Das Spiel der Götter (12) - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter (12) E-Book

Steven Erikson

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Beschreibung

Ein furioses Fantasy-Epos von einer dunklen Anderswelt!

Die Tiste Edur haben das Reich der Letherii besiegt und unterworfen, und Rhulad Sengar, ihr unsterblicher Herrscher, sitzt auf dem Königsthron in Letheras. Doch seine unzähligen Wiedergeburten haben den goldenen Herrscher in den Wahnsinn getrieben – und ihn blind gemacht für die Gefahren, die ihm und seinem Reich drohen ...

Für die Leser von Tad Williams, Terry Goodkind und George R.R. Martin.

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Seitenzahl: 866

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Die englische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Malazan Vol. 7: Reaper’s Gale Part 1« bei Bantam/Transworld
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Steven EriksonThis edition is published by arrangement with Transworld Publishers,a division of The Random House Group Ltd. All rights reserved.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: © Isabelle Hirtz, InkcraftUmschlagfoto: © Melanie Korte, InkcraftRedaktion: Sigrun Zühlke HK Herstellung: RF Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
ISBN: 978-3-641-08981-8V005
www.blanvalet.dewww.penguinrandomhouse.de

Buch

Rhulad Sengar, der unsterbliche Herrscher der Tiste Edur, ist am Ziel seiner Wünsche angelangt: Er sitzt auf dem Königsthron von Letheras, herrscht über Tiste Edur und Letherii gleichermaßen. Doch seine durch zahllose Tode und Wiedergeburten erkaufte Unsterblichkeit treibt ihn immer weiter in den Wahnsinn und macht ihn blind für das, was um ihn herum geschieht. Und so bekommt er davon, dass der korrupte Triban Gnol, der schon dem König der Letherii als Kanzler diente, ein Netz von Intrigen spinnt, genauso wenig mit wie von den Machenschaften und Säuberungen der Geheimpolizei. Und auch der Abtrünnige, jener uralte Gott, der auf seine ureigene Weise jahrhundertelang über Lether gewacht hat, kann plötzlich die Zukunft nicht mehr erkennen. Er weiß nur eines: Die Zukunft hält nicht nur Gutes für Lether, seinen Herrscher und seine Bewohner bereit, denn an den Grenzen sammeln sich alte und neue Feinde  – und an Bord der Schiffe der heimkehrenden letheriischen Flotte befinden sich zwei der gefährlichsten Wesen, die die Welt jemals gesehen hat …

Autor

Steven Erikson, in Kanada geboren, lebte viele Jahre in der Nähe von London, ehe er vor einiger Zeit in seine Heimat nach Winnipeg zurückkehrte. Der Anthropologe und Archäologe feierte 1999 mit dem ersten Band seines Zyklus »Das Spiel der Götter« nach einer sechsjährigen akribischen Vorbereitungsphase seinen weltweit beachteten Einstieg in die Liga der großen Fantasy-Autoren.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorProlog
Das Ältere Gewirr Kurald Emurlahn - Das Zeitalter des ZerbrechensDie vernichtete Domäne der K’Chain Che’Malle nach dem Fall von Silchas RuinDie Ahl’dan, in den letzten Tagen von König DiskanarDie Ahl’dan, nach dem Eroberungsfeldzug der Edur
Buch Eins - Der Imperator in Gold
Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfKapitel Sechs
Buch Zwei - Die Schichten der Toten
Kapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel Zwölf
Copyright

Prolog

Das Ältere Gewirr Kurald Emurlahn

Das Zeitalter des Zerbrechens

Sechs Drachenkadaver bildeten inmitten einer von Gram zerrissenen Landschaft eine unregelmäßige Linie, die tausend oder mehr Schritte weit in die Ebene hinausreichte  – zerfetzte Körper, aus denen gebrochene Knochen ragten, weit aufklaffende Mäuler, ausgetrocknete Augen. Wo ihr Blut auf die Erde geströmt war, hatten sich Gespenster versammelt wie Fliegen um Saft und waren kleben geblieben; sie wanden sich und stießen verzweifelte, hohl klingende Rufe aus, während das Blut dunkler wurde und mit dem unbelebten Boden verschmolz. Als es schließlich fest wurde und zu glasigem Gestein aushärtete, waren diese Geister zu ewiger Gefangenschaft in dem trüben Gefängnis verdammt.

Die nackte Kreatur, die den unebenen Pfad kreuzte, den die gefallenen Drachen erzeugt hatten, konnte es an Masse mit ihnen aufnehmen, doch sie war erdgebunden und ging auf zwei krummen Beinen, deren Oberschenkel so dick waren wie die Stämme tausendjähriger Bäume. Ihre Schultern waren so breit, wie ein Tartheno Toblakai groß war. Über einem dicken Hals, der unter einer Mähne aus glänzenden Haaren verborgen war, ragte die Vorderpartie des Kopfes weit nach vorn  – Stirn, Wangen- und Kieferknochen  –, und die in tiefen Höhlen liegenden Augen hatten tiefschwarze Pupillen, umgeben von schillerndem Weiß. Die großen Arme waren unverhältnismäßig lang, die gewaltigen Hände schleiften beinahe über den Boden. Die Hängebrüste der Kreatur waren groß und fahl. Sie schritt an den zerfetzten, verwesenden Kadavern vorbei, mit merkwürdig fließenden und ganz und gar nicht schwerfälligen Bewegungen, und es war zu erkennen, dass all ihre Gliedmaßen mit zusätzlichen Gelenken ausgestattet waren.

Ihre Haut hatte die Farbe sonnengebleichter Knochen, die zum Ende der Arme hin dunkler bis zu einem geäderten Rot wurde. Blutergüsse umgaben die Knöchel, ein Netzwerk aus zerfetztem Fleisch, in dem hier und da der Knochen durchschimmerte. Diese Hände hatten offensichtlich Schaden genommen  – eine Folge der verheerenden Schläge, die sie ausgeteilt hatten.

Die Kreatur blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben zum Himmel, wo drei Drachen inmitten der brodelnden Wolken dahinglitten, noch einmal kurz zwischen den Rauchschwaden der sterbenden Sphäre auftauchten und dann in ihnen verschwanden.

Die Hände der erdgebundenen Kreatur zuckten, und ein tiefes Grollen drang aus ihrer Kehle.

Nach einer langen Pause setzte sie ihre Reise fort.

Am letzten toten Drachen vorbei zu einer Stelle, an der eine Hügelkette aufragte. Im größten dieser Hügel klaffte ein Spalt, als hätte eine riesige Hand ihm das Herz herausgerissen, und in dieser Kluft wütete ein Riss, eine Verwerfung des Raums, aus der in perlmuttartigen Strömen Macht quoll. Die Bösartigkeit dieser Energie zeigte sich daran, wie sie die Ränder des Felsspalts verschlang und sich wie Säure in das Gestein der uralten Berme fraß.

Der Riss würde sich bald schließen, und derjenige, der als Letzter hindurchgegangen war, hatte versucht, das Tor hinter sich zu versiegeln. Doch diese Art von Heilung ließ sich niemals eilends bewirken, und so blutete diese Wunde stets von Neuem.

Ohne auf die Bosheit zu achten, die aus dem Riss strömte, trat die Kreatur näher. Unmittelbar davor blieb sie noch einmal stehen und drehte sich um, blickte zurück auf den Weg, den sie gekommen war.

Drachenblut, das zu Stein verhärtete. Waagerechte Schlieren der Substanz hatten bereits begonnen, sich von der umgebenden Erde zu lösen, sich an den Rändern zu erheben und merkwürdig zusammenhanglose Wände zu formen. Einige begannen dann zu versinken und aus dieser Sphäre zu verschwinden. Sie fielen durch Welt um Welt, um schließlich, fest und undurchdringlich, in anderen Sphären wieder zu erscheinen, abhängig vom Aspekt ihres Blutes. Dies waren unbestreitbare Gesetze. Starvald Demelain, das Blut der Drachen und der Tod des Blutes.

In der Ferne hinter der Kreatur wand sich Kurald Emurlahn, die Sphäre des Schattens, die erste Sphäre, die aus der Vereinigung von Dunkel und Licht geboren worden war, in Todeskrämpfen. Weit entfernt tobten die Bürgerkriege weiter, während anderswo das Zersplittern bereits begonnen hatte und große Teile des Gewebes dieser Welt weggerissen wurden, losgelöst, verloren und aufgegeben  – um entweder allein zu heilen oder zu sterben. Doch noch immer kamen Eindringlinge hier an, wie Aasfresser, die sich um einen gefallenen Giganten versammelten, und sie rissen sich ihre eigenen Stücke aus der Sphäre. Vernichteten einander in heftigen Kämpfen um die Fetzen.

Niemand  – wirklich niemand  – hatte sich vorstellen können, dass eine ganze Sphäre auf diese Weise zu Grunde gehen könnte. Dass die bösartigen Taten ihrer Bewohner alles zerstören könnten. Welten lebten weiter, das war der Glaube gewesen  – die Annahme  –, unabhängig davon, was jene, die auf ihnen lebten, taten. Zerfetztes Gewebe heilt, der Himmel klart auf, und etwas Neues kriecht aus dem brackigen Dreck.

Aber nicht dieses Mal.

Zu viele Mächte, zu viel Verrat, zu gewaltige, alles verschlingende Verbrechen.

Die Kreatur richtete den Blick wieder auf das Tor.

Und dann trat Kilmandaros, die Ältere Göttin, hindurch.

Die vernichtete Domäne derK’ChainChe’Mallenach dem Fall von Silchas Ruin

Bäume barsten in der bitteren Kälte, die sich  – unsichtbar, aber dennoch wahrnehmbar  – wie ein Leichentuch auf den verwüsteten Wald herabsenkte.

