Das Spiel der Götter (2) - Steven Erikson - E-Book
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Das Spiel der Götter (2) E-Book

Steven Erikson

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Beschreibung

Ein sinfonisches Epos ohnegleichen - Fantasy einer neuen Qualität!

Das malazanische Imperium ist bis ins Mark erschüttert, doch Imperatrix Laseen sucht ihre Macht mit einer Säuberungswelle im Adel zu festigen. Da braut sich neues Unheil zusammen. Denn in der heiligen Wüste Raraku sammelt die Seherin Sha'ik ein Herr der Unzufriedenen, die nur darauf warten, die verhassten malazanischen Eroberer zu vertreiben.

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Seitenzahl: 744

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Deadhouse Gates. A Tale of the Malazan Book of the Fallen« (Books 1 + 2) bei Bantam Press, London
Copyright © der Originalausgabe 2000 by Steven EriksonCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 bei Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Melanie Miklitza, Inkcraft, MünchenUmschlagillustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft, München Herstellung: Peter Papenbrok Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
ISBN 978-3-641-08976-4V003
www.blanvalet.dewww.penguinrandomhouse.de

Buch

Das malazanische Imperium ist bis ins Mark erschüttert, doch Imperatrix Laseen sucht ihre Macht mit einer Säuberungswelle im Adel zu stabilisieren. Da braut sich im Reich der Sieben Städte neues Unheil zusammen. Denn dort, in der Heiligen Wüste Raraku, sammelt die Seherin Sha’ik ein Heer der Unzufriedenen, die nur darauf warten, die verhassten malazanischen Eroberer endlich wieder aus ihrem Heimatland zu vertreiben.

Die Fortsetzung des neuen großen Fantasy-Zyklus – ein sinfonisches Epos ohnegleichen.

»Steven Erickson ist ein großartiger Autor. Ich habe DIE GÄRTEN DES MONDES mit allergrößtem Vergnügen gelesen. Meine Bitte an Steven Erickson: Schreib schneller!«

Stephen R. Donaldson

Autor

Steven Erikson wurde in Kanada geboren, lebt jedoch schon seit vielen Jahren mit seiner Familie in der Nähe von London. Der ausgebildete Anthropologe und Archäologe legte 1999 seinen weltweit beachteten Debütroman»Die Gärten des Mondes« vor.

Bereits erschienen:

DAS SPIEL DER GÖTTER 1. Die Gärten des Mondes 2. Das Reich der Sieben Städte 3. Im Bann der Wüste 4. Die eisige Zeit 5. Der Tag des Sehers 6. Der Krieg der Schwestern 7. Das Haus der Lügen 8. Kinder des Schattens 9. Gezeiten der Nacht 10. Die Feuer der Rebellion 11. Die Knochenjäger

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorPrologBuch Eins - Raraku
Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel Fünf
Buch Zwei - Wirbelwind
Kapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel Zehn
Dramatis PersonaeGlossarDanksagungenCopyright

Dieses Buch ist zwei ganz besonderen Männern gewidmet: David Thomas jr., der mich in England willkommen geheißen und mit einem gewissen Agenten bekannt gemacht hat; und Patrick Walsh, jenem Agenten, mit dem er mich bekannt gemacht hat. Ihr habt mehrere Jahre viel Vertrauen bewiesen, und dafür danke ich euch beiden.

Prolog

Was siehst du am verwasch’nen Horizont, das nicht von deiner Hand ausgelöscht werden kann?

Die Brückenverbrenner Toc der Jüngere

Das 1163ste Jahr von Brands SchlafDas neunte Jahr der Herrschaft von Imperatrix LaseenDas Jahr der Säuberung

Er kam aus der Avenue der Seelen auf den Urteils-Ring gewatschelt, eine missgestaltete, von Fliegen bedeckte Gestalt. Die wimmelnde Masse krabbelte wirr und ziellos auf seinem Körper durcheinander, eine sich immerfort in Bewegung befindende schwarze, glänzende Kruste, von der gelegentlich rasende Klumpen herabfielen, die in wild davonschwirrende Einzelteile zerbarsten, sobald sie auf die Pflastersteine prallten.

Die Dürstende Stunde neigte sich ihrem Ende zu, und in ihrem Gefolge wankte der Priester dahin, blind, taub und stumm. Der Diener des Vermummten – des Lords des Todes – ehrte seinen Gott an diesem Tag auf besondere Weise: Wie seine Gefährten hatte er sich nackt ausgezogen und seinen Körper mit dem Blut hingerichteter Mörder beschmiert, mit jenem Blut, das in riesigen Amphoren aufbewahrt wurde, die die Wände des Tempelschiffs säumten. Dann waren die Brüder in einer Prozession hinaus auf die Straße von Unta gezogen, um die Schemen des Gottes willkommen zu heißen und Anweisungen für den Totentanz zu erteilen, der den letzten Tag der Zeit der Fäulnis kennzeichnete.

Die Wachen entlang des Ringes wichen zur Seite, um den Priester durchzulassen, machten dann noch mehr Platz für die wirbelnde, summende Wolke, die ihm folgte. Der Himmel über Unta war noch immer eher grau als blau, als die Fliegen, die mit der Dämmerung in die Hauptstadt des malazanischen Imperiums geschwärmt waren, jetzt aufstiegen und langsam hinaus über die Bucht flogen, den Salzmarschen und den versunkenen Inseln jenseits des Riffes entgegen. Mit der Zeit der Fäulnis kam die Pestilenz, und in den letzten zehn Jahren hatte es dreimal eine Zeit der Fäulnis gegeben – etwas, das zuvor noch nie da gewesen war.

Die Luft über dem Ring summte noch immer, war noch immer voller schwarzer Punkte, als würden unzählige Sandkörner durch die Luft schweben. Irgendwo in den umliegenden Straßen jaulte ein Hund – es klang, als wäre er dem Tode nahe, aber noch nicht nahe genug –, und direkt neben dem zentralen Springbrunnen des Rings zuckte das verlassene Maultier, das früher an diesem Tag zusammengebrochen war, noch immer kläglich mit den Beinen. Fliegen waren durch jede Körperöffnung in das Tier gekrochen, und jetzt war es aufgedunsen von Gasen. Es war ein typisches Maultier, von Natur aus störrisch, und sein Tod zog sich jetzt schon mehr als eine Stunde hin. Als der Priester, ohne etwas zu sehen, an ihm vorbeistolperte, erhoben sich Fliegen von dem Maultier wie ein im Wind wehender Vorhang und gesellten sich zu jenen, die ihn bereits umhüllten.

Von dem Punkt aus, wo Felisin mit den anderen wartete, war es für sie klar, dass der Priester des Vermummten schnurstracks auf sie zukam. Seine Augen waren zehntausend Augen, aber sie war sicher, dass jedes einzelne davon ganz allein auf sie gerichtet war. Doch selbst dieses allmählich aufkeimende Entsetzen reichte noch nicht aus, um die Betäubung zu durchdringen, die sich wie eine erstickende Decke über ihren Geist gelegt hatte; sie nahm wahr, wie dieses Entsetzen in ihrem Inneren erwachte, doch das Gefühl war eher die Erinnerung an Furcht als eine Furcht, die sie wirklich verspürte.

Sie konnte sich kaum an die erste Zeit der Fäulnis erinnern, die sie mitgemacht hatte, doch sie hatte ganz klare Erinnerungen an die zweite. Es war noch nicht einmal drei Jahre her, dass sie diesen Tag vom sicheren Besitz ihrer Familie aus verfolgt hatte, in einem guten, festen Haus mit geschlossenen Fensterläden, die zudem noch mit Stoffbahnen versiegelt worden waren; aus den Kohlepfannen vor den Türen und auf den hohen, mit Glasscherben bestückten Mauern des Hofes waren die stechenden Rauchschwaden schwelender Istaarl-Blätter aufgestiegen. Der letzte Tag dieser besonderen Jahreszeit und die Dürstende Stunde waren eine Zeit des vagen Abscheus für sie gewesen, irritierend und lästig, jedoch nicht mehr. Damals hatte sie kaum einen Gedanken an die unzähligen Bettler und die in der Stadt herumstreunenden Tiere verschwendet, die nicht den geringsten Schutz besaßen, genauso wenig wie an die ärmeren Einwohner, die noch Tage danach scharenweise zwangsverpflichtet worden waren, um die Straßen zu reinigen.

Es war die gleiche Stadt, doch eine völlig andere Welt.

Felisin fragte sich, ob die Wachen auf den Priester zugehen würden, während er sich den Opfern der Säuberung immer mehr näherte. Sie und die anderen in der Reihe waren jetzt die Schützlinge der Imperatrix – unterstanden der Verantwortung Laseens –, und der Weg des Priesters konnte als blind und zufällig betrachtet werden, der drohende Zusammenstoß eher ein Produkt des Zufalls denn der Absicht sein. Tief in ihrem Innern wusste Felisin jedoch, dass es anders war. Würden die behelmten Wachen vortreten und versuchen, den Priester zu einer Seite wegzuführen, ihn sicher über den Ring zu geleiten?

»Ich glaube nicht«, sagte der Mann, der zu ihrer Rechten hockte. In seinen tief in ihren Höhlen liegenden, halb geschlossenen Augen blitzte etwas auf, das Erheiterung sein mochte. »Ich habe gesehen, wie deine Blicke hin und her gehuscht sind – von den Wachen zu dem Priester, von dem Priester zu den Wachen.«

Der große, stumme Mann zu ihrer Linken stand langsam auf, zog die Kette dabei mit. Er verschränkte die Arme vor der nackten, narbenübersäten Brust, und Felisin zuckte zusammen, als die Fesseln schmerzhaft an ihr zerrten. Der Mann starrte den näher kommenden Priester an, sagte jedoch nichts.

