmlosen Irren. Er selbst behauptete immer wieder, als Kriminalschriftsteller Studien treiben zu müssen und versprach, ihnen allen in seinem nächsten Werk ein Denkmal zu setzen.

„Und darauf wollen wir anstoßen, Kinder!“ Mit diesen Worten bestellte er eine neue Lage, womit er niemals zurückhaltend war.

Da er wirklich ganz harmlos zu bleiben schien und auch den Versuch unternahm, in ihre, Geschäftsgeheimnisse‘ näheren Einblick zu nehmen, hatten die Leute sich bald an den sonderbaren Gesellen gewöhnt, ja, man suchte sogar seine Freundschaft und nutzte seine Gutmütigkeit weidlich aus.

Nur mit wenigen, die er wohl nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt haben mochte, ließ er sich in engere Beziehungen ein. Mit diesen Leuten pflegte er manchmal in einem Separatraum zusammenzukommen. Was dort besprochen wurde, erfuhr jedoch nie ein Mensch.

Dabei, daß er die schöne Jenny zu seiner Freundin erwählte, konnte kein Mensch etwas finden. Es schien die natürlichste Sache der Welt zu sein, daß der recht ansehnliche und schmucke Mensch und das hübsche Mädchen aneinander Gefallen fanden. Die Affäre zwischen Jenny und ihrem Regenpfeifer hatte im Brandy-Keller mit einem theatralischen Knalleffekt einen raschen Abschluß gefunden. Bei diesem Ereignis hatte Anthony die Lacher und damit auch alle Sympathien auf seine Seite gebracht. Man schmunzelte heute noch, wenn man sich dieser Szene entsann. Der Regenpfeifer hatte, auf Jenny wartend, dumpf brütend in einer Ecke gehockt. Da war Jenny mit Anthony in den Keller gekommen. Regenpfeifer sprang mit funkelnden Augen und einem gepreßten „Ha!“ auf, stürzte sich kurzerhand auf den Nebenbuhler, zückte ein blitzendes Messer und stach auf ihn ein.

Kreischend schrien schon einige Weiber auf, und wie gebannt starrten die Männer auf die dramatische Szene. In der nächsten Zehntelsekunde mußte Anthony röchelnd zusammenbrechen.

Aber das tat er nicht. Er zuckte mit keiner Miene. Dafür hatte er blitzschnell den Arm seines Gegners erfaßt, bevor dieser noch zustechen konnte, und griff so fest und geschickt dabei zu, daß jener mit einem Aufschrei das Messer fallen ließ, selber zu Boden sank und um Gnade flehte. Anthonys Jiu Jitsu-Griff hatte genügt, um ihn meiner Sekunde wehrlos zu machen.

Die Miene des Siegers blieb unverändert und wie versteint. „Gnade, mein Junge?“ sagte er mit fast unheimlich wirkender, ruhiger Stimme „Erst mußt du mir die Versicherung geben, daß du mich künftig in Frieden läßt.“ Bei diesen Worten mußte er wohl den Arm seines Gegners wieder etwas verdreht haben, denn der stöhnte jämmerlich auf. „Ja!“ schrie er, „ich verspreche dir alles. Nur — laß mich los!“

„Schön. Und Jenny wirst du auch künftig in Frieden lassen. Du segnest jetzt unsern Bund. Sprich mir nach: ich segne euren Bund!“

„Ich — segne — — euren Bund!“ stammelte der Ueberwältigte zähneknirschend.

„Ich danke dir, Regenpfeifer!“ entgegnete Anthony unter dem wiehernden Gelächter der Umstehenden, „nun bist du frei. Gehe hin und suche dir eine neue Braut!“

Mit diesen Worten ließ er den anderen los, ja, hob sogar noch dessen Messer auf und warf es dem gesenkten Hauptes Davonschleichenden nach. — —

*

Diesmal wartete der ‚Detektiv‘ vergeblich auf Anthony, seinen besonderen Freund. Er erwartete ihn auch nicht mehr. Er wußte Bescheid. Das traurige Schicksal des ‚Helden vom Brandy-Keller‘ hatte ja schon in der Zeitung gestanden, es bildete das allgemeine Gesprächsthema.