Mühelos konnte Gothos den Spuren folgen, die das wiederholte Aufeinandertreffen zweier Älterer Götter mit dem Wechselgänger-Drachen hinterlassen hatte, und während der Jaghut den Pfad der Verwüstung entlangschritt, brachte er die brutale Kälte von Omtose Phellack mit, dem Gewirr des Eises. Ich besiegle unsere Abmachung, wie du mich gebeten hast, Mael. Ich sperre die Wahrheit an diesem Ort ein, damit sie mehr bleibt als einfach nur eine Erinnerung. Bis zu jenem Tag, an dem Omtose Phellack selbst zerschmettert werden wird. Gothos dachte müßig darüber nach, ob es eigentlich jemals eine Zeit gegeben hatte, in der er geglaubt hatte, dass dies niemals passieren würde. Dass die Jaghut  – in all ihrem vollkommenen Glanz  – einzigartig waren, dass sie ewig herrschen, ewig triumphieren würden. Eine unsterbliche Zivilisation, während alle anderen zum Untergang verdammt waren.

Nun, es war möglich. Schließlich hatte er einst auch geglaubt, dass alles, was existierte, der gütigen Kontrolle einer fürsorglichen Allmacht unterstand. Und die Grillen existieren, um uns in den Schlaf zu singen. Er konnte unmöglich sagen, welche närrischen Ideen noch vor all diesen Jahrtausenden in sein junges, naives Hirn gekrochen sein mochten.

Aber dem war natürlich nicht mehr so. Dinge enden. Arten sterben aus. Jeder Glaube an irgendetwas anderes war eine Täuschung, das Produkt eines entfesselten Egos, der Fluch extremer Selbstüberschätzung.

Also  – was glaube ich jetzt?

Er würde sich kein melodramatisches Lachen als Antwort auf diese Frage gestatten. Warum auch? Es war niemand in der Nähe, der es zu würdigen gewusst hätte. Das galt auch für ihn selbst. Ja, ich bin dazu verflucht, mit mir vorliebnehmen zu müssen.

Es ist ein persönlicher Fluch.

Und das sind die besten.

Er stieg einen gebrochenen, zerrissenen Hang hinauf, eine gewaltsame Erhebung von Grundgestein, wo sich eine große Spalte aufgetan hatte, an deren senkrechten Wänden bereits der Frost glitzerte, als Gothos ihren Rand erreichte und nach unten blickte. Irgendwo da unten in der Dunkelheit stritten zwei Stimmen lautstark miteinander.

Gothos lächelte.

Er öffnete sein Gewirr, nutzte einen Bruchteil seiner Macht, um sich langsam auf die düstere Sohle der Kluft hinabsinken zu lassen.

Als Gothos sich näherte, verstummten die beiden Stimmen, so dass nur ein rasselndes, zischendes, langsam pulsierendes Geräusch übrig blieb  – Ein- und Ausatmen im Rhythmus wogenden Schmerzes  – und der Jaghut hörte, wie etwas seitlich von ihm Schuppen über Gestein schabten.

Er ließ sich auf einem Haufen Felstrümmer nieder, ein paar Schritte von der Stelle entfernt, wo Mael stand, während zehn Schritt weiter hinten die mächtige Gestalt von Kilmandaros aufragte, deren Haut  – auf eine irgendwie krankhafte Weise  – schwach leuchtete. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, was ihr unmenschliches Gesicht noch streitsüchtiger wirken ließ.

Scabandari, der Wechselgänger-Drache, war in eine Höhlung in der Seite der Felswand getrieben worden, wo er jetzt hockte; seine zersplitterten Rippen machten ihm zweifellos jeden Atemzug zur Qual. Ein Flügel war zerschmettert und halb abgerissen. Eine seiner Hintergliedmaßen war eindeutig gebrochen; Knochen ragten aus dem Fleisch. Seine Flucht war zu Ende.

Die beiden Älteren beäugten nun Gothos, der vortrat und dann das Wort ergriff. »Es ist mir immer wieder eine große Freude«, sagte er, »wenn ein Verräter seinerseits verraten wird. Wie in diesem Fall, wo seine eigene Dummheit ihn verraten hat. Was sogar noch erfreulicher ist.«

»Das Ritual … bist du fertig damit, Gothos?«, fragte Mael, der Ältere Gott der Meere.

»Mehr oder weniger.« Der Jaghut richtete den Blick auf Kilmandaros. »Ältere Göttin. Deine Kinder in dieser Sphäre haben sich verirrt.«

Die große, ungeschlachte Frau zuckte die Schultern. »Sie verirren sich immer, Jaghut.« Ihre Stimme war leise und melodisch.

»Und warum tust du nichts dagegen?«

»Warum tust du nichts?«

Gothos zog eine schmale Augenbraue hoch und lächelte, bleckte seine Hauer. »Ist das eine Aufforderung, Kilmandaros?«

Sie sah zu dem Drachen hinüber. »Ich habe keine Zeit für so etwas. Ich muss nach Kurald Emurlahn zurückkehren. Ich werde ihn jetzt töten …« Sie trat einen Schritt vor.

»Das darfst du nicht«, sagte Mael.

Kilmandaros starrte ihn an. Die großen Hände öffneten sich und schlossen sich dann wieder zu Fäusten. »Das sagst du andauernd, du gekochte Krabbe.«

Schulterzuckend drehte Mael sich zu Gothos um. »Erkläre es ihr bitte.«

»Wie oft möchtest du in meiner Schuld stehen?«, fragte ihn der Jaghut.

»Ach  – also wirklich, Gothos!«

»Nun denn. Kilmandaros. Durch das Ritual, das sich nun auf dieses Land herabsenkt, auf die Schlachtfelder und die hässlichen Wälder, wird der Tod selbst geleugnet. Wenn du den Tiste Edur hier tötest, wird seine Seele aus seinem Körper gelöst, aber sie wird bestehen bleiben  – und ihre Macht wird nur unbedeutend geschmälert sein.«

»Ich habe vor, ihn zu töten«, sagte Kilmandaros mit ihrer sanften Stimme.

»Dann«, antwortete Gothos, und sein Lächeln wurde breiter, »wirst du mich brauchen.«

Mael schnaubte.

»Warum sollte ich dich brauchen?«, fragte Kilmandaros den Jaghut.

Er zuckte die Schultern. »Ein Finnest muss vorbereitet werden. Um die Seele dieses Wechselgängers zu beherbergen … um sie gefangen zu halten.«

»Also gut, dann mach halt einen.«

»Als Gefallen für euch beide? Ich glaube nicht, Ältere Göttin. Nein, leider ist es genauso wie bei Mael hier. Du musst anerkennen, dass du in meiner Schuld stehst.«

»Ich habe eine bessere Idee«, sagte Kilmandaros. »Ich zerquetsche deinen Schädel zwischen Daumen und Zeigefinger und stopfe deinen Kadaver dann Scabandari in den Rachen, so dass er an deinem wichtigtuerischen Ich erstickt. Das wäre doch ein passender Abgang für euch beide.«

»Göttin, du bist im Alter verbittert und reizbar geworden«, sagte Gothos.

»Das ist keine Überraschung«, anwortete sie. »Ich habe den Fehler gemacht, zu versuchen, Kurald Emurlahn zu retten.«

»Warum machst du dir überhaupt diese ganze Mühe?«, wollte Mael von ihr wissen.

Kilmandaros bleckte zackige Zähne. »Dieses Geschehen ist … höchst unwillkommen. Du kannst deinen Kopf gerne wieder in den Sand stecken, Mael, aber ich warne dich: Der Tod einer Sphäre birgt die Aussicht auf die Zukunft aller anderen Sphären.«

»Wie du meinst«, antwortete der Ältere Gott nach einem Moment des Schweigens. »Und ich gebe zu, dass diese Möglichkeit besteht. Auf jeden Fall verlangt Gothos eine Entschädigung.«

Die Fäuste öffneten sich und schlossen sich dann wieder. »Also gut. Und jetzt mach einen Finnest, Jaghut.«

»Das hier wird genügen«, sagte Gothos. Er griff in einen Riss seines zerfetzten Hemds und brachte einen kleinen Gegenstand zum Vorschein.

Die beiden Älteren starrten ihn einige Zeit lang an, dann gab Mael ein undeutliches Geräusch von sich. »Ja, jetzt verstehe ich. Eine ziemlich seltsame Entscheidung, Gothos.«

»Ich treffe immer seltsame Entscheidungen«, erwiderte der Jaghut. »Also dann, mach weiter, Kilmandaros  – bereite dem armseligen Dasein dieses Wechselgängers auf deine feinsinnige Weise ein Ende.«

Der Drache fauchte und schrie vor Wut und Angst, während die Ältere Göttin auf ihn zuschritt.

Als sie Scabandari die Faust gegen den Schädel schmetterte und dabei die Stelle traf, wo die Augenbrauenwülste sich vereinigten, dröhnte das Krachen der dicken Knochen wie ein Klagelied durch die Kluft, und Blut spritzte von den Knöcheln der Göttin, so fest hatte sie zugeschlagen.

Der zerschmetterte Schädel des Drachen fiel schwer auf das geborstene Grundgestein, und unter dem zusammensackenden Körper breitete sich eine Pfütze aus.

Kilmandaros wirbelte herum und blickte Gothos an.

Er nickte. »Ich habe den armen Kerl.«

Mael trat auf den Jaghut zu, streckte eine Hand aus. »Dann werde ich den Finnest jetzt mitnehmen …«

»Nein.«

Jetzt blickten beide Älteren Gothos an, der erneut lächelte. »Die Bezahlung der Schuld. Das gilt für euch beide. Ich beanspruche den Finnest, die Seele von Scabandari für mich selbst. Wir sind quitt. Gefällt euch das nicht?«

»Was hast du vor  – was willst du mit ihm machen?«, wollte Mael wissen.