»Was will er von mir?«, fragte Felisin flüsternd. »Was habe ich getan, dass ein Priester des Vermummten mir seine Aufmerksamkeit schenkt?«

Der hingekauerte Mann wiegte sich auf den Fersen, reckte dabei sein Gesicht der spätnachmittäglichen Sonne entgegen. »Oh, Königin der Träume, spricht hier etwa die ichbezogene Jugend aus den Worten, die über diese vollen, süßen Lippen kommen? Oder ist es nur die übliche Anmaßung des Adels, um den die ganze Welt sich dreht? Oh, ich bitte dich, antworte, wankelmütige Königin!«

Felisin machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe mich besser gefühlt, als ich noch geglaubt habe, du würdest schlafen – oder du wärst tot.«

»Tote hocken nicht da, Mädel, sie liegen lang ausgestreckt auf dem Boden. Und der Priester des Vermummten kommt nicht deinetwegen. Er kommt meinetwegen.«

Sie starrte ihn an; die Kette zwischen ihnen rasselte. Er sah mehr wie eine Kröte mit tief in den Höhlen liegenden Augen denn wie ein Mann aus. Er war kahlköpfig, und sein Gesicht war von einer Tätowierung bedeckt, winzige schwarze rechteckige Symbole, die in einem alles überlagernden Muster verborgen waren, das seine Haut wie eine zerknitterte Schriftrolle überzog. Abgesehen von einem zerlumpten Lendenschurz, dessen ursprüngliche rote Farbe fast völlig verblasst war, war er nackt. Fliegen krabbelten überall auf ihm herum. Sie weigerten sich zu verschwinden, tanzten auf und ab – jedoch nicht, wie Felisin bemerkte, zur freudlosen Musik des Vermummten. Die Tätowierung bedeckte den Mann von Kopf bis Fuß – das Gesicht des Ebers überlagerte sein eigenes Antlitz, das komplizierte Geflecht eines aus unzähligen feinen Schriftzeichen bestehenden, lockigen Fells zog sich über seine Arme, seine bloßen Ober-und Unterschenkel, und in die Haut seiner Füße waren fein herausgearbeitete Hufe geritzt. Bisher war Felisin zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, noch zu sehr vom Schock betäubt, um die, die mit ihr angekettet waren, weiter zu beachten; dieser Mann war ein Priester von Fener, dem Eber des Sommers, und die Fliegen schienen das zu wissen, schienen es hinlänglich zu verstehen, um ihr hektisches Schwirren zu verändern. Mit morbider Faszination sah sie zu, wie die Tiere sich um die Stümpfe sammelten, in denen seine Arme direkt an den Handgelenken endeten; das alte Narbengewebe war das Einzige an ihm, das nicht von Fener beansprucht wurde, doch die Pfade, die die Schemen zu den Stümpfen nahmen, berührten nicht eine einzige Linie der Tätowierung. Die Fliegen tanzten einen Tanz des Vermeidens – doch sie waren trotz allem wild darauf, zu tanzen.

Der Fener-Priester war als letzter Mann der Reihe an seinen Fußknöcheln angekettet worden. Bei allen anderen lagen die engen eisernen Fesseln um die Handgelenke. Die Füße des Mannes waren blutig, und die Fliegen wogten über ihnen auf und ab, ließen sich jedoch nicht nieder. Sie sah, wie er die Augen aufriss, als plötzlich ein Schatten auf ihn fiel.

Der Priester des Vermummten war angekommen. Die Kette spannte sich, als der Mann zur Linken Felisins so weit zurückwich, wie es die Kette erlaubte. Die Mauer in ihrem Rücken war heiß, die mit festlichen Szenen aus dem Leben des Imperiums bemalten Ziegel fühlten sich durch das dünne Gewebe ihrer Sklaventunika glatt an. Felisin starrte die fliegenübersäte Gestalt an, die wortlos vor dem hingekauerten Priester Feners stand. Sie konnte nicht einmal das kleinste Stückchen bloße Haut sehen, konnte nichts von dem Mann selbst erkennen – die Fliegen bedeckten ihn absolut vollständig, und unter ihnen lebte der Mann in einer Dunkelheit, in der ihn nicht einmal die Wärme der Sonne erreichen konnte. Die Wolke um den Priester des Vermummten dehnte sich jetzt nach allen Seiten hin aus, und Felisin zuckte zurück, als unzählige kalte Insektenbeine ihre nackte Haut berührten, blitzschnell ihre Schenkel hinaufkrabbelten; sie zog den Saum der Tunika eng um sich herum, presste die Beine fest zusammen.

Der Fener-Priester begann zu sprechen. »Die Dürstende Stunde ist längst vorbei, Akolyth. Geh zurück in deinen Tempel.« Ein humorloses Grinsen glitt bei diesen Worten über sein Gesicht.

Der Diener des Vermummten gab keine Antwort, doch es schien, als würde sich die Tonhöhe des Summens ändern, bis die Musik unzähliger schwirrender Flügel Felisins Knochen vibrieren ließ.

Die tief liegenden Augen des Priesters verengten sich, und sein Tonfall veränderte sich ebenfalls. »Ach, nun gut. Ich war tatsächlich einmal ein Diener Feners, aber ich bin es nicht mehr, schon seit Jahren nicht mehr. Feners Berührung kann nicht von meiner Haut abgewaschen werden. Es scheint allerdings, als würde der Eber des Sommers mir zwar keine Liebe mehr entgegenbringen – Euch allerdings noch viel, viel weniger.«

Felisin erschauerte innerlich, als das Summen und Brummen sich schnell veränderte, Worte formte, die sie verstehen konnte. »Geheimnis … zeigen … jetzt …«

»Dann los«, knurrte der ehemalige Diener Feners, »zeig’s mir.«

An den folgenden Augenblick sollte Felisin sich noch lang erinnern und oft darüber nachdenken. Vielleicht handelte Fener, schlug die Hand eines aufbrausenden Gottes zu, oder das Geheimnis war der Spott der Unsterblichen, ein Witz, der weit über ihr Begreifen hinausging, doch in jenem Augenblick brach sich das in ihr anschwellende Entsetzen Bahn, die Betäubung ihrer Seele wurde mit einem Schlag ausgebrannt, als die Fliegen explosionsartig auseinander barsten, in alle Richtungen davonschwirrten und dabei enthüllten … dass sich nichts unter ihnen befand.

Der ehemalige Fener-Priester zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen; seine Augen waren weit aufgerissen. Von der anderen Seite des Rings klangen die Schreie eines halben Dutzends Wachen herüber, aber es waren nur unartikulierte Laute, die ihre Kehle verließen. Ketten schnappten, als andere in der Reihe an ihnen rissen, als ob sie fliehen wollten; die eisernen Ösen in der Mauer strafften sich, doch die Ösen hielten ebenso wie die Ketten. Die Wachen eilten auf sie zu, und die Reihe wich gehorsam wieder zurück.

»Also, das«, murmelte der tätowierte Mann erschüttert, »war wirklich unangebracht.«

Eine Stunde verstrich – eine Stunde, in der das Geheimnis, der Schrecken und das Entsetzen, die der Priester des Vermummten verbreitet hatte, tief in Felisin einsanken und zu einer weiteren Schicht wurden, wenn auch nicht zur letzten in einem anscheinend niemals endenden Albtraum, so doch zur zuletzt entstandenen. Ein Akolyth des Vermummten … der überhaupt nicht da war. Das Summen kleiner Flügel, aus dem sich Worte bildeten. War das der Vermummte selbst gewesen? War der Lord des Todes gekommen, um unter den Sterblichen zu wandeln? Und warum war er vor einem ehemaligen Priester Feners stehen geblieben? Welche Botschaft lag in dieser Offenbarung?

Doch allmählich verblassten die Fragen in ihrem Innern wieder; die Betäubung sickerte erneut in sie ein, die kalte Verzweiflung kehrte zurück. Die Imperatrix hatte den Adel einer Säuberung unterzogen, hatte den Häusern und Familien ihren Reichtum entrissen, hatte die Mitglieder dieser Häuser und Familien dann im Schnellverfahren des Verrats angeklagt, für schuldig befunden und schließlich in Ketten gelegt. Was den ehemaligen Priester zu ihrer Rechten und den großen, viehischen Mann zu ihrer Linken betraf, der alle Merkmale eines gemeinen Verbrechers aufwies – ganz sicher konnte keiner von ihnen behaupten, von adligem Blut zu sein.

Sie lachte leise, ein Laut, der beide Männer überraschte.

»Hat sich dir gerade das Geheimnis des Vermummten enthüllt, Mädel?«, fragte der ehemalige Priester.