Der Wirt, der dem einsamen Grübler schon einmal zugenickt hatte, trat jetzt an dessen Tisch und nahm Platz. „Na — was sagst du dazu, Detektiv? Eine verfluchte Schweinerei, was?“

Der Angeredete verstand sofort, was gemeint war. Er hob seinen schmalen Kopf und sah an dem Wirt vorbei. „Ja. Und ich schwöre darauf, daß es der Regenpfeifer gewesen ist.“

Der Wirt kratzte sich mit seinen speckigen Fingern an der Schläfe. „So. Meinst du? In der Zeitung steht etwas von einem Chinesen.“

„Ach Quatsch — Chinese!“ Der ‚Detektiv‘ spuckte verächtlich aus.

„Aber erlaube mal, bitte! der Kerl wurde von einem Wächter gesehen, als er den Hof verließ. Auch wurde ein Karren gefunden, mit leeren Säcken, in denen die Leiche fortgeschafft werden sollte.“

„Du bist ja verrückt, William!“

„Die Zeitung schreibt es!“

„Die Zeitung schreibt viel. Wenn du das Gegenteil von dem annimmst, was unsere englischen Zeitungen schreiben, wirst du einigermaßen das richtige treffen.“

„Du bist ein Skeptiker, Detektiv!“

„Bin ich.“

„Ich glaube an den Chinesen.“

„Und ich an den Regenpfeifer.“

Der Wirt schüttelte unwillig den Kopf. „Und was sagst du dazu, daß die Jenny im Zusammenhang mit der Geschichte verhaftet wurde?“

„Das ist mir allerdings auch noch unklar. — Nein, doch nicht. Im Gegenteil. Gerade diese Tatsache läßt darauf schließen — —“

„Worauf? Rede weiter!“

„Laß mich erst einmal nachdenken.“ Der ‚Detektiv‘ starrte angestrengt in sein Glas, als ob er darin die Lösung finden müßte. „Ich hab‘s!“ fuhr er nach einer Pause fort. „Jenny kam mit Anthony des Weges. Der Regenpfeifer, der sie entdeckt hatte, schlich ihnen nach. An der ihm geeignet erscheinenden Stelle knallte er Anthony hinterrücks nieder, ergriff die Flucht — — und Jenny, die wahrscheinlich vor Schreck wie gelähmt war, fiel der Polizei in die Hände und kam dadurch in den Tatverdacht.“

„Hahaha! Und der Chinese?“

„Laß mich doch mit dem verdammten Chinesen in Frieden! Der ist eben zufällig auch dagewesen.“

„Zufällig! Zufällig! Der Wirt lachte noch schallender. „An dir ist wirklich ein Musterdetektiv verlorengegangen, mein Junge!“

Ein anderer Mann setzte sich unaufgefordert mit an den Tisch. Es war Lamny, Spezialist in Schweißapparaten, den sie Kuchenzahn nannten Geheimnisvoll strich er sich über seinen widerborstigen rötlichen Bart. „Wißt ihr, wen ich heute getroffen habe?“ flüsterte er den beiden anderen zu.

„Nein“, erwiderte der Detektiv, halb ärgerlich über die Störung, halb auch wieder neugierig lauernd.

„Dann will ich‘s euch sagen. Den Regenpfeifer!“

*

Inspektor Walling kehrte von einer kurzen Dienstreise aus Glasgow zurück. Erst durch die Mittagszeitung hatte er von der Ermordung des Staatsanwalts Tully Kenntnis erhalten. Daraufhin hatte er sofort Scotland Yard angerufen und mit Housman gesprochen.

Walling und Housman ergänzten sich häufig in schweren Fällen und hatten gemeinsam schon viele schöne Erfolge erzielt. Nicht als ob Housman nicht alles auch allein geschafft haben würde