»Das habe ich noch nicht entschieden, aber ich versichere euch, es wird auf höchst merkwürdige Weise unangenehm sein.«

Kilmandaros ballte die großen Hände erneut zu Fäusten und hob sie etwas. »Ich bin geneigt, dir meine Kinder auf den Hals zu hetzen, Jaghut.«

»Wirklich zu dumm, dass sie sich verirrt haben.«

Keiner der beiden Älteren sagte noch irgendetwas, während Gothos die Felsspalte verließ. Es bereitete ihm immer wieder Vergnügen, diese tattrigen alten Wracks mitsamt ihrer ganzen ergrauten, brutalen Macht auszutricksen. Nun, es war ein flüchtiges Vergnügen.

Und das sind die besten.

Als Kilmandaros zu dem Riss zurückkehrte, fand sie eine andere Gestalt dort stehen. Weißhaarig, in einen schwarzen Umhang gehüllt. Die Brauen nachdenklich gewölbt, den Blick auf den zerfetzten Spalt gerichtet.

War er kurz davor, das Tor zu durchschreiten, oder wartete er auf sie? Die Ältere Göttin machte ein finsteres Gesicht. »Du bist in Kurald Emurlahn nicht willkommen«, sagte sie.

Anomandaris Purake blickte die monströse Kreatur kühl an. »Glaubst du, ich würde darüber nachdenken, selbst Anspruch auf den Thron zu erheben?«

»Du wärst nicht der Erste.«

Er richtete den Blick erneut auf den Riss. »Du wirst bedrängt, Kilmandaros, und Randgänger ist anderswo gebunden. Ich biete dir meine Hilfe an.«

»Für dich, Tiste Andii, wird es nicht leicht sein, mein Vertrauen zu gewinnen.«

»Ungerechtfertigterweise«, erwiderte er. »Im Gegensatz zu vielen anderen meiner Art bin ich der Auffassung, dass der Lohn eines Verrats niemals den Preis, den man für ihn bezahlen muss, übersteigt. Jetzt führen  – zusätzlich zu den wilden Drachen  – auch noch Wechselgänger Krieg in Kurald Emurlahn.«

»Wo ist Osserc?«, fragte die Ältere Göttin. »Mael hat mir mitgeteilt, dass er …«

»Sich mir wieder in den Weg stellen wollte? Osserc hat sich gedacht, ich würde an der Tötung Scabandaris teilnehmen. Warum hätte ich das tun sollen? Du und Mael, ihr beide habt mehr als ausgereicht.« Er gab ein Brummen von sich. »Ich kann mir ausmalen, wie Osserc kreist und kreist. Wie er nach mir Ausschau hält. Dieser Narr.«

»Und Scabandaris Verrat an deinem Bruder? Willst du diesen Verrat nicht rächen?«

Anomandaris blickte sie an, lächelte dann schwach. »Der Lohn für den Verrat. Für Scabandari hat sich der Preis als ziemlich hoch erwiesen, nicht wahr? Und was Silchas angeht  – nun, nicht einmal die Azath existieren ewig. Angesichts all dessen, was uns in den vor uns liegenden Jahrtausenden heimsuchen wird, beneide ich ihn beinahe um seine neugewonnene Abgeschiedenheit.«

»Tatsächlich? Würdest du dich gern zu ihm gesellen  – in einem ähnlichen Hügelgrab?«

»Ich glaube nicht.«

»Dann nehme ich an, dass Silchas Ruin nicht geneigt sein wird, dir deine Gleichgültigkeit zu vergeben, wenn er eines Tages freikommen sollte.«

»Du könntest überrascht werden, Kilmandaros.«

»Du und deine Art  – ihr seid ein Geheimnis für mich, Anomandaris Purake.«

»Ich weiß. Also, Göttin  – haben wir einen Pakt?«

Sie legte den Kopf leicht schief. »Ich will die Thronbewerber aus der Sphäre vertreiben  – wenn Kurald Emurlahn sterben muss, dann soll es das allein tun können.«

»Mit anderen Worten, du willst, dass der Thron der Schatten unbesetzt bleibt.«

»Ja.«

Er dachte einige Zeit lang nach und nickte dann. »Einverstanden.«

»Hintergehe mich nicht, Wechselgänger.«

»Das habe ich nicht vor. Bist du bereit, Kilmandaros?«

»Sie werden Bündnisse schmieden«, sagte sie. »Sie werden alle gegen uns Krieg führen.«

Anomandaris zuckte die Schultern. »Ich habe heute gerade nichts Besseres vor.«

Nach diesen Worten schritten die beiden Aufgestiegenen durch das Tor und schlossen gemeinsam den Riss hinter sich. Es gab schließlich noch andere Wege, die in diese Sphäre führten. Wege, die keine Wunden waren.

In Kurald Emurlahn angekommen, blickten sie auf eine verwüstete Welt.

Und machten sich daran, zu säubern, was noch von ihr übrig war.

Die Ahl’dan, in den letzten Tagen von König Diskanar

Preda Bivatt, Kommandantin der Garnison von Drene, war weit weg von zu Hause. Einundzwanzig Tage weit, wenn man die Strecke mit einem Fuhrwerk zurücklegte. Sie kommandierte einen Expeditionstrupp aus zweihundert Soldaten der Zerfetztes-Banner-Armee, dreißig Mann leichter Kavallerie aus Blaurose und einen vierhundert Mann starken Versorgungstross, zu dem auch Zivilisten gehörten. Und nun, nachdem sie den Befehl erteilt hatte, das Lager aufzuschlagen, glitt sie vom Rücken ihres Pferdes und ging die gut fünfzig Schritt hinüber zum Rand der Klippe.

Als sie den Grat erreichte, versetzte der Wind ihr einen heftigen Schlag gegen die Brust, als wäre er ganz wild darauf, sie zurückzuschleudern, sie von diesem arg mitgenommenen Landstrich zu fegen. Das Meer jenseits des Grats schien dem Alptraum eines Künstlers entsprungen zu sein  – eine brodelnde, wogende Wasserfläche, über der schwere, sich windende Wolken in Fetzen gerissen wurden. Das Wasser war mehr weiß als blaugrün, Schaumkronen erblühten, Gischt stieg über den Felsen auf, während die Wogen auf das Ufer einschlugen.

Doch mit einem Frösteln, das ihr bis tief in die Knochen fuhr, sah sie, dass dies der richtige Ort war.

Ein Fischerboot war weit vom Kurs abgekommen und in den tödlichen Mahlstrom geraten, zu dem das Meer an dieser Stelle wurde  – ein Meeresgebiet, in das sich kein Handelsschiff, wie groß es auch sein mochte, freiwillig begeben würde. Ein Meeresgebiet, das vor achtzig Jahren eine Stadt der Meckros gefangen und in Stücke gerissen und dabei die zwanzigtausend oder mehr Bewohner der schwimmenden Siedlung in die Tiefe gerissen hatte.

Die Fischer hatten lange genug überlebt, um ihr schwer mitgenommenes Boot sicher in hüfttiefem Wasser auf Grund laufen zu lassen, vielleicht dreißig Schritt vom felsigen Ufer entfernt. Ihr Fang war verloren, ihr Boot wurde von unbarmherzigen Wogen zu Kleinholz zerschlagen, aber die vier Letherii hatten es geschafft, das trockene Land zu erreichen.

Und hatten … das hier gefunden.

Preda Bivatt zog den Kinnriemen ihres Helms fester, damit der Wind ihn ihr nicht vom Kopf reißen konnte  – oder den Kopf gleich mit ab  –, und ließ den Blick weiter über die Wrackteile schweifen, die das Ufer säumten. Das Vorgebirge, auf dem sie stand, war unterhöhlt und fiel drei Mannshöhen tief zu einer Bank aus weißem Sand ab, auf dem langgezogene Reihen aus totem Seetang, entwurzelten Bäumen und den Überresten einer achtzig Jahre alten Stadt der Meckros lagen. Und noch etwas anderes. Etwas weitaus Überraschenderes.

Kriegskanus. Für das offene Meer geeignete Kriegskanus, jedes so lang wie ein Korallenstirnwal, mit hohem Bug, länger und breiter als die Schiffe der Tiste Edur. Und sie waren nicht als Wracks ans Ufer geschleudert worden  – nein, kein einziges von ihnen wies irgendwelche Anzeichen einer Beschädigung auf. Sie waren in Reihen hoch auf den Strand hinaufgezogen worden; allerdings war dies offensichtlich schon vor einiger Zeit geschehen  – mindestens vor Monaten, vielleicht auch schon vor Jahren.

Jemand trat an ihre Seite. Der Kaufmann aus Drene, mit dem der Kontrakt zur Ausstattung dieser Expedition geschlossen worden war. Ein blasser Mann, dessen Haare so hellblond waren, dass sie beinahe weiß wirkten. Jetzt war sein rundes Gesicht vom Wind gerötet, doch sie konnte sehen, dass seine blassblauen Augen auf die Kriegskanus gerichtet waren, dass sein Blick die Reihe entlangglitt, erst nach Westen, dann nach Osten. »Ich habe eine gewisse Begabung«, sagte er zu ihr, so laut, dass er den Sturm übertönte.

Bivatt sagte nichts. Der Kaufmann konnte zweifellos mit Zahlen umgehen  – darauf bezog sich die Aussage über seine Begabung. Und sie war Offizier der letheriischen Armee und konnte auch ohne seine Hilfe sehr gut abschätzen, wie groß die Besatzung jedes einzelnen Kanus wahrscheinlich gewesen war. Hundert Mann, vielleicht auch zwanzig mehr oder weniger.

»Preda?«

»Was ist?«

Der Kaufmann gestikulierte hilflos. »Diese Kanus.« Er wedelte mit der Hand, als wollte er den Strand in beide Richtungen einschließen. »Es müssen …« Und dann fehlten ihm die Worte.

Sie verstand ihn nur zu gut.