»Nein.«

»Was findest du dann so erheiternd?«

Sie schüttelte den Kopf. Ich hatte erwartet, mich in guter Gesellschaft wieder zu finden … Wie wäre es damit als typischem, hochnäsigem Gedanken? Das ist doch die Haltung, die die Bauern unbedingt niederreißen wollten, das ist das Öl, mit dem die Imperatrix die Flamme entfacht hat …

»Kind!«

Die Stimme gehörte einer älteren Frau, sie klang noch immer hochmütig, doch es schwang auch eine verzweifelte Sehnsucht in ihr mit. Felisin schloss kurz die Augen, dann streckte sie sich und schaute an dem Schläger vorbei die hagere alte Frau an. Sie trug nur ein zerrissenes, blutverschmiertes Nachtgewand. Und es ist zweifellos adliges Blut. »Lady Gaesen.«

Die alte Frau streckte eine zitternde Hand aus. »Ja! Die Frau von Lord Hilrac! Ich bin Lady Gaesen …« Die Worte erweckten beinahe den Anschein, als hätte sie vergessen, wer sie war; doch jetzt runzelte sie unter dem abbröckelnden Make-up, das ihre Falten überdecken sollte, die Stirn und starrte Felisin aus blutunterlaufenen Augen an. »Ich kenne dich«, zischte sie. »Du bist vom Haus Paran, die jüngste Tochter … Felisin!«

Felisin wurde kalt. Sie drehte sich weg, blickte starr geradeaus, hinaus auf den Hof, wo die Wachen auf ihre Piken gelehnt herumstanden; sie verscheuchten die letzten Fliegen, während Feldflaschen mit Bier von einer Hand zur anderen wanderten. Ein Karren war angekommen, um das Maultier abzuholen. Vier ascheverschmierte Männer kletterten herunter, Seile und Haken in den Händen. Jenseits der Mauern, die den Ring umgaben, erhoben sich Untas bemalte Türme und Kuppeln. Sie sehnte sich nach den schattigen Straßen, die sich zwischen ihnen erstreckten, sehnte sich nach dem verwöhnten Leben, das sie noch eine Woche zuvor geführt hatte, nach Sebrys, der ihr raue Befehle zubrüllte, während sie ihre Lieblingsstute ritt. Und wenn sie aufblickte, während sie die Stute eine schwierige, exakte Wendung vollführen ließ, würde sie die Reihe grünblättriger Bleibäume sehen, die den Reitplatz von den Weinbergen der Familie trennte.

Der Schläger neben ihr stieß ein Grunzen aus. »Bei den Füßen des Vermummten, das Miststück hat ja so was wie Humor.«

Welches Miststück?, fragte sich Felisin, doch sie schaffte es, ihren kalten Gesichtsausdruck beizubehalten, auch als die Erinnerungen und mit ihnen der Trost, den sie boten, vergingen.

Der Ex-Priester regte sich. »Eine Art schwesterliche Kabbelei, was?« Er machte eine kurze Pause und fügte dann trocken hinzu: »Kommt mir aber ein bisschen übertrieben vor.«

Der Schläger grunzte erneut und beugte sich vor, sodass sein Schatten auf Felisin fiel. »Du bist ein ausgestoßener Priester, stimmt’s? Das sieht mir aber gar nicht nach der Imperatrix aus, irgendwelchen Tempeln ‘nen Gefallen zu tun.«

»Das hat sie auch nicht getan. Ich habe meine Frömmigkeit schon vor langer Zeit verloren. Ich bin mir sicher, der Imperatrix hätte es besser gefallen, wenn ich im Kloster geblieben wäre.«

»Als ob sie das irgendwie kümmern würde«, sagte der Schläger höhnisch, als er sich wieder zurücklehnte.

»Du musst mit ihr sprechen, Felisin!« Lady Gaesens Stimme war atemlos. »Einen Appell an sie richten! Ich habe reiche Freunde …«

Das Grunzen des Schlägers wurde zu einem Bellen. »Deine reichen Freunde wirst du weiter vorne in der Reihe finden, alte Hexe!«

Felisin schüttelte nur den Kopf. Es ist Monate her, dass wir miteinander gesprochen haben. Noch nicht einmal, als Vater gestorben ist …

Stille senkte sich herab, zog sich in die Länge, wurde fast schon wieder so lastend wie die Stille, die vor diesem Geschwätz geherrscht hatte. Doch dann räusperte sich der Ex-Priester und spuckte aus. »Es hat keinen Sinn, bei einer Frau nach Erlösung zu suchen, die nur Befehle befolgt, Lady. Da spielt es auch keine Rolle, dass sie die Schwester von diesem Mädchen hier ist«, murmelte er.

Felisin zuckte zusammen, warf dann dem Ex-Priester einen finsteren Blick zu. »Du wagst es …«

»Er wagt gar nichts«, sagte der Schläger mit grollender Stimme. »Vergiss, was in deinem Blut ist oder was du glaubst, was drin ist. Dies ist das Werk der Imperatrix. Vielleicht glaubst du, dass dies etwas Persönliches ist, vielleicht musst du das auch glauben, so, wie du bist …«

»Wie ich bin?« Felisin lachte rau. »Welchem Haus gehörst du an?«

Der Schläger grinste. »Dem Haus der Schande. Was ist dabei? Deines sieht mindestens genauso schäbig aus.«

»Genau, wie ich es mir gedacht habe«, sagte Felisin und ging mit einiger Mühe über die Wahrheit in seiner letzten Bemerkung hinweg. Sie schaute zu den Wachen hinüber. »Was ist los? Warum sitzen wir einfach nur hier herum?«

Der Ex-Priester spuckte noch einmal aus. »Die Dürstende Stunde ist vorüber. Der Mob da draußen muss neu organisiert werden.« Er warf ihr unter buschigen Brauen hervor einen Blick zu. »Die Bauern müssen aufgehetzt werden. Wir sind die Ersten, Mädchen, und wir werden als Beispiel dienen. Was hier in Unta geschieht, wird jeden Bürger adligen Blutes im gesamten Imperium aufschrecken.«

»Unsinn!«, schnappte Lady Gaesen. »Man wird uns gut behandeln. Die Imperatrix wird dafür sorgen, dass man uns gut behandelt …«

Der Schläger grunzte ein drittes Mal. Felisin begriff, dass dies wohl seine Art zu lachen war. »Wenn Dummheit ein Verbrechen wäre, Lady, dann wärt Ihr schon vor Jahren verhaftet worden. Der Oger hat Recht. Nur die wenigsten von uns werden es zu den Sklavenschiffen schaffen. Wenn dieser Zug sich die Säulenavenue hinunterbewegt, wird das ein einziges Blutbad werden. Wohlgemerkt«, fügte er hinzu und musterte die Wachen aus zusammengekniffenen Augen, »der alte Baudin wird sich nicht von einem Bauernmob in Stücke reißen lassen …«

Felisin spürte, wie Angst ihren Magen zusammenkrampfte. Sie unterdrückte einen Schauder. »Hast du etwas dagegen, wenn ich in deinem Schatten bleibe, Baudin?«

Der Mann schaute auf sie herunter. »Du bist für meinen Geschmack ein bisschen zu pummelig.« Er drehte sich um. »Aber du kannst tun, was dir beliebt«, fügte er dann hinzu.

Der ehemalige Priester beugte sich näher zu ihr. »Wenn ich es recht bedenke, Mädchen, dann scheint mir eure Rivalität doch weit über das übliche Gekeife und Gekratze hinauszugehen. Wahrscheinlich will deine Schwester sichergehen, dass du …«

»Sie ist jetzt Mandata Tavore«, unterbrach ihn Felisin. »Sie ist nicht mehr meine Schwester. Sie hat sich von unserem Haus losgesagt, als sie dem Ruf der Imperatrix gefolgt ist.«

»Selbst wenn das so ist, habe ich doch den dumpfen Verdacht, dass es etwas Persönliches ist.«

Felisin starrte ihn finster an. »Woher solltest du irgendwas darüber wissen?«

Der Mann verbeugte sich leicht; es war eine ironische Geste. »Ich war früher einmal ein Dieb, dann ein Priester, und nun bin ich Historiker. Ich weiß sehr wohl um die angespannte Situation, in der sich der Adel befindet.«

Felisins Augen weiteten sich allmählich, und sie verfluchte sich für ihre Dummheit. Sogar Baudin – der keine Möglichkeit gehabt hatte, die Worte nicht zu hören – beugte sich vor und starrte den Ex-Priester forschend an. »Du bist Heboric«, sagte er. »Heboric Leichte Hand.«

Heboric hob die Arme. »So leicht wie immer.«

»Ihr habt dieses revidierte Geschichtswerk geschrieben«, sagte Felisin, »und Verrat begangen …«

Heboric hob in gespieltem Erstaunen die borstigen Brauen. »Die Götter mögen mich bewahren! Eine in philosophischen Belangen abweichende Meinung, mehr war das nicht! Das waren Duikers eigene Worte vor Gericht – als er mich verteidigt hat, Fener möge ihn segnen.«

»Aber die Imperatrix hat nicht zugehört«, sagte Baudin grinsend. »Schließlich hast du sie eine Mörderin genannt – und dann hattest du die Frechheit zu behaupten, sie hätte den Mord auch noch verpfuscht !«

»Du hast wohl eine illegale Abschrift gefunden, was?«

Baudin blinzelte.

»Wie auch immer«, fuhr Heboric fort und wandte sich wieder Felisin zu, »ich habe die Vermutung, dass deine Schwester, die Mandata, vorhat, dich in einem Stück an Bord eines Sklavenschiffs zu bringen. Dass dein Bruder irgendwo in Genabackis verschwunden ist, hat deinem Vater den Lebensmut genommen … zumindest habe ich das gehört«, fügte er grinsend hinzu. »Aber es war das Gerücht von Verrat, das deine Schwester so richtig angespornt hat, stimmt’s? Es geht ihr darum, den Familiennamen rein zu waschen und all diese Dinge …«

»Wenn Ihr es sagt, klingt es vernünftig, Heboric«, sagte Felisin. Sie konnte selbst hören, wie verbittert ihre Stimme klang, aber es war ihr gleichgültig. »Tavore und ich, wir waren unterschiedlicher Meinung  – und jetzt seht Ihr das Ergebnis.«

»Worüber sind eure Meinungen denn so sehr auseinander gegangen?«

Sie antwortete nicht.