Ja. Reihe um Reihe, alle auf dieses gefährliche Ufer gezogen. Drene, die nächstgelegene Stadt des Königreichs, lag drei Wochen entfernt in südwestlicher Richtung. Genau südlich von hier war das Land der Ahl’dan, und über die Wanderungen, die die Stämme mit ihren großen Herden zu den entsprechenden Jahreszeiten unternahmen, war buchstäblich alles bekannt. Schließlich waren die Letherii gerade dabei, sie zu unterwerfen. Es hatte keinen Bericht über etwas gegeben, das dem hier auch nur nahekam.

Also. Vor zwei, drei Jahren war eine Flotte an diesem Ufer angelandet. Jene, die an Bord gewesen waren, hatten die Boote anschließend verlassen, dabei alles, was sie besaßen, mitgenommen und sich wahrscheinlich ins Landesinnere aufgemacht.

Es hätte Hinweise oder Gerüchte geben müssen, zumindest irgendeinen Widerhall bei den Ahl. Wir hätten davon hören müssen.

Aber sie hatten nichts davon gehört. Die fremden Eindringlinge waren einfach … verschwunden.

Das ist nicht möglich. Wie kann das sein? Sie musterte erneut die Reihen, als ob sie hoffte, plötzlich irgendeine wesentliche Einzelheit zu entdecken, die ihr hämmerndes Herz beruhigen und ihre bleiernen, sich kalt anfühlenden Glieder leichter machen würde.

»Preda …«

Ja. Hundert Mann pro Boot. Und da, vor uns, sind … in vier, fünf Reihen hintereinander … wie viele? Vier-, vielleicht auch fünftausend?

Die Küstenlinie war eine einzige Masse aus Kriegskanus aus grauem Holz, fast so weit, wie sie nach Westen und Osten blicken konnte. Auf den Strand gezogen. Zurückgelassen. Sie lagen am Ufer wie ein umgestürzter Wald.

»Mehr als eine halbe Million, schätze ich«, sagte der Kaufmann. »Im Namen des Abtrünnigen, Preda  – wo sind sie alle hin?«

Sie machte ein finsteres Gesicht. »Tretet Eurer Magierbrut in den Hintern, Letur Anict. Sorgt dafür, dass sie sich ihren unverschämten Lohn verdienen. Der König muss es erfahren. Jede Einzelheit. Alles.«

»Sofort«, sagte der Mann.

Während sie das Gleiche mit dem Trupp Akolythen des Ceda tun würde. Diese doppelte Vorgehensweise war notwendig. Ohne die Anwesenheit von Kuru Qans erwählten Schülern würde sie niemals erfahren, was Letur Anict in seinem abschließenden Bericht zurückhielt, wäre sie niemals in der Lage, aus Halbwahrheiten und glatten Lügen die Wahrheit herauszudestillieren. Ein beständiges Problem, wenn man private Unternehmer anheuerte  – sie hatten schließlich ihre eigenen Interessen, und für Kreaturen wie Letur Anict, den neuen Repräsentanten von Drene, kam die Loyalität der Krone gegenüber immer erst an zweiter Stelle.

Sie begann nach einem Weg hinunter zum Strand zu suchen. Bivatt wollte sich die Kanus aus der Nähe ansehen, vor allem, da es schien, als wären Teile ihres Bugs entfernt worden. Was mir irgendwie merkwürdig vorkommt. Aber das ist ein Geheimnis, mit dem ich gut zurechtkomme, eines, um das ich mich kümmern kann, so dass ich nicht über den Rest nachzudenken brauche.

»Mehr als eine halbe Million.«

Beim Segen des Abtrünnigen, wer weilt jetzt unter uns?

Die Ahl’dan, nach demEroberungsfeldzugder Edur

Die Wölfe waren gekommen und wieder verschwunden, und überall dort, wo sie Leichen aus dem festen Durcheinander auf der Hügelkuppe herausgezogen hatten  – jenem Ort, wo die unbekannten Soldaten sich zu ihrem letzten Gefecht gestellt hatten  –, waren die Spuren ihres Mahls unübersehbar. Diese Einzelheit blieb bei dem einsamen Reiter hängen, während er sein Pferd durch die reglosen, hingestreckten Leichname lenkte. Diese Art, einen Haufen Tote zu plündern, war … ungewöhnlich. Die braun bepelzten Wölfe dieser Ebene waren natürlich genau so sehr auf ihren Vorteil bedacht wie jeder andere Räuber in der Ahl’dan. Trotzdem  – ihre lange Erfahrung mit Menschen hätte die Tiere beim ersten Hauch eines säuerlichen Geruchs fliehen lassen müssen, selbst wenn er sich mit dem von vergossenem Blut mischte. Was hatte sie also zu diesem schweigenden Schlachtfeld gezogen?

Der einsame Reiter, dessen Gesicht hinter einer Maske aus karmesinroten Schuppen verborgen war, zügelte sein Pferd am Fuß des niedrigen Hügels. Das Tier war am Ende, immer wieder überliefen es Schauer; noch bevor dieser Tag vorüber war, würde es tot und der Mann zu Fuß unterwegs sein. Als er an diesem Morgen im Licht der Dämmerung sein Lager abgeschlagen hatte, hatte eine Nashornviper das Pferd gebissen, das am Rande einer Wasserrinne an einem Büschel Wierengras gefressen hatte. Das Gift wirkte langsam, aber unaufhaltsam, und keines der Kräuter und Heilmittel, die der Mann bei sich trug, konnte etwas dagegen ausrichten. Der Verlust war zwar bedauerlich, aber nicht verhängnisvoll, da er es nicht eilig hatte.

Raben kreisten am Himmel über ihm, aber keiner von ihnen kam herab  – genauso wenig, wie seine Ankunft sie von einem Mahl aufgescheucht hatte. In der Tat waren sie es gewesen  – die Art, wie sie über diesem Hügel kreisten  –, die ihn an diesen Ort geführt hatten. Ihre Schreie ertönten nur selten, und sie klangen merkwürdig gedämpft, fast kläglich.

Die Legionen aus Drene hatten ihre Toten fortgeschafft, so dass nur ihre Opfer zurückgeblieben waren, um das Gras der Ebene zu düngen. Frühmorgendlicher Reif malte noch immer glitzernde Muster auf im Tode dunkel gewordene Haut, aber er hatte bereits zu tauen begonnen, und dem Mann schien es, als weinten diese toten Soldaten jetzt  – ihre erstarrten Gesichter, ihre offenen Augen, ihre tödlichen Wunden.

Er stellte sich in den Steigbügeln auf und musterte den Horizont  – zumindest den Teil, den er sehen konnte  –, versuchte, seine beiden Begleiter zu entdecken, aber die schrecklichen Kreaturen waren noch nicht von ihrer Jagd zurückgekehrt, und er fragte sich kurz, ob sie irgendwo im Westen eine neue, einladendere Fährte gefunden hatten  – die letheriischen Soldaten aus Drene, die triumphierend und übersättigt zu ihrer Stadt zurückmarschierten. Wenn dem so war, würde es an diesem Tag ein Gemetzel geben. Dass dabei der Gedanke an Rache aufkommen könnte, war allerdings ein Zufall. Denn für seine Begleiter waren derartige Gefühle ohne jegliche Bedeutung. Sie töteten aus Freude, soweit er das sagen konnte. Und daher gab es die Auslöschung der Soldaten aus Drene und etwaige Rachegelüste, auf die eine solche Tat zurückgeführt werden könnte, nur in seiner eigenen Vorstellung. Ein bedeutsamer Unterschied.

Trotzdem. Die Vorstellung war überaus befriedigend.

Doch diese Opfer hier, diese Soldaten in ihren grau-schwarzen Uniformen, waren Fremde. Auch wenn sie inzwischen ihrer Waffen und Rüstungen beraubt und ihre Standarten Trophäen in den Händen ihrer Gegner waren, war ihre Anwesenheit hier, in der Ahl’dan  – im Herzen der Heimat des Reiters  – beunruhigend.

Er kannte schließlich die Eindringlinge, die Letherii. Die unzähligen Legionen mit ihren absonderlichen Namen und ihrer grimmigen Rivalität; er kannte auch die furchtlose Reiterei aus Blaurose. Und was die immer noch freien Königreiche und Gebiete betraf, die an die Ahl’dan grenzten  – die rivalisierenden D’rhasilhani, die Keryn, das Königreich Bolkando und der Saphinand-Staat  –, so hatte er vor Jahren mit allen verhandelt oder die Klinge gekreuzt, und niemand von ihnen sah aus wie diese Soldaten hier.

Hellhäutig, die Haare strohblond oder rostrot. Die Augen blau oder grau. Und … so viele Frauen.

Sein Blick blieb an einem Soldaten hängen, einer Frau, die ziemlich nahe der eigentlichen Hügelkuppe lag. Von Zauberei verzerrt, die Rüstung mit dem zerfetzten Fleisch verschmolzen  – auf der Rüstung waren Zeichen zu sehen …

Er stieg ab und stieg den Abhang hinauf, wich den Leichen aus, wobei seine Mokassins immer wieder auf dem blutgetränkten Schlamm wegrutschten, bis er sie erreichte und sich neben sie kniete.

Farbe auf der geschwärzten bronzenen Halsberge. Wolfsköpfe. Zwei Wolfsköpfe. Einer war einäugig und hatte weißes Fell, während das des anderen silbern und schwarz war. Ein Wappen, das er noch nie zuvor gesehen hatte.

Tatsächlich Fremde.

Fremdländer. Hier, im Land seiner Geburt.

Er verzog das Gesicht hinter der Maske. Ich war zu lange weg. Bin ich nun der Fremde?

Schwere Trommelschläge ließen den Boden unter seinen Füßen erbeben. Er richtete sich wieder auf. Seine Begleiter kehrten zurück.

Dann also doch keine Rache.

Nun, dafür war immer noch Zeit.