Weiter vorn in der Reihe entstand plötzlich Bewegung. Die Wachen reckten sich und wandten sich dem Westtor des Rings zu. Felisin erbleichte. Da vorn ritt ihre Schwester – jetzt Mandata Tavore, die Nachfolgerin von Lorn, die in Darujhistan gefallen war – auf ihrem Hengst, der ohne Zweifel der edlen Zucht ihrer eigenen Familie entstammte. An ihrer Seite befand sich die allgegenwärtige T’amber, eine schöne junge Frau, deren lohfarbene Mähne nicht zu übersehen war. Niemand wusste, wo sie ursprünglich hergekommen war, doch jetzt war sie Tavores persönliche Adjutantin. Hinter den beiden Frauen ritten einige Offiziere und eine Kompanie schwerer Kavallerie. Die Soldaten sahen exotisch und fremd aus.

»Ein Hauch von Ironie«, murmelte Heboric, während er die Reiter musterte.

Baudin reckte den Kopf und spuckte aus. »Rote Klingen! Diese blutleeren Bastarde!«

Der Historiker warf dem großen Mann einen amüsierten Blick zu. »Du bist von Berufs wegen ziemlich weit herumgekommen, was, Baudin? Hast wohl die Mauern von Aren von der See her gesehen?«

Der Angesprochene verlagerte unbehaglich sein Gewicht, dann zuckte er die Schultern. »Ich bin früher auf dem einen oder anderen Deck gestanden, Oger … Außerdem«, fügte er hinzu, »geht schon eine gute Woche das Gerücht, dass sie hier sind.«

Es entstand Unruhe in der Truppe der Roten Klingen, und Felisin sah, wie sich gepanzerte Hände um Schwertgriffe legten und wie sich die spitzen Helme alle zugleich in einer einzigen Bewegung der Mandata zuwandten. Tavore, Schwester, hat das Verschwinden unseres Bruders dich so tief getroffen? Für wie groß musst du sein Versagen halten, wenn du es auf diese Weise wieder gutzumachen suchst … Und dann hast du, um deine absolute Loyalität zu beweisen, zwischen mir und Mutter für das symbolische Opfer gestimmt. Hast du gar nicht bemerkt, dass der Vermummte auf beiden Seiten stand? Zumindest ist Mutter jetzt bei ihrem geliebten Mann … Sie schaute zu, wie Tavore den Blick über die Soldaten schweifen ließ und dann kurz etwas zu T’amber sagte, die daraufhin ihr Pferd in Richtung des Osttors lenkte.

Baudin grunzte erneut. »Aufgepasst, die endlose Stunde wird gleich beginnen.«

Die Imperatrix des Mordes zu bezichtigen war eine Sache, ihren nächsten Schritt vorherzusehen eine ganz andere. Wenn sie bloß meine Warnung beachtet hätten. Heboric zuckte zusammen, als die Angeketteten weiterschlurften; die Fesseln schnitten tief in seine Fußknöchel.

Zivilisierte Menschen gaben sich alle Mühe, die weichen Bäuche ihrer Psyche zur Schau zu stellen – kraftlos und empfindlich zu sein war das Markenzeichen edleren Blutes. Es war leicht für sie, sicher, und das war letztlich der entscheidende Punkt: eine Darstellung von verhätscheltem Überfluss, der in den Kehlen der Armen mehr brannte als jede noch so deutliche Zurschaustellung von Wohlstand.

Heboric hatte genau das in seiner Abhandlung gesagt, und er musste nun der Imperatrix und Mandata Tavore, die in dieser Angelegenheit Laseens Werkzeug war, bittere Bewunderung zollen. Die übertriebene Brutalität, mit der die mitternächtlichen Verhaftungen durchgeführt worden waren – Türen waren eingeschlagen und ganze Familien, von jammernden Bediensteten umgeben, aus ihren Betten gezerrt worden –, hatte für den ersten Schock gesorgt. Noch halb benommen vom Schlafmangel waren die Adligen verschnürt und gefesselt und dann gewaltsam einem betrunkenen Richter und einer Jury aus Bettlern vorgeführt worden, die man auf den Straßen zusammengesucht hatte. Es war eine bittere, offensichtliche Verspottung der Justiz gewesen, die auch noch die letzten möglicherweise verbliebenen Erwartungen im Hinblick auf zivilisiertes Verhalten hinweggefegt hatte – die die Zivilisation an sich hinweggefegt und nur das Chaos der Barbarei zurückgelassen hatte.

Schock war auf Schock gefolgt und hatte jene weichen Bäuche zerrissen. Tavore kannte ihresgleichen, kannte ihre Schwächen und nutzte sie skrupellos aus. Was konnte einen Menschen nur dazu bringen, so bösartig zu werden?

Die Armen hatten sich auf den Straßen zusammengerottet, als sie die Einzelheiten gehört hatten, und hatten mit lautem Geschrei zum Ausdruck gebracht, wie sehr sie die Imperatrix bewunderten. Sorgfältig inszenierte Aufstände, Plünderungen und Gemetzel folgten; eine Woge der Gewalt raste durch das Adelsviertel, der jene wenigen ausgesuchten Hochgeborenen zum Opfer fielen, die nicht verhaftet worden waren – genug, um den Blutdurst der tobenden Menge noch weiter anzuheizen, um ihr Gesichter zu geben, auf die sie ihren Hass und ihre Wut richten konnte. Dann folgte die Wiederherstellung der Ordnung, damit die Stadt nicht in Flammen aufging.

Die Imperatrix machte nur wenige Fehler. Sie hatte die Gelegenheit genutzt, die Unzufriedenen und die unangepassten Gelehrten zusammenzutrommeln, die eiserne Faust militärischer Präsenz um die Hauptstadt zu schließen und die Trommel dafür zu rühren, dass mehr Truppen benötigt wurden – mehr Rekruten, mehr Schutz gegen die verräterischen Ränke des Adels. Die beschlagnahmten Vermögen dienten dazu, diesen Ausbau des Militärs zu bezahlen. Ein genialer Schachzug, selbst wenn man vorgewarnt war, und einer, der sich mit der Macht eines Imperialen Dekrets im Imperium ausbreitete; die grausame Wut tobte jetzt in jeder Stadt.

Man konnte dies alles nur voller Bitterkeit bewundern. Heboric hätte immer noch am liebsten ausgespuckt, etwas, das er seit seinen Tagen als Taschendieb im Mausviertel von Malaz nicht mehr getan hatte. Wenn er die Reihe der Angeketteten entlangblickte, konnte er in den meisten Gesichtern den Schock sehen. Gesichter, deren Besitzer zumeist nur ihr Nachtgewand trugen, das jetzt dreckig und verschmiert von den Gruben war und seinen Trägern somit sogar den gesellschaftlichen Panzer angemessener Kleidung raubte. Wirr abstehendes Haar, wie betäubt wirkende Mienen, gebrochene Haltung  – alles, was der Mob jenseits des Ringes sehen wollte, wonach er hungerte …

Willkommen auf der Straße, dachte Heboric, als die Wachen die Reihe der Angeketteten vorwärts stieß; hoch aufgerichtet in ihrem Sattel, schaute die Mandata zu. Ihr schmales Gesicht war dabei so angespannt, dass nur noch Linien übrig blieben – zu Schlitzen zusammengekniffene Augen, der gerade, fast lippenlose Mund kaum mehr als ein Strich –, verdammt, aber sie hat von Geburt an wohl auch nicht gerade viel mitbekommen … Das gute Aussehen war an ihre jüngere Schwester gegangen, an das Mädchen, das einen Schritt vor ihm dahinwankte.

Heboric fixierte Mandata Tavore. Neugierig, als würde sie irgendetwas suchen – etwas, das ihr einen kurzen Augenblick hämischer Befriedigung verschaffen würde, beispielsweise –, glitt ihr kalter Blick die Reihe entlang und blieb einen Herzschlag lang an ihrer Schwester hängen. Aber dieses kurze Verweilen war auch schon alles, lediglich das Eingeständnis, dass sie sie erkannt hatte, mehr nicht. Ihr Blick glitt weiter.

Zweihundert Schritte voraus, kurz vor dem Kopf der Schlange aus Aneinandergeketteten, öffneten die Wachen das Osttor. Ein Aufbrüllen flutete durch den alten Torbogen heran, eine Woge von Geschrei, die sowohl die Soldaten als auch die Gefangenen zusammenzucken ließ, während sie von den hohen Wällen abprallte und inmitten eines Durcheinanders aufgeschreckter Tauben von den oberen Dachgesimsen in die Höhe stieg. Das Geräusch schlagender Flügel klang herab wie höflicher Beifall, obwohl es Heboric so vorkam, als wäre er der Einzige, der diese Ironie der Götter zu würdigen wusste. Da ihm eine Geste keineswegs verboten war, verbeugte er sich leicht.

Soll der Vermummte seine verdammten Geheimnisse doch für sich behalten. Sieh her, Fener, du alter Eber, es ist die Narbe, an der ich mich nie kratzen konnte. Schau jetzt zu, schau genau zu, was aus deinem ungeratenen Sohn wird.