An diesem Morgen hatte ihn das klagende Geheul von Wölfen geweckt, ihre Rufe waren das Erste gewesen, was ihn hierhergezogen hatte, an diesen Ort, als hätten sie einen Zeugen gesucht, als hätten sie ihn tatsächlich herbeibeschworen. Doch die ganze Zeit, da ihr Geheul ihn angespornt hatte, hatte er keinen einzigen Wolf zu Gesicht bekommen. Nicht einen.

Doch irgendwann an diesem Morgen hatten die Wölfe gefressen. Hatten Leichen aus dem Gewühl gezogen.

Seine Schritte wurden immer langsamer, als er den Hang wieder hinunterschritt, bis er schließlich stehenblieb und mit angehaltenem Atem die toten Soldaten auf allen Seiten genauer betrachtete.

Die Wölfe haben gefressen. Aber nicht so, wie Wölfe normalerweise fressen. Nicht wie … wie das hier.

Aufgerissene Brustkörbe, hervorstehende Rippen … sie hatten die Herzen verschlungen. Sonst nichts. Nur die Herzen.

Das Trommeln wurde lauter, kam näher, begleitet von einem zischenden Geräusch  – Krallen, die durch das Gras glitten. Über ihm kreischten die Raben auf und flohen in alle Richtungen.

Buch Eins

Der Imperator in Gold

Die Lüge steht allein, eine einzigartige Täuschung, die dir den Rücken zuwendet, ganz egal, aus welcher Richtung du auch zögernd nähertrittst, und mit jedem Schritt wird dein Ziel weiter vorangetrieben, wird dein Schritt davongetragen. Der Pfad hüllt sich in sich selbst ein, und du gehst Runde um Runde, und was allein vor dir gestanden hat, ein umherstreifendes Missgeschick, eine zufällige Äußerung, enthüllt nun seine Legionen von Kindern, eine Masse, die in Fäden und Knoten brodelt, und von ihr umzingelt kannst du keine Luft holen, kannst du dich nicht bewegen.

Die Welt ist so, wie du sie geschaffen hast, mein Freund, und eines Tages wirst du allein inmitten eines Meeres von Toten stehen, die Beschaffung deiner Worte um dich herum, und der Wind wird dir einen neuen Pfad in endlose Qual lachen –die einsame Täuschung ist ihre Einsamkeit, die Lüge ist die Lüge, allein zu stehen, die Fäden und Knoten der Menge straffen sich in rechtschaffenem Urteil, mit dem du einst so reichlich jeden, der die Wahrheit sagte, jede widersprechende Stimme erdrosselt hast.

Also hör nun auf, nach meinem Mitgefühl zu dürsten, und stirb ausgetrocknet im Ödland.

Fragment, das an jenem Tag gefunden wurde,da die Dichterin Tesora Veddict von denPatriotisten verhaftet wurde (sechs Tage vor ihrem Tauchtag)

Kapitel Eins

Zwei Mächte, die einst in heftigem Gegensatz zueinander gestanden hatten, fanden sich nun praktisch als Bettgefährten wieder, obwohl keine von beiden entscheiden konnte, wessen Beine als erste gespreizt worden waren. Die schlichten Tatsachen sind folgende: Die ursprüngliche hierarchische Struktur der Edur-Stämme erwies sich als außerordentlich geeignet für das letheriische System, in dem Macht auf Reichtum beruhte. Die Edur wurden zur Krone, die sich leicht auf die aufgeblähte Gefräßigkeit von Lether setzen ließ  – aber verfügt eine Krone über einen eigenen Willen? Krümmt sich derjenige, der sie trägt, unter ihrer Last? Noch eine andere Tatsache ist nun, im Rückblick, offensichtlich. Zwar schienen die beiden Systeme vollkommen fugenlos miteinander zu verschmelzen, aber unter der Oberfläche fand noch eine zweite, subtilere, weitaus tödlichere Vereinigung statt: eine Vereinigung der besonderen Fehler beider Systeme, und diese Mischung sollte sich als höchst launisches Gebräu erweisen.

Die Dynastie der Hiroth (Band XVII)Die Kolonie  – eine Geschichte LethersDinith Arnara

Wo kommt das her?«

Tanal Yathvanar sah, dass der Beaufsichtiger einen merkwürdigen Gegenstand in seinen dicklichen Händen hielt und ihn langsam hin und her drehte, wobei die Onyxe in den vielen Ringen an seinen kurzen Fingern in den Lichtstrahlen aufglommen, die durch das offene Fenster hereinfielen. Das Ding, an dem Karos Invictad herumfummelte, war eine unförmige Sammlung aus Bronzenadeln, deren Enden zu Schlaufen gebogen waren, die wiederum so miteinander verhakt waren, dass sie einen steifen Käfig bildeten. »Ich glaube, aus Blaurose, Herr«, antwortete Tanal. »Das ist eins von Senorbo. Es dauert im Durchschnitt drei Tage, es zu lösen, obwohl die beste Zeit knapp unter zwei …«

»Und wer war das?«, wollte Karos wissen und blickte von seinem Stuhl hinter seinem Schreibtisch auf.

»Ein Tarthenal-Halbblut, ob Ihr’s glaubt oder nicht, Herr. Aus Letheras. Es heißt, der Mann sei ein Einfaltspinsel, aber er besitzt ein natürliches Talent, Rätsel zu lösen.«

»Und die Herausforderung besteht darin, die Nadeln so anzuordnen, dass das ganze Gebilde plötzlich in sich zusammenbricht.«

»Ja, Herr. Es fällt flach in sich zusammen. Nach allem, was ich gehört habe, soll man es mit …«

»Nein, Tanal, sag es mir nicht. Du solltest es doch eigentlich besser wissen.« Der Beaufsichtiger  – der Anführer  – der Patriotisten, legte den Gegenstand weg. »Danke für das Geschenk. Und jetzt«, fuhr er mit einem kurzen Lächeln fort, »haben wir Bruthen Trana lange genug schmoren lassen, meinst du nicht auch?« Karos erhob sich und nahm sich Zeit, sein karmesinrotes Seidengewand zu richten  – er trug immer nur karmesinrote Seidengewänder  –, ehe er nach dem kurzen Zepter griff, das er zum offiziellen Symbol seines Amtes erkoren hatte  – schwarzes Blutholz aus dem Heimatland der Edur, dessen silberne Endkappen mit geschliffenen Onyxen besetzt waren  – und mit ihm zur Tür deutete.

Tanal verneigte sich und ging vor, hinaus in den Korridor und zu der breiten Treppe, über die sie ins Erdgeschoss gelangten, und dann durch die doppelflügelige Tür ins Freie, in den Innenhof.

Die Gefangenen waren an der Westseite des ummauerten Platzes mitten im grellen Sonnenlicht aufgereiht. Man hatte sie einen Glockenschlag vor Anbruch der Morgendämmerung aus ihren Zellen geholt, und mittlerweile war es kurz nach Mittag. Der Mangel an Wasser und Essen, die sengende Hitze des Morgens und die brutalen Befragungen der vergangenen Woche hatten dafür gesorgt, dass mehr als die Hälfte der achtzehn Häftlinge bewusstlos geworden waren.

Tanal bemerkte das Stirnrunzeln des Beaufsichtigers, als er die zusammengebrochenen und reglos in ihren Ketten daliegenden Gestalten erblickte.

Bruthen Trana von den Den-Ratha, der Verbindungsmann zu den Tiste Edur, stand auf der den Gefangenen mehr oder weniger gegenüberliegenden Hofseite im Schatten, und als Tanal und Karos auf ihn zukamen, drehte der große, schweigsame Mann sich langsam um.

»Wie überaus angenehm, Bruthen Trana«, sagte Karos Invictad. »Geht es Euch gut?«

»Lasst uns fortfahren, Beaufsichtiger«, sagte der grauhäutige Krieger.

»Sofort. Wenn Ihr mich begleiten wollt, können wir uns alle Gefangenen, die hier versammelt sind, genauer ansehen. Die besonderen Fälle …«

»Ich bin nicht daran interessiert, ihnen auch nur einen Schritt näher zu kommen als jetzt«, sagte Bruthen. »Sie sind von ihren eigenen Ausscheidungen verdreckt, und in diesem Innenhof regt sich kaum ein Luftzug.«

Karos lächelte. »Ich verstehe, Bruthen.« Er lehnte das Zepter an eine Schulter und richtete den Blick auf die Reihe der Gefangenen. »Wie Ihr sagt, wir müssen nicht zu ihnen hingehen. Ich werde mit dem ganz links außen anfangen, und dann …«

»Ist er bewusstlos oder tot?«

»Nun  – wer kann das aus dieser Entfernung schon sagen?«

Tanal, der den finsteren Gesichtsausdruck des Edur bemerkte, verbeugte sich vor Bruthen und Karos und ging die fünfzehn Schritte hinüber zu den Gefangenen. Er kauerte sich hin, um die auf dem Bauch liegende Gestalt genauer zu betrachten, und richtete sich wieder auf. »Er lebt.«

»Dann weck ihn auf!«, befahl Karos. Wenn der Beaufsichtiger die Stimme hob, bekam sie einen schrillen Beiklang, schrill genug, um einen dummen Zuhörer zusammenzucken zu lassen  – das heißt, dumm war der betreffende Zuhörer nur dann, wenn der Beaufsichtiger die spontane Reaktion mitbekam. Solch sorglose Irrtümer beging man nur einmal.

Tanal trat den Gefangenen, bis der Mann ein trockenes, krächzendes Schluchzen herausbrachte. »Hoch mit dir, Verräter«, sagte Tanal ruhig. »Der Beaufsichtiger hat es befohlen. Steh auf, oder ich fange an, dir einen nach dem anderen sämtliche Knochen in dem armseligen Hautsack, den du deinen Körper nennst, zu brechen.«

Er schaute zu, wie der Gefangene sich auf die Beine mühte.