Ein Teil von Felisins Bewusstsein klammerte sich an ihren klaren Verstand, klammerte sich angesichts des Mahlstroms, der sich vor ihr auftat, regelrecht brutal daran fest. Drei Reihen tief waren die Soldaten links und rechts der Säulen-Avenue aufgereiht, doch wieder und wieder schien der Mob Schwachstellen in ihrer Aufstellung zu finden. Sie stellte fest, dass sie selbst dann noch nüchtern und kühl beobachtete, als Hände an ihr zerrten, Fäuste auf sie eindroschen, verschwommene Gesichter sich ihr entgegenstellten und sie anspien. Und genau wie ihre Zurechnungsfähigkeit in ihrem Innern standhielt, so hielten sie auch ein paar starke Arme umfangen – Arme, an denen sich keine Hände mehr befanden, sondern nur noch narbige, eiternde Stümpfe, Arme, die sie vorwärts stießen, immer nur vorwärts. Niemand berührte den Priester. Niemand wagte es. Und vor ihr war Baudin, noch erschreckender als der Mob selbst.

Er tötete mühelos. Voller Verachtung schleuderte er Körper beiseite, brüllte und gestikulierte dabei. Selbst die Soldaten starrten ihn unter ihren Helmen hervor an, ihre Köpfe drehten sich bei seinem Spott, ihre Hände schlossen sich fester um Pikenschäfte oder Schwertgriffe.

Baudin, der lachende Baudin, seine Nase war von einem gut gezielten Ziegel zerschmettert worden; Steine prallten von ihm ab, seine Sklaventunika hing ihm blut- und schleimverschmiert in Fetzen vom Leib. Er packte jeden, der in seine Reichweite geriet, drehte, bog und zerbrach ihn. Er verlangsamte seinen Schritt nur dann, wenn weiter vorne etwas geschah, wenn sich zwischen den Soldaten eine Lücke bildete – oder wenn Lady Gaesen strauchelte. Dann packte er sie nicht besonders sanft unter den Achseln und schob sie vorwärts, wobei er ohne Unterlass fluchte.

Eine Woge der Furcht eilte ihm voraus, und etwas von dem Entsetzen, das der Mob verbreitete, schwappte wieder in die Menge zurück. Die Zahl der Angreifer nahm ab, obwohl noch immer Ziegel flogen wie ein pausenloses Sperrfeuer, von denen einige trafen, die meisten jedoch fehlgingen.

Der Marsch durch die Stadt dauerte an. In Felisins Ohren dröhnte es schmerzhaft. Sie hörte alles nur durch einen alles überlagernden Lärmschleier hindurch, doch ihre Augen sahen klar – und viel zu oft sah sie Bilder, die sie niemals wieder vergessen würde.

Die Tore waren schon in Sicht, als sich die bisher größte Bresche in den Reihen der Soldaten auftat. Die Soldaten schienen förmlich wegzuschmelzen, und eine Woge schrecklicher Begierde schwappte über die Straße, hüllte die Gefangenen ein.

Felisin konnte Heborics geknurrte Worte kaum verstehen, obwohl er sich ganz dicht hinter ihr befand und sie immer weiterschob. »Jetzt ist es also so weit.«

Baudin brüllte auf. Körper drängten heran, Hände zerrten, Nägel fetzten. Die letzten kümmerlichen Reste ihrer Kleidung wurden Felisin heruntergerissen. Eine Hand schloss sich um eine Strähne ihres Haares, zerrte wild, riss ihr den Kopf herum, wollte ihr das Genick brechen. Sie hörte einen Aufschrei und begriff, dass sie selbst diejenige war, die da schrie. Ein tierisches Knurren ertönte hinter ihr, und sie spürte, wie die Hand wie in Krämpfen zuckte und dann losließ. Noch mehr Geschrei gellte in ihren Ohren.

Eine starke Bewegung erfasste die Gefangenen, zog an ihnen oder schob sie – sie konnte es nicht genau ausmachen –, und Heborics Gesicht geriet in ihr Blickfeld; er spuckte blutige Hautfetzen aus. Plötzlich war um Baudin herum viel Platz. Er stand zusammengeduckt da, und ein Strom von Hafenarbeiterflüchen sprudelte pausenlos von seinen blutig geschlagenen Lippen. Der Mob hatte ihm das rechte Ohr abgerissen, und zusammen mit der Ohrmuschel auch Haare und einen Fetzen Haut und Fleisch. Sein Schläfenknochen glänzte feucht. Rings um ihn lagen zerschmetterte Leiber, von denen sich nur noch wenige bewegten. Zu seinen Füßen hockte Lady Gaesen. Baudin hatte sie an den Haaren gepackt, zog sie ein Stück hoch, sodass man ihr Gesicht sehen konnte. Einen Augenblick lang schien alles zu erstarren, schien die ganze Welt nur noch aus dieser einzigen Szene zu bestehen.

Baudin bleckte die Zähne und lachte. »Ich bin kein winselnder Adliger«, grollte er und starrte dabei die Menge an. »Was wollt ihr? Wollt ihr das Blut einer Adligen?«

Der Mob kreischte auf, streckte gierig die Hände aus. Baudin lachte erneut. »Wir gehen da durch, hört ihr mich?« Er streckte sich, zog dabei Lady Gaesens Kopf in die Höhe.

Felisin vermochte nicht zu sagen, ob die alte Frau bei Bewusstsein war. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesichtsausdruck friedlich, fast jugendlich, unter all dem Dreck und den Wunden. Vielleicht war sie tot. Felisin betete, dass dem wirklich so war. Gleich würde etwas geschehen, etwas, das diesen Albtraum zu einem einzigen Bild verdichten würde. Gespannte Erwartung lag in der Luft.

»Sie gehört euch!«, kreischte Baudin. Er griff mit der zweiten Hand nach dem Kinn der Lady, drehte ihren Kopf herum. Das Genick brach und der Körper sackte zuckend in sich zusammen. Baudin schlang die Kette einmal um ihren Hals. Er zog sie stramm, und dann begann er zu sägen. Blut spritzte auf, ließ die Kette wie einen zerfetzten Schal aussehen.

Felisin starrte entsetzt auf die Szene.

»Fener, erbarme dich«, keuchte Heboric.

Die Menge schwieg wie betäubt, wich trotz ihres Blutdurstes langsam zurück. Ein Soldat tauchte auf; er trug keinen Helm, und sein Gesicht war bleich. Die Augen fest auf Baudin gerichtet, blieb er dicht vor ihm stehen. Hinter ihm blitzten die glänzenden, spitzen Helme und die blankgezogenen Schwerter der Roten Klingen über der Menge auf, als die Reiter sich langsam einen Weg zu ihnen bahnten.

Nichts rührte sich, außer der sägenden Kette. Alles schien die Luft anzuhalten, nur Baudin keuchte schnaubend. Was für Unruhen auch immer noch irgendwo anders toben mochten, sie schienen Tausende von Längen entfernt.

Felisin sah, wie der Kopf der alten Frau vor und zurück zuckte, eine Parodie der Bewegungen eines lebenden Wesens. Sie erinnerte sich an Lady Gaesen, sie war arrogant und anmaßend gewesen, die Jahre ihrer Schönheit hatten längst hinter ihr gelegen, und sie hatte sich stattdessen um Format bemüht. Welche andere Wahl hätte sie auch sonst gehabt? Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Wäre sie eine höfliche, freundliche Großmutter gewesen, es hätte keine Rolle gespielt, es hätte das betäubende Entsetzen dieses Augenblicks nicht gemildert.

Mit einem schmatzenden Geräusch löste sich der Kopf vom Körper. Baudins Zähne glänzten, als er die Menge anstarrte. »Wir hatten eine Abmachung«, knirschte er. »Hier ist das, was ihr wollt, etwas, das euch immer an diesen Tag erinnern wird.« Er schleuderte Lady Gaesens Kopf mitten in die Menge, ein Wirbel aus Haaren und blutigen Fäden. Schreie ertönten von der Stelle, an der er gelandet war.

Mehr Soldaten erschienen, den Rücken von den Roten Klingen gedeckt. Sie bewegten sich langsam, schoben die immer noch schweigenden Zuschauer beiseite. Entlang der Reihe wurde wieder für Ruhe gesorgt – überall gewaltsam und ohne Pardon zu gewähren, außer hier. Als die ersten Menschen unter Schwerthieben fielen, begannen die Übrigen zu fliehen.

Als die Gefangenen die Arena verlassen hatten, waren sie etwa dreihundert gewesen. Als Felisin jetzt die Reihe entlangblickte, konnte sie zum ersten Mal sehen, wie viele davon übrig geblieben waren. In einigen Handschellen hingen nur noch Unterarme, andere waren völlig leer. Weniger als hundert Gefangene waren noch auf den Beinen. Viele lagen vor Schmerzen schreiend und sich windend auf den Pflastersteinen; die Übrigen rührten sich nicht.

Baudin starrte düster zu der am nächsten stehenden Gruppe von Soldaten hinüber. »Ihr habt den richtigen Zeitpunkt gewählt, Blechköpfe.«

Heboric spuckte herzhaft aus. Er verzog das Gesicht, als er den Schläger anstarrte. »Du hast gedacht, du könntest dir den Weg freikaufen, was, Baudin? Gib ihnen, was sie wollen. Aber es war sinnlos, stimmt’s? Die Soldaten waren schon unterwegs. Sie hätte leben können –«

Baudin drehte sich langsam um. Sein Gesicht war eine blutige Maske. »Und wozu, Priester?«

»War das der Grund? Weil du dir sicher warst, dass sie im Frachtraum sowieso gestorben wäre?«

Baudin bleckte die Zähne und sagte langsam: »Ich hasse es einfach, mit Bastarden Abmachungen zu treffen.«

Felisin starrte das drei Fuß lange Stück Kette zwischen ihr und Baudin an. Tausend Gedanken hätten folgen können, Kettenglied um Kettenglied – was sie gewesen war, was sie jetzt war; das Gefängnis, das sie entdeckt hatte, drinnen und draußen, das in ihrer lebhaften Erinnerung miteinander verschmolz – doch alles, was sie dachte, alles, was sie sagen konnte, war ein einfacher Satz. »Triff keine weiteren Abmachungen mehr, Baudin.«

Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an. Ihre Worte, ihr Tonfall, drangen irgendwie zu ihm durch.