»Wasser … bitte …«

»Kein Wort mehr. Stell dich gerade hin, und sieh deinen Verbrechen ins Gesicht. Du bist ein Letherii, oder? Zeig unserem Gast aus dem Volk der Edur, was das bedeutet.«

Tanal ging zurück zu Karos und Bruthen. Der Beaufsichtiger hatte das Wort ergriffen: »… hat bekannterweise Umgang mit abweichlerischen Elementen in der Akademie der Ärzte gepflegt  – das hat er bereits zugegeben. Auch wenn diesem Mann keine besonderen Verbrechen vorgeworfen werden können, ist es doch offensichtlich, dass er …«

»Der Nächste«, unterbrach ihn Bruthen Trana.

Karos schloss den Mund  – und lächelte, ohne die Lippen zu öffnen. »Natürlich. Der Nächste ist ein Dichter, der einen Aufruf zur Revolution geschrieben und in Umlauf gebracht hat. Er leugnet es nicht, und in der Tat könnt Ihr seinen stoischen Trotz sogar von hier aus erkennen.«

»Und der neben ihm?«

»Der Besitzer eines Gasthofs, dessen Schankstube von unerwünschten Elementen besucht wurde  – enttäuschten Soldaten, genauer gesagt. Zwei davon befinden sich unter den Gefangenen. Eine ehrbare Hure hat uns über die Aufwiegelung in Kenntnis gesetzt …«

»Eine ehrbare Hure, Beaufsichtiger?« Der Edur lächelte dünn.

Karos blinzelte. »Wie? Ja, natürlich, Bruthen Trana.«

»Weil sie Euch Informationen über einen Gastwirt geliefert hat.«

»Einen Gastwirt, der einen Verrat geplant hat …«

»Wahrscheinlicher ist, dass er einen zu hohen Anteil von ihren Einnahmen wollte. Macht weiter, aber haltet Eure Beschreibung der Verbrechen bitte möglichst kurz.«

»Natürlich«, sagte Karos Invictad und tippte sich mit seinem Zepter an die weiche Schulter  – wie ein Taktstock, der das Marschtempo vorgab.

Tanal blieb an der Seite seines Vorgesetzten und hielt sich bereit, während der Beaufsichtiger seinen Bericht über die jeweiligen Vergehen der Letherii an der Hofmauer wieder aufnahm. Die achtzehn Gefangenen bildeten einen hübschen Querschnitt ihrer mehr als dreihundert Leidensgenossen, die in den unterirdischen Zellen in Ketten lagen. Eine annehmbare Anzahl von Verhaftungen binnen einer Woche, dachte Tanal. Und auf die schlimmsten Verräter warteten die Tauchtage. Einem Drittel der rund dreihundertzwanzig war es bestimmt, mit einem erdrückenden Gewicht auf dem Rücken den Kanal zu durchschreiten. Die Buchmacher beklagten sich in diesen Tagen ständig, dass es niemandem mehr gelang, das Gottesurteil zu überleben. Natürlich beklagten sie sich nicht allzu laut, da sie sonst riskierten, selbst während der nächsten Tauchtage zu den Hauptdarstellern des Spektakels zu werden; es hatte tatsächlich nur einiger weniger frühzeitig statuierter Exempel bedurft, um die Proteste der Übrigen verstummen zu lassen.

Dies war ein Detail, das Tanal zu schätzen gelernt hatte, eines von Karos Invictads vollkommenen Gesetzen von Zwang und Kontrolle, welches der Beaufsichtiger in seinem umfangreichen Traktat über dieses ihm sehr am Herzen liegende Thema wieder und wieder hervorhob. Nimm einen beliebigen Teil der Bevölkerung, und erlege seinen Mitgliedern genaue, aber klare Bestimmungen hinsichtlich ihres Verhaltens auf, und dann sorge dafür, dass diese Bestimmungen eingehalten werden. Verleite die Schwachen dazu, die Starken bloßzustellen. Töte die Starken, und der Rest gehört dir. Dann nimm dir den nächsten Teil vor.

Die Buchmacher waren ein leichtes Ziel gewesen, da die wenigsten Menschen sie mochten  – allen voran natürlich die unverbesserlichen Spieler, und von denen gab es mit jedem Tag, der verstrich, mehr.

Karos Invictad beendete seine Litanei. Bruthen Trana nickte, drehte sich um und verließ den Innenhof.

Sobald er außer Sicht war, blickte der Beaufsichtiger Tanal an. »Eine Peinlichkeit sondergleichen«, sagte er. »Diese Bewusstlosen.«

»Ja, Herr.«

»Ich glaube, die äußere Mauer braucht ein paar neue Köpfe.«

»Sofort, Herr.«

»Aber zunächst einmal  – bevor du sonst etwas tust  – musst du mitkommen, Tanal Yathvanar. Es wird nur einen Augenblick dauern; anschließend kannst du dich wieder deinen Aufgaben widmen.«

Sie gingen ins Gebäude zurück, wobei die kurzen Schritte des Beaufsichtigers Tanal wieder und wieder dazu zwangen, langsamer zu werden, als sie sich erneut in Karos Amtszimmer begaben.

Der zweitmächtigste Mann von Lether  – nach dem Imperator höchstpersönlich  – nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Er griff nach dem Käfig aus Bronzenadeln, veränderte die Lage von etwa einem Dutzend in einem Wirbel genau bemessener Bewegungen, und das Gebilde fiel flach in sich zusammen. Karos Invictad lächelte Tanal zu und warf den Gegenstand auf seinen Schreibtisch. »Schick ein Sendschreiben nach Blaurose, an Senorbo. Teile ihm mit, wie lange ich gebraucht habe, um die Lösung zu finden, und füge dann, ganz im Vertrauen, hinzu, dass ich fürchte, er lässt nach.«

»Ja, Herr.«

Karos Invictad griff nach einer Schriftrolle. »Nun, wie hoch war mein vereinbarter Anteil an der Schenke zur Abgekratzten Schlange?«

»Ich glaube, Rautos hat etwas von fünfundvierzig gesagt, Herr.«

»Gut. Trotzdem glaube ich, dass ein Treffen mit dem Vorsitzenden des Freiheits-Konsortiums angeraten wäre. Irgendwann im Laufe dieser Woche reicht. Trotz all der Einnahmen, die wir in letzter Zeit gemacht haben, mangelt es uns merkwürdigerweise immer noch an Münzen, und ich will wissen, warum.«

»Herr, Ihr wisst, welchen Verdacht Rautos Hivanar in dieser Angelegenheit hegt.«

»Vage. Er wird erfreut sein, wenn er erfährt, dass ich nun bereit bin, mir besagten Verdacht genauer anzuhören. Womit wir zwei Punkte auf der Tagesordnung hätten. Plane für das Treffen einen Glockenschlag ein. Oh, und noch eine letzte Sache, Tanal.«

»Herr?«

»Bruthen Trana. Diese wöchentlichen Besuche. Ich will wissen, ob er zu ihnen gezwungen wird. Ist dies irgendeine für die Edur typische Art königlicher Unzufriedenheit oder Strafe? Oder wollen die Scheißkerle tatsächlich wissen, was wir vorhaben? Bruthen sagt nie etwas. Niemals. Er fragt noch nicht einmal, welche Strafe auf unsere Urteile folgt. Darüberhinaus ermüdet mich seine unverschämte Ungeduld. Es könnte sich der Mühe wert erweisen, ein paar Nachforschungen anzustellen.«

Tanal zog die Brauen hoch. »Ich soll Nachforschungen über einen Tiste Edur anstellen?«

»Natürlich still und unauffällig. Zugegeben, sie tun immer so  – und das sehr überzeugend  –, als wären sie alle bedingslos loyal, aber ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob tatsächlich sämtliche Edur dagegen gefeit sind, zu Aufwieglern zu werden.«

»Mit dem allerhöchsten Respekt, Herr, aber selbst wenn sie es nicht sind, weiß ich nicht, ob die Patriotisten die geeignete Organisation sind …«

»Tanal Yathvanar«, unterbrach ihn Karos scharf, »die Patriotisten besitzen den Imperialen Freibrief, das Imperium zu kontrollieren und zu überwachen. In besagtem Freibrief wird kein Unterschied zwischen Edur und Letherii gemacht, nur zwischen loyalen und nicht loyalen Bürgern.«

»Ja, Herr.«

»Nun, ich glaube, dass gewisse Aufgaben auf dich warten.«

Tanal Yathvanar verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Das Anwesen erhob sich auf einem ausgedehnten Stück Land am Nordufer des Lether, vier Straßen westlich des Quillas-Kanals. Abgestufte Mauern, die seine Grenzen kennzeichneten, zogen sich bis zum Ufer hinunter und  – auf Pfeilern, um den Druck der Strömung zu verringern  – mehr als zwei Bootslängen weit ins Wasser. Gleich dahinter ragten zwei Anlegestangen in die Höhe. Vor kurzem hatte es eine Überschwemmung gegeben. Ein Ereignis, das im vergangenen Jahrhundert nur selten stattgefunden hatte, wie Rautos Hivanar bemerkte, als er das Hausbuch durchblätterte  – einen familieneigenen Wälzer voller Berichte und Karten, in dem alles Wichtige aus den ganzen achthundert Jahren aufgezeichnet war, die die Hivanars schon in diesem Land lebten. Er lehnte sich in seinem Plüschsessel zurück und trank mit beschaulicher Mattigkeit seinen Balat-Tee aus.

Venitt Sathad, sein Hausverwalter und Erster Bevollmächtigter, trat leise vor, um das Buch wieder zurück in die aus Holz und Eisen bestehende Truhe zu legen, die unter dem Kartentisch im Fußboden versenkt war; danach schob er die Bodendielen wieder an Ort und Stelle und breitete den Teppich darüber aus. Als er damit fertig war, zog er sich an seinen angestammten Platz neben der Tür zurück.