Heboric streckte sich. In seinen Augen lag ein harter Glanz, als er sie musterte. Felisin wandte sich ab, halb aus Trotz, halb aus Scham.

Einen Augenblick später schoben die Soldaten – die mittlerweile die Toten beiseite geräumt hatten – die Gefangenen weiter, hinaus durch das Tor, die Oststraße entlang, dem Pier von Glücklos entgegen. Dorthin, wo Mandata Tavore und ihr Gefolge warteten – und die Sklavenschiffe aus Aren.

Grundbesitzer und Kleinbauern säumten die Straße, doch sie zeigten keine Anzeichen der Raserei, die ihre Vettern und Kusinen innerhalb der Stadt ergriffen hatte. Felisin sah in ihren Gesichtern einen teilnahmslosen Kummer, eine Leidenschaft, die von anderen Wunden herrührte. Sie hatte keine Ahnung, woher sie kam, und sie wusste, dass ihre Unwissenheit den Unterschied zwischen ihr und ihnen ausmachte. Und während sie von blauen Flecken und Kratzern übersät hilflos in ihrer Nacktheit dahintrottete, wusste sie außerdem, dass ihre Lektionen begonnen hatten.

Buch Eins

Raraku

Er schwamm zu meinen Füßen, seine mächtigen Arme teilten den Sand mit kräftigen Zügen. So fragte ich diesen Mann, welche Meere durchschwimmst du? Und darauf antwortete er: »Ich habe Muscheln und Ähnliches in dieser Wüste gesehen, so durchschwimme ich die Erinnerung dieses Landes und ehre so seine Vergangenheit.« Ist die Reise weit?, fragte ich ihn. »Das kann ich nicht sagen«, antwortete er, »denn ich werde untergehen, lange bevor ich sie beendet habe.«

Die Worte des NarrenThenys Bule

Kapitel Eins

Und alle kamen, um auf dem Pfad ihr Zeichen zu hinterlassen, und die trockenen Winde mit ihrem widerlichen Anspruch auf das Aufsteigen zu verpesten.

Der Pfad der Hände Messremb

Das 1164ste Jahr von Brands SchlafDas zehnte Jahr der Herrschaft von Imperatrix LaseenDas Sechste der Sieben Jahre von Dryjhna, der Apokalypse

Eine Korkenzieherschwade aus Staub huschte durch die Mulde, bewegte sich tiefer in die pfadlose Einöde der Pan’potsun-Odhan hinein. Obwohl sie kaum zweitausend Schritte entfernt war, schien die Schwade aus dem Nichts geboren.

Von seinem erhöhten Aussichtspunkt am windzerzausten Rand der Hochebene aus sah Mappo Runt ihr mit harten Augen nach, Augen, die die Farbe des Sandes hatten und tief in ihren Höhlen in einem blassen Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen lagen. In seiner Hand, deren Rücken mit dicken Borsten bewachsen war, hielt er ein Stück Emrag-Kaktus, und er scherte sich nicht um die giftigen Dornen, als er hineinbiss. Blauer Saft rann sein Kinn hinunter. Er kaute langsam und nachdenklich.

Neben ihm schnippte Icarium einen Kieselstein über den Rand der Klippe, der klickend und klackernd den Hang hinunterhüpfte und erst an dessen geröllübersätem Fuß liegen blieb. Er trug die zerrissenen Gewänder eines Geistergängers, deren ehemals leuchtendes Orange von der Sonne zu einem staubigen Rostrot ausgeblichen war, und das, was von seiner grauen Haut zu sehen war, hatte mittlerweile einen dunklen olivgrünen Farbton angenommen, als ob das Blut seines Vaters dem Ruf dieses Ödlands geantwortet hätte. Schweißtropfen fielen aus seinen langen, zusammengeflochtenen schwarzen Haaren auf den gebleichten Felsen.

Mappo zupfte einen zermalmten Dorn zwischen seinen Vorderzähnen heraus. »Dein Färbemittel zerläuft«, stellte er fest, während er das Stück Kaktus einen Augenblick beäugte. Dann biss er wieder davon ab.

Icarium zuckte die Schultern. »Das spielt keine Rolle mehr. Zumindest nicht hier draußen.«

»Nicht einmal meine blinde Großmutter hätte dir deine Verkleidung abgekauft. In Ehrlitan sind uns pausenlos Blicke gefolgt. Ich habe sie Tag und Nacht über meinen Rücken kriechen gespürt. Schließlich sind Tannos meistens klein und o-beinig.« Mappo riss den Blick von der Staubwolke los und betrachtete seinen Freund. »Das nächste Mal suchst du dir bitte einen Stamm aus, dessen Mitglieder alle sieben Fuß groß werden«, knurrte er.

Über Icariums faltiges, wettergegerbtes Gesicht huschte etwas, das die Andeutung eines Lächelns gewesen sein mochte, dann nahm es wieder den gewohnten, selbstgefälligen Ausdruck an. »Jene im Reich der Sieben Städte, die etwas von uns wissen können, wissen jetzt sicherlich von uns. Jene, die keine Ahnung haben, wer wir sind, werden sich vielleicht über uns wundern; aber mehr werden sie auch nicht tun.« Im grellen Licht blinzelnd, nickte er in Richtung der Staubfahne. »Was siehst du, Mappo?«

»Einen flachen Kopf, einen langen Hals, und überall schwarz behaart. Wenn’s nur das wäre, würde diese Beschreibung glatt auf einen meiner Onkel zutreffen.«

»Aber da ist noch was.«

»Ein Bein vorne und zwei hinten.«

Icarium rieb sich nachdenklich den Nasenrücken. »Also keiner von deinen Onkeln. Ein Aptorian?«

Mappo nickte langsam. »Es dauert noch Monate bis zur Konvergenz. Ich nehme an, Schattenthron hat irgendwie gerochen, was da kommt, und ein paar Kundschafter losgeschickt …«

»Und der da?«

Mappo grinste, entblößte dabei mächtige Eckzähne. »Der hat sich ein bisschen zu weit vorgewagt. Das ist jetzt Sha’iks Schoßtier.« Er war mit seinem Kaktus fertig und rieb sich die gewaltigen Hände, dann stand er auf. Als er den Rücken krümmte, zuckte er zusammen. Vergangene Nacht waren im Sand unter seiner Bettrolle unerklärlicherweise Unmengen von Wurzeln verborgen gewesen, und jetzt erinnerten ihn die Muskeln links und rechts seiner Wirbelsäule an jeden Knoten und jede Windung der baumlosen Knochen. Er rieb sich die Augen. Ein kurzer Blick an sich hinunter offenbarte ihm den zerrissenen und schmutzverkrusteten Zustand seiner Kleidung. Er seufzte. »Man sagt, dass irgendwo hier draußen eine Wasserstelle sein soll …«

»Um die herum Sha’iks Armee ihr Lager aufgeschlagen hat.«

Mappo grunzte.

Icarium streckte sich ebenfalls und musterte bei dieser Gelegenheit einmal mehr die mächtige Gestalt seines Gefährten; er war groß, selbst für einen Trell, mit breiten, schwarz behaarten Schultern, langen, mit kräftigen Muskelsträngen bepackten Armen und der Erfahrung von tausend Jahren, die gelegentlich wie ein ausgelassener Bock in Mappos Augen herumsprang. »Kannst du ihn verfolgen?«

»Wenn du willst.«

Icarium schnitt eine Grimasse. »Wie lange kennen wir uns jetzt schon, mein Freund?«

Mappo warf ihm einen kurzen, scharfen Blick zu, dann zuckte er die Schultern. »Sehr lange. Warum fragst du?«

»Ich kann den Widerwillen in deiner Stimme sehr wohl hören. Beunruhigt dich der Gedanke?«

»Jede Möglichkeit, mit einem Dämon aneinander geraten zu können, beunruhigt mich, Icarium. Mappo Trell ist scheu wie ein Hase.«

»Mich treibt die Neugier.«

»Ich weiß.«

Das ungleiche Paar drehte sich zu dem kleinen Lagerplatz um, der versteckt zwischen zwei hoch aufragenden Felsnadeln lag, die der Wind geformt hatte. Sie hatten keine Eile. Icarium setzte sich auf einen flachen Felsen und machte sich daran, seinen Langbogen einzuölen; er wollte verhindern, dass das Hornholz austrocknete. Nachdem er mit dem Zustand der Waffe zufrieden war, wandte er sich seinem einschneidigen Langschwert zu. Er zog die uralte Waffe aus ihrer mit Bronzebändern umwickelten Scheide aus bearbeitetem Leder und begann, mit einem eingeölten Wetzstein an der schartigen Klinge entlangzufahren.

Mappo brach das Fellzelt ab und faltete es willkürlich zusammen, dann stopfte er es in seinen großen Lederbeutel. Das Kochgeschirr folgte, ebenso wie die Decken. Er zog die Verschnürung zu und hängte sich den Beutel über eine Schulter, dann warf er einen Blick zu Icarium hinüber, der den Bogen bereits wieder eingewickelt und auf seinem Rücken befestigt hatte, und nun auf ihn wartete.

Icarium nickte, und die beiden Gefährten – der eine ein Jaghut-Halbblut, der andere ein reinrassiger Trell – begannen den Pfad hinabzusteigen, der sie hinunter ins Becken führen würde.