Rautos Hivanar war ein großer Mann mit gesunder Gesichtsfarbe und ausdrucksstarken Zügen. Er neigte dazu, einen Raum zu beherrschen, ganz egal, wie groß dieser auch sein mochte. Jetzt saß er in der Bibliothek des Anwesens, an deren Wänden rundum bis zur Decke reichende Regale standen. Auf den Regalbrettern gab es nirgends ein freies Fleckchen, sie waren mit Schriftrollen, Tontafeln und gebundenen Büchern vollgestopft  – das zusammengetragene Wissen von tausenden von Gelehrten, von denen viele den Namen Hivanar getragen hatten.

Als Oberhaupt der Familie und Verwalter ihrer gewaltigen finanziellen Beteiligungen war Rautos Hivanar ein vielbeschäftigter Mann, und seit der Eroberung durch die Tiste Edur  – die zur offiziellen Gründung und Anerkennung des Freiheits-Konsortiums geführt hatte, einer Vereinigung der reichsten Familien des letheriischen Imperiums  – hatten sich die Anforderungen an seinen Verstand auf eine Weise vervielfacht, die er sich nie hätte träumen lassen. Es wäre ihm nicht leichtgefallen zu erklären, wie ermüdend und entnervend er all diese Tätigkeiten fand. Aber genau das waren sie geworden, selbst als sein Verdacht sich langsam und allmählich in Gewissheit verwandelt hatte; selbst als er angefangen hatte zu begreifen, dass es irgendwo da draußen einen Feind  – oder deren mehrere  – gab, dessen einziges Ziel es war, die Wirtschaft zu schädigen. Hier handelte es sich nicht mehr um einfache Veruntreuungen  – etwas, womit er selbst überaus vertraut war  –, sondern um etwas viel Weitgehenderes, Allumfassenderes. Um einen Feind. Einen Feind all dessen, worauf Rautos Hivanar sich stützte  – er und das Freiheits-Konsortium, dessen Vorsitzender er war; oder, genauer gesagt, einen Feind all dessen, worauf sich das Imperium selbst stützte, unabhängig davon, wer gerade auf dem Thron saß, ja, sogar unabhängig von den wilden, armseligen Barbaren, die sich nun an der Spitze der letheriischen Gesellschaft aufplusterten wie grau gefiederte Dohlen über einem Haufen Tand.

Früher hätte eine solche Erkenntnis bei Rautos Hivanar eine sofortige, eifrige Reaktion hervorgerufen. Die Bedrohung allein hätte ausreichen müssen, eine mit Nachdruck betriebene Jagd in Gang zu setzen, und die Vorstellung, dass hier eine treibende Kraft mit dermaßen entsetzlichen Absichten am Werk war  – und zwar eine, die von einem höchst subtilen Genius gelenkt wurde, wie er sich gezwungenermaßen eingestehen musste  – hätte das Spiel ankurbeln müssen, bis er es mit wahrer Besessenheit weiterverfolgt hätte.

Stattdessen stellte Rautos Hinavar fest, dass er in den verstaubten Hauptbüchern nach Hinweisen auf frühere Überschwemmungen suchte und damit einem insgesamt weitaus nüchterneren Geheimnis nachjagte, das kaum mehr als eine Handvoll vor sich hinmurmelnder Gelehrter interessieren dürfte. Und das war, wie er sich selbst häufig eingestand, sonderbar. Nichtsdestotrotz nahm der Druck zu, und nachts lag er immer öfter neben der reglosen, schweißüberströmten Masse, die seit dreiunddreißig Jahren seine Frau war, und stellte fest, dass seine Gedanken unablässig rasten, gegen den zyklischen Strom der Zeit ankämpften und mit all seinem Feingefühl versuchten, in vergangene Zeitalter zurückzukriechen. Auf der Suche. Auf der Suche … nach etwas …

Seufzend stellte Rautos die leere Tasse ab und stand auf.

Als er zur Tür schritt, trat Venitt Sathad  – dessen Familie nun seit sechs Generationen Schuldner der Hivanars war  – vor und nahm die zerbrechliche Tasse an sich, ehe er seinem Herrn folgte.

Hinaus und hinüber zu der zum Fluss hin gelegenen Einfriedung, über das Mosaik hinweg, auf dem die drei Jahrhunderte zurückliegende Amtseinsetzung von Skoval Hivanar als Imperialer Ceda dargestellt war, dann die flachen Stufen hinunter zu dem Teil des Anwesens, der in trockeneren Zeiten als untere Gartenterrasse diente. Aber der Fluss war über das Gelände hinweggeströmt, hatte Mutterboden und Pflanzen mitgerissen und eine höchst eigentümliche Anordnung von Felsblöcken zu Tage gebracht, die wie eine gepflasterte Straße angeordnet waren; sie wurden von einem Rechteck aus hölzernen Pfosten eingerahmt, wobei diese Pfosten mittlerweile kaum mehr als verfaulte Stümpfe waren, die aus den Teichen ragten, die die Flut zurückgelassen hatte.

Am Rande der oberen Terrasse hatten Arbeiter gemäß Rautos’ Anweisungen hölzerne Stützwände angebracht, um sie am Einstürzen zu hindern, und an einer Seite stand eine Schubkarre mit einer Menge merkwürdiger Gegenstände, die die Flut freigelegt hatte. Diese Dinge waren auf dem gepflasterten Fußboden verstreut gewesen.

Alles in allem ein Geheimnis, dachte Rautos. Es gab keinen wie auch immer gearteten Bericht darüber, dass die untere Gartenterrasse jemals irgendetwas anderes gewesen war als das, was sie war, und die Aufzeichnungen des Mannes, der den Garten angelegt hatte  – aus einer Zeit kurz nach Fertigstellung der Hauptgebäude des Anwesens  –, besagten, dass das Ufer auf jener Höhe nichts weiter war als bei Überflutungen angeschwemmter Schlamm.

Der Lehm hatte das Holz geschützt, zumindest bis vor kurzem, von daher konnte man nicht sagen, wie lange es her war, dass die merkwürdige Konstruktion erbaut worden war. Den einzigen Hinweis darauf, wie alt sie tatsächlich war, gaben die Gegenstände, die sämtlich aus Bronze oder Kupfer bestanden. Keine Waffen, wie man sie in einem Grabhügel finden mochte, und wenn es Werkzeuge waren, dann für etwas, das lang vergessen war, da keiner der Arbeiter, die Rautos hierhergebracht hatte, in der Lage gewesen war, auch nur bei einem einzigen Gegenstand zu ergründen, wozu er gedacht sein mochte. Sie ähnelten keinem bekannten Werkzeug, weder zur Stein- noch zur Holzbearbeitung oder zur Verarbeitung von Nahrungsmitteln.

Rautos nahm einen Gegenstand und untersuchte ihn zum bestimmt hundertsten Mal. Er war aus Bronze und in einer Tonform hergestellt  – der Flansch war deutlich zu erkennen  – und dabei länglich und rundlich, doch beinahe rechtwinklig gewinkelt. Am Kniestück bildeten kreuz und quer verlaufende Kerben ein Muster. Keines der beiden Enden wies irgendein Anzeichen auf, dass man irgendetwas daran hätte befestigen können  – was bedeutete, dass das Ding nicht als Teil eines größeren Mechanismus gedacht gewesen war. Er wog es in der Hand  – sein Gewicht war nicht unbeträchtlich. Es wirkte irgendwie unausgewogen, trotz des mittigen Knicks. Er legte es wieder hin und griff nach einer runden Kupferscheibe, die dünner war als die Wachsschicht auf dem Täfelchen eines Sehers. Der umgebende Lehm hatte sie geschwärzt, doch erst jetzt zeigten ihre Ränder erste Anzeichen von Grünspan. Zahllose Löcher waren in die Scheibe gebohrt worden, in keinem erkennbaren Muster, doch jedes Loch war genau gleichartig, vollkommen rund, ohne irgendeine Randwölbung, die darauf hinweisen könnte, von welcher Seite die Löcher gemacht worden waren.

»Venitt«, sagte er, »haben wir eine Karte, auf der genau eingezeichnet ist, wo diese Gegenstände gelegen haben, als sie gefunden wurden?«

»Das haben wir tatsächlich, Herr, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen. Ihr habt sie Euch letzte Woche bereits genau angesehen.«

»Habe ich das? Also gut. Leg sie mir heute nachmittag noch einmal auf den Tisch in der Bibliothek.«

Beide Männer drehten sich um, als die Torwache aus dem schmalen Gang auf der linken Seite des Hauses auftauchte. Die Frau blieb zehn Schritt vor Rautos stehen und verbeugte sich. »Herr, eine Botschaft von Beaufsichtiger Karos Invictad.«

»Sehr gut«, erwiderte Rautos zerstreut. »Ich werde mich ihr gleich widmen. Wartet der Bote auf eine Antwort?«

»Ja, Herr. Er ist im Hof.«

»Sorge dafür, dass er Erfrischungen erhält.«

Die Wache verbeugte sich und ging davon.

»Venitt, ich glaube, du musst dich darauf vorbereiten, in meinem Auftrag eine Reise zu unternehmen.«

»Herr?«

»Endlich erkennt der Beaufsichtiger das Ausmaß der Bedrohung.«

Venitt Sathad sagte nichts.

»Du musst nach Drene reisen«, sagte Rautos, den Blick einmal mehr auf die geheimnisvolle Konstruktion gerichtet, die die untere Terrasse beherrschte. »Das Konsortium benötigt einen möglichst genauen Bericht über die dortigen Vorbereitungen. Leider erweisen sich die Boten des Repräsentanten als unzureichend. Ich muss absolute Vertraulichkeit verlangen, wenn ich mich mit höchster Konzentration der näherliegenden Bedrohung widmen soll.«

Venitt schwieg auch dieses Mal.

Rautos blickte auf den Fluss hinaus. Fischerboote sammelten sich in der gegenüberliegenden Bucht, zwei Handelsschiffe glitten auf die Hauptdocks zu. Eines der beiden, das die Flagge der Familie Esterrict führte, sah beschädigt aus  – fast, als hätte es gebrannt. Rautos wischte sich die Hände ab und drehte sich um, begab sich zurück ins Gebäude. Sein Diener eilte hinter ihm her.