Am Himmel über ihnen leuchteten die Sterne. Ihr Licht reichte aus, um die Trockenpfanne des Beckens silbern zu färben. Die Blutfliegen waren zusammen mit der Tageshitze verschwunden und hatten die Nacht den gelegentlich auftretenden Schwärmen von Kapmotten überlassen, sowie den fledermausähnlichen Rhizan – geflügelten Echsen, die sich von ihnen ernährten.

Mappo und Icarium machten im Hof einer alten Ruine Rast, um sich etwas auszuruhen. Die Tonziegel-Wände waren fast völlig abgetragen worden; nur knapp schienbeinhohe Reste waren übrig geblieben, die sich in einem geometrischen Muster um eine alte, längst ausgetrocknete Quelle zogen. Der Wind hatte feinkörnigen Sand herbeigeweht, der nun die Pflastersteine des Hofs bedeckte, und Mappo hatte den Eindruck, als ginge ein leichtes Schimmern von ihm aus. Zerzaustes Gestrüpp klammerte sich mit knorrigen Wurzeln am Rand des Hofes fest.

Sowohl in der Pan’potsun-Odhan als auch in der Heiligen Wüste Raraku, die sich in Richtung Westen anschloss, gab es unzählige solcher Überbleibsel längst vergangener Zivilisationen. Mappo und Icarium hatten auf ihren Reisen hohe Tels gefunden – Hügel mit völlig ebener Kuppe, die aus Schicht um Schicht übereinander gebauter Städte bestanden; diese Tels zogen sich in einer annähernd geraden Linie fünfzig Längen weit zwischen den Hügeln und der Wüste dahin, ein eindeutiger Hinweis darauf, dass hier, wo sich jetzt ein trockenes, windgepeitschtes Ödland befand, einst eine reiche, blühende Zivilisation existiert hatte. In der Heiligen Wüste hatte die Legende von Dryjhna, der Apokalyptischen, ihren Ausgang genommen. Mappo fragte sich, ob das Unglück, das die Städte dieser Region mitsamt ihrer Bewohner befallen hatte, vielleicht in irgendeiner Weise zu dem Mythos einer Zeit der Verwüstung und des Todes beigetragen hatte. Denn mit Ausnahme der verlassenen Landsitze, auf die man gelegentlich stieß – auch dieser Ort, an dem sie sich gerade befanden, war einer davon –, zeigten viele Ruinen die Spuren gewaltsamer Zerstörung.

Mappo schnitt eine Grimasse, als seine Gedanken sich plötzlich in vertrauten Bahnen bewegten. Nicht alles, was vergangen ist, kann zu unseren Füßen ausgebreitet werden, und wir sind hier und jetzt nicht näher dran, als wir es jemals an einem anderen Ort gewesen sind. Und ich habe nicht den geringsten Grund, meinen eigenen Worten nicht zu glauben. Er wandte seine Gedanken anderen Dingen zu.

Fast in der Mitte des Hofes stand eine einzelne Säule aus rosa Marmor. Die eine Seite war pockennarbig und geriffelt; sie trug die Spuren der Winde, die unaufhörlich aus der Raraku in Richtung der Pan’potsun-Hügel wehten. Auf der windabgewandten Seite der Säule hatte sich noch immer das spiralförmige Muster erhalten, das längst verblichene Künstler in den Stein gemeißelt hatten.

Als sie den Hof betreten hatten, war Icarium unverzüglich zu der knapp sechs Fuß hohen Säule marschiert und hatte ihre Oberfläche untersucht. Sein Grunzen verriet Mappo, dass er gefunden hatte, wonach er Ausschau gehalten hatte.

»Und, was ist mit der hier?«, fragte der Trell, während er den Lederbeutel absetzte.

Icarium trat zu ihm, wischte sich dabei den Staub von den Händen. »Ziemlich weit unten, fast am Fuß, sind Spuren von kleinen Krallenhänden – die Sucher sind unterwegs.«

»Ratten? Mehr als eine Gruppe?«

»Vielwandler«, bestätigte Icarium mit einem Nicken.

»Nun, ich frage mich, wer das wohl sein könnte?«

»Gryllen, vermutlich.«

»Hm. Wie unerfreulich.«

Icarium musterte die völlig flache Ebene, die sich nach Westen hin erstreckte. »Es werden noch andere kommen. Sowohl Wechselgänger als auch Vielwandler. Diejenigen, die sich dem Aufsteigen schon ganz nah glauben, aber genauso auch die, die es nicht tun, und trotzdem den Pfad suchen.«

Mappo seufzte, musterte seinen alten Freund. Ein schwaches Gefühl der Furcht stieg in ihm auf. Vielwandler und Wechselgänger, zwei Formen des Gestaltwandels, zwei Formen des Fluchs … das Fieber, für das es keine Heilung gibt. Und sie versammeln sich … hier, an diesem Ort. »Ist das klug, Icarium?«, fragte er sanft. »Auf der Suche nach dem Ziel, dem du schon ewig nachjagst, sind wir drauf und dran, mitten in eine höchst unangenehme Konvergenz hineinzumarschieren. Wenn die Tore sich öffnen, werden wir uns mit einer Gruppe blutdürstiger, vor Gier verblendeter Individuen darum streiten müssen, hindurchzugehen, denn sie alle glauben daran, dass die Tore eine Möglichkeit zum Aufstieg bieten.«

»Wenn solch ein Weg wirklich existiert«, sagte Icarium, den Blick noch immer auf den Horizont geheftet, »dann werde ich dort vielleicht auch all die Antworten finden, nach denen ich suche.«

Antworten sind kein Segen, mein Freund. Bitte glaub mir. »Du hast mir immer noch nicht erklärt, was du zu tun gedenkst, wenn du sie erst einmal gefunden hast.«

Icarium drehte sich zu ihm um. Ein schwaches Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Ich bin mein eigener Fluch, Mappo. Ich habe Jahrhunderte gelebt, doch was weiß ich von meiner Vergangenheit? Wo sind meine Erinnerungen? Wie kann ich mein Leben ohne dieses Wissen beurteilen?«

»Einige würden deinen Fluch für ein Geschenk halten«, sagte Mappo. Ein trauriger Ausdruck huschte kurz über sein Gesicht.

»Ich nicht. Ich betrachte diese Konvergenz als eine Gelegenheit. Sie mag mir sehr wohl Antworten gewähren. Ich hoffe, ich kann es vermeiden, meine Waffen zu ziehen, um diese Antworten zu erhalten, aber wenn es sein muss, werde ich auch das tun.«

Der Trell seufzte ein zweites Mal und richtete sich aus seiner geduckten Stellung auf. »Deine Entschlossenheit in dieser Angelegenheit könnte schon bald einer Prüfung unterzogen werden, mein Freund.« Er blickte nach Südwesten. »Sechs Wüstenwölfe sind auf unserer Spur.«

Icarium wickelte seinen Bogen aus und spannte ihn in einer einzigen fließenden Bewegung. »Wüstenwölfe jagen niemals Menschen.«

»Nein«, stimmte Mappo zu. Es würde noch eine Stunde dauern, bis der Mond aufging. Er sah zu, wie Icarium sechs lange, mit Steinspitzen versehene Pfeile bereitlegte, dann blinzelte er in die Dunkelheit hinaus. Kalte Furcht kroch ihm den Nacken hinauf. Die Wölfe waren noch nicht zu sehen, doch er konnte sie trotzdem spüren. »Sie sind zu sechst, aber sie sind nur einer. Vielwandler.« Es wäre besser, wenn es ein Wechselgänger wäre. Sich in ein anderes Wesen zu verwandeln ist schon schlimm genug, aber gleich in mehrere …

Icarium runzelte die Stirn. »Also ist es einer mit großer Macht, wenn er in Gestalt von sechs Wölfen aufzutreten vermag. Weißt du, wer es sein könnte?«

»Ich habe einen Verdacht«, sagte Mappo leise.

Dann schwiegen sie und warteten.

Ein halbes Dutzend lohfarbener Schatten tauchte weniger als dreißig Schritte entfernt aus einem Dunkel auf, das aus sich selbst heraus entstanden zu sein schien. Als sie noch zwanzig Schritte entfernt waren, schwärmten die Wölfe zu einem Halbkreis aus, in dessen Zentrum sich Mappo und Icarium befanden. Der würzige Geruch eines Vielwandlers erfüllte die stille Nachtluft. Eines der geschmeidigen Tiere schob sich vor, verharrte jedoch augenblicklich, als Icarium seinen Bogen hob.

»Nicht sechs, sondern einer«, murmelte Icarium.

»Ich kenne ihn«, erwiderte Mappo. »Es ist eine Schande, dass er von uns nicht das Gleiche sagen kann. Er ist unsicher, doch er hat eine Gestalt angenommen, die das Blutvergießen liebt. Heute Nacht jagt Ryllandaras in der Wüste. Ich frage mich nur: jagt er uns – oder irgendetwas anderes?«

Icarium zuckte die Schultern. »Wer von uns soll zuerst sprechen, Mappo?«

»Ich«, entgegnete der Trell und trat einen Schritt vor. Diese Situation erforderte ein listiges, gerissenes Verhalten. Jeder Fehler würde sich als tödlich erweisen. Er sprach leise und sarkastisch. »Du bist ziemlich weit weg von zu Hause, was? Dein Bruder Treach wollte dich töten. Wo war noch jene Kluft? In Dal Hon? Oder war es in Li Heng? Ich glaube mich zu erinnern, dass du damals Schakal warst.«

Ryllandaras’ Stimme ertönte in ihren Köpfen, eine Stimme, die vom mangelnden Gebrauch brüchig und zögernd klang. Ich bin versucht, meinen Geist mit deinem zu messen, N’Trell, bevor ich euch töte.

»Es mag vielleicht nicht der Mühe wert sein«, erwiderte Mappo leichthin. »Dank der Gesellschaft, in der ich mich befinde, bin ich genauso aus der Übung wie du, Ryllandaras.«

Der Blick aus den klaren blauen Augen des Leitwolfs zuckte kurz zu Icarium hinüber.

»Ich besitze wenig Geist, mit dem zu messen sich lohnt«, sagte das Jaghut-Halbblut leise. Seine Stimme war kaum zu verstehen. »Und ich verliere langsam die Geduld.«

Das ist dumm. Höflichkeit ist das Einzige, was euch vielleicht retten kann. Sag mir, Bogenschütze, wirst du dein Leben von der Listigkeit deines Gefährten abhängig machen?

Icarium schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich teile die Einschätzung, die er von sich selbst hat.«

Ryllandaras wirkte verwirrt. Dann ist es also nur eine Sache der Zweckdienlichkeit, dass ihr beide zusammen reist. Ihr seid Gefährten ohne Glaube, ohne Vertrauen zueinander. Es muss viel auf dem Spiel stehen.

»Ich fange an, mich zu langweilen, Mappo«, sagte Icarium.

Die sechs Wölfe erstarrten alle zugleich, wie ein einziges Wesen, und schienen leicht zurückzuzucken. Mappo Runt und Icarium. Ah, wir verstehen. Ihr sollt wissen, dass wir keinen Streit mit euch haben.

»So haben wir also den Geist gemessen«, sagte Mappo. Sein Grinsen wurde breiter, dann verschwand es abrupt. »Geh anderswo auf die Jagd, Ryllandaras, ehe Icarium Treach einen Gefallen tut.« Bevor du all das entfesselst, was zu verhindern ich geschworen habe. »Hast du mich verstanden?«

Unsere Wege … kreuzen sich, sagte der Vielwandler, auf der Fährte eines Dämons des Schattens.

»Er gehört nicht mehr zum Schatten«, erwiderte Mappo, »sondern zu Sha’ik. Die Heilige Wüste schläft nicht mehr.«

So scheint es. Willst du uns die Jagd verbieten?

Mappo warf einen Blick zu Icarium hinüber, der seinen Bogen senkte und die Achseln zuckte. »Wenn du den Wunsch haben solltest, dich in einen Aptorian zu verbeißen, dann ist das deine Sache. Alles, was wir wollen, ist, weiterziehen zu können.«

Dann sollen sich in der Tat unsere Kiefer um den Hals des Dämons schließen.

»Du würdest dir Sha’ik zur Feindin machen?«, fragte Mappo neugierig.

Der Leitwolf neigte den Kopf zur Seite. Der Name bedeutet mir nichts.

Die beiden Reisenden sahen zu, wie die Wölfe davontrotteten und wieder in einem durch Zauberei erschaffenen Dunkel verschwanden. Mappo bleckte die Zähne und seufzte tief. Icarium nickte und fasste in Worte, was sie beide dachten: »Das wird sich schon bald ändern.«

Die wickanischen Reiter stießen wilde Jubelschreie aus, als sie ihre kräftigen Pferde über mehrere Planken vom Transportschiff herunterführten. Die Szene am Kai des Imperialen Hafens von Hissar war chaotisch, ein einziges Durcheinander aus unruhigen Stammesangehörigen  – Männern und Frauen –, über deren schwarzen, geflochtenen Haaren und mit Eisendornen besetzten Kappen Lanzenspitzen im Sonnenlicht aufblitzten. Von seinem Aussichtspunkt auf der Brustwehr des Turms am Hafeneingang blickte Duiker mit mehr als nur ein bisschen Skepsis und wachsender Bestürzung auf die wilden, fremdartigen Krieger hinab.

Neben dem Imperialen Historiker stand Mallick Rel, der Bevollmächtigte der Hohefaust; seine Haut hatte die Farbe von geöltem Leder, er roch nach Parfüm aus Aren und hatte die fleischigen, weichen Hände gefaltet und auf seinem Wanst abgelegt. Mallick Rel sah ganz und gar nicht wie der oberste Ratgeber des Kommandanten der malazanischen Armeen im Reich der Sieben Städte aus. Er war ein Jhistal-Priester Maels, des Älteren Gottes der Meere, und er war hier, um der neuen Faust der Siebten Armee das Willkommen der Hohefaust zu übermitteln – eine Geste, die genau das war, was sie zu sein schien: eine sorgfältig berechnete Beleidigung. Obwohl, wie Duiker sich im Stillen eingestehen musste, der Mann, der hier neben ihm stand, innerhalb kürzester Zeit zu einer einflussreichen Position aufgestiegen war und nun zu den Mächtigen des Imperiums zählte, die auf diesem Kontinent ihre Spielchen spielten. Unter den Soldaten kursierten Tausende von Gerüchten über den glatten Priester mit der freundlichen Stimme – oder genauer, über das, was er gegen Hohefaust Pormqual in der Hand haben mochte –, doch es waren immer nur verstohlen geflüsterte Worte, denn die Geschichte von Mallick Rels Weg an die Seite Pormquals war eine Geschichte von geheimnisvollen Unglücksfällen, die über all jene hereingebrochen waren, die ihm im Weg gewesen waren – tödliche Unglücksfälle, wohlgemerkt.

Die politischen Verflechtungen zwischen den malazanischen Besatzern im Reich der Sieben Städte waren ebenso undurchschaubar wie gefährlich. Duiker hegte den Verdacht, dass die neue Faust kaum in der Lage sein würde, derart verschleierte Gesten der Verachtung als solche zu erkennen, schließlich entstammte der Mann einem Volk, dem die zivilisierten Feinheiten der gezähmteren Bürger des Imperiums fremd waren. Die Frage, die sich dem Historiker in diesem Zusammenhang stellte, war einzig und allein die, wie lange Coltaine vom Krähen-Clan in seiner neuen Stellung überleben würde.

Mallick Rel schürzte die vollen Lippen und atmete langsam aus. »Ich bin erfreut über Eure Anwesenheit, Historiker«, sagte er sanft. Sein besonders in den Zischlauten hörbarer Akzent verriet seine Herkunft aus Falar. »Und natürlich auch neugierig. Ihr seid jetzt weit weg vom Hof in Aren …« Er lächelte, ohne dabei seine grün gefärbten Zähne zu zeigen. »Eine Vorsichtsmaßnahme, die auf die Säuberungen im Kernland zurückzuführen ist?«

Worte, die wie Wellen dahinplätschern, das formlose Gehabe des Gottes Mael und seine hinterhältige Geduld. Und das ist meine vierte Unterhaltung mit Rel. Oh, wie ich diese Kreatur verabscheue! Duiker räusperte sich. »Die Imperatrix schenkt mir kaum Beachtung, Jhistal …«

Mallik Rels sanftes Lachen klang wie das Rasseln einer Klapperschlange. »Ein unbeachteter Historiker – oder der unachtsame Umgang mit der Geschichte? Ein Hauch von Bitterkeit auf Grund eines Ratschlags, der zurückgewiesen – oder, schlimmer noch – in den Wind geschlagen wurde. Seid beruhigt, von Untas Türmen werden keine Verbrechen abgeschossen.«

»Es freut mich, das zu hören«, murmelte Duiker und fragte sich, woher der Priester das wissen mochte. »Ich bleibe in Hissar, weil ich Forschungen betreibe«, fuhr er nach einer kurzen Pause erklärend fort. »Es hat bereits zurzeit des Imperators Präzedenzfälle gegeben, was die Verschiffung von Gefangenen in die Otataral-Minen auf der Insel anbelangt, obwohl er dieses Schicksal gewöhnlich nur Magiern zugedacht hatte.«

»Magiern? Oh.«

Duiker nickte. »Eine effektive Lösung, ja, aber auch eine mit unvorhersehbaren Folgen. Die spezifischen Eigenschaften von Otataral als Magie absorbierendem Erz sind noch immer ein Geheimnis. So wie es aussieht, wurden die meisten dieser Zauberer vom Wahnsinn befallen, aber man weiß nicht, ob das an dem Erzstaub gelegen hat, dem sie ausgesetzt waren, oder daran, dass sie keinen Zugang mehr zu ihren Gewirren hatten.«

»Sind denn Magier bei der nächsten Ladung Sklaven?«

»Ein paar.«

»Dann wird die Frage schon bald beantwortet werden.«

»Das wird sie, ja«, stimmte Duiker zu.

Der T-förmige Kai war mittlerweile ein einziger Mahlstrom aus streitlustigen Wickanern, furchtsamen Dockarbeitern und reizbaren Streitrossen. Ein Kordon der Stadtwache von Hissar bildete den Pfropfen für den Flaschenhals am Ende des Docks, dort, wo es sich zu einem gepflasterten Halbkreis weitete. Die Wachen, allesamt Einheimische aus dem Reich der Sieben Städte, hatten ihre runden Schilde festgehakt und ihre Tulwars gezogen; sie schwangen jetzt drohend die breiten, gekrümmten Klingen – eine Geste, auf die die Wickaner mit lautstark gebrüllten Herausforderungen antworteten.

Zwei Männer erschienen auf der Brustwehr. Duiker nickte ihnen grüßend zu. Mallick Rel ließ sich nicht dazu herab, auch nur einen der beiden zu grüßen – weder den raubeinigen Hauptmann noch den einzigen noch lebenden Kadermagier der Siebten; beide Männer waren von ihrer Stellung her eindeutig zu gering, als dass der Priester mit ihnen Umgang gepflegt hätte.