»Ich frage mich, was wohl unter diesen Steinen liegen mag.«

»Herr?«

»Schon gut, Venitt. Ich habe nur laut gedacht.«

In der Morgendämmerung hatten zwei Schwadronen der Kavallerie aus Blaurose, über die Atri-Preda Bivatt verfügte, das Lager in der Ahl’dan angegriffen. Zweihundert erfahrene Lanzenreiter, die in einen Mahlstrom aus Panik hineingeritten waren  – ein wirres Durcheinander, in dem die Angegriffenen sich verzweifelt bemühten, aus ihren Lederhütten herauszukommen, während die für den Krieg gezüchteten Hunde aus Drene, die den Reitern ein paar Herzschläge voraus waren, sich auf die Hirten- und Zughunde stürzten und alle drei Hundearten binnen eines Herzschlags in einen bösartigen Kampf verstrickt waren.

Die Ahl-Krieger waren unvorbereitet, und die wenigsten hatten Zeit, auch nur ihre Waffen zu finden, ehe die Lanzenreiter mitten unter sie preschten. Binnen weniger Augenblicke fielen auch die Alten und Kinder dem Gemetzel anheim. Die meisten Frauen kämpften an der Seite ihrer männlichen Verwandten  – Ehefrau neben Ehemann, Schwester neben Bruder  –, und ihr Blut vermischte sich ein letztes Mal, als sie zusammen starben.

Der Kampf zwischen den Letherii und den Ahl dauerte zweihundert Herzschläge. Der Krieg zwischen den Hunden zog sich deutlich länger hin, denn die Hirtenhunde waren zwar kleiner und gedrungener als die Angreifer, aber flink und nicht weniger bösartig, während die Zughunde  – gezüchtet, um im Sommer Karren und im Winter Schlitten zu ziehen  – mit den Hunden aus Drene vergleichbar waren. Dafür ausgebildet, Wölfe zu töten, erwiesen sie sich den Kriegshunden mehr als ebenbürtig, und wenn nicht die Lanzenreiter gewesen wären, die sich einen Spaß daraus machten, die gefleckten Tiere zu töten, hätte das Kriegsglück sich gewendet. So, wie es war, rissen die Hunde der Ahl schließlich aus, flohen hinaus auf die Ebene, gen Osten. Ein paar Kriegshunde setzten ihnen für kurze Zeit nach, ehe die Hundeführer sie zurückriefen.

Während ein Teil der Lanzenreiter abstieg, um dafür zu sorgen, dass es keine überlebenden Ahl geben würde, ritten die anderen los, um die Myrid- und Rodara-Herden aus dem nächsten Tal zu holen.

Atri-Preda Bivatt saß auf dem Rücken ihres Hengstes und hatte allerhand Mühe, das Tier angesichts des schwer in der morgendlichen Luft liegenden Blutgestanks unter Kontrolle zu halten. Neben ihr hockte Brohl Handar, der erst kürzlich eingesetzte Aufseher von Drene aus dem Volk der Tiste Edur, unbeholfen und unbehaglich im ungewohnten Sattel und sah zu, wie die Letherii das Lager systematisch plünderten, Leichen ihrer Kleidung beraubten und schließlich die Messer zogen. Die Ahl flochten ihren Schmuck  – größtenteils Gold  – in ihre Zöpfe, so dass die Letherii gezwungen waren, ihnen streifenweise die Kopfhaut abzuschneiden, um an die Beute zu kommen. Natürlich war diese Verstümmelung nicht nur rein zweckdienlich, denn sie war auch auf mit Tätowierungen geschmückte Hautflächen ausgeweitet worden  – Tätowierungen im besonderen Stil der Ahl, in hellen Farben und oft mit einer Umrandung aus Goldfaden versehen. Diese Trophäen schmückten die runden Schilde vieler Lanzenreiter.

Die eingefangenen Herden gehörten nun Letur Anict, dem Repräsentanten von Drene, und während Brohl Handar zusah, wie Hunderte von Myrids über den Hügel kamen  – ihre dicke schwarze Wolle ließ sie wie Felsblöcke wirken, als sie den Hang herunterströmten  –, wurde offenbar, dass der Reichtum des Repräsentanten sich soeben beträchtlich vergrößert hatte. Kurz danach kamen die etwas größeren Rodaras, mit blauem Rücken und langem Hals; ihre langen Schwänze peitschen nervös hin und her, und sie schienen einer Panik nahe, was nicht zuletzt an den Kriegshunden lag, die an den Flanken der Herde entlangrannten und immer wieder so taten, als würden sie auf die Tiere losgehen.

Die Atri-Preda stieß den Atem zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. »Wo ist eigentlich der Handlanger des Repräsentanten? Die verdammten Rodaras werden gleich in Panik ausbrechen und losstürmen. Leutnant! Bringt die Hundeführer dazu, die Hunde zurückzurufen! Beeilt Euch!« Dann löste sie die Helmriemen, nahm den Helm ab und stülpte ihn über das Sattelhorn. Sie blickte Brohl an. »Da seht Ihr es, Aufseher.«

»Dies sind also die Ahl.«

Sie verzog das Gesicht und blickte weg. »Nach ihren Maßstäben war das hier ein kleines Lager. Um die siebzig Erwachsene.«

»Und trotzdem große Herden.«

Ihr Gesichtsausdruck wurde noch finsterer. »Früher waren sie größer, Aufseher. Viel größer.«

»Dann gehe ich davon aus, dass Ihr mit Eurem Vorhaben, diese Unbefugten zu vertreiben, Erfolg habt.«

»Es ist nicht mein Vorhaben.« Sie schien irgendetwas in seinem Gesicht zu sehen, denn sie fügte rasch hinzu: »Ja, natürlich, ich befehlige das Expeditionskorps, Aufseher. Aber ich erhalte meine Befehle vom Repräsentanten. Und wenn man es genau nimmt, sind die Ahl keine Unbefugten.«

»Der Repräsentant behauptet etwas anderes.«

»Letur Anict bekleidet einen hohen Rang im Freiheits-Konsortium.«

Brohl Handar musterte die Frau mehrere Herzschläge lang, ehe er sagte: »Nicht alle Kriege werden geführt, um Reichtümer und Land zu gewinnen, Atri-Preda.«

»Da kann ich Euch nicht zustimmen, Aufseher. Seid Ihr  – die Tiste Edur  – nicht in Lether einmarschiert, um der Bedrohung zuvorzukommen, der ihr Euer Land und Eure Reichtümer ausgesetzt saht? Der Assimilierung Eurer Kultur, die das Ende Eurer Unabhängigkeit bedeutet hätte? Ich habe nicht den geringsten Zweifel«, fuhr sie fort, »dass wir Letherii vorhatten, Eure Zivilisation auszulöschen, wie wir es bereits mit den Tarthenal und so vielen anderen Völkern gemacht haben. Und daher war es ein Krieg aus wirtschaftlichen Gründen.«

»Es überrascht mich keineswegs, dass Euer Volk es so sieht, Atri-Preda. Und ich hege ebenfalls keinen Zweifel daran, dass der Hexenkönig genau diese Bedenken gehabt hat. Haben wir Euer Land erobert, um zu überleben? Vielleicht.« Brohl überlegte kurz, ob er mehr sagen sollte, doch dann schüttelte er nur den Kopf und schaute zu, wie vier Kriegshunde auf einen verletzten Hirtenhund losgingen. Das lahmende Tier wehrte sich, aber es konnte der Übermacht nicht lange standhalten und ging rasch zu Boden. Anfangs zuckten seine Beine noch, doch dann wurden sie schlaff, als die Kriegshunde ihm den Bauch aufrissen.

»Aufseher  – fragt Ihr Euch manchmal, wer den Krieg wirklich gewonnen hat?«

Er warf ihr einen düsteren Blick zu. »Nein, das tue ich nicht. Wie ich höre, haben Eure Kundschafter keine weiteren Hinweise auf Ahl in diesem Gebiet gefunden. Also wird der Repräsentant den Anspruch der Letherii nun vermutlich auf die übliche Weise festigen?«

Die Atri-Preda nickte. »Außenposten. Festungen, befestigte Straßen. Anschließend werden Siedler folgen.«

»Und danach wird der Repräsentant seine begehrlichen Absichten ausweiten, noch weiter nach Osten.«

»Ganz wie Ihr sagt, Aufseher. Aber Ihr erkennt bestimmt  – davon bin ich voll und ganz überzeugt  –, dass die neu errungenen Gebiete auch ein Geschenk für die Tiste Edur sind. Das Imperium dehnt sich aus. Ich bin mir sicher, der Imperator wird erfreut sein.«

Dies war Brohl Handars zweite Woche als Gouverneur von Drene. In dieser entlegenen Ecke von Rhulads Imperium gab es nicht viele Tiste Edur  – keine hundert  –, und nur die drei Mitarbeiter seines Stabs stammten aus seinem eigenen Stamm, den Arapay. Die Landnahme in der Ahl’dan durch einen inzwischen umfassenden Völkermord hatte schon vor Jahren begonnen  – lange vor dem Einmarsch der Edur  –, und wer auf welche Weise gerade im fernen Letheras herrschte, schien im Hinblick auf diesen Feldzug kaum von Bedeutung zu sein. Brohl Handar, der Patriarch eines Clans, der sein Leben der Jagd auf die stoßzähnigen Robben gewidmet hatte, fragte sich  – und das nicht zum ersten Mal  –, was er eigentlich hier machte.

Der nominelle Oberbefehl als Aufseher beinhaltete anscheinend wenig mehr, als zu beobachten. Die wahre Macht lag in den Händen von Letur Anict, dem Repräsentanten von Drene  – er, »der einen hohen Rang im Freiheits-Konsortium bekleidet